Die neue internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Be

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Prof. Dr. Christian Lindmeier
Die neue internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO – Darstellung und Kritik
Vorbemerkungen
Die Abkürzung ›ICF‹ steht für die ›Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit,
Behinderung und Gesundheit‹ (engl.: ›International Classification of Functioning, Disability and Health‹). Diese neue Klassifikation wurde im Mai 2001 von der 54. Vollversammlung der WHO (an der auch Vertreter der deutschen und der schweizerischen
Bundesregierung teilgenommen haben) als Nachfolgerin der ›Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen‹ (›International
Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps‹) verabschiedet. Diese alte
WHO-Klassifikation von 1980 ist unter der Abkürzung ›ICIDH‹ bekannt geworden.
Mit der Verabschiedung der ICF haben sich die Gesundheitsministerien der Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, die ICF als konzeptuelle Grundlage für ihr Verständnis von
Behinderungen und bei der Berichterstattung gegenüber der WHO zu verwenden. Umgekehrt verpflichtete sich die WHO, die Mitgliedländer bei den dadurch entstehenden
Entwicklungsaufgaben zu unterstützen. 1
Bereits 2001 wurde die ICF sowohl als Buch und ›Vollversion‹ als auch als ›Kurzversion‹ (short version) in englischer Sprache veröffentlicht (vgl. WHO 2001a, 2001b). Außerdem wurde 2001 eine ›mehrsprachige CD ROM‹ veröffentlicht, die die Vollversionen
der ICF in arabischer, chinesischer, englischer, spanischer, französischer und russischer Sprache enthält (vgl. WHO 2001c). Auf dieser CD ROM fehlt allerdings eine Vollversion in deutscher Sprache; denn obwohl seit 2002 ein Übersetzungsentwurf von
Fachleuten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz (unter Federführung des Verbands Deutscher Rentenversicherungsträger/Dr. Michael Schuntermann) vorliegt, steht
die endgültige Veröffentlichung einer deutschsprachigen Ausgabe der ICF immer noch
aus. Diese Verzögerung hat mit Problemen zu tun, die die deutsche Übersetzung zentraler englischer Begriffe der ICF betreffen. Nach einer Korrekturphase von mehr als
1
In Deutschland ist man dieser Verpflichtung bereits ein Stück weit nachgekommen, denn das neue Behinderungsverständnis der WHO ist sowohl in das 2001 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch IX mit dem
Titel ›Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen‹ als auch in das 2002 in Kraft getretene ›Bundesgleichstellungsgesetz‹ eingeflossen.
1
zwei Jahren hat das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information
(DIMDI), das zur Herausgabe einer deutschsprachigen Ausgabe autorisiert ist, im Oktober 2004 allerdings eine vorläufige Endfassung (›final draft‹) ins Internet gestellt
(www.dimdi.de). Damit dürfte eine endgültige Veröffentlichung unmittelbar bevorstehen. In meinen weiteren Ausführungen werde ich mich auf den Wortlaut dieser vorläufigen Endfassung des Deutsche Instituts für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) beziehen (vgl. DIMDI 2004).
Die ICF gehört zu der von der WHO entwickelten ›Familie‹ von Klassifikationen für die
Anwendung auf verschiedene Aspekte der Gesundheit. Diese Klassifikationen stellen
einen Rahmen zur Kodierung eines breiten Spektrums von Informationen zur Gesundheit zur Verfügung (z. B. Diagnosen; Funktionsfähigkeit und Behinderung; Gründe für
die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung) und verwenden eine standardisierte
allgemeine Sprache, welche die weltweite Kommunikation über Gesundheit und gesundheitliche Versorgung in verschiedenen Disziplinen und Wissenschaften ermöglicht.
Gesundheitsprobleme werden innerhalb der Internationalen Klassifikationen der WHO
hauptsächlich in der ICD-10 – so die Kurzbezeichnung für die 1993 verabschiedete ›Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision‹ (›International Statistical Classification of Diseases and Related
Health Problems‹) (1993) klassifiziert. Die ICD-10 liefert einen ätiologischen Rahmen
für die Klassifikation von Gesundheitsproblemen, während die ICF die Funktionsfähigkeit und Behinderung, verbunden mit einen Gesundheitsproblem, klassifiziert. Da die
ICD-10 und ICF einander ergänzen (›Komplementärklassifikationen‹), ruft die WHO die
Anwender auf, beide Klassifikationen der WHO-Familie der Internationalen Klassifikationen gemeinsam zu verwenden. Wörtlich heißt es hierzu in der ICF: »Die ICD-10 stellt
eine ›Diagnose‹ von Krankheiten, Gesundheitsstörungen oder anderen Gesundheitszuständen zur Verfügung, und diese Information wird mit zusätzlichen Informationen
über die Funktionsfähigkeit, welche die ICF liefert, erweitert. Informationen über Diagnosen (ICD-10) in Verbindung mit Informationen über die Funktionsfähigkeit (ICF) liefern ein breiteres und angemesseneres Bild über die Gesundheit von Menschen oder
Populationen, welches zu Zwecken der Entscheidungsfindung herangezogen werden
kann (DIMDI 2004, 10).
Nach diesen Vorbemerkungen komme ich nun zur Gliederung meines Beitrags. Dieser wird vor allem einen Überblick über die ICF vermitteln. Weil man Neuerungen nie
nur aus sich heraus verstehen kann, werde ich zu Beginn auf die Gründe für die Re2
vision der ICIDH und die Entstehungsgeschichte der ICF eingehen. Danach möchte
ich in einem längeren Teil die konzeptionellen Unterschiede zwischen der ICIDH und
der ICF herausarbeiten. Nach dieser Darstellung folgt die Bewertung der Bedeutung
der ICF für die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Rehabilitation.
Von der ICIDH (1980) zur ICF (2001) – ein Paradigmenwechsel im Gesundheitssystem
Die WHO klassifiziert Behinderung erst seit 1980 in eigenständiger Form klassifiziert.
Vorher gab es nur internationale medizinische Klassifikationen wie die ICD, mit denen Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen klassifiziert werden konnten (vgl.
Hirschberg 2003). Da in den 1970er Jahren auch im Gesundheitssystem erkannt
wurde, dass Behinderung nicht mit Krankheit gleichgesetzt und deshalb mit einer
Klassifikation der Krankheiten nicht adäquat beschrieben werden kann, legte die
WHO 1980 (im Hinblick auf das internationale Jahr der Behinderten 1981) mit der ICIDH erstmals eine internationale behinderungsspezifische Klassifikation vor, die in
deutschsprachigen Ländern unter dem Titel ›Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen‹, abgekürzt ICIDH (für: ›International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps‹) bekannt geworden ist. Hauptzweck dieser international gültigen Klassifikation sollte es sein, zur
internationalen Verständigung beizutragen und vergleichbare Zahlen für internationale Statistiken über die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten zu erhalten (vgl. Lindmeier 1993; WHO 1995).
