Paranoide (wahnhafte) Persönlichkeitsstörung

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PSYCHIATRIE HEUTE
Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln
Prof. Dr. med. Volker Faust
Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Gesundheit
PARANOIDE (WAHNHAFTE) PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG
Zwei psychiatrische Phänomene irritieren wohl am meisten: zum einen der
Wahn, zum anderen die Psychopathien, heute Persönlichkeitsstörungen genannt. Besonders problematisch wird es offenbar dann, wenn beides zusammenfällt, also eine paranoide (wahnhafte) Persönlichkeitsstörung: tiefgreifendes und vor allem nicht gerechtfertigtes Misstrauen sowie Argwohn gegenüber anderen Menschen. Deren Motive werden grundsätzlich als böswillig
ausgelegt. Deshalb fühlen sich solche Kranken ständigen, vielfältigen und
unfairen Angriffen ausgesetzt, was ihre Person, ihr Ansehen, ihre moralische
Integrität, ihre Leistungsfähigkeit, ihren guten Willen u.a.m. anbelangt. Die
partnerschaftlichen, familiären, beruflichen, nachbarschaftlichen, ja wirtschaftlichen und juristischen Folgen kann man sich denken. Was spielt sich
hier ab: seelisch, geistig, psychosozial? Welche Ursachen, Hintergründe und
Ereignisse, von der frühkindlichen Entwicklung bis zum belasteten Alltag (für
alle!) können eine Rolle spielen? Und zum Schluss die resignierte Frage aller Betroffenen: was kann man tun bzw. kann man überhaupt etwas zur Lösung, zumindest Milderung des Spannungsfeldes beitragen? Dazu eine kurz
gefasste Übersicht.
Erwähnte Fachbegriffe:
Persönlichkeitsstörung – paranoide Persönlichkeitsstörung – wahnhafte Persönlichkeitsstörung – Psychopathie – Wahnkrankheit – Psychose – Geisteskrankheit – Paraphrenie – expansive Persönlichkeit – fanatische Persönlichkeit – schizophrene Psychose – Schizophrenien – schizo-affektive Störungen – wahnhafte Störungen – schizotypische Persönlichkeitsstörung – schizoide Persönlichkeitsstörung – Borderline-Persönlichkeitsstörung – Symptomatik der paranoiden Persönlichkeitsstörung – Leidensbild der paranoiden
Persönlichkeitsstörung – übertriebene Empfindlichkeit – Beleidigung – Verletzung – Missachtung – Misstrauen – Feindseligkeit – Streitsucht – Rechthaberei – überhöhtes Selbstwertgefühl – krankhafte Selbstbezogenheit – Verschwörungs-Theorien – Körpergefühlsstörungen – illusionäre Verkennungen
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– Depersonalisation – Derealisation – Halluzinationen – Trugwahrnehmungen – Sinnestäuschungen – wahnähnliche Ideen – Täuschungs-Wahn –
Schädigungs-Wahn – Untreue-Wahn – krankhafte Kränkungs-Neigung – wütender Gegenangriff – krankhafte Verdächtigungs-Neigung – Häufigkeit paranoider Persönlichkeitsstörungen – paranoide Persönlichkeitsstörungen und
Alter – paranoide Persönlichkeitsstörungen und Geschlecht – soziokulturelle
Aspekte der paranoiden Persönlichkeitsstörung – nationale Aspekte der paranoiden Persönlichkeitsstörung – erbliche (genetische, hereditäre) Hindergründe der paranoiden Persönlichkeitsstörung – Ko-Morbidität bei paranoider Persönlichkeitsstörung (Schizophrenie, Suchtkrankheiten, andere Persönlichkeitsstörungen u. a.) – Differentialdiagnose der paranoiden Persönlichkeitsstörung (abzugrenzen von schizotypischen, schizoiden, histrionischen/hysterischen, vermeidend-selbstunsicheren, antisozialen/dissozialen,
narzisstischen u. a. Persönlichkeitsstörungen) – Ursachen der paranoiden
Persönlichkeitsstörung – Krankheitsverlauf der paranoiden Persönlichkeitsstörung – Psychodynamik der paranoiden Persönlichkeitsstörung – psychophysiologische/neuro-psychologische Aspekte der paranoiden Persönlichkeitsstörung – Therapie der paranoiden Persönlichkeitsstörung – Psychotherapie der paranoiden Persönlichkeitsstörung (kognitiv-behaviorale und psychodynamische Veränderungs-Strategien) – Pharmakotherapie der Persönlichkeitsstörungen – u.a.m.
Zwei psychiatrische Phänomene sind es, die die Allgemeinheit besonders irritieren, im Einzelfall sogar schockieren und ernste psychosoziale Konsequenzen nach sich ziehen, und zwar für beide Seiten. Gemeint sind zum einen der
Wahn und zum anderen die Psychopathien, heute Persönlichkeitsstörungen
genannt.
Zum Thema Wahn siehe das entsprechende ausführliche Kapitel. Und über
die Psychopathien bzw. Persönlichkeitsstörungen mehrere Beiträge generell
sowie zu den speziellen Untergruppen dieses inzwischen weit gefassten Spektrums seelischer Störungen. Nachfolgend eine komprimierte Übersicht zu paranoiden (wahnhaften) Persönlichkeitsstörungen, zumal sie im Einzelfall die
nachhaltigsten Reaktionen auslösen können.
DEFINITION UND KLASSIFIKATION PARANOIDER PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN
In der Psychiatrie dominierten früher die wissenschaftlichen Erkenntnisse herausragender Forscher-Persönlichkeiten, die ihr Wissen vor allem aus dem klinischen Alltag bezogen (zumeist auch ärztliche Direktoren berühmter (Universitäts-)Kliniken). Daran knüpften sich in der Regel die späteren Ergänzungen,
neuen Kenntnisse und praxis-relevanten Schlussfolgerungen.
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Heute ist das anders. Heute sind es Institutionen mit einer Vielzahl von Experten, teils international, teils national, aber weltweit ton-angebend. Gemeint ist
die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA), die ihre eigenen "Bibeln“ herausgeben, die sich aber
glücklicherweise vom Inhalt her (Definition, Klassifikation, klinische Deskription, Differentialdiagnose, Epidemiologie, Komorbidität, Ätiologie und Pathogenese, Psychodynamik und Therapie u. a.) weitgehend angleichen.
Nachfolgend nun eine kurz gefasste Übersicht zum Thema paranoide Persönlichkeitsstörung, die auf den Erkenntnissen und Empfehlungen dieser beiden
Institutionen und ihren „Lehr-Büchern“ basieren, nämlich der Internationalen
Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10 und dem Diagnostischen und
Statistischen Manual Psychischer Störungen – DSM-IV-TR.
Eine klar umschriebene bzw. gefasste Definition, wie sie in anderen Bereichen
üblich ist und auch für die Psychiatrie wünschenswert wäre, ist aber gerade
hier sehr schwierig. Deshalb spricht man eher von diagnostischen Merkmalen
oder klinischer Deskription (Beschreibung), also eine mehr oder weniger konkrete Charakterisierung des Krankheitsbildes. Und da heißt es übereinstimmend, wenngleich nicht im Wortlaut identisch:
Die paranoide Persönlichkeitsstörung ist charakterisiert durch ein typisches
Muster tiefgreifenden und vor allem nicht gerechtfertigten Misstrauens sowie
Argwohns gegenüber anderen Menschen. Deren Motive werden grundsätzlich oder überwiegend als böswillig ausgelegt. Deshalb fühlen sie sich ständigen, vielfältigen und unfairen Angriffen ausgesetzt, was ihre Person, ihr
Ansehen, ihre moralische Integrität, ihre Leistung(sfähigkeit), ihren guten
Willen u. a. anbelangt.
Diese scheinbaren Angriffe können aber vom noch so loyalen, um Objektivität
bemühten oder gutwilligen Umfeld nicht registriert, bestätigt oder gar als Vorwurf akzeptiert werden. Ja, nicht nur dies, sondern auch positive, freundliche,
unterstützende, hilfreiche Bemerkungen, Kommentare, Haltungen, Gesten usf.
können als feindselig, zumindest aber herabwürdigend, kränkend, diskriminierend erlebt werden, und zwar in heftiger, unkorrigierbarer und ggf. beleidigender bis feindseliger Art. Selbst harmlose Bemerkungen, Ereignisse, zufällige
Konstellationen u. ä. werden – zumindest versteckt – als abwertend oder gar
bedrohlich eingestuft.
Kurz: Das Leben mit einem Menschen, der von einer paranoiden Persönlichkeitsstörung heimgesucht wurde (siehe auch die Frage erblicher Belastung
später), ist im harmlosesten Falle eine dauerhafte Belastung, in Extrem-Situationen ein „Martyrium“, und zwar nicht nur für die schuldlose und lange Zeit
hilflose Umgebung, letztlich auch für den Betroffenen selber, der am Ende mit
Ausgrenzung und Isolation bezahlen muss.
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Weitere Beschreibungen im Detail finden sich später unter dem Titel „Leidensbild für alle“, zuvor eine kurze historische Übersicht.
HISTORISCHE ASPEKTE
Wahnhafte Störungen im Allgemeinen und paranoide Persönlichkeitsstörungen im Speziellen haben die Menschen seit jeher belastet und deshalb auch
Forschung und Lehre beschäftigt. Zwar gab es den Begriff „paranoide Persönlichkeitsstörung“ früher noch nicht, doch wurden entsprechende Aspekte dieser abnormen Persönlichkeit schon vor über hundert Jahren in der deutschen
Psychopathologie (psychiatrischen Krankheitslehre) unter verschiedenen Fachbegriffen beschrieben. Die wohl erste klinische Schilderung stammt aus dem
Jahre 1893, die diese lange, oft lebens-lange wahnhafte Entwicklung schon
damals auf eine konstitutionelle Degeneration (angeborene, biologisch verankerte Funktionsstörung des Gehirns) zurückführte. Dabei standen vor allem
die Symptome idiosynkratisches Denken (Idiosynkrasie: Überempfindlichkeit,
unüberwindliche Abneigung, Widerwillen usf.), Hypochondrie, übermäßige
Empfindlichkeit, Beziehungsideen und Misstrauen im Vordergrund (J. J.-v. Magnan, 1893).
