Biologie Humangenetik: Mutationen und Erbkrankheiten VORSSA 2009/CK 1. Vom Gen zum Merkmal Aus der Information der Gene werden lebenslang Proteine hergestellt. Ein Eiweiss besteht aus langen Aminosäureketten und es existieren 20 verschiedene Aminosäuren – Im menschlichen Körper gibt es entsprechend ca. 100'000 verschiedene Proteine. Proteine arbeiten z.B als Enzyme1* im Stoffwechsel, als Hormon, Antikörper (Schutzeiweiss) oder Transporteiweiss, oder es dient als Baueiweiss zum Aufbau von z.B. Muskeln, Knochen oder Bindewebe. Beispiel: Leberzellen benötigen die Gene für die Herstellung nährstoffumbauender Enzyme, Hautzellen Gene für die Herstellung von Melanin, unseren Hautfarbstoff. Das bedeutet: auch wenn alle Gene in jeder Zelle vorhanden sind, es wird immer nur ein kleiner, spezifischer Teil davon genutzt. Für die Herstellung der Eiweisse öffnet sich die DNA im Zellkern an den benötigten Stellen zwischen den Basen. Kleine Boten‐Moleküle (m‐RNA in Abb. rechts) kopieren die Information eines Gens nach dem Schloss‐Schlüsselprinzip und tragen diese Informationen (Codons) danach durch die Kernporen ins Cytoplasma hinaus. Im Cytoplasma wird in den Ribosomen aus diesen „Kopien“ die Aminosäurenketten, resp. das Eiweiss zusammengebaut. Der genetische Code** besteht ja aus nur vier Basen (Buchstaben). Jeweils drei dieser Basen bilden ein Basentriplett, welche eine Aminosäure repräsentierten. CCA bindet z.B. die Aminosäure Prolin, GAG bindet Glutamin. Die Information wird also umgesetzt, indem die Ribosomen der Kopie in Dreierschritten entlang gleitet. Dabei lesen jeweils passende Ueberträger‐ Moleküle (t‐RNA in der Abb. links) mit ihrer zugeordneten Aminosäure die Tripletts nacheinander nach dem Schloss‐ Schlüsselprinzip ab. Die Aminosäuren ketten sich zusammen, bis das Basentriplett mit dem Code für "Stop" erscheint. Danach faltet sich die freiwerdende Aminosäurenkette zum fertigen Protein zusammen. 1.1. *Der genetische Code Die Abfolge von jeweils 3 Basen codiert also jeweils eine Aminosäure. Du kennst die vier Basen C, G, A und T. Im folgenden Codeschlüssel sind die Codewörter sind für die mRNA angegeben (enthalten ein U = Uracil statt T = Thymin), Die drei Buchstaben (Basen) werden jeweils von innen nach aussen gelesen und codieren für die aussen notierte Aminosäure (Abkürzungen ausserhalb des Kreises). ❋ zweimal auftretende AS ▲ Start‐Codons ● Stopp‐Codons Bsp: die Basen UAA, UAG und UGA kennzeichnen den Abbruch einer Aminosäurenkette, also die Fertigstellung eines Proteins. Uebung: In welche Aminsosäurenkette wird folgendes Stück mRNA übersetzt? AUGAGCGACGAACCCCUAAAAAUUUACCUAGUAGUAGC 1 Enzyme sind Proteine, welche als Biokatalysatoren in der Zelle die verschiedensten Reaktionen bewirken und beschleunigen. Biologie Humangenetik: Mutationen und Erbkrankheiten VORSSA 2009/CK 2. Mutationen: Erbkrankheiten und genetische Vielfalt In reinerbigen Zuchtlinien von Tieren kann nach vielen Generationen plötzlich ein Individuum erscheinen, das sich in einem Merkmal deutlich von den anderen Tieren unterscheidet. Ein solches neues Merkmal ist durch eine Mutation entstanden und es kann weiter vererbt werden, wenn die Mutation in den Keimzellen auftritt. Die meisten Mutationen wirken sich jedoch für den Organismus nachteilig aus. Sie führen oft zu Missbildungen und anderen Erbleiden oder zum Tod. Eine spontane, zufällige Veränderung im Erbgut einer Zelle bezeichnet man als Mutation. Mutationen können durch verschiedene Chemikalien (z.B. Teerstoffe, Phenol, Benzol) und ionisierende Strahlen (UV, Röntgenstrahlen, Radioaktivität) ausgelöst werden oder spontan entstehen. Weil Mutationen meist rezessiv sind, können sie über viele Generationen unbemerkt mitgetragen werden und erst bei Verwandtenehen zum Ausdruck kommen. Neue Lebewesen können nur durch Mutationen entstehen. Wenn sich ein neues Merkmal „neutral“ oder sogar zum Vorteil im Leben des Trägers auswirkt, hat der Mutant einen so genannten „Selektionsvorteil“, d.h. seine Chancen, zu überleben und sich fortzupflanzen steigen ( Themen der Evolution). Mutationen kommen bei allen Organismen vor, von den Bakterien bis zu den Menschen, sie ereignen sich etwa mit der Häufigkeit 1 : 100 000 (= Mutationsrate). 