Bereits der ICIDH liegen zwei neue Erkenntnisse zu Grunde, die einen erheblichen
Fortschritt gegenüber früheren Definitionsversuchen von Behinderung aus dem Gesundheitssystem darstellen:
1. Behinderung ist etwas Relatives. Ein Mensch mit Behinderung ist in aller Regel nur in
ganz bestimmten, beschreibbaren Lebenssituationen behindert;
2. ein Mensch, der eine Gesundheitsstörung aufweist, kann durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Hindernisse oder die Bedingungen der natürlichen Umwelt zusätzlich sozial beeinträchtigt werden. Umgekehrt kann ein Wechsel des sozialen Rahmens
oder die Beseitigung von Hindernissen zumindest die soziale Beeinträchtigung bzw. das
›handicap‹ als mangelnde soziale Anpassung des Betroffenen aufheben.2
2
In der Sonderpädagogik weiss man von diesen Dingen im Grunde schon, seit dem Heinrich Hanselmann 1941 in seinen ›Grundlinien einer Theorie der Sondererziehung‹ die Relativität der Behinderung
und die Gefahr einer aus der Behinderung resultierenden soziale Beeinträchtigung beschrieben hat.
3
Ausgehend von diesen beiden Erkenntnissen der Relativität der Behinderung und
der zusätzlichen sozialen Beeinträchtigung, hat die WHO mit ihrer Klassifikation von
1980 Folgendes geleistet (vgl. Schuntermann 1994):
1. Sie hat den Begriff der Behinderung ›entmythologisiert‹, indem sie ihn den modernen Anforderungen angepasst und so entwickelt hat, dass er wissenschaftlich und rehabilitationspraktisch zugänglich wurde. Das Ergebnis ist das WHO-Modell der nachteiligen Auswirkungen von Krankheiten, angeborenen Leiden und Unfällen, welches als ›Krankheitsfolgenmodell‹ bezeichnet worden ist.
2. Sie hat eine Klassifikation für die drei zentralen Sachverhaltsbereiche Gesundheitsschäden, einschließlich Funktionsstörungen, funktionelle Einschränkungen im täglichen Leben
und soziale Beeinträchtigung erstellt und veröffentlicht, und sie hat
3. den Begriff der Rehabilitation auf der Grundlage des Krankheitsfolgenmodells neu gefasst.
Bei dem von WOOD entwickelten Krankheitsfolgenmodell handelt es sich um ein
heuristisches Modell, das die Krankheitsfolge ›Behinderung‹ auf den drei Eben der
Schädigung (›impairment‹), Fähigkeitsstörung (›disability‹) und soziale Beeinträchtigung (›handicap‹) betrachtet (vgl. Abb. 1).
Das Krankheitsfolgenmodell von WOOD
als Grundlage der ICIDH (1980) der WHO
Krankheit/
Störung
Schädigung
(impairment)
Fähigkeitsstörung
(disability)
soziale
Beeinträchtigung
(handicap)
führt zu
kann führen zu
[Behinderung]
Abb. 1: Das Krankheitsfolgenmodell von WOOD als Grundlage der ICIDH (1980) der WHO
Welchen Erklärungswert einem solchen Mehrebenenmodell zukommt, kann man sich
am besten an Hand von Beispielen vergegenwärtigen.
4
Beispiel 1: »Ein Kind, das mit einem fehlenden Fingernagel geboren wurde, hat eine Missbildung – eine strukturelle Schädigung – , aber das beeinflusst in keiner Weise die Funktion der
Hand; es ergibt sich keine Fähigkeitsstörung; die Schädigung ist nicht besonders augenfällig;
entsprechend dürfte eine soziale Beeinträchtigung unwahrscheinlich sein.« (WHO 1995)
Beispiel 2: »Kurzsichtige oder diabetische Menschen leiden an einer funktionellen Schädigung, müssen aber nicht in ihren Fähigkeiten gestört sein, da diese Schädigung durch Hilfsmittel, Geräte oder Arzneimittel korrigiert oder aufgehoben werden kann; der nicht in seinen
Fähigkeiten gestörte jugendliche Diabetiker könnte trotzdem sozial beeinträchtigt sein, durch
den erheblichen Nachteil, zum Beispiel nicht mit seinen Altersgenossen Konfekt essen zu
dürfen oder sich regelmäßig Injektionen verabreichen zu müssen.« (WHO 1995)
Beispiel 3: »Eine subnormale Intelligenz ist eine Schädigung, muss aber nicht zu einer bemerkenswerten Aktivitätseinschränkung führen; andere Faktoren als die Schädigung können
die Beeinträchtigung bestimmen, weil die Beeinträchtigung minimal sein kann, wenn der
Betreffende in einer entlegenen ländlichen Gemeinschaft lebt – sie kann aber bei einem in
der Großstadt lebenden Kind von Universitätsabsolventen, von dem mehr erwartet wird,
schwerwiegend sein.« (WHO 1995)
Trotz der Fortschritte, die durch die ICIDH erzielt wurden, ist insbesondere der Begriff
des ›handicaps‹ innerhalb und außerhalb der WHO von Anfang an erheblicher Kritik
ausgesetzt gewesen (vgl. Schuntermann 1994; WHO 1995). Vor allem die Behindertenverbände in den USA und in Kanada widersetzten sich einer verengten Auffassung des Begriffs ›handicap‹, die das ›handicap‹ als Eigenschaft der Person auslegte. Diese Kritik war zweifellos berechtigt, denn im Rahmen des für die ICIDH maßgeblichen Krankheitsfolgenmodells wurden die ›sozialen Beeinträchtigungen‹ als
Merkmal oder Status einer Person aufgefasst: »Die Beeinträchtigung ist charakterisiert durch eine Diskrepanz zwischen Verhalten und Status der Person und der Erwartung der speziellen Gruppe, deren Mitglied sie ist. Soziale Beeinträchtigung entsteht im Ergebnis ihrer Unfähigkeit, sich den Normen dieser Umwelt anzupassen
[Hervorh. C. L.]. Somit ist Beeinträchtigung ein soziales Phänomen, das die gesellschaftlichen und Umweltfolgen für den Menschen zum Ausdruck bringt, die seiner
Schädigung und Fähigkeitsstörung zuzuschreiben sind [Hervorh. C. L.]« (WHO 1995,
246). Wie die Behindertenverbände zu Recht monierten, weist ein ›handicap‹ aber
stets zwei Aspekte auf: Eine Person kann ihre Rolle in Familie, Arbeit und Gesellschaft nicht aufrechterhalten, weil sie entweder aus körperlichen, geistigen oder seelischen Gründen dazu nicht in der Lage ist oder weil die Umwelt sie diese Rollen
nicht aufrechterhalten lässt. Diese zwei Aspekte können als ›gehandicapt sein‹ und
5
›gehandicapt werden‹ beschrieben werden. Wenn heute in deutschsprachigen Ländern heute zwischen ›behindert sein‹ und ›behindert werden‹ unterschieden wird, ist
wohl Ähnliches gemeint (vgl. z. B. Eberwein/Sasse 1998).3
Eine Weiterentwicklung des ›handicap‹-Konzepts musste also sinnvoller Weise in der
Einbeziehung von Umweltfaktoren und des Aspektes ›gehandicapt werden‹ bestehen, und genau in diese Richtung hat sich die WHO-Klassifikation mit der 1993 begonnenen Revision der ICIDH bewegt. Dabei ist ausdrücklich zu würdigen, dass
Menschen mit Behinderung von Anfang in diesen Revisionsprozess involviert warnen
(vgl. Hurst 2003; Hollenweger 2005). Der entscheidende Fortschritt, der durch die
Revision der ICIDH erzielt wurde, besteht also darin, dass man nicht mehr von ›Behinderung‹ als von etwas spricht, was eine Person ›ist‹ oder ›hat‹, sondern von einer
›Behinderungs-Situation‹. Eine solche ›Behinderungs‹-Situation entsteht erst durch
die negative Wechselwirkung zweier Gegebenheiten: die durch Krankheit, das Ergebnis einer Verletzung (Unfall, Gewalteinwirkung, Krieg) oder ein angeborenes
›Leiden‹ bedingten Gegebenheiten bei einer Person auf der einen Seite und die Gegebenheiten des Kontextes einer solchen Person auf der anderen Seite.