Einige Jahre später beschrieb der berühmte deutsche Psychiatrie-Professor
E. Kraepelin (1915) die paranoiden Persönlichkeiten als eine Mischung aus
ausgeprägtem Misstrauen und der Neigung, sich von anderen Menschen ungerecht behandelt zu fühlen; und sich selbst als Objekt von Feindseligkeiten
und Angriffen zu sehen. Das war für ihn auch die Voraussetzung bzw. einer
der prädisponierenden Faktoren, d. h. die Voraussetzung für die Entwicklung
einer späteren Wahnkrankheit, besonders der Dementia praecox (früherer Begriff für eine Gruppe von Psychosen, d. h. Geisteskrankheiten mit ungünstigem Ausgang) sowie der Paraphrenien des höheren Lebensalters (für chronisch verlaufende, wahnbildende Formen der Schizophrenie).
Wieder einige Jahre später prägte der nicht weniger bekannte Tübinger Professor Dr. E. Kretschmer (1921) für extrem misstrauische, empfindliche, rechthaberische und streitsüchtige Personen den Begriff der „expansiven Persönlichkeit“. Und kurz danach beschrieb der Heidelberger Psychiatrie-Professor
K. Schneider (1923) die „fanatische Persönlichkeiten“ mit den Charakteristika
der „Überwertigkeit der Ideen“ sowie der Rücksichtslosigkeit, mit der diese fanatischen Vorstellungen durchgesetzt wurden. K. Schneider ist es übrigens,
der für viele Aspekte des DSM-IV-TR der APA (s. o.) Pate steht, noch heute.
Und wie sieht man die paranoide Persönlichkeitsstörung heute? Dazu gibt es
eine Reihe von Hypothesen, Theorien und Konzepten, die vor allem die früher
recht einheitliche Psychose „Schizophrenie“ zu einem (hypothetischen) „Schizophrenie-Spektrum“ weit auffächert. Einzelheiten dazu siehe die verschiede-
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nen Beiträge in dieser Serie über die Schizophrenien (man bemerke: jetzt
spricht man von der Mehrzahl von schizophrenen Psychosen), von schizo-affektiven Störungen, wahnhaften Störungen, schizotypischen und schizoiden
Persönlichkeitsstörungen, von Borderline-Persönlichkeitsstörungen usf. – und
eben der paranoiden Persönlichkeitsstörungen, wie sie hier besprochen werden.
Nun aber zurück zum wohl wichtigsten Thema für das rechtzeitige Erkennen
und notwendige Reagieren, nämlich
PARANOIDE PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG – LEIDENSBILD FÜR ALLE
Mit diesem etwas ungewöhnlichen Zwischentitel soll gleich vorweggenommen
werden, was sich im folgenden immer wieder aufdrängt: Es gibt Persönlichkeitsstörungen, die zwar unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen, aber
kaum eine, die so belastend ausfallen kann wie die paranoiden, d. h. wahnhaften Persönlichkeitsstörungen. Im Einzelnen:
Wie schon eingangs erwähnt und vor allem vom DSM-IV-TR, aber auch von
der ICD-10 kurz und präzise formuliert, handelt es sich bei Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung um eine dauerhafte Einstellung von Misstrauen, Argwohn und entsprechend reizbaren bis aggressiven Reaktionen auf
grundlos angenommene und vor allem unkorrigierbare Unterstellungen bezüglich aller zwischenmenschlich möglichen Kontakte. Im Einzelnen nach DSMIV-TR und ICD-10:
- Menschen mit einer paranoiden (wahnhaften) Persönlichkeitsstörung sind
im Grund ständig der Meinung, dass andere sie täuschen, ausbeuten, ja gezielt schädigen könnten. Zwar können sie dafür keine Beweise bringen, das
stört sie aber nicht, auch wenn es ihre Besorgnis und damit ständige Anspannung lindern könnte. Denn eines wird schon jetzt deutlich: Mit einer solchen
Einstellung, Stunde für Stunde, Tag für Tag, dauerhaft, ohne wesentliche Unterbrechung und damit Entlastung, in einer solchen psychosozialen Situation
muss man ja Schaden nehmen: seelisch, geistig, körperlich, vom zwischenmenschlichen Aspekt ganz zu schweigen.
So vermuten sie auf der Grundlage von wenigen, auf jeden Fall nicht stichhaltigen Beweisen (s. u.), dass andere ständig gegen sie Front machen, sich verschwören könnten und sie damit zu jeder Zeit und grundlos einer Attacke ihrer
(heimlichen oder in ihrem Sinne bekannten) Widersacher, Gegner, Feinde
ausgesetzt sein könnten. Tatsächlich belastet, zermürbt, ja zerstört vor allem
dieses permanente Gefühl, von einer anderen Person oder gar Gruppe tief
und unwiderruflich verletzt worden zu sein. Beweise dafür – wie erwähnt – gibt
es nicht, was aber für den Wahn nicht nur eigentümlich, sondern geradezu
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charakteristisch ist (siehe das ausführliche Kapitel über den Wahn mit dem alles erklärenden Standard-Satz: „Es ist so!“).
So plagen sie ständige Zweifel (das Wort „plagen“ charakterisiert dabei die
vom „genervten“ Umfeld gerne vergessene Tatsache, dass auch der Betroffene selber ein gequältes Opfer seines Krankheitsbildes zu sein pflegt), so plagen sie also ständig ungerechtfertigte Zweifel bezüglich der Glaubwürdigkeit,
ggf. Loyalität ihrer Untergebenen, Vorgesetzten, Mitarbeiter, ja Freunde und
sogar Partner, Eltern, Kinder. Und weil sie diese Zweifel nicht abstreifen können, müssen ständig deren Bemerkungen und Handlungen auf Beweise feindseliger Absicht hin überprüft werden, und zwar nicht nur ständig, sondern auch
minutiös, bis ins kleinste Detail, von dem die „Verursacher“ aber nicht die geringste Ahnung haben. Daran knüpften sich dann auch die unseligen Konsequenzen. Denn jede subjektiv wahrgenommene Abweichung von der Glaubwürdigkeit oder Loyalität des Umfeldes dient zur Unterstützung der zwar nicht
beweisbaren, aber eben auch unerschütterlichen Annahme: „es ist so, es gibt
keine Zweifel“.
Diese falsche Interpretation geht so weit, dass Menschen mit einer paranoiden
Persönlichkeitsstörung sogar erstaunt sind, wenn sich ein anderer, d. h.
Freund oder Partner, ganz offensichtlich so loyal verhält, wie er es nicht erwartet hat, weshalb er ihm trotzdem, ja gerade deshalb nicht glauben oder trauen
kann. Ein Teufelskreis. Denn gerade wenn sie in Schwierigkeiten geraten, erwarten diese Menschen, dass gemäß ihrer verqueren Einstellung alle, einschließlich Freunde oder Partner, sie entweder ignorieren, demütigen, beschämen, kränken, verunglimpfen oder gar attackieren, schädigen – und damit in
ihrer krankhaft-falschen Meinung bestätigen.
- Wer mit dieser Störung geschlagen ist, dem widerstrebt es auch, sich anderen anzuvertrauen, ja mit ihnen in (engeren) Kontakt zu treten, Vereinbarungen zu treffen, Verträge zu schließen. Kurz: Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung sind zwischenmenschlich blockiert, unfähig, ohne Argwohn,
Skepsis und Misstrauen etwas in die Wege zu leiten. Denn „irgendwas droht
immer“, das war so, das ist so, das bleibt so – leider, wie die (ja falsch interpretierte) Erfahrung lehrt. Denn bei allem müssen sie befürchten, dass ihre eigenen Informationen gegen sie verwandt werden und dass das, was ihnen an
Informationen übermittelt wird, falsch, heimtückisch, auf jeden Fall kritisch zu
hinterfragen ist.
So lehnen sie beispielsweise die Beantwortung persönlicher Fragen mit der
Bemerkung ab: warum eigentlich, zu welchem Grund (des Missbrauchs), wieso hier, jetzt und von dieser Person u. a.? Dies gehe schließlich niemanden etwas an. Das mag zwar im Allgemeinen richtig sein, führt aber im Einzelfall zu
Verunsicherung, Frustration, Verärgerung – und damit zur Erfolglosigkeit, falls
sich ein Mensch mit paranoider Persönlichkeitsstörung hier etwas erhofft ha-
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ben sollte (und auch hätte können, allerdings nicht mit einer solch für alle unverständlichen bis verärgernden Reaktion).
Da wäre es gut, wenn der irritierte Gegenüber wissen dürfte, dass Menschen
mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung selbst in harmlosen Bemerkungen, Fragen oder Kommentaren und vor allem Ereignissen abwertende, ja bedrohliche Bedeutungen hinein lesen. Beispiele: Geschieht irgendwo ein echter
Fehler (bei einer Abrechnung u. a.), wird dies gleich als vorsätzlicher BetrugsVersuch gewertet. Oder es wird eine beiläufige humorvolle Bemerkung als
ernst gemeinter Angriff fehl-interpretiert. Selbst ein Kompliment muss erst
nach allen möglichen und vor allem unmöglichen Kritik-Punkten abgeklopft
werden, beispielsweise zur Frage der Eigennützigkeit, also ob hier etwas zum
eigenen Vorteil geschehen ist, oder zur Anspornung einer noch besseren Leistung, vielleicht sogar als pure Ironie. Und so verwundert es auch nicht, dass
sogar freundliche Hilfsangebote, selbstlos, gut gemeint, sinnvoll, den gewünschten Erfolg absichernd, eher als Kritik gesehen werden, beispielsweise
selber nicht gut genug zu sein.