2.1. Beispiel Sichelzellanämie: Bei Menschen mit Sichelzellanämie verändern sich die roten Blutkörperchen bei Sauerstoffmangel sichelförmig. Dadurch können diese Personen noch weniger Sauerstoff „laden“ und die abnormen Blutkörperchen werden von den Leukozyten angegriffen. Wie kommt das zustande? Der rote Blutfarbstoff Hämoglobin, aus dem die Erythrozyten hauptsächlich bestehen, ist ein Eiweiss, aufgebaut aus 146 Aminosäuren, das Gen für seine Herstellung liegt auf Chromosom 11. Bei Sichelzellanämie ist eine einzige Base ausgetauscht, das bewirkt die Herstellung einer anderen Aminosäure, d.h. das Eiweiss Hämoglobin wird verändert. Normalerweise: G A A Glutaminsäure Sichelzellanämie G U A –> Valin Auffallend ist, dass in Gebieten der Malaria das Sichelzellen‐Allel relativ häufig ist. Dies erklärt sich daraus, dass es gegen Malaria eine Resistenz verleiht, so dass die gesunden Überträger (Aa rezessive Vererbung) Träger des Sichelzellenallels in diesen Gebieten einen Evolutionsvorteil gegenüber denen ohne Sichelzellenallel (Genotyp AA) haben, die eher an Malaria sterben, und auch gegenüber den an Sichelzellanämie leidenden (Genotyp aa) haben, die vorzeitig an Sichelzellanämie sterben. In Afrika gibt es beispielsweise Gegenden, in denen fast ein Drittel der Bevölkerung heterozygot für diese Merkmal ist. In den anderen Weltgegenden kommt das Sichelzellenallel praktisch nicht vor, da hier dieser Selektionsvorteil auf Grund der fehlenden Malaria nicht wirksam ist. 2.3. Aufgaben a. Siehe Übung „genetischer Code, S.1: durch eine Mutation wird die Base an Position 5 durch A ersetzt Folgen für die Eiweissbildung? b. Siehe Übung „genetischer Code, S.1: durch eine Mutation fällt die Base an Position 5 weg Folgen für die Eiweissbildung? c. Was ist der Unterschied zwischen einer somatischen Mutation (in den Körperzellen) und einer Mutation in den Keimzellen? d. Weshalb werden Mutationen meist rezessiv vererbt? e. Wie können wir uns konkret gegen Mutagene schützen? Nenne einige Beispiele. Biologie Humangenetik: Mutationen und Erbkrankheiten VORSSA 2009/CK 3. Verschiedene Chromosomenanomalien Schätzungsweise 75% der geistigen oder körperlichen Anomalien sind genetisch bedingt. Es handelt sich dabei entweder um Gendefekte auf den Chromosomen oder um Chromosomenanomalien. Bei rezessiven Krankheiten handelt es sich meistens um genbedingte Enzymschäden, bei dominanten Erbgängen sind vorwiegend Strukturgene betroffen. Durch den Einbau abnormer Proteine in die Körperstrukturen werden ganze Organe krankhaft verändert und viele der dominant vererbten Krankheiten nehmen einen tödlichen (letalen) Verlauf. 3.1. Beispiele für Krankheiten / Körpermerkmale: Autosomal rezessive Erbkrankheiten Phenylketonurie (PKU) Bei der PKU handelt es sich um einen genbedingten (mutationsbedingten) Enzymausfall, der zur Anreicherung eines Zwischenprodukts aus dem Eiweissstoffwechsel, dem Phenylalanin, im Blut des Neugeborenen führt. Dies tritt jedoch erst bei der Aufnahme eiweissreicher Nahrung nach der Geburt ein. Phenylalanin, das normalerweise in der Leber in Tyrosin umgewandelt wird, reichert sich in hoher Konzentration im Blut an und stört so die Stoffwechselprozesse des Gehirns. Die Folge sind schwere HIrnschäden