Konzeptionelle Unterschiede zwischen der ICIDH und der ICF
Da die ICF nicht nur eine Klassifikation zur Beschreibung von Behinderungssituationen sein soll, wurde außerdem als Bezeichnung für die Situation der positiven Wechselwirkung dieser beiden Gegebenheiten der Begriff der Funktionsfähigkeit eingeführt. Dabei ist zu beachten, dass es sich auf Seiten der Person um Gegebenheiten
handeln muss, die grundsätzlich mit der ICD beschreibbar sind. Diese Eingrenzung
auf ein gesundheitliches Problem ist wichtig, denn für andere (Mit-)Ursachen von
Funktionsfähigkeit und Behinderung ist die ICF nicht vorgesehen.
3
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat diesen Vorwurf in den am 20.12.1993 verabschiedeten Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für Behinderte, den sog.
›Standard Rules‹, aufgegriffen:»Einige Fachleute haben ihrer Besorgnis darüber Ausdruck gegeben,
dass die in der Klassifikation [gemeint ist die ICIDH von 1980, C. L.] des Begriffs ›soziale Beeinträchtigung‹ noch immer als zu medizinisch und zu sehr auf den Einzelnen ausgerichtet angesehen werden
kann und die Wechselbeziehung zwischen den gesellschaftlichen Bedingungen und Erwartungen und
den Fähigkeiten des Einzelnen vielleicht nicht genügend klar herausstellt. Diesen und anderen von
den Benutzern der Klassifikation in den zwölf Jahren seit ihrer Veröffentlichung zum Ausdruck gebrachten Bedenken wird bei künftigen Änderungen der Klassifikation Rechnung getragen werden«
(1993, 5). Die Einleitung der ICF bezieht sich auf diese Vorgabe: »Die ICF bezieht sich auf und enthält
die Rahmenbestimmungen für die Herstellung von Chancengleichheit von Personen mit Behinderungen« (4).
6
Als ein erster grundlegender Unterschied zwischen der ICIDH und der ICF lässt sich
also festhalten, dass in der ICF die Einheiten der Klassifikation keine Personen, sondern Situationen sind. Die ICF klassifiziert also nicht Personen, sondern sie beschreibt die Situation einer jeden Person mittels Gesundheits- oder mit Gesundheit
zusammenhängenden Domänen. Darüber hinaus erfolgt die Beschreibung immer im
Zusammenhang mit den Kontextfaktoren, die in Umwelt- und personbezogene Faktoren unterteilt werden (vgl. DIMDI 2004).4
(Erkenntnis-)Theoretisch betrachtet handelt es sich dabei um ein relationales Verständnis von Behinderung und Funktionsfähigkeit (vgl. Lindmeier 1993), das durch
die Integration zweier gegensätzlicher Erklärungsmodelle, nämlich des medizinischen und des sozialen Modells, zu Stande kommt: »Es wurde eine Vielfalt von Konzepten und Modellen zum Verständnis und zur Erklärung von Funktionsfähigkeit und
Behinderung vorgeschlagen. Diese können in dialektischer Weise von ›medizinischen Modell‹ versus ›sozialem Modell‹ ausgedrückt werden. Das medizinische Modell betrachtet ›Behinderung‹ als ein Problem der Person, das unmittelbar von einer
Krankheit, einem Trauma oder einem anderen Gesundheitsproblem verursacht wird,
und welches der medizinischen Versorgung bedarf, etwa in Form individueller Behandlung durch Fachleute. Das Management der Behinderung zielt auf Heilung, Anpassung oder Verhaltensänderung ab. Der zentrale Anknüpfungspunkt ist die medizinische Versorgung, und vom politischen Standpunkt aus gesehen geht es grundsätzlich darum, die Gesundheitspolitik zu ändern oder zu reformieren. Das soziale
Modell der Behinderung hingegen betrachtet Behinderung hauptsächlich als ein gesellschaftlich verursachtes Problem und im Wesentlichen als eine Frage der vollen
Integration Betroffener in die Gesellschaft. Hierbei ist ›Behinderung‹ kein Merkmal
einer Person, sondern ein komplexes Geflecht von Bedingungen von den viele vom
gesellschaftlichen Umfeld geschaffen werden. Daher fordert die Handhabung dieses
Problems soziales Handeln, und es gehört zu der gemeinschaftlichen Verantwortung
der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, die Umwelt so zu gestalten, wie es für eine volle
Partizipation an allen Bereichen des sozialen Lebens der Menschen mit Behinderun-
4
Dieser grundlegende Unterschied zeigt sich im Übrigen auch auf der sprachlichen Ebene. Während
in der ICIDH mit ›disability‹ die Dimension der Fähigkeitsstörung begrifflich gefasst wurde, wird der
Begriff ›disability‹ in der ICF als Oberbegriff zur Bezeichnung des Gesamtzusammenhangs der negativen Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren benutzt. Während der Behinderungsbegriff also zuvor nur eine Ebene innerhalb des Mehrebenenmodells der ICIDH bezeichnete, umfasst er nunmehr das Ganze der Behinderungssituation.