- Die Humor-Bereitschaft ist übrigens ein Punkt, der ebenfalls das Umfeld
verdrießt. Humor vermitteln und empfangen, sich in einer Humor-Atmosphäre
frei und problemlos, gebend wie nehmend, auf jeden Fall aber arglos und
ohne Hintergedanken zu bewegen, das ist ein guter Indikator für den inneren
Zustand eines Menschen. In einigen Fällen, z. B. bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen, bei den paranoiden aber besonders, ist nur selten damit zu
rechnen. Eigentlich nie. Hier wird der Humor, falls überhaupt als solcher ins
Gespräch gebracht, eher ironisch, zynisch oder gar sarkastisch getönt sein,
und zwar entweder selber vorgebracht oder so empfunden.
Dort übrigens, wo der Humor ansonsten gerne gesehen und wechselseitig
ausgetauscht wird, plötzlich aber einen kritischen Stellenwert annimmt, hat
sich in der Wesensart bzw. innerseelischen Stabilität des Betreffenden etwas
verändert. Das geht von einem plötzlichen oder schließlich dauerhaften
Schmerz-Leiden über depressive Zustände, vor allem aber eine ansonsten
medikamentös gut eingestellte Schizophrenie, wenn sich ein Rückfall anzudeuten droht. Hier und in einer Reihe weiterer Krankheitsbilder auf seelischer
Ebene (s. u.) ist die Humor-Bereitschaft ein guter Gradmesser dessen, was
sich gerade in negativer Hinsicht abzuzeichnen droht. Negativ im Sinne von
entsprechenden Konsequenzen im zwischenmenschlichen Bereich, man kann
es sich denken; negativ aber auch was die Ursachen anbelangt, nämlich dass
er erneut oder erstmals oder wie auch immer in seelische und psychosoziale
Not gerät, die ihm die Humor-Fähigkeit folgenschwer wegzuschmelzen droht.
Interessant dabei auch die Erkenntnis, dass sogar Überforderungs- und Erschöpfungs-Syndrome (Leidensbilder), allen voran das heute überall diskutierte Burnout-Syndrom (erschöpft  verbittert  ausgebrannt), ebenfalls die Humor-Bereitschaft zu untergraben vermag.
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- Im zwischenmenschlichen Bereich spielt der Faktor „verzeihen“ bzw. die
Bereitschaft dazu, eine große, heilsame, auf jeden Fall die Gemeinschaft stabilisierende Rolle. Wehe dem, der dazu nicht in der Lage ist, aus welchen
Gründen auch immer. Doch Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung
tragen lange nach und sind unwillig, subjektiv empfundene Kränkungen, Herabsetzungen oder Verletzungen zu verzeihen. Ja, sogar leichtere Vernachlässigungs-Vermutungen rufen Groll, Reizbarkeit, Aggressivität, wenn nicht gar
schwere Feindseligkeit hervor. Und gerade diese feindlichen Gefühle wollen
und wollen kein Ende nehmen, bestehen jedenfalls unverständlich lange Zeit –
und vergiften die Atmosphäre schließlich auf Dauer.
Und da sie konstant auf die schlecht gemeinten Intentionen, d. h. Absichten,
Pläne, Ziele und Tendenzen anderer achten, meinen sie oft, dass ihre Wesensart, ihr Charakter, ihre Reputation, d. h. ihr Ansehen in Frage gestellt,
wenn nicht angegriffen worden seien. Und wenn sie dafür keine Beweise bringen können, dann heben sie das auf eine andere Verstandes-, zumindest Interpretations-Ebene, auf die ihnen dann niemand folgen kann. Und schon dürfen sie sich wieder ohne für sie nachvollziehbare Einwände ihrer Verdächtigungen sicher sein: Erneut sind sie missachtet, wenn nicht gar verachtet, hintergangen, zumindest benachteiligt worden. Und das bringt sie so schnell in
fast blinde Wut, dass sie rasch einen Gegenangriff starten, ungezügelt und vor
allem nicht abgewogen, was die Konsequenzen anbelangt; dafür zornig, haltlos, ohne die Scherben bedenkend, die sich daraus ergeben könnten – nicht
zuletzt für sie selber.
- Das kann vor allem auch die pathologische Eifersucht betreffen, wo sie
ohne jede Berechtigung den Ehe- oder Lebenspartner verdächtigen, untreu zu
sein, in Träumen, Worten, wenn nicht gar Taten hintergangen zu werden. Deshalb sammeln sie banale und beiläufige „Beweise“ zur Unterstützung ihrer eifersüchtigen Vorwürfe und versuchen jegliche (!) Partnerschaft so vollständig
und für den anderen „entnervend“ bis „emotional strangulierend“ zu kontrollieren, wie es nur irgend möglich ist. Dadurch wollen sie vermeiden, betrogen zu
werden, wie sie unbeirrbar annehmen. Und wenn dies fast lückenlos gelingen
sollte, bezweifeln sie trotzdem die Treue des anderen, stellen alle Beweise in
Abrede, bringen eigene „Beweise“ vor, „befragen“ den anderen in fast kriminalistischer und auf jeden Fall demütigender bis kränkender Weise. So bleiben
die Beziehungen schwierig, oft ein Martyrium, häufig die Hölle auf Erden. Auf
jeden Fall verwundert es nicht, dass diese Art von Persönlichkeitsstörungen
größte Probleme mit einer vertrauensvollen und engen Beziehung hat.
Ihr ungewöhnliches Misstrauen bis hin zu gnadenloser Feindseligkeit muss
sich aber nicht nur in offensiver Wut, Streitbarkeit und vielleicht sogar aggressiven Durchbrüchen äußern, es kann sich auch in wiederholten Klagen (der
Mensch mit paranoider Persönlichkeitsstörung als Opfer), ja sogar durch stille,
aber offensichtlich feindselige Reserviertheit, Distanzierung, Unnahbarkeit
ausdrücken.
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Da sie – von ihrer „gnadenlosen Störung getrieben“ – hinsichtlich möglicher
Bedrohungen überaus wachsam sind, gelten sie nicht nur als vorsichtig, abwägend, kalkulierend, ja abweisend, sondern wirken oft auch „unterkühlt“, wenn
nicht „kalt“, auf jeden Fall ohne echte menschliche, vor allem aber zärtliche
Gefühle mit der entsprechenden Fähigkeit zur emotionalen Zuwendung. Das
lässt sie – zumindest zunächst – als rationale und nüchtern urteilende Persönlichkeiten erscheinen, manchmal auch als „knallharte Verstandesmenschen“,
für die sie sich auch gerne selber halten; doch dahinter findet sich ein instabiles Gemütsleben, fachlich als „schwankender Affektbereich“ bezeichnet. Und
weil sie innen so verwundbar sind, müssen sie nach außen förmlich, unflexibel, ja stur, unnahbar bis feindlich, ironisch, vielleicht sogar zynisch bis sarkastisch auftreten. Aber das ist ein „Schuss in den eigenen Rücken“. Denn diese
misstrauische, ja kämpferische Wesensart pflegt nicht jeden in die Knie zu
zwingen, führt letztlich zur Distanzierung (und damit Ausgrenzung, ggf. Isolierung), vielleicht sogar zu einem Feindbild der anderen, auf jeden Fall zu abwehrenden bis selber feindlichen Reaktionen. Und genau das ist es, was ein
Mensch mit paranoider Persönlichkeitsstörung dann als Bestätigung erwartet
und – tragischerweise – auch findet, also Bestätigung für seine nicht beweisbaren, unflexiblen bis starren Negativ-Erwartungen („ich wusste es ja“).
- Da solche Menschen also fast schon grundsätzlich anderen misstrauen,
haben sie naturgemäß ein großes Bedürfnis, sich selber zu genügen, um damit jene Stabilität zu erringen, die sie sich durch eigenes (Fehl-)Verhalten verbauen. Oder kurz: Sie entwickeln ein übersteigertes Bedürfnis, ja sie ringen
förmlich um Autonomie („ich bin ich“). Autonomie aber setzt ein hohes Maß an
Kontrolle über alle möglichen Umstände, auf allen möglichen Ebenen, zu jeder
Zeit voraus. Wie kann man sonst autonom denken, handeln und planen, wenn
man nicht weiß, was im Umfeld möglich ist, sich gar bedrohlich entwickelt,
wahrscheinlich zum Schaden des um Autonomie Ringenden.
Die Stichworte in der Psychopathologie der paranoiden Persönlichkeitsstörung
sind also: rigide (starr, was die Denk- und Handlungsweise angeht), (über-)kritisch gegenüber anderen und vor allem zur Zusammenarbeit unfähig. Dafür
große Schwierigkeiten, Kritik an der eigenen Person zu akzeptieren, vielleicht
sogar noch nützlich umzusetzen; und die zwiespältige Fähigkeit, andere für
ihre eigenen Unzulänglichkeiten verantwortlich zu machen.