bei den Betroffenen. Durch die Verabreichung genau dosierter phenylalaninarmer Kost bis etwa zum 15. Lebensjahr wird eine Gehirnschädigung vermieden. Die Gehirnentwicklung ist bis zu diesem Zeitpunkt anscheinend so weit fortgeschritten, dass kein Organdefekt mehr auftritt. Häufigkeit 1 : 10’000 Galaktosämie Infolge eines Enzymausfalls kann die Galaktose (ein Bestandteil des Milchzuckers) nicht abgebaut werden kann. Durch eine milchzuckerfreie Diät kann auch in diesem Fall eine Schädigung des Gehirns verhindert werden. Häufigkeit 1:20’000 Autosomal rezessiv vererben sich auch folgende Merkmale: • Blaue Augenfarbe wegen geringer Pigmentierung der Iris • keine Bildung von Hautpigment (Albinismus) Häufigkeit 1 : 15000 (Chr. 11) • Gerader Haaransatz über der Stirn • Glattes und straffes Haar • Fehlen von Härchen auf mittleren Fingergliedern • Angewachsene Ohrläppchen • Urin riecht nach Spargelgenuss (Methylmerkaptan) • Daumenreflexion (oberstes Daumenglied kann weit nach hinten gebogen werden) • Totale Farbenblindheit • Cystische Fibrose ‐ Mucoviscidose *1 : 2000 (Chr. 7) • erbliche Taubstummheit • Hasenscharte (gespaltene Oberlippe) 1 : 1000 • Kretinismus (Hormonmangelkrankheit Schilddrüse) Häufigkeit 1:50'000 Autosomal dominante Erbkrankheiten Marfan Syndrom Das Marfan‐Gen codiert ein Protein, das die Elastizität der Bindegewebsfasern bestimmt. Bei einem Genschaden kommen Bindegewebsfasern mit erhöhter Dehnbarkeit zur Ausbildung, welche in den verschiedensten Organen eingebaut werden und zu Schäden führen (z. B. Überlänge der Gliedmassen, Deformationen an Linse und Augapfel, Herzklappenfehler, überdehnbare Sehnen und Gelenkskapseln sowie unterentwickelte Skelettmuskulatur). Autosomal dominant vererben sich auch folgende Merkmale: • Verstärkte Pigmentierung der Haut • Sommersprossen • Mongolenfalte • Kinngrübchen • Breite Nasenform • Vorspringender Haaransatz in Stirnmitte • Kraushaar • frei hängendes Ohrläppchen • Zunge kann gerollt werden (nicht monogen) • Lücke zwischen oberen Schneidezähnen • Ausscheidung von rotem Betanin im Urin nach Genuss von Randen • Retinoblastom (bösartige Netzhautgeschwülste. Chr. 13) • Fehlen der Regenbogenhaut • Mangelhafte Knochenbildung • Chondrodystrophie, Störung der Knorpelbildung* • Kurzfingrigkeit (z.T. verwachsene Finger) 1: 17'000 • Polydaktylie* Häufigkeit 1:5000 • Rhesusfaktor • Chorea Huntington (neuro‐degenerative Erkrankung, führt zu Bewegungsstörungen ab 30‐60J. und führt später zum Tod) Gonosomal rezessive Erbkrankheiten Vor allem zwei Krankheiten sind im Zusammenhang mit geschlechtschromosomengebundener Vererbung bekannt geworden: die Rotgrünblindheit und die Bluterkrankheit. Die Rotgrünblindheit wird rezessiv vererbt, ihr Gen liegt auf dem X‐Chromosom. Rotgrünblinde Frauen sind daher immer homozygot, und alle Söhne dieser Frauen sind ebenfalls rotgrünblind. Heterozygote Frauen sind normalsichtig, geben jedoch die Krankheit an die nächste Generation weiter (Konduktorinnen). Gleiches gilt auch für die Bluterkrankheit. Am Blutgerinnungsvorgang sind 13 Faktoren beteiligt. Alle haben ihren Sitz auf dem X‐Chromosom. Je nachdem, welche Gene ausfallen, variieren die Krankheitsbilder von einer Verzögerung der Blutgerinnung bis zu deren völligem Ausfall. Im letzten Fall führt schon eine sonst harmlose Verletzung zum Verbluten des Betroffenen. Biologie Humangenetik: Mutationen und Erbkrankheiten VORSSA 2009/CK 3.2. Entwicklungsstörungen durch veränderte Chromosomenzahlen Veränderungen in der Zahl der Chromosomen sind relativ häufig. Sie treten in einem Verhältnis von 1:160 bei Neugeborenen auf. Die Ursache für eine Unter‐ oder Überzahl von Chromosomen liegt in einer Störung der Meiose (Reduktionsteilung), bei der die homologen Chromosomenpaare ungleich verteilt werden. Es entstehen so Keimzellen, die entweder 21 oder 23 Autosomen enthalten. Verschmilzt eine derartige anomale Keimzelle mit einer normalen Keimzelle (Befruchtung), so kommt es entweder zur Bildung einer monosomen Zygote, der ein Chromosom fehlt, oder einer trisomen Zygote mit einem überschüssigen Chromosom. 