7
gen erforderlich ist. Das zentrale Thema ist daher ein einstellungsbezogenes und
weltanschauliches, welches soziale Veränderungen erfordert. Vom politischen Standpunkt aus gesehen wird das Problem zu einer Frage der Menschenrechte. Für dieses
Modell ist Behinderung ein politisches Thema.« (vgl. DIMDI 2004, 25)
Um diese beiden gegensätzlichen Perspektiven zu integrieren, verwendet die WHO
in der ICF einen ›erheblich erweiterten‹ ›bio-psycho-sozialen‹ Ansatz. Damit versucht
sie »eine Synthese zu erreichen, die eine kohärente Sicht der verschiedenen Perspektiven von Gesundheit auf biologischer, individueller und sozialer Ebene ermöglicht« (ebd.). Die Auffassung, dass Funktionsfähigkeit und Behinderung eines Menschen eine dynamische Interaktion zwischen dem Gesundheitsproblem (Krankheiten;
Gesundheitsstörungen, Verletzungen, Traumata usw.) und den Kontextfaktoren darstellen, verdeutlicht auch die grafische Darstellung der einzelnen interagierenden
Komponenten (vgl. Abb. 2). Wie die Grafik veranschaulicht, werden die von der ICF
bezüglich menschlicher Funktionsfähigkeit und ihrer Beeinträchtigungen gelieferten
Beschreibungen in zwei Teile gegliedert: der erste Teil befasst sich mit Funktionsfähigkeit und Behinderung und den Komponenten des Körpers, der Aktivitäten und der
Partizipation, der zweite Teil mit den beiden Komponenten (Umweltfaktoren, personenbezogene Faktoren) der Kontextfaktoren. Die personenbezogenen Faktoren sind
allerdings in der ICF »wegen der mit ihnen einhergehenden großen sozialen und kulturellen Streuung nicht in der ICF klassifiziert« (a.a.O., 14).
Das bio-psycho-soziale Modell der ICF –
Schaubild
Gesundheitsproblem
(Gesundheitsstörung oder Krankheit, ICD)
Körperfunktionen
und -strukturen
Aktivitäten
Umweltfaktoren
Partizipation
Personbezogene
Faktoren
Abb. 2: Das bio-psycho-soziale Model der ICF (2001) der WHO
8
Personenbezogene Faktoren stellen den individuellen Hintergrund des Lebens einer
Person dar. Diese setzen sich nach Angaben der ICF aus Attributen oder Eigenschaften der Person zusammen, die nicht Teil ihrer körperlichen, geistigen und seelischen Verfassung oder ihres funktionalen Zustandes sind. Als solche kommen Alter,
Geschlecht, Bildung, Ausbildung, Erfahrung, Persönlichkeit und Charakter, Fitness,
Lebensstil, Gewohnheiten, Erziehung, Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, Beruf
sowie vergangene oder gegenwärtige Erlebnisse in Frage.
In diesem Zusammenhang gilt es noch einmal herauszustellen, dass die Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung in zweifacher Weise betrachtet werden
können: »Zum einen können sie verwendet werden, um Probleme aufzuzeigen (z. B.
Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität oder Beeinträchtigungen der Teilhabe, zusammengefasst unter dem Oberbegriff Behinderung). Zum anderen können sie
verwendet werden, um nicht-problematische (z. B. neutrale) Aspekte des Gesundheitszustandes und der mit Gesundheit zusammenhängenden Zustände aufzuzeigen
(zusammengefasst unter dem Oberbegriff Funktionsfähigkeit).« (ebd.)
Als ein zweiter grundlegender Unterschied zwischen ICIDH und ICF lässt sich daher
festhalten, dass sich die ICIDH mit der ICF von einer Klassifikation der ›Krankheitsfolgen‹ hin zu einer Klassifikation der ›Komponenten der Gesundheit‹ weiterentwickelt hat: »›Komponenten der Gesundheit‹ kennzeichnen Bestandteile der Gesundheit, während ›Folgen‹ den Blick auf die Auswirkungen von Krankheiten oder anderen Gesundheitsproblemen lenkt, welche aus diesen als Ergebnis folgen können. Insofern nimmt die ICF nimmt bezüglich der Ätiologie eine unabhängige Position ein,
sodass Forscher mit Hilfe geeigneter wissenschaftlicher Methoden kausale Schlüsse
ziehen können. Darüber hinaus unterscheidet sich dieses Konzept auch von Modellen der ›Determinanten der Gesundheit‹ oder der ›Risikofaktoren‹. Um jedoch das
Studium dieser Determinanten oder Risikofaktoren zu erleichtern, enthält die ICF eine Liste von Umweltfaktoren, die den Lebenshintergrund von Menschen beschreiben.« (DIMDI 2004, 10)
Nach dem bisher Ausgeführten lassen sich also folgende Verbesserungen der ICF
gegenüber der ICIDH festhalten: Das Krankheitsfolgenmodell von Wood, das der ICIDH von 1980 zu Grunde gelegt wurde, war als multidimensionales Modell hilfreich,
um Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und soziale Beeinträchtigungen als Dimensionen oder Ebenen einer Behinderung zu unterscheiden. Damit wurde eine ausschließlich an negativ attribuierten Persönlichkeitsmerkmalen (ätiologischen Schädi9
gungsklassen) orientierte, eindimensionale biomedizinische Klassifikation überwunden (vgl. auch van Bennekom/Jelles/Lankhorst 2001). Der Nachteil des ansatzweise
bio-psycho-sozial angelegten Krankheitsfolgenmodells von Wood ist:
–
die Vorstellung einer kausal-linearen Verknüpfung von Krankheit, Unfall oder angeborenem Leiden mit Schädigung, Fähigkeitsstörung und sozialer Beeinträchtigung;
–
die Vorstellung einer unidirektionalen Entwicklung von einer Krankheit usw. zu einer
Schädigung, einer Schädigung zu einer Fähigkeitsstörung, einer Fähigkeitsstörung zu einer sozialen Beeinträchtigung, oder aber auch von einer Schädigung zu einer sozialen
Beeinträchtigung;
–
die Vernachlässigung der aktiven Rolle (›behindert werden‹) der sozialen und natürlichen
Umwelt bei der Entwicklung des Behinderungszustandes und -prozesses.
Der Vorteil des erweiterten bio-psycho-sozialen Modells der ICF besteht demgegenüber darin, dass Funktionsfähigkeit und Behinderung als Ergebnis einer dynamischen Interaktion zwischen dem Gesundheitsproblem einerseits und den Kontextfaktoren andererseits angesehen werden. Das bedeutet, dass
–
die Vorstellung einer kausal-linearen Verknüpfung der Dimensionen durch die Vorstellung einer relationalen Beziehung von persönlichen Dimensionen (Körperfunktionen und strukturen, Aktivität), Person-Umwelt-Dimension (Partizipation an Lebensbereichen) und
Kontextfaktoren ersetzt wird;
–
die dynamische Interaktion innerhalb der drei Dimensionen bidirektional aufgefasst wird,
was bedeutet, dass Partizipationsprobleme oder Aktivitätsstörungen auch Schäden und
Gesundheitsprobleme nach sich ziehen können;
–
die Kontextfaktoren bei der Analyse eines Behinderungszustandes oder -prozesses eine
aktive Rolle spielen, weil nun anerkannt wird, dass die gesundheitlichen Probleme einer
Person durch günstige oder ungünstige Kontextbedingungen in ihren behindernden Auswirkungen verstärkt oder abgeschwächt werden können.
