55 4.3 Molekulare Genetik Vom Gen zum Genprodukt Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese Mit ihrem klassischen Experiment zeigten Beadle und Tatum (1941), dass Gene den Phänotyp bestimmen, indem sie die Bildung von Enzymen codieren. Die so gebildeten Enzyme katalysieren dann Reaktionen, die zum entsprechenden Phänotyp führen. Beadle und Tatum erzeugten durch Bestrahlung verschiedene Mutationen beim Schimmelpilz Neurospora crassa. Einige dieser Gen 1 Gen 2 Gen 3 Mutationen führten dazu, dass Enzyme des Argininstoffwechsels der Pilz die Aminosäure Arginin nicht mehr bilden konnte. Diese Mangelmutanten waren bei ihEnzym 1 Enzym 2 Enzym 3 rem Wachstum auf Arginin bzw. Vorstufe Ornithin Citrullin Arginin Vorstufen des Arginin-StoffAbb. 4.16: Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese am wechsels angewiesen. Beispiel des Arginin-Stoffwechsels Die Forscher isolierten drei verschiedene Typen von Mangelmutanten, die sich in ihrem Gendefekt und ihren Ansprüchen an das Nährmedium unterschieden. So wuchs beispielsweise Typ II nur dann, wenn dem Nährboden Arginin oder ­Citrullin zugesetzt wurde. Die Zugabe von Ornithin führte zu keinem Wachstum. Minimalnährboden und Ornithin Citrullin Arginin Typ I + + + Typ II – + + Typ III – – + + = Wachstum – = kein Wachstum Beadle und Tatum folgerten, dass bei der Typ II-Mutante dasjenige Enzym fehlte oder defekt war, das die Umwandlung von Ornithin in Citrullin katalysiert. Nur so war es zu erklären, dass diese Mangelmutante bei Zugabe von Ornithin nicht wuchs, wohl aber nach Zugabe von Citrullin. Auch die übrigen Mangelmutanten ließen sich nur dadurch erklären, dass in der Stoffwechselkette zum Arginin jeweils ein bestimmtes Enzym ausgefallen war. Sie verallgemeinerten ihre Erkenntnisse: Jedes Gen codiert die Synthese nur eines bestimmten Enzyms (Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese). George Beadle (1903 – 1989), US-amerikanischer Biologe Edward L. T ­ atum (1909 – 1875), ­US-amerikanischer Genetiker; Nobelpreis für Medizin und ­Physiologie (1858) 56 4Genetik Ein-Gen-ein-Polypetid-Hypothese Enzyme bestehen aus Polypeptiden. Nicht jedes Polypeptid ist jedoch auch notwendigerweise ein Enzym. Ein Gendefekt kann also – umfassender und genauer gesagt – zu einem veränderten Polypeptid führen. Man hat daher die Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese zur Ein-Gen-ein-Polypeptid-Hypothese erweitert. Demnach enthält ein Gen die genetische Information für die Synthese eines Polypeptids. Beispiel Die roten Blutkörperchen gesunder Menschen enthalten das Protein Hämoglobin A. Bei der Erbkrankheit Sichelzellenanämie ist dieses Protein verändert, sodass das veränderte Hämoglobin S weniger Sauerstoff transportieren kann. Die genetische Ursache ist ein einziger Basentausch in dem betreffenden Globin-Gen (Austausch von Adenin gegen Thymin). Dies führt zu einer veränderten Polypeptidkette des Hämoglobins (Austausch der Aminosäure Glutaminsäure gegen Valin in Position 6) und einer eingeschränkten Funktion des Proteins. Aminosäuresequenz der β-Globin-Kette (Ausschnitt) G lu 7 al ― is ― V Thr ― Leu ― H 1 2 3 4 ―G lu ― Pro ― 6 5 G lu 7 al ― is ― V hr ― Leu ― H 1 2 3 4 ― Va l ― Pro ― T 6 5 Nucleotidsequenz des β-Globin-Gens (Auschnitt) G C A G C T A G C G C C G T C T A C G C C G T A A G B G Abb. 4.17: Molekulare Ursachen der Sichelzellenanämie; A Normale Blutkörperchen; B Sichelzellen G C