3.2.1. Trisomie 21 Die bedeutsamste Chromosomenkrankheit des Menschen ist an die Trisomie‐21 gebunden, bei der das Chromosom Nr. 21 dreifach vorliegt. Das damit verbundene Krankheitsbild wird als Down‐Syndrom (früher auch als „Mongol(o)ismus") bezeichnet. Die Auswirkungen dieses überzähligen Chromosoms beschränken sich nicht auf das Aussehen. Es kommt auch zu einer Fehlentwicklung innerer Organe (z.B. Herzfehler), zu grösserer Anfälligkeit gegen Infektionskrankheiten und zu einer Verminderung der geistigen Fähigkeiten. Durch eine früh einsetzende pädagogische Betreuung können die Auswirkungen abgeschwächt werden. Auffällig ist auch das deutliche Ansteigen der Häufigkeit der Trisomie in Abhängigkeit vom Alter der Eltern. Liegt sie bei Müttern unter 30 Jahren noch bei etwa 0,04 %, so steigt diese nach dem 40. Lebensjahr auf etwa 3 % an. Eigentlich ist zu erwarten, dass jedes Chromosom von einer Nichttrennung und Fehlverteilung während der Meiose betroffen sein kann. Dennoch hat man nur noch die Trisomie 18 und die Trisomie 13 bei Neugeborenen festgestellt. Die Organschäden sind in diesen Fällen so gross, dass die Lebenserwartung weit unter einem Jahr liegt. Wahrscheinlich wirken andere Trisomien ebenso wie die Monosomien schon während der Embryonalentwicklung tödlich. Aufgabe: Skizziere eine mögliche Fehlverteilung während der Meiose, indem du von einem Chromosomensatz mit zwei homologen Paaren ausgehst und die fehlerhafte Ei­ oder Spermienzelle danach befruchtest. Eine Ausnahme bilden offenbar die Geschlechtschromosomen. Von ihnen sind verschiedene Fehlverteilungen bekannt. 3.2.2. Ullrich­Turner­Syndrom (X0­Monosomie): Eines der beiden Geschlechtschromosomen (XX) fehlt durchgehend oder nur in einem Teil aller Körperzellen, Die Auswirkungen können individuell sehr verschieden sein. Die Leitsymptome sind der Kleinwuchs und die Unfruchtbarkeit aufgrund einer zu geringen Entwicklung der Eierstöcke. Hier ist eine Behandlung mit Wachstumshormonen und Östrogenen möglich. Dazu können weitere, heute behandelbare Probleme kommen: Herzfehler, eine so genannte Halsfalte, Nierenprobleme, Lymphödeme. Betroffene Mädchen und Frauen sind normal intelligent und können ein eigenständiges Leben führen. 3.2.3. Klinefelter­Syndrom: ein zusätzliches X‐Chromosom liegt in den Körperzellen vor (im klassischen Fall: 47, XXY). Ein Hauptsymptom des Klinefelter‐Syndroms ist die Unfruchtbarkeit infolge Unterentwicklung der Hoden. Oft werden auch nur geringe Mengen des männlichen Geschlechtshormons Testosteron gebildet. Dies kann zu einer Brustentwicklung und im Alter zum Knochenschwund (Osteoporose) führen. Bartwuchs und Körperbehaarung sind häufig nur spärlich ausgebildet. Oft bestehen Lernschwierigkeiten und der Intelligenzquotient kann vermindert sein. Randbemerkung: Menschen mit fehlverteilten Geschlechtschromosomen werden oft als „Zwitter“ bezeichnet (heute: intersexuelle Menschen). Bei der Intersexualität handelt es sich nicht um ein "einheitliches Krankheitsbild", sondern um ein komplexes Phänomen mit einer Vielzahl von Erscheinungsformen die zum Teil sehr verschiedene Ursachen haben. Die häufigsten Formen der Intersexualität sind Störungen der Androgen Biosynthese und die Gonadendysgenesien (Geschlechtsorgane sind fehl­ oder unterentwickelt) und viele Betroffene tragen geschlechtlich einen „normalen“ Chromosomensatz mit XX oder XY.