- Da sie zu den erwähnten (vor-)schnellen Gegen-Angriffen als Reaktion auf
vermeintliche Bedrohungen neigen, gelten sie als streitsüchtig und sind häufig
in rechtliche Auseinandersetzungen verwickelt. Auf solche Eskalationen angesprochen, versuchen sie, oftmals rhetorisch nicht ungeschickt, ihre vorgefasste Meinung über andere Personen oder Situationen zu beweisen, in dem sie
böswillige Absichten unterstellen. Psychodynamisch sind das natürlich die eigenen, auf andere projizierten Ängste (Einzelheiten s. später). Im Alltag aber
machen sie das Geschehen noch komplizierter, weil ein um Objektivität be-
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mühter Neutraler natürlich erst einmal versuchen muss, diese Vorwürfe zu entkräften. Das spielt aber wieder den Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung in die Hände: Zeitgewinn, Unsicherheit, Beschwichtigung, Kompromiss, damit die Möglichkeit, vielleicht den Kopf wieder aus der Schlinge zu ziehen – um aber gleich wieder neue Fronten aufzubauen.
- Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung können auch unrealistische, ja grandiose Phantasien entwickeln; und sie verfügen über ein feines
Gespür für Macht und Rangstellung. Auch neigen sie dazu, negative Stereotypien (starre Vorurteile) über andere zu entwickeln, nicht zuletzt aus fremden
Bevölkerungsgruppen. Häufig werden sie auch als Fanatiker angesehen, gründen eng verflochtene Sekten und Gruppen mit anderen, die ihre paranoiden
Werte-Systeme teilen. Einzelheiten dazu siehe später das Kapitel „zur Psychodynamik paranoider Persönlichkeitsstörungen“.
- In der ICD-10 der WHO (s. u.) wird als charakteristisches Beschwerdebild
noch auf folgende Symptome hingewiesen:
Möglich sind nicht nur ungerechtfertigte Gedanken an Verschwörungen als Erklärung für Ereignisse in der näheren Umgebung und in aller Welt, die einen
Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung belasten können. Möglich
sind auch ungewöhnliche Wahrnehmungs-Erlebnisse mit so genannten Körpergefühls-Störungen oder anderen illusionären Verkennungen, d. h. krankhaft
verfälschte Wahrnehmungen realer Gegebenheiten; oder das Hinzufügen vermeintlicher Wahrnehmungen zu den wirklichen, so dass sich ein komplexes
Täuschungs-Phänomen ergibt (z. B. Baumstumpf als kauernde Gestalt). Bei
den illusionären Verkennungen (vom lat.: illudere = verhöhnen, verspotten) ist
somit im Gegensatz zur reinen Halluzination ein Sinnesreiz vorhanden, der jedoch subjektiv in der Wahrnehmung umgedeutet wird. Ähnliches gilt für so genannte Depersonalisations-Erlebnisse (auf einen kurzen Nenner gebracht: Ich
bin nicht mehr ich selber) und Derealisations-Erlebnisse (alles so sonderbar,
fremd, unwirklich um mich herum).
Vorübergehend kann es auch zu so genannten quasi-psychotischen Episoden
mit intensiven illusionären Verkennungen, akustischen (Gehörs-) oder anderen
Halluzinationen (Sinnestäuschungen, Trugwahrnehmungen) sowie wahn-ähnlichen Ideen kommen. Diese Episoden psychose-naher oder psychotischer
Zustände treten im Allgemeinen ohne äußere (sichtbare, nachvollziehbare)
Veranlassung auf, können aber auch als Reaktion auf (subjektiv empfundenen) Stress ausgelöst werden. Die Dauer erstreckt sich aber in der Regel auf
nur wenige Minuten bis höchstens einige Stunden.
Die Frage, welchen Stellenwert nun eine solche Symptomatik im Rahmen eines psychotischen Spektrums (was also alles dazu gehören kann) einnimmt,
wird unterschiedlich beantwortet. Unter gewissen Umständen kann aber eine
paranoide Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 auch als prämorbider Vorläufer
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(also vor Ausbruch der eigentlichen Erkrankung) einer wahnhaften Störung
oder gar Schizophrenie interpretiert werden. Auch eine Major Depression (früher am ehesten mit einer endogenen, also biologisch angelegten und häufig
vererbten Depression vergleichbar) kann sich daraus entwickeln. Gleiches gilt
für ein offenbar erhöhtes Risiko für bestimmte Angststörungen (z. B. eine Agoraphobie) oder Zwangsstörungen. Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie.
Um aber gleich eine Folge-Frage zu beantworten: Paranoide Persönlichkeitsstörungen sollten nicht diagnostiziert werden, wenn das Verhaltensmuster
ausschließlich im Verlauf einer schizophrenen Psychose, einer affektiven Störung (z. B. manisch-depressiven oder nur depressiven Erkrankung mit psychotischen Merkmalen) oder einer anderen psychotischen Störung auftritt. Und
natürlich nicht, wenn sich das Beschwerdebild auf die direkte körperliche Wirkung einer organischen Krankheit zurückführen lässt, z. B. in neurologischer
Hinsicht auf eine Temporallappen-Epilepsie (Schläfenlappen-Epilepsie, heute
komplex-fokale Epilepsie genannt).
Kurzgefasste Klassifikation der paranoiden Persönlichkeitsstörung
Nachfolgend nun noch einmal eine kurz gefasste Übersicht, wie es die ICD-10
der WHO und das DSM-IV-TR der APA vermittelt, was eine paranoide Persönlichkeitsstörung in Stichworten darstellt:
 Paranoide Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 der WHO
Folgende Kriterien müssen erfüllt sein:
-
-
-
Übertriebene Empfindlichkeit bei Rückschlägen und Zurücksetzungen
Neigung zu ständigem Groll wegen der Weigerung, Beleidigungen, Verletzungen oder Missachtungen zu verzeihen
Misstrauen oder starke Neigung, Erlebtes zu verdrehen, in dem neutrale
oder freundliche Handlungen anderer als feindlich oder verächtlich missdeutet werden
streitsüchtiges und beharrliches, situations-unangemessenes Bestehen auf
eigenen Rechten
häufig ungerechtfertiges Misstrauen gegenüber der sexuellen Treue des
Ehe- oder Sexualpartners
Tendenz zu stark überhöhtem Selbstwertgefühl, dass sich in ständiger
Selbstbezogenheit zeigt
Inanspruchnahme durch ungerechtfertigte Gedanken an Verschwörungen
als Erklärungen für Ereignisse in der Nähe und Umgebung und in aller Welt
Ungewöhnliche Wahrnehmungserlebnisse mit Körpergefühlsstörungen
oder anderen Illusionen, ferner Depersonalisations- und Derealisationser-
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-
lebnisse (d. h. kurz gefasst: „ich nicht nicht mehr ich“ bzw. „alles so sonderbar um mich herum“)
Denken und Sprache: vage umständlich, metaphorisch (bildlich), gekünstelt, stereotyp oder anders seltsam, ohne ausgeprägte Zerfahrenheit
gelegentlich vorübergehende, quasi psychotische Episoden mit intensiven
Illusionen, akustischen oder anderen Halluzinationen (Trugwahrnehmungen) und wahnähnlichen Ideen; diese Episoden treten im Allgemeinen
ohne äußere Veranlassung auf.
 Diagnostische Kriterien der Paranoiden Persönlichkeitsstörung im
DSM-IV-TR der APA
A. Tiefgreifendes Misstrauen und Argwohn gegenüber anderen, so dass deren Motive als böswillig ausgelegt werden. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und zeigt sich in verschiedenen Situationen. Mindestens
vier der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
(1) verdächtigt andere ohne hinreichenden Grund, ihn/sie auszunutzen, zu
schädigen oder zu täuschen,
(2) ist stark eingenommen von ungerechtfertigten Zweifeln an der Loyalität
und Vertrauenswürdigkeit von Freunden oder Partnern,
(3) vertraut sich nur zögernd anderen Menschen an, aus ungerechtfertigter
Angst, die Informationen könnten in böswilliger Weise gegen ihn/sie
verwandt werden,
(4) liest in harmlose Bemerkungen oder Vorkommnisse eine versteckte,
abwertende oder bedrohliche Bedeutung hinein,
(5) ist lange nachtragend, d. h. verzeiht Kränkungen, Verletzungen oder
Herabsetzungen nicht,
(6) nimmt Angriffe auf die eigene Person oder das Ansehen wahr, die anderen nicht so vorkommen, und reagiert schnell zornig oder startet
rasch einen Gegenangriff,
(7) verdächtigt wiederholt ohne jede Berechtigung den Ehe- oder Sexualpartner der Untreue.
B. Tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Schizophrenie, einer Affektiven
Störung mit Psychotischen Merkmalen oder einer anderen Psychotischen
Störung auf und geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück.
WIE HÄUFIG IST EINE PARANOIDE PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG?
Die Häufigkeit der paranoiden Persönlichkeitsstörung wird je nach Untersuchung leicht variierend angegeben, bleibt aber in der Regel zwischen 0,4 und
1,8 (2,5)% in der Gesamt-Bevölkerung.
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In der Klientel einer Fachklinik finden sich hingegen deutlich mehr Betroffene.
Beim DSM-V-TR ist von zwei bis zehn Prozent bei ambulant behandelten und
zehn bis 30% bei stationären Patienten die Rede. In einer deutschen Untersuchung sind es allerdings deutlich weniger. Welche Aspekte hier eine Rolle
spielen, zumal im Wesentlichen die gleichen Erfassungs-Instrumente genutzt
werden, ist noch offen (Nationalität?).
Innerhalb der Gesamtgruppe der Persönlichkeitsstörungen macht die paranoide Persönlichkeitsstörung einen Anteil zwischen 4 und 5% aus (in anderen
Untersuchungen bis zu 8%) und gehören damit zu den selteneren Persönlichkeitsstörungen.