Insbesondere die Einbeziehung von Umweltweltfaktoren als ›äußeren Einflussfaktoren‹ war ja von Kritikern der ICIDH immer wieder gefordert worden. Die Einteilung
der Umweltfaktoren in der entsprechenden ICF-Klassifikation bezieht sich auf zwei
Ebenen:
1. Die Ebene des Individuums: Hierunter fällt die unmittelbare, persönliche Umwelt eines
Menschen einschließlich des häuslichen Bereichs, des Arbeitsplatzes und der Schule.
Diese Ebene des Individuums umfasst auch die physikalischen und materiellen Gegebenheiten der Umwelt, denen sich einen Person gegenübersieht, sowie den persönlichen
Kontakt zu anderen wie zu Familie, Bekannten, Seinesgleichen (Peers) und Fremden.
10
2. Die Ebene der Gesellschaft: Hierunter fallen die formellen und informellen sozialen Strukturen, Dienste und die übergreifenden Ansätze oder Systeme in der Gesellschaft, die einen Einfluss auf Individuen haben. Diese Ebene umfasst (a) Organisationen und Dienste
bezüglich der Arbeitsumwelt, kommunalen Aktivitäten, Behörden und des Kommunikations- und Verkehrswesens sowie informelle soziale Netzwerke und (b) Gesetze, Vorschriften, formelle und informelle regeln, Einstellungen und Weltanschauungen.
Wie die personenbezogenen Faktoren sind die Umweltfaktoren ›neutral‹ definiert. Sie
können also sowohl positiven als auch negativen Einfluss auf den Zustand der Funktionsfähigkeit ausüben und diesen sowohl verschlechtern als auch verbessern. Als
Konstrukte zur Beurteilung dieses Einflusses verwendet die ICF die Begriffe ›Förderfaktoren‹ und ›Barrieren‹. Sie werden folgendermaßen definiert:
»Förderfaktoren [›facilitators‹] sind (vorhandene oder fehlende) Faktoren in der Umwelt einer
Person, welche die Funktionsfähigkeit verbessern und eine Behinderung reduzieren. Förderfaktoren umfassen insbesondere Aspekte wie die materielle Umwelt, die zugänglich ist, Verfügbarkeit relevanter Hilfstechnologie, positive Einstellungen der Menschen zu Behinderung,
sowie Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze, die darauf abzielen, alle Menschen mit
Gesundheitsproblemen in alle Lebensbereiche einzubeziehen. Das Fehlen eines Umweltfaktors kann sich ebenfalls günstig auswirken, z.B. das Fehlen von Stigmata oder negativen
Einstellungen. Förderfaktoren können die Entwicklung einer Beeinträchtigung der Partizipation … aus einer Schädigung oder Aktivitätseinschränkung verhindern, weil die tatsächliche
Leistung einer Person im Hinblick auf eine Handlung trotz eines Problems der Leistungsfähigkeit der Person verbessert wird.« (DIMDI 2004, 145f.)
»Barrieren [›barriers‹] sind (vorhandene oder fehlende) Faktoren in der Umwelt einer Person,
welche die Funktionsfähigkeit einschränken und Behinderung schaffen. Diese umfassen insbesondere Aspekte wie Unzugänglichkeit der materiellen Umwelt, mangelnde Verfügbarkeit
relevanter Hilfstechnologie, negative Einstellungen der Menschen zu Behinderung, sowie
Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze, die entweder fehlen oder die verhindern, dass
alle Menschen mit Gesundheitsproblemen in alle Lebensbereiche einbezogen werden.«
(DIMDI 2004, 146)
Durch die Aufnahme der Klassifikation der Umweltfaktoren in die ICF wird nun zum
Beispiel auch beschreibbar, dass eine Partizipationsbeeinträchtigung in Form einer
sozialen Isolation oder Deprivation unmittelbar zu einem gesundheitlichen Schaden
führen kann. Dies veranschaulicht Schuntermann mit einem aufschlussreichen Beispiel aus der internationalen Diskussion über die ICF:
11
»Eine Partizipationsstörung führt zu einem Schaden: Eine ältere Person, die für eine längere
Zeit in relativer Isolation gelassen wird (Partizipationsstörung), erleidet einen Mangel an intellektueller Stimulation und sensorischer Aufnahme mit der Folge eines graduellen Verlustes
kognitiver Fähigkeiten wie Gedächtnis oder Orientierung (beides Schäden).« (Schuntermann
1999, 352)
Außerdem macht es die Abkehr vom Krankheitsfolgenmodell möglich, Behinderungssituationen zu beschreiben, die auf eine Beeinträchtigung in nur einer der drei
Dimensionen der Funktionsfähigkeit zurückzuführen sind. Der Geltungsbereich der
ICF umfasst sogar die Möglichkeit, dass eine Gesundheitsstörung allein oder ein gesundheitsrelevanter Risikofaktor direkt zu Partizipationsstörungen führen können,
ohne dass Schädigungen oder Aktivitätsbeeinträchtigungen vorliegen:
»Eine vermutete Schädigung führt zu Partizipationsbeeinträchtigungen, ohne dass eine tatsächliche Schädigung oder eine Aktivitätsbeeinträchtigung vorliegt: Eine Person arbeitet mit
AIDS-Patienten: Die Person ist gesund, muss sich aber periodisch einem HIV-Test unterziehen. Bekannte und Freunde dieser Person befürchten jedoch, dass sie sich infiziert. Dies
führt zu einschneidenden Problemen der Person in den interpersonellen Interaktionen sowie
im Gemeinschafts-, sozialen und staatsbürgerlichen Leben. Ihre Partizipation ist wegen der
negativen Einstellungen der Menschen in ihrer Umwelt eingeschränkt« (DIMDI 2004, 169).
Ein weiteres Beispiel ist in diesem Zusammenhang eventuell noch aufschlussreicher
»Schädigungen, die gegenwärtig nicht in der ICF klassifiziert werden, aber zu Partizipationssproblemen führen: Eine 45-jährige Frau, deren Mutter an Brustkrebs gestorben ist, hat
sich vor kurzem freiwillig einer genetischen Untersuchung unterzogen, bei der festgestellt
wurde, dass sie den genetischen Code aufweist, der für ein erhöhtes Brustkrebsrisiko verantwortlich gemacht wird. Sie hat weder Probleme in den Körperfunktionen oder -strukturen
noch Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, aber ihre Versicherungsgesellschaft weigert
sich aufgrund ihres erhöhten Brustkrebsrisikos, sie gegen Krankheit zu versichern. Ihre Partizipation an der Domäne ›sich um seine Gesundheit zu kümmern‹ ist wegen der Politik ihrer
Versicherungsgesellschaft eingeschränkt.« (ebd.)
