Semantischer Abstieg und der Wert der Wahrheit – squib – Bräuer 1 Ist Wahrheit ein (epistemischer) Wert oder nicht? Ich wüsste nicht, was ich antworten sollte, aber vielleicht hilft es zunächst weiter, wenn wir uns ansehen, wie wir über Werte sprechen. Schauen wir uns dazu einige konkrete Werturteile an, die Tatsachen (1), Wissen (2) und Wahrheit (3) enthalten: (1) Es ist gut, dass es regnet. (2) Es ist gut zu wissen, dass es regnet. (3) Es ist gut, dass es wahr ist, dass es regnet. Hier ist es so, dass (1) und (2) wohlgeformt zu sein scheinen. Es scheint darüber hinaus zumindest die Möglichkeit zu geben, dass (1) wahr ist (wir könnten uns solche Umstände leicht ausdenken); und (2) dürfte sogar meist eine wahre Aussage sein. Darüber hinaus sind beide Aussagen voneinander unabhängig, da es fraglos Situationen geben kann, unter denen (1) falsch und (2) wahr ist. Was aber ist mit (3)? (3) interferiert mit dem sog. Wahrheitskonditional: Wahrheitskonditional: Es ist wahr, dass p gdw. p. Aus dem Wahrheitskonditional und (3) folgt nun eben (1), d.h. (3) ist wahr gdw. (1) wahr ist! So gesehen scheint es unverständlich zu sein, was es heißen soll, dass Wahrheit ein Wert ist. Es kommt noch schlimmer. Nehmen wir an, wir gehen nicht nur Beispiele durch, sondern versuchen gewisse Prinzipien zu formulieren. Zu sagen, Wahrheit sei ein (nichtrelativer) Wert, hieße dann wahrscheinlich folgendes: Der Wert der Wahrheit (A): Es ist gut, dass es wahr ist, dass p gdw. es wahr ist, dass p. Daraus folgt nun mit dem Wahrheitskonditional: Der Wert der Wahrheit (A)*: Es ist gut, dass p gdw. p. Oder anders ausgedrückt: Alles was der Fall ist, ist gut. Doch das ist offensichtlich falsch! Eine schlechte Nachricht kommt selten allein. Wir könnten geneigt sein, auch das folgende Prinzip anzunehmen: Widerspruchsprinzip: Es ist wahr, dass p gdw. es falsch ist, dass nicht-p. Und daraus folgt dann: Der Wert der Wahrheit (A)**: Es ist gut, dass es falsch ist, dass nicht-p gdw. nicht-p Anders ausgedrückt: Nichts, was nicht der Fall ist, ist gut. Es sieht also so aus, als würden wir aus der Annahme, dass Wahrheit wertvoll ist, einen Beweis dafür konstruieren können, dass wir in Leibnizens bester aller Welten leben. Frank Hoffmann hat (p.c.) vorgeschlagen, nicht von der Wahrheit als solcher, sondern nur immer von den Wahrheit von Überzeugungen zu sprechen. Das möchte ich jetzt näher betrachten. Wir müssten zunächst statt (3) folgendes sagen: Semantischer Abstieg und der Wert der Wahrheit – squib – Bräuer 2 (4) Es ist gut, dass die Überzeugung, dass es regnet, wahr ist. Das Problem scheint auch hier wieder zu sein, dass es zunächst so aussieht als sei (4) nur dann wahr, wenn es gut ist, dass es regnet – und das hat nichts mit dem sog. Wert der Wahrheit zu tun (sondern mit dem Wert des Regens)! Aber schauen wir uns das mal genauer an. Zunächst dürften hier die beiden folgenden Prinzipien einschlägig sein: Wahrheitsprinzip für Überzeugungen: Die Überzeugung, dass p, ist wahr gdw. p. Widerspruchsprinzip für Überzeugungen: Die Überzeugung, dass p, ist wahr gdw. es falsch ist, dass nicht-p. Wenn wir das erste Prinzip auf (4) anwenden, dann können wir folgendes ableiten: (5) Es ist gut, dass die Überzeugung, dass es regnet, wahr ist gdw. es gut ist, dass es regnet. Genau das hatten wir eingangs ja vermutet: Der vermeintliche Wert einer wahren Überzeugung besteht im Wert dessen, wovon sie handelt. Weiterhin scheint es mir so zu sein, dass die Annahme es gäbe einen Wert der Wahrheit als solchen, auch dem folgenden Prinzip zustimmen müsste: Der Wert der Wahrheit: Wenn es gut ist, dass die Meinung, dass p (es regnet) wahr ist, dann wäre es, falls sie falsch ist, ebenso gut, dass die Meinung, dass nicht-p (es nicht regnet), wahr ist. Dieses Prinzip nun scheint mir offensichtlich falsch zu sein! Nicht jede Überzeugung, die wahr ist, ist nun auch gleich gut! Das sieht man beispielsweise deutlich an dem folgenden Beispiel: Nehmen wir an, dass die gesamte Menschheit in 24 Stunden vernichtet sein wird, dann gilt: (6) Es ist wahr, dass die gesamte Menschheit in 24 h vernichtet wird. (nach dem Wahrheitskonditional) (7) Jede Überzeugung, die wahr ist, ist wertvoll/ gut. (nach der Auffassung, dass wahre Überzeugungen wertvoll sind) Daraus jedoch folgt: (8) Es ist gut, dass die Überzeugung, dass die Menschheit in 24 Stunden vernichtet wird, wahr ist. und schließlich: (9) Es ist gut, dass die Menschheit in 24 Stunden vernichtet wird. Und das scheint offensichtlich falsch zu sein! Und das kann nur an Annahme (7) liegen.