Das alles wirkt – zumindest zahlenmäßig – nicht sehr imponierend, fast möchte man von einer „gesellschaftlichen Entwarnung“ sprechen. Doch das ist ein
Irrtum. Gerade bei Persönlichkeitsstörungen im Allgemeinen und der paranoiden Persönlichkeitsstörung im Besonderen ist die so genannte Dunkelziffer
besonders hoch. Tatsächlich scheint die Prävalenz (Häufigkeit) insbesondere
der paranoiden Persönlichkeitsstörung deutlich unterschätzt zu werden. Denn
es leuchtet ein, dass vor allem Personen mit diesem Krankheitsbild sich wegen ihres grundsätzlichen Misstrauens gegen alles und jeden selten zu entsprechenden Untersuchungen zur Verfügung stellen. Und in ambulante oder
gar stationäre Behandlung kommen sie sicher noch seltener.
Alters- und Geschlechtsmerkmale, kulturelle und erbliche Aspekte
- Vom Alter her ergibt sich auch hier die Erfahrung, dass sich die Persönlichkeitsstörungen im Allgemeinen und die paranoide Persönlichkeitsstörung
im speziellen schon sehr früh zu zeigen vermögen – negativ. Nicht selten findet man sie schon in der Kindheit, spätestens aber in der Adoleszenz (also bei
Heranwachsenden), wobei sich vor allem folgende Symptome häufen:
Einzelgängertum, spärliche Beziehungen zu Gleichaltrigen, soziale AngstReaktionen, geringer Schulerfolg, Überempfindlichkeit, eigenwillige Denkund Sprechweise, außergewöhnliche Phantasien u. a.
Diese Kinder pflegen als „merkwürdig“ oder gar „exzentrisch“ eingestuft und
abgelehnt zu werden, was sich natürlich auch in entsprechenden Hänseleien,
in Mobbing und Diskriminierung zeigen kann.
- In geschlechtsspezifischer Hinsicht gibt es keine Unklarheiten: Männer
überwiegen z. T. deutlich (bzw. fallen mit ihrer eigenen geschlechtsspezifisch
akzentuierten Wesensart wohl auch eher auf).
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- In gesellschaftlicher oder konkreter: soziokultureller Hinsicht mahnen die
Experten allerdings zur Vorsicht. So können manche Verhaltensweisen, die
durch bestimmte Gebräuche oder spezifische Lebensumstände hervorgerufen
werden, irrtümlich auch als paranoid (wahnhaft) verkannt und bezeichnet, ja
durch fachärztliche oder -psychologische Untersuchung ohne ausreichenden
Informationsstand sogar irrtümlich diagnostiziert und verstärkt werden. So weisen vor allem die US-amerikanischen Erkenntnisse (USA: „Schmelztiegel“ vieler Völker in einem klassischen Einwanderungsland) darauf hin, dass Angehörige von Randgruppen, Einwanderer, politische oder Wirtschafts-Flüchtlinge
oder Menschen mit einem fremden ethnischen Hintergrund durchaus wachsame oder abwehrende, auf jeden Fall absichernde Verhaltensweisen an den
Tag legen können, was aber keine krankhafte Reaktion ist, sondern der Versuch, mit der Unvertrautheit der Umgebung (z. B. durch Sprachbarrieren oder
Unkenntnis von Regeln, Gesetzen und Bräuchen) besser zurecht zu kommen.
Das gleiche gilt auch für die Reaktion auf (subjektiv?) empfundene Ablehnung
bzw. Gleichgültigkeit der Gesellschaft, d. h. Nachbarn, Arbeitgeber, Behörden
usf. Das Problem liegt dann vor allem in den Konsequenzen dieser eigentlich
vermeidbaren Konflikt-Situationen. Denn solche Verhaltensweisen können
wiederum im Gegenzug Frustration, Enttäuschung, ja Wut und Ablehnung bei
denjenigen auslösen, die mit diesen Personen zu tun haben. Das Endergebnis
ist ein Teufelskreis gegenseitigen Misstrauens, das aber nicht mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung als konkreten Auslöser zu verwechseln ist. Außerdem gibt es durchaus ethnische Gruppen mit kulturbedingten Verhaltensweisen, die von nicht Eingeweihten als misstrauisch bis wahnhaft fehl-interpretiert werden können.
- Zur Frage der genetischen bzw. hereditären (erblichen) Hintergründe einer
paranoiden Persönlichkeitsstörung gibt es eine Reihe von Untersuchungen,
die aber bisher nicht die gewünschte Sicherheit vermitteln. Auf jeden Fall gibt
es Hinweise für eine höhere Prävalenz der paranoiden Persönlichkeitsstörung
bei Angehörigen von Patienten mit einer chronischen Schizophrenie und für
Angehörige von Patienten mit einer wahnhaften Störung vom Typ des Verfolgungswahns.
Außerdem gibt es Studien über paranoide Persönlichkeitszüge bei den Verwandten von Patienten mit Schizophrenie und affektiven Störungen (also manisch-depressiven Erkrankungen). Hier werden enge (genetische?) Beziehungen diskutiert. Oder kurz: Gibt es einen erblichen Zusammenhang zwischen
Schizophrenie und paranoider Persönlichkeitsstörung? Dies zwar schon, doch
bleiben paranoide Persönlichkeitsstörungen nach dem heutigen Stand der
Forschung offenbar ein eigenes Krankheitsbild, allerdings im breiten Spektrum
psychotischer und psychose-naher Erkrankungen.
KO-MORBIDITÄT: WENN EINE KRANKHEIT ZUR ANDEREN KOMMT
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Praktisch alle Persönlichkeitsstörungen weisen eine hohe Ko-Morbiditäts-Rate
auf. Und hier vor allem die paranoiden Persönlichkeitsstörungen. Dies zum
einen mit anderen Persönlichkeitsstörungen, besonders mit schizo-typischen
Persönlichkeitsstörungen (über 40%?), aber auch mit narzisstischen, vermeidend-selbstunsicheren und Borderline-Persönlichkeitsstörungen.
Eine Ko-Morbidität zwischen paranoider Schizophrenie oder wahnhafter Störung einerseits und der paranoiden Persönlichkeitsstörung andererseits scheint
aber nicht belegbar.
Oft kommen auch Alkohol-Abhängigkeit, Rauschdrogen-Konsum und Medikamenten-Abhängigkeit zusammen vor. Wenn Alkoholismus und paranoide Persönlichkeitsstörung gemeinsam auftreten, ist mit einem besonders schweren
Leidensbild in Bezug auf den Alkoholismus zu rechnen. Hier wird auch deutlich, in welch verzweifelter Lage manche Patienten mit paranoider Persönlichkeitsstörung sind: Ständig in Abwehr und Angriff verstrickt – und damit ungeheuer verwundbar, permanent durch einen Verschleiß ihrer psychophysischen
Reserven bedroht und deshalb der scheinbaren Hilfe von Alkohol, Drogen und
Medikamenten besonders zugetan.
Hier passt dann auch ein weiterer Befund im Kapitel Ko-Morbidität hinein,
nämlich die Verquickung von paranoider Persönlichkeitsstörung und Angststörung, worauf schon einmal hingewiesen wurde. Dies vor allem bei Panik-Attacken. Patienten mit Panikstörung und paranoider Persönlichkeitsstörung zugleich sind von einem früheren Krankheitsbeginn als üblich, einer längeren
Krankheits-Dauer und einem ausgeprägteren Leidensbild betroffen. Manche
Experten vermuten deshalb, dass zumindest leichte paranoide Züge auch die
Folge chronischer Angststörungen sein könnten. Das aber bedarf noch der
Beweissicherung.
Auf jeden Fall gilt eines: Paranoide Persönlichkeitsstörungen beeinträchtigen
den Betroffenen selten allein. Am häufigsten sind es mehrere Persönlichkeitsstörungen auf einmal, was für sich genommen schon eine Extrem-Belastung
bedeutet. Kein Wunder, dass hier noch andere seelische Krankheiten dazu
kommen können, einschließlich der entgleisten Selbstbehandlungs-Versuche.
DIFFERENTIALDIAGNOSE: WAS KÖNNTE SONST NOCH ZUR DISKUSSION STEHEN?
Die Frage, was außer der vermuteten Diagnose sonst noch zur Diskussion
stehen könnte (Fachbegriff: Differentialdiagnose), ist gerade bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung nicht ohne Bedeutung.
- Als Erstes gilt es Persönlichkeits-Veränderungen auf Grund eines medizinischen Krankheitsfaktors abzugrenzen, oder konkret: ein organisches Leiden,
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das zu seelischen Störungen führt, die einer paranoiden Persönlichkeitsstörung ähneln können. Von der Schläfenlappen-Epilepsie war schon die Rede.
Desgleichen von dem gemeinsamen Auftreten eines so genannten SubstanzGebrauchs, wie man das heute nennt, früher als Suchtkrankheit oder Abhängigkeit bezeichnet. Das betrifft sowohl den Alkoholismus, vor allem aber bestimmte Rauschdrogen (z. B. Kokain).
Weniger dramatisch, aber nicht zu vernachlässigen, sind auch paranoide
(wahnhafte) Züge im Rahmen einer körperlichen Behinderung. Eine solche,
die nebenbei jeden treffen kann, ist die Schwerhörigkeit. Das mag auf den ersten Blick etwas weit hergeholt erscheinen, hat aber durchaus bedeutsame Beispiele. Einzelheiten zu diesen Krankheitsbildern, sofern sie seelische bzw.
psychosoziale Folgen nach sich ziehen, siehe die entsprechenden Kapitel in
dieser Serie.
- Was sich tatsächlich mitunter schwierig auseinanderhalten lässt, sind vergleichbare Wesenszüge und Symptome anderer Persönlichkeitsstörungen.