Solche Wirkungszusammenhänge waren mit der ICIDH ebenfalls nicht darstellbar
(vgl. WHO 1995, Schuntermann 1996). Sie zeigen noch einmal mit aller Deutlichkeit,
dass die ICF keine Personmerkmale, sondern (Handlungs-)Situationen von Personen
(die von Gesundheitsproblemen mittelbar oder unmittelbar betroffen sind) klassifiziert, die je nach Einfluss der Kontextfaktoren tendenziell eher als Behinderung oder
als Funktionsfähigkeit beschrieben werden können. Ich möchte deshalb dieser Stelle
12
noch einmal hervorheben, dass die ICF eine defizit- und ressurcenorientierte Klassifikation ist (vgl. z. B. Hollenweger/Lienhard/Milic 1998; Fischer 2000). Dies ist ein dritter grundlegender Unterschied zwischen der ICF und der ICIDH, denn die ICIDH war
eine ausschließlich defizitorientierte Klassifikation.5
Die Aufnahme der Kontextfaktoren ist sicherlich der bedeutendste Unterschied zwischen der ICIDH und der ICF. Der Vollständigkeit halber möchte ich deshalb auch
noch zeigen, wie sich dies auf diejenigen Fälle auswirkt, bei denen eine Schädigung
oder Aktivitätseinschränkung der Person vorliegt und von denen auch die ICIDH
ausgegangen war. Dabei muss man sich zunächst einmal vergegenwärtigen, welche
Konstrukte in der ICF zur Beurteilung der Körperfunktionen und -strukturen und der
Aktivität und Partizipation herangezogen werden.
Bei den Körperfunktionen werden in der Regel physiologische und psychologische
Veränderungen als Beurteilungskonstrukte herangezogen, bei den Körperstrukturen
in der Regel anatomische Veränderungen des Körpers. Ungleich schwieriger verhält
es sich mit den Komponenten der Aktivität und der Partizipation, die in ein und derselben Klassifikation klassifiziert werden, weil sie nicht immer trennscharf unterschieden werden können. Als Konstrukte zur Beurteilung von Aktivität und Partizipation
verwendet die ICF die Begriffe ›Leistungsfähigkeit‹ und ›Leistung‹. Die ICF definiert
diese beiden Begriffe folgendermaßen:
»Leistungsfähigkeit [›capacity‹] ist ein Konstrukt, das als Beurtei-lungsmerkmal das höchstmögliche Niveau der Funktionsfähigkeit, das eine Person in einer Domäne der Aktivitäts- und
Partizipationsliste zu einem gegebenen Zeitpunkt erreicht, angibt. Die Leistungsfähigkeit wird
in einer uniformen oder Standardumwelt gemessen und spiegelt daher das umweltadjustierte Leistungsvermögen wider. (…)
Leistung [›performance‹] ist ein Konstrukt, das als Beurteilungsmerkmal angibt, was Personen in ihrer gegenwärtigen, tatsächlichen Umwelt tun, und deshalb den Gesichtspunkt des
Einbezogenseins einer Person in Lebensbereiche berücksichtigt.« (DIMDI 2004, 146)
Zur Verdeutlichung dieser Konstrukte bietet die ICF im Anhang einige Fallbeispiele:
»Eine frühere Schädigung, die zu keinen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit führt, aber
dennoch Leistungsprobleme verursacht: Eine Person, die sich von einer akuten psychischen
Episode erholt hat, aber das Stigma eines ›psychiatrischen Patienten‹ trägt, kann wegen der
5
Das ist unter anderem der Grund, warum die Vereinten Nationen die ICF als eine der sozialen Klassifikationen anerkannt haben.
13
negativen Einstellungen der Menschen in ihrer Umwelt Leistungsprobleme in den Domänen
›Beschäftigung‹ und ›interpersonelle Interaktionen‹ haben. Daher ist Partizipation … der
Person an der Beschäftigung und am sozialen Leben eingeschränkt.« (DIMDI 2004, 168)
Ebenso aufschlussreich ist das folgende Beispiel:
»Unterschiedliche Schädigungen und Einschränkungen der Leistungsfähigkeit, die zu ähnlichen Leistungsproblemen führen: Eine Person wird vielleicht wegen des Ausmaßes ihrer
Schädigung (Tetraplegie) auf einen Arbeitsplatz nicht eingestellt, weil sie einige Arbeitsanforderungen nicht durchführen kann (z.B. die Tastatur eines Computers bedienen). Der Arbeitsplatz hat nicht die notwendigen Anpassungen, um der Person die Erfüllung dieser Anforderungen zu ermöglichen (z.B. Spracherkennungs-Software, welche die Tastatur ersetzt).
Eine andere Person mit einer weniger schweren Tetraplegie, welche die notwendigen Arbeitsaufgaben erfüllen kann, wird jedoch vielleicht nicht eingestellt, weil die Quote für die
Einstellung von Personen mit Behinderung bereits erfüllt ist.
Eine dritte Person, die fähig ist, die geforderten Arbeitsaktivitäten durchzuführen, wird vielleicht nicht eingestellt, weil sie eine Aktivitätseinschränkung hat, die zwar durch die Benutzung eines Rollstuhls gemildert wird, der Arbeitsort jedoch für einen Rollstuhl nicht zugänglich ist.
Eine Person schließlich, die einen Rollstuhl benutzt, wird vielleicht für die Stelle eingestellt.
Sie ist leistungsfähig, die Arbeitsaufgaben zu erfüllen, und führt diese auch in der gegebenen
Arbeitsumwelt aus. Trotzdem hat diese Person vielleicht noch Leistungsprobleme in den
Domänen der interpersonellen Interaktionen mit Mitarbeitern, weil für sie der Zugang zu Aufenthaltsräumen für die Pausen nicht möglich ist. Dieses Leistungsproblem beim geselligen
Beisammensein am Arbeitsplatz kann den Zugang zu Gelegenheiten, im Beruf aufzusteigen,
verbauen.
Die vier Personen erfahren Leistungsprobleme in der Domäne ›Beschäftigung‹ wegen unterschiedlicher Umweltfaktoren, die mit ihren Gesundheitsproblemen bzw. Schädigungen
wechselwirken. Bei der ersten Person bilden nicht vorhandene Anpassungsmöglichkeiten am
Arbeitsplatz und möglicherweise negative Einstellungen die Umweltbarrieren. Die zweite
Person ist mit negativen Einstellungen im Hinblick auf die Beschäftigung von Menschen mit
Behinderungen konfrontiert. Die dritte Person sieht sich der mangelnden Zugänglichkeit der
baulichen Gegebenheiten gegenüber und die letzte Person ist mit negativen Einstellungen
gegenüber Behinderungen im allgemeinen konfrontiert.« (ebd.)