Hier gilt es also die entsprechenden Unterschiede mit ihren charakteristischen
Eigenschaften herauszuarbeiten. Das ist besonders dann problematisch, wenn
die Wertigkeit der diagnostizieren Kriterien so ähnlich ist, dass man an die
schon erwähnte Ko-Morbidität denken muss. Trotzdem seien hier auf Grund
der Hinweise aus dem DSM-IV-TR der APA doch einige Unterschiede genannt:
- - Die paranoide Persönlichkeitsstörung und die schizotypische Persönlichkeitsstörung teilen die Eigenschaften Misstrauen, zwischenmenschliche Reserviertheit und paranoide (wahnhafte) Vorstellungen. Doch die schizo-typische Persönlichkeitsstörung schließt recht charakteristische Krankheitszeichen eigentümlichen, vor allem magischen Denkens und Sprechens sowie ungewöhnliche Wahrnehmungs-Erfahrungen mit ein.
- - Patienten mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung werden häufig als
seltsam, exzentrisch, kalt und distanziert wahrgenommen. Dafür zeigen sie in
der Regel keine paranoiden Vorstellungen. Mit der schizoiden Persönlichkeitsstörung hat die paranoide Persönlichkeitsstörung zwar die Neigung zum sozialem Rückzug gemeinsam, allerdings nicht als Haupt-Merkmal. Und das oft ans
Wahnhafte grenzende übersteigerte Misstrauen fehlt den schizoiden Patienten. Auch lehnen sie soziale Kontakte bewusst ab, während sich paranoide
Persönlichkeitsstörungen oft durch äußere „feindliche Einwirkungen“ an sozialen Kontakten gehindert sehen.
- - Die Tendenz von Patienten mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung,
auf kleine Reize mit Ärger zu reagieren, sieht man auch bei der BorderlinePersönlichkeitsstörung und der histrionischen (hysterischen) Persönlichkeitsstörung. Diese beiden Krankheitsbilder sind dagegen nicht unbedingt mit einem alles durchdringenden Misstrauen verbunden.
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- - Menschen mit einer vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung
(wie sie bisher nur im DSM-IV-TR vorkommt) können ebenfalls zögerlich sein,
zurückhaltend, anderen zu vertrauen, aber eher aus Angst, verlegen zu werden oder als unzulänglich zu gelten. Hier findet sich kaum Furcht vor der böswilligen Absicht anderer, wie es die paranoiden Persönlichkeits-Gestörten unterstellen.
- - Antisoziale Persönlichkeitsstörungen streben nach persönlichem Gewinn
oder neigen dazu, andere auszubeuten. Das gibt es bei den paranoiden Persönlichkeitsstörungen selten (obgleich beide Persönlichkeitsstörungen natürlich auch zusammen vorkommen können). Hier ist es eher eine Art RacheWunsch, der auch bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung als
antisoziales/asoziales/dissoziales Verhalten imponieren kann.
- - Auch narzisstische Persönlichkeitsstörungen können gelegentlich mit
Misstrauen, sozialem Rückzug oder Entfremdung reagieren. Doch das basiert
vor allem auf Angst, man könne ihre kleinen Schwächen oder Unzulänglichkeiten erkennen, die sie durch ihr großspuriges und „ego-manisches“ Verhalten
zu überspielen trachten.
- - Mit der paranoiden schizophrenen Psychose, der schizotypen Störung,
den anhaltenden wahnhaften Störungen und den vorübergehenden akuten
psychotischen Störungen mit den Symptomen einer Schizophrenie (Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel) haben paranoide Persönlichkeitsstörungen zwar die Neigung zu übersteigertem Misstrauen gemeinsam. Was ihnen
aber fehlt, ist eine systematische Wahnform, die sich schon gar nicht ein halbes oder ganzes Leben unverändert zeigt.
- - Zuletzt muss man auch an paranoide (wahnhafte) Persönlichkeitszüge
denken. Solche Charakterzüge können nämlich durchaus vergleichbar erscheinen, insbesondere in einer bedrohlichen Umgebung und zusätzlich mit den
heute möglichen technisch-perfekten (z. B. Überwachungs-)Methoden ausgerüstet. Deshalb noch einmal:
Eine paranoide Persönlichkeitsstörung sollte nur dann diagnostiziert werden,
wenn die Verhaltensweisen unflexibel, unangepasst und überdauernd(!)
sind und in bedeutsamer Weise erhebliche seelische, psychosoziale und sogar psychosomatisch interpretierbare Beeinträchtigungen bzw. ein ausgeprägtes subjektives Leiden verursachen.
Wahnhafte Persönlichkeitszüge hingegen sind zum einen weniger ausgeprägt
und zum anderen eher situations-gebunden.
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URSACHEN UND KRANKHEITSVERLAUF
Zu Ursachen und Krankheitsverlauf (Fachbegriffe: Ätiologie und Pathogenese)
von paranoiden Persönlichkeitsstörungen liegen keine wissenschaftlich gesicherten Daten vor. Dafür hilft eine größere Zahl von Mitteilungen weiter, die auf
klinischen Erfahrungen und kasuistischen (Einzelfall-)Beobachtungen beruhen
und dabei ein im Wesentlichen übereinstimmendes Bild ergeben. Im Einzelnen:
Neben den so genannten dispositionellen Faktoren (Disposition = Neigung,
aber auch Anlage und damit Nähe zu erblichen Aspekten) im Sinne einer
übermäßigen Aggressions-Neigung gab es schon Interpretations-Versuche vor
hundert Jahren, die vor allem auf den berühmten Psychoanalytiker Prof. Dr.
Sigmund Freud zurück gehen (1911). Er nahm zuerst latente homosexuelle
Impulse und deren Abwehr durch Projektion (auf andere) an, eine inzwischen
„klassische“ Auffassung, die nicht mehr viel Anhänger hat und im Übrigen
auch widerlegt erscheint. S. Freud nahm deshalb später eine zusätzliche Belastung an, nämlich frühe existentielle Bedrohungen für die Entstehung paranoider Persönlichkeitsstörungen (1922/23).
Während die auch erwähnten homosexuellen Tendenzen in der wissenschaftlichen Diskussion heute keine Rolle mehr spielen, ist das für äußere Umwelteinflüsse in der frühen Kindheit nach wie vor bedeutsam. So sprach man davon, dass paranoide Persönlichkeitszüge (also nicht -störungen) ihre Wurzeln
in schweren Frustrationen (vom lat.: frustra = vergebens) der frühen Kindheit
hätten, die die Entwicklung des „Ur-Vertrauens“ beeinträchtigten. Stattdessen
entwickelten sich Pessimismus, Scham und Zweifel.
In einer weiteren Überlegung nahm man an, dass es die Unfähigkeit der Mutter sei, in unaufdringlicher Präsenz die Entwicklung des kindlichen Selbst (also
der Gesamtheit des Seelen-Systems) zu fördern. Das wiederum führe zu
Angst, Rückzug, Misstrauen, der Unfähigkeit zu spielen und zur Beschäftigung
mit gewaltsamen Phantasien. Andere Experten behaupteten, Personen mit paranoider Persönlichkeitsstörung seien grausam behandelt und körperlich missbraucht worden. Wieder andere führten die Beobachtung an, dass solche Patienten in Familien aufgewachsen seien, in denen offene Grausamkeiten Streitigkeiten und eine sado-masochistische Atmosphäre dominierten. Und schließlich wurde ein Mangel an elterlicher Fürsorge und schwere Traumatisierungen
(seelische Verwundungen) in der Kindheit mit emotionaler (Gemüts-) Vernachlässigung und Zurückweisung der kindlichen Anlehnungsbedürfnisse beobachtet.
Diesen überwiegend neurosen-psychologischen Aspekten (wie man das früher
in Expertenkreisen nannte) stehen heute neuro-psychologische ForschungsErgebnisse gegenüber, die sich auf Fehlfunktionen des Zentralen Nervensystems spezialisieren und denen natürlich eine Vielzahl faszinierender techni-
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scher Möglichkeiten zur Verfügung steht (Beispiele: bildgebende und elektrophysiologische Verfahren).
Einzelheiten zu diesen komplexen Methoden, Resultaten und Diskussions-Beiträgen finden sich in dem ausführlichen Kapitel über den Wahn in dieser Serie.
Dort wird versucht, allgemein verständlich und kurz gefasst auf die bisher vorliegenden Studien-Ergebnisse zu den neurobiologischen und neuropsychologischen Korrelaten (sich ergänzende und ausschließende Wechselbeziehungen) Stellung zu nehmen. Dabei wird aber deutlich, dass eine neuro-wissenschaftlich fundierte und empirisch (erfahrungs-bedingt) gestützte Theorie des
Wahns gegenwärtig noch nicht möglich ist.
Auf jeden Fall geht man bisher davon aus, dass die Ursachen wahnhafter Störungen generell (ohne Differenzierung der einzelnen Krankheitsbilder, wie sie
hier immer wieder angeführt werden) auf einer komplexen neuronalen (Gehirnsubstanz und Gehirn-Funktion) und psychologischen Organisations-Ebene zu
suchen sind, wie es die Experten ausdrücken. Deshalb überrascht es auch
nicht, dass gegenwärtig ganz verschiedene theoretische Ansätze miteinander
konkurrieren und die Daten-Lage stellenweise widersprüchlich, ja unübersichtlich ist. Hier tut noch eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit Not, an
der vor allem neurobiologische, psychologische, sozialwissenschaftliche und
psychiatrische Konzepte beteiligt sein sollten.
Zur Psychodynamik der paranoiden Persönlichkeitsstörung
Da hat es die psychodynamische Forschung leichter. Sie kann auf ein gutes
Jahrhundert aktiver wissenschaftlicher Tätigkeit, vor allem aber Diskussion
und damit eine Reihe einleuchtender Hypothesen, Theorien und Konzepte zurückgreifen. Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Übersicht. Zuerst aber
eine knappe Definition des Begriffs.
Unter Psychodynamik versteht man den Erklärungsversuch der Psychoanalyse für seelische Erscheinungen, die sich aus den dynamischen Beziehungen
der einzelnen Persönlichkeits-Anteile untereinander ergeben. Dabei ist die von
S. Freud entwickelte Vorstellung eines psychischen Apparates von Bedeutung,
der z. B. zwischen Unbewusst-Bewusstem und Es-Ich-Über-Ich unterscheidet.
Einzelheiten dazu siehe das Kapitel über „Neurosen einst und heute“ in dieser
Serie. Auf jeden Fall finden sich hier psychische Phänomene wie Verdrängung, Fehlleistung, phobische Ängste u. a., die sich aus den Aktivitäten der
einzelnen Instanzen des psychischen Apparates (vor allem gegeneinander) erklären lassen. Was ergibt sich nun dabei für die paranoiden Persönlichkeitsstörungen (empfohlene Fach-Literatur für kurz gefasste Übersichten: W. Tress
u. Mitarb.: Persönlichkeitsstörungen – Leitlinie und Quellentext. SchattauerVerlag, Stuttgart-New York 2002):
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So wird beispielsweise überlegt, ob sich eine paranoide Persönlichkeitsstörung dadurch entwickelt, dass eine unzureichende Introjektions-Fähigkeit vorliege, vor allem was sicherheit-gebende und konstant fürsorgliche primäre Bezugspersonen anbelangt. Eine Introjektion ist in der psychoanalytischen Lehre
jener psychische Vorgang, bei dem das Bild (Fachbegriff: die Imago) eines anderen (geliebten oder gehassten) Menschen in das eigene Ich übernommen
wird, eine Art Assimilation, also innerseelische Angleichung oder Anpassung.
Das führt zu einer defizitären, zumindest aber wenig integrierten psychischen
Strukturierung. Die Folge: mangelhaftes Selbstwertgefühl und geringgradige
Integration des Über-Ichs (jenes Anteils im psychischen Apparat, der eine Art
moralische Instanz repräsentiert).
Tatsächlich wurde und wird immer wieder auf das fragile (brüchige) Selbstwertgefühl und die Selbstzweifel von Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung hingewiesen. Äußerlich wirken sie fordernd, arrogant und misstrauisch; kennt man sie besser, erscheinen sie dagegen ängstlich, scheu und
voller Selbstzweifel.
Dazu können – wie erwähnt – paranoide und narzisstische Persönlichkeitszüge nebeneinander auftreten. Das kompliziert die Situation noch mehr. Beispielsweise in der Diskrepanz zwischen rigoros und bis zum Fanatismus vertretenen Moral-Vorstellungen einerseits und dem völligen Unverständnis für
die Amoralität des eigenen(!) Handeln andererseits.
Die Abwehr (siehe Abwehrmechanismen in dem besagten Beitrag über „Neurosen einst und heute) bei Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung
steht ganz im Dienste des Selbst-Erhalts und des Schutzes vor Enttäuschung.
Sie ist unflexibel und starr. Der dominierende Abwehr-Mechanismus ist die
Projektion, aber auch die projektive Identifizierung, die Spaltung, die Idealisierung und Entwertung (Einzelheiten s. u.).
Das komplexe krankhafte Seelen-Gefüge führt jedenfalls dazu, dass eine Beständigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen kaum möglich ist. Immer
wieder kann eine – äußerlich betrachtet – geringfügige Enttäuschung dazu
führen, dass die andere Person als abgrundtief schlecht und vertrauensunwert
angesehen wird. Daran ist vor allem die eigenartige Kombination schuld, dass
hier zwei ganz unterschiedliche Aspekte des Selbst erlebt und ertragen werden müssen: nämlich ein einzigartiges und großartiges und ein schwaches
und wertloses Selbst. (Zum Begriff Selbst noch einmal eine Reihe von Definitionen: Gesamtumfang aller seelischen Phänomene des Menschen, der die
Einheit und Ganzheit der Gesamtpersönlichkeit ausdrückt. Oder: Synonym für
Persönlichkeit. Oder: Alles, was den Menschen ausmacht, Körper, Es-IchÜber-Ich. Oder: innerseelische Struktur, die ein Teil des Ich darstellt, das unter
normalen Bedingungen zu einem harmonischen Ganzen entwickelt werden
kann u. a.)
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Auf jeden Fall sind hier die Ich-Funktionen der Realitäts-Prüfung und der Affekt-Neutralisierung nachhaltig beeinträchtigt, d. h. was ist Wirklichkeit und wie
kann ich meine Gemütsregungen unter Kontrolle halten. Denn wenn Letzteres
nicht funktioniert, dann dominieren Angst, Wut und Enttäuschung, was die
Selbst-Steuerung vor allem in aggressiver Hinsicht deutlich verringert.
In zwischenmenschlicher Hinsicht erleben sich Personen mit paranoider Persönlichkeitsstörung immer wieder als Opfer feindseliger Handlungen anderer,
die das Ziel haben, sie zu demütigen oder gar zu schädigen. Deshalb seien
ihre misstrauische Haltung und ihre kontrollierenden Handlungen lediglich notwendige Maßnahmen zum Selbstschutz. Trotzdem erlebten sie sich oft als
furchtsam und unterlegen. Dagegen empfinden sie andere so, wie sie selber
oft empfunden werden: arrogant, misstrauisch, anklagend, fordernd, emotional
kalt, übermäßig selbstsicher und leicht erregbar. Außerdem fühlen sie sich
entweder grundlos beschuldigt oder gar gedrängt, Stellung gegen andere, als
schädigend wahrgenommene Personen zu beziehen. Da sie das aber nicht
einsehen, vor allem nicht ihre dafür vorgeschobenen Gründe, ziehen sie sich
nach und nach verärgert, frustriert und ernüchtert zurück.
Das Krankheitserleben von Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung
ist vor allem dadurch charakterisiert, dass ihr Leidensdruck nicht auf die Störung selbst bezogen ist, sondern auf die wahrgenommenen feindlichen Umstände in der Außenwelt, insbesondere die (scheinbaren, für den Patienten
aber undiskutabel realen) massiven Beeinträchtigungen und SchädigungsVersuche durch ihre Mitmenschen. Je nachdem ob dieses Misstrauen auf
einen Lebensbereich beschränkt bleibt oder sich auf weitere ausdehnt, sind
auch die psychosozialen Folgen zu ertragen. So kommt es vor, dass solche
Menschen beispielsweise im Berufsleben durchaus erfolgreich sind, weil sie
gerade dort eine gewisse Selbstwert-Stabilisierung erreichen können, im Privaten aber dann an ihre Grenzen stoßen.
Die Motivation zu einer Psychotherapie ist aber in der Regel kaum zu erwarten. Das verwundert auch nicht nach all dem, was oben dargelegt wurde. Es
wird zwar auch von Ausnahmen berichtet, aber die sind eher selten. Das leitet
zum letzten Kapitel über, nämlich
ZUR THERAPIE DER PARANOIDEN PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG
Dass die Behandlung einer paranoiden Persönlichkeitsstörung ihre Schwierigkeiten hat, sofern sie überhaupt zustand kommt, geht aus den obigen Darstellungen nachvollziehbar hervor.
Paranoide Persönlichkeiten begeben sich nur selten auf Grund ihrer Persönlichkeitsmerkmale in Behandlung. Die Hindergründe sind bekannt: ihre man-
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gelnde Bereitschaft, anderen zu vertrauen und die Neigung, die Ursachen für
eigenes Missempfinden bei anderen zu suchen (und zu finden). Wenn ein
Kontakt zustande kommt, dann sind es seelische Probleme und ihre psychosozialen Konsequenzen auf anderer Ebene, z. B. Substanz-Missbrauch (Alkohol, Rauschdrogen, Arzneimittel, Nikotin) oder so genannte somatoforme Störungen (Einzelheiten siehe das entsprechende Kapitel in dieser Serie). Und
natürlich Lebens-Konflikte jeglicher Art, die naturgemäß nicht selten zu erwarten sind.
Das heißt aber auch: Kontrollierte Therapie-Studien liegen für diese Erkrankung nicht vor, am ehesten mit Diagnosen im Sinne der erwähnten Ko-Morbidität (beispielsweise bei Patienten mit zusätzlicher Agoraphobie, also einer
spezifischen Angststörung; aber auch hier vorzeitig abgebrochen). Das heißt:
Es kommt kaum zu einer Behandlung und wenn, dann häufig zu vorzeitigem
Therapie-Abbruch.
Deshalb: Auf was ist zu achten, was ist realistisch und hat im Rahmen der begrenzen Möglichkeiten eher Erfolg? Einzelheiten dazu siehe die Fach(!)-Bücher wie Tress u. Mitarb.: Persönlichkeitsstörungen und Leitlinie und Quellentext, Schattauer-Verlag, Stuttgart-New York 2002 sowie S 2: Praxisleitlinien in
Psychiatrie und Psychotherapie, Band 1: Persönlichkeitsstörungen. SteinkopffVerlag, Heidelberg 2009. Nachfolgend nur einige Stichworte:
Als Erstes geht es um die Erstellung eines therapeutischen Arbeitsbündnisses
(das ist ohnehin der erste Schritt in jeglicher Therapeut-Patient-Beziehung,
hier aber besonders problem-befrachtet und für den weiteren Verlauf bedeutsam). Entsprechend der Einstellung des Patienten mit paranoider Persönlichkeitsstörung wird sich der Therapeut damit abfinden müssen, als schlechtes
und verfolgendes Objekt wahrgenommen zu werden, gegenüber dem mit Misstrauen und Abwehr zu reagieren ist. (Anmerkung: In der Trieblehre S. Freuds
wurde und wird immer noch als Objekt nicht nur ein Gegenstand bezeichnet,
sondern auch eine Phantasie-Vorstellung oder eine Person, durch die innerseelisch etwas erreicht bzw. befriedigt werden kann. Der Begriff „Objekt“ hat in
der Psychoanalyse zunehmend an Bedeutung gewonnen.)