14
Die Bedeutung der ICF für die Entwicklung eines neuen Verständnisses von
Rehabilitation
Die WHO trägt mit der ICF zweifellos dem Sachverhalt Rechnung, dass das Behinderungsproblem in Deutschland und anderen Ländern mit einem hoch entwickelten
Gesundheitssystem sowie hohen Hygiene- und Ernährungsstandards in erster Linie
ein soziales Exklusionsproblem darstellt. Der zentrale Ansatzpunkt der ICF ist also
das Partizipationskonzept (vgl. Schuntermann 1999). Damit wird nachhaltig anerkannt, dass die erschwerte Partizipation am Leben der Gesellschaft die ›eigentliche
Behinderung‹ (vgl. Metzler/Wacker 2001) darstellt und zum zentralen Ansatzpunkt
der rehabilitativen Hilfen werden muss.
Diese Auffassung vertritt auch Michael Schuntermann, der deutsche ICF-Koordinator
vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger. Seiner Auffassung nach hat die
ICF für die Rehabilitation und für die Gesundheits- und Sozialpolitik folgende Bedeutung:
»1. Die Wiederherstellung oder wesentliche Besserung der Funktionsfähigkeit insbesondere
auf den Dimensionen der Aktivitäten und der Partizipation einer Person ist die zentrale Aufgabe der Rehabilitation. Daher ist die ICF für die Rehabilitation bei der Feststellung des Reha-Bedarfs, bei der funktionalen Diagnostik, bei der Interventionsplanung und bei der Evaluation rehabilitativer Maßnahmen unverzichtbar.
2. Der Abbau von Hemmnissen in der Gesellschaft und physikalischen Umwelt, die die Partizipation erschweren oder unmöglich machen, und der Ausbau von Schutzfaktoren und Erleichterungen, die die Partizipation trotz erheblicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen
wiederherstellen oder unterstützen, sind wichtige Aufgaben der Gesundheits- und Sozialpolitik sowie der Behinderten- und Menschenrechtspolitik.« (2000, 1)
Schuntermann beschreibt daher den Gegenstand der Rehabilitation unter Verwendung der neuen Klassifikation und in Anlehnung an die bisherige WHO-Definition der
Rehabilitation wie folgt:
»Rehabilitation umfasst alle Maßnahmen, die das Ziel haben, die negativen Wirkungen jener
Bedingungen abzuschwächen, die zu Aktivitätsstörungen oder Partizipationsstörungen führen, und die hilfreich oder notwendig sind, um Personen mit Aktivitäts- und Partizipationsstörungen zu befähigen, soziale Integration zu erreichen. Rehabilitation zielt nicht nur darauf,
Personen mit Aktivitäts- und Partizipationsstörungen die Anpassung ihres Lebens an ihre
Umwelt zu ermöglichen, sondern auch auf Intervention und Vermittlung innerhalb ihrer unmit-
15
telbaren Umwelt sowie innerhalb der Gesellschaft insgesamt, um ihre soziale Integration zu
erleichtern.« (Schuntermann 1999, 353)
Es ist allerdings zu Recht kritisiert worden, dass die Bedeutung der Partizipationskonzepts dadurch geschwächt wird, dass die Komponenten der Aktivität und der Partizipation in einer Klassifikation zusammengefasst sind und durch zwei schwer voneinander abgrenzbare individuumbezogene Beurteilungsmerkmale – nämlich Leistungsfähigkeit und Leistung - beurteilt werden sollen (vgl. Hirschberg 2003). Dies
mag zwar praktischen Erwägungen genügen, hält jedoch einer handlungstheoretischen Analyse nicht stand (vgl. Nordenfeldt 2003). Die zu geringe Beachtung der sozialen Dimension zeigt sich auch an der stärkeren Gewichtung der Körperfunktionen
und -strukturen, die Schädigungen, die in der ICF zwei eigenständige Klassifikationen mit je 8 Kapitel umfassen, während die Klassifikation der Umweltfaktoren nur 5
Kapitel umfasst. Das medizinische Modell und die Defizitorientierung haben also in
der ICF zumindest noch ein quantitatives Übergewicht, was vor allem damit zu tun
haben dürfte, dass die ICF als Komplementärklassifikation zur ICD-10 konzipiert
wurde. Eine stärkere Gewichtung der Umweltfaktoren und des sozialen Modells ist
allerdings nicht nur wegen der quantitativen Ausgewogenheit zu fordern, sondern
schon allein deshalb, weil die Umweltfaktoren im Gegensatz zu den meisten Schädigungen und Aktivitätsbeeinträchtigungen veränderbar sind.
Stellt man sich die Frage, welche Schlüsse aus diesem veränderten Rehabilitationsverständnis für das Hilfesystem zu ziehen sind, dann wird man zuallererst zu der
Forderung gelangen, eine stärkere ›Ambulantisierung‹ des Rehabilitationssystem
herbeizuführen (vgl. Zuber/Weis/Koch 1998; von Kardorff 2001). Dies liegt im Trend
der letzten Jahre, in denen nicht nur im Bereich der Frührehabilitation und der sog.
›schulisch-pädagogischen‹ Rehabilitation, sondern auch im Bereich der medizinischen und beruflichen Rehabilitation modellhafte Ansätze zu einer wohnortnahen
ambulanten Versorgung zu verzeichnen waren. Wie die ›Deutsche Vereinigung für
die Rehabilitation Behinderter e. V.‹ in ihren Vorschlägen (vgl. 1999) zur Etablierung
einer qualifizierten wohnortnahen Rehabilitation betont, kann die ambulante Rehabilitation durch ihre Nähe zum Wohnumfeld und zum Arbeitsplatz den ›wünschenswerten Alltagsbezug‹ der Rehabilitation herstellen. Eingliederungshemmnisse im beruflichen und vor allem im sozialen Umfeld werden so schon während der Rehabilitation
evident, und es können frühzeitig zielgerichtete Maßnahmen wie z. B. eine stufen16
weise Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess eingeleitet werden. Außerdem wird
die Möglichkeit der Nutzung eingliederungsfördernder sozialer Ressourcen eines
vorhandenen sekundären ambulanten sozialen Netzwerks von Hilfen (z. B. Sozialstationen, Berufsintegrationsfachdienste) und der Rückhalt und die soziale Unterstützung des primären sozialen Netzes (z. B. Familie, Angehörige, Partner) hervorgehoben.
Mit dieser ›Ambulantisierung‹, die sich auf der makrostrukturellen Ebene als Regionalisierung und Deinstitutionalisierung der rehabilitativen Hilfen darstellt, sollte aber
auch eine Umorientierung hinsichtlich der personenbezogenen Kontextfaktoren und
insbesondere bezüglich der psychischen personalen Ressourcen als bedeutendstem
Rehabilitationspotenzial der Betroffenen einhergehen. Zwar haben Badura und
Gross (vgl. 1977) schon in den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass bei personenbezogenen sozialen Dienstleistungen bessere und vor allem
auch dauerhaftere Erfolge erzielt werden können, wenn sie den Eigenbeitrag und die
aktive Mitarbeit des Dienstleistungsempfängers einbeziehen und nicht zu seiner Passivierung beitragen. Obwohl diese These der Dienstleistungsökonomie durch die
Stressforschung und die Forschungen zur sozialen Unterstützung in den 80-er Jahren bestätigt wurde (vgl. z. B. Badura 1981; Hurrelmann 1988; von Ferber 1988), ist
es zu einem entsprechenden Wandel der Leitbilder in der Rehabilitation bislang nicht
gekommen (Badura 1996). Leider darf man sich diesbezüglich auch von der ICF keine entscheidende Verbesserung erwarten, denn die personenbezogenen Kontextfaktoren wurden ja bekanntlich wegen der großen sozialen und kulturellen Streuung
nicht klassifiziert.
Die ICF könnte also sehr wahrscheinlich noch innovativer wirken und auch für die
Rehabilitationspsychologie noch attraktiver werden, wenn sie auch die personenbezogenen Kontextfaktoren näher definieren und klassifizieren würde. Zwar geht sie
davon aus, dass auch personenbezogene Faktoren Einfluss auf Funktionsfähigkeit
und Behinderung nehmen und dabei mit den Umweltfaktoren interagieren; auf modellhafte Konstrukte zur Erklärung und Beschreibung dieser Faktoren, die von verschiedenen wissenschaftlichen (Teil-)Disziplinen wie z. B. der Sozialepidemiologie,
der Sozialisationstheorie, der Gemeinde- und der Gesundheitspsychologie herausgearbeitet wurden, lässt sie sich aber nicht ein. Dabei liegen seit längerer Zeit Erkenntnisse aus der Krankheits- und Behinderungsbewältigungsforschung vor, die
darüber Auskunft geben, wie durch den Patienten oder Rehabilitanden als Mitprodu17
zenten die Wirksamkeit und Effizienz der Rehabilitation erhöht werden kann (vgl. z.
B. Badura 1996; Zuber/Weis/Koch 1998; Gerber/von Stünzner 1999). Chronischen
Krankheit und Behinderung werden hier als kritische Lebensereignisse begriffen, deren Erleben und deren Bewältigung eben nicht nur von den sozialen, sondern auch
von den persönlichen Voraussetzungen der Betroffenen abhängen. Dabei ist die subjektive Wahrnehmung, Deutung und Bewertung von Krankheit und Behinderung von
zentraler Bedeutung. Sie steht in ebenso engem Zusammenhang mit der Biographie
und den biografisch generierten Bewältigungsstrategien der Betroffenen, wie mit den
aus der sozialen Umwelt bereitgestellten emotionalen und praktischen Hilfestellungen und dem Maß an sozialer Integration in ein Netzwerk sozialer Beziehungen, die
als wertvoll, hilfreich und erfreulich empfunden werden. In diese Richtung weisen im
Übrigen auch die Erfahrungen der professionell unterstützten Selbsthilfegruppenarbeit oder der Elternarbeit in der Frühförderung, die sich in den letzten Jahren zunehmend am gemeindepsychologischen Konzept des ›Empowerment‹ orientiert haben
(vgl. z. B. Stark 1996; Theunissen/Plaute 1995, Weiß 2000). Ohne die Einbeziehung
der Strategien der Belastungsverarbeitung (Coping) ist jedenfalls eine moderne Rehabilitation nicht mehr denkbar. Da es sich um zeitstabile und relativ situationsunabhängige Persönlichkeitsmerkmale handelt, die in diesem Zusammenhang eine Rolle
spielen, ließen sich diese personalen Ressourcen auch näher bestimmen.
Ich teile daher nicht die positive Einschätzung Ernst von Kardorffs, dass die ICF neben der körperlichen Integrität, der Integrität von Aktivitäten und Leistung und der sozialen Integrität auch die seelische Integrität und das psychische Wohlbefinden gebührend berücksichtigt. Personenbezogene Faktoren bleiben zwar in der ICF nicht
unberücksichtigt; sie tauchen aber nur vage als besonderer Hintergrund des Lebens
und der Lebensführung auf (vgl. Schuntermann 2002b). Wenn seelisches Gleichgewicht, Motivation und Qualifikation der Rehabilitanden und ihrer Angehörigen von so
entscheidender Bedeutung für den Eigenbeitrag zum Erfolg des Rehabilitationsgeschehens sind, wenn die Mobilisierung der personalen Ressourcen von Menschen
mit Behinderungen entscheidend zur Effektivität der Rehabilitation beiträgt, dann sollte der personalen Identität und Integrität und der Wiederherstellung der physischen,
psychischen und sozialen Selbstregulierungsfähigkeiten geschädigter und in Aktivitäts- und Partizipationssituationen eingeschränkter Personen zukünftig bei allen Rehabilitationsmaßnahmen wesentlich mehr Bedeutung beigemessen werden.
18
Da die ICF hauptsächlich für die bessere Einschätzung des Rehabilitationsbedarfs
entwickelt worden ist, sind hier Defizite zu konstatieren, die in der Rehabilitationspraxis zu einer geringeren Gewichtung oder gänzlichen Vernachlässigung der in ihrer
Bedeutung gar nicht zu überschätzenden personenbezogenen Einflussfaktoren führen könnte. Die WHO hat die genannten Defizite allerdings während des Revisionsprozesses bereits selbst erkannt und auf die Prioritätenliste für die zukünftigen Entwicklungen der ICF gesetzt. Allerdings betont sie auch, dass sich die Konstrukte
Krankheit und Behinderung auf objektivierbare und äußere Merkmale eines Individuums beziehen. Personenbezogene Faktoren und Lebensqualitität stellten demgegenüber subjektive Konstrukte dar. Trotzdem hält die WHO hält folgende zukünftige
Arbeiten für die Entwicklung und Anwendung der ICF für notwendig (ausgewählte
Aspekte):
• die Entwicklung der Komponente der personenbezogenen Faktoren;
• das Herstellen von Bezügen zu Konzepten der Lebensqualität und der Messung von subjektivem Wohlbefinden (z.B. zu den WHO-Instrumenten zur Erfassung von gesundheitsbezogener Lebensqualität – WHOQOL);
• weitere Forschung zu den Umweltfaktoren, um die notwendige Detailliertheit für die Beschreibung zu bieten (vgl. DIMIDI 2004).
Zumindest für die Rehabilitationspsychologie und -pädagogik dürfte die Verringerung
oder Beseitigung der angesprochenen Defizite eine Voraussetzung für eine effektive
und effiziente Gestaltung des Rehabilitationsprozesses sein (vgl. Lindmeier 2002,
2003).
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