Diese schwierige Therapeut-Patient-Situation setzt deshalb ein transparentes
und verständnisvolles Arbeiten voraus, d. h. größtmögliche Offenheit. Auch
dürfen die Patienten nicht gedrängt werden, über heikle Gedanken und Gefühle zu sprechen, bevor eine ausreichende Vertrauensbeziehung gewährleistet
ist. So muss insbesondere am Anfang auf konfrontative Strategien verzichtet
werden, die sofort als Angriff interpretiert würden. Ja, der Therapeut muss sich
sogar als „Container“ für überquellende Gefühle des Hasses wegen Schlechtigkeit oder Schwäche zur Verfügung stellen, ausgehend von einem extrem
geringen Selbstwertgefühl und einer massiven Kränkungs-Wut, die nur darauf
wartet, ein Ziel in Angriff nehmen zu können. Das alles braucht Zeit – und therapeutische Gelassenheit.
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Weil es also nur mit einem ausreichend stabilisierten Patienten bzw. der dadurch erreichten konstruktiven Therapeut-Patient-Beziehung möglich ist, die
folgenreichen Erlebens- und Verhaltensmuster des Patienten zu identifizieren
und zu einer realistischeren Sicht von sich und anderen zu gelangen, geht es
in der ersten Zeit vor allem um stützende und selbstwert-stabilisierende Interventionen, und zwar durchaus langfristig angelegt. Die ideale therapeutische
Atmosphäre ist deshalb respektvoll und akzeptierend, aber nur selten freundlich und warmherzig, da auch dies als verdeckte Feindseligkeit, ja TäuschungsVersuch fehl-gedeutet werden könnte. Der Therapeut muss sich immer im Klaren sein, dass alles, aber auch alles vom Patienten als Angriff, Vorwurf oder
Kränkung interpretiert werden kann. Das Gleiche gilt natürlich für ironische, ja
auch nur humorvolle Bemerkungen (s. o.). Ein Streit ist unter diesen Bedingungen schnell entfacht, sollte aber natürlich vermieden werden – was aber
nicht heißt, dass sich der Therapeut die krankhaften Auffassungen des Patienten zueigen machen muss. Doch ist auch sonst, zumindest gelegentlich, mit
feindseligen, ja aggressiven Reaktionen zu rechnen. Hier empfehlen die Experten alles zu tun, damit der Patient sein Gesicht wahren kann. Außerdem
soll man selbst umfangreiche Erläuterungen nicht scheuen, damit er keinen
Anlass zu beharrlichem Misstrauen entwickelt. Schließlich gilt es bei der Wahrung seiner Selbstkontrolle zu helfen. Und zuletzt darf man nicht bei der Ermutigung nachlassen seinen Ärger nicht gewaltsam auszuagieren, sondern durch
Worte zu kanalisieren und damit zu neutralisieren (Zitat: „Schimpfen erwünscht…“).
Diese therapie-spezifischen Hinweise wurden in diesem Zusammenhang etwas ausführlicher erläutert, weil sie auch anderen Mitmenschen, also NichtTherapeuten eine halbwegs hilfreiche Basis für ein dann auch halbwegs erträgliches Miteinander vermitteln können.
Was die konkreten Aspekte einer psychotherapeutischen Intervention anbelangt, so sollen hier nur noch wenige Stichworte angeschlossen werden. Wer
sich detaillierter informieren will, dem seien die entsprechenden Fachbücher
empfohlen (siehe Literaturverzeichnis), wobei es aber zusätzlich günstig ist,
einen in dieser Hinsicht erfahrenen Experten zu konsultieren, wie man hier gezielter und damit erfolgreicher vorgehen soll. Dies betrifft natürlich auch die
Beratung von Angehörigen eines Patienten mit paranoider Persönlichkeitsstörung.
Zu den konkreten Maßnahmen zur Veränderungs-Strategie im Leben eines
solchen Patienten auf psychotherapeutischer Basis gehören die kognitiv-behavioralen sowie die psychodynamischen Veränderungs-Strategien.
Die wichtigsten Ziele der kognitiv-behavioralen Änderungsstrategien sind die
Klärung und Förderung der Einsicht in das Gefühls-, Wahrnehmungs- und Reaktions-Stereotyp (d. h. was in diesen Bereichen immer wieder starr und unbe-
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einflussbar aufstößt), die Förderung von Vertrauen in zwischenmenschliche
Beziehungen (Fachbegriff: Bindungs-Kompetenzen) sowie die Unterstützung
bei der Lösung von Alltagsproblemen zur Vermeidung eskalierender psychosozialer Schwierigkeiten.
Weitere Aufgaben sind die Steigerung der Problemlösungs-Fähigkeit, der sozialen Fertigkeiten, der Abbau von Angst durch die Bewertung anderer sowie
die Konzentration auf lohnende Behandlungs-Ziele im Alltag, vor allem zwischenmenschlich (wobei der bisher gepflegte wahnhafte Stil langsam verblassen sollte). Dabei geht es insbesondere um die schon erwähnten Krisen und
Konflikte im Alltag und eine möglichst angepasste Art, damit umzugehen. Dies
stützt die Verbesserung der so genannten Eigen-Effizienz und Selbstsicherheit
des Patienten im Umgang mit zwischenmenschlichen Konflikt-Situationen. Damit kann sich die subjektiv empfundene Bedrohung von außen zunehmend relativieren. Nach und nach lässt sich dann auch an der krankhaften Neigung eines wahnhaften emotionalen „Empfindens“ arbeiten. Oder kurz: Der Patient
muss lernen, „seinem Misstrauen zu misstrauen und seinen paranoiden Kognitionen (Wahrnehmungsmustern) nicht zu glauben“.
Am Schluss steht die Erkenntnis, dass die Welt weit weniger feindselig ist als
es bisher erlebt wurde. Und dass es sowohl gute und teils auch gleichgültige
als auch böse Menschen gibt. Auf jeden Fall sollte man sich nicht von der verhängnisvollen Neigung leiten lassen, ein ständiges Misstrauens-Gefühl einreißen zu lassen. Hier helfen dann auch bestimmte Übungen, um die Angst vor
Kritik und Erniedrigung und damit entsprechende Misstrauens-Effekte in Grenzen zu halten.
Das alles wird wohl am ehesten in einer Einzeltherapie bewältigbar sein, falls
es der Patient durchhält. Zwar gibt es auch Indikationen zur Gruppen-Therapie, doch die hat ihre eigenen Problem-Felder, die gerade bei paranoiden Persönlichkeitsstörungen zu beachten sind. Deshalb die Empfehlung: Wenn überhaupt, dann erst im Anschluss und erfolgreichen Verlauf einer Einzeltherapie
und auch mit hoher Sorgfalt ausgewählt.
Bei den psychodynamischen Veränderungs-Strategien geht es neben der Etablierung eines therapeutischen Arbeitsbündnisses (s. o.) um den Umgang mit
den meist aggressiven und zerstörerischen Übertragungen im Alltag. (Übertragung: psychoanalytischer Begriff, bei dem in der Therapie frühkindliche Einstellungen, Wünsche und Gefühle zu Vater, Mutter u. a. jetzt auf den Psychotherapeuten übertragen werden. Der Patient verhält sich dann gegenüber dem
Therapeuten, wie er es diesen Personen gegenüber in früher Kindheit getan
hat.)
Auch hier muss ein konfrontatives Vorgehen mit eventuell latent feindseligen,
vorwurfsvollen oder kränkenden Äußerungen vermieden werden. Das heißt
aber auch, dass entsprechende Deutungen, was die erwähnte Übertragung
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anbelangt, erst nach einiger Zeit der innerseelischen Stabilisierung möglich
sind. Und erst zum Schluss sind dann auch spezifische Gefühle wie Schuld,
Scham und Ängste diskussions- und klärungsfähig.
Schlussfolgerung: Es gibt – wie erwähnt – keine kontrollierten Therapiestudien
bezüglich der Psychotherapie von Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung. Die möglichen Probleme leuchten inzwischen jedem ein, der dieser
Abhandlung bis hierher gefolgt ist. Auch die häufige Abbruchsrate spricht eine
deutliche Sprache. Trotzdem sollten die kognitiv-verhaltenstherapeutischen
Behandlungsformen durchaus Erfolg versprechen, sofern die Therapeuten
entsprechend ausgebildet (und frustrations-tolerant) sind – und der Patient seinen nicht unerheblichen Beitrag dazu zu leisten vermag. Allerdings sind weitere empirische Forschungen dringend notwendig, was sich aber gerade bei paranoiden Persönlichkeitsstörungen lohnen dürfte.
Psychopharmakotherapie?
Die meisten Persönlichkeitsstörungen gelten – jedenfalls nach bisherigem
Kenntnisstand – als pharmakotherapeutisch wenig bis gar nicht beeinflussbar.
Das ändert sich natürlich von Fall zu Fall und vor allem bei der erwähnten Komorbidität, d. h. wenn weitere Krankheitsbilder, Syndrome (zusammengehörige Krankheitszeichen) oder Symptome dazu kommen. Beispiele: Stress-Folgen, Schlafstörungen, Depressivität, Angstzustände, Zwangsstörungen u. a.
Die paranoide Persönlichkeitsstörung selber gilt jedoch als pharmakotherapeutisch wenig beeinflussbar. In manchen Fällen aber, vor allem bei extremer
Feindseligkeit der Umwelt gegenüber und dann auf Grund deren Reaktionen
kann hingegen eine so genannte symptom-orientierte antidepressive Psychopharmaka-Behandlung sinnvoll, zumindest mildernd sein. Sofern dies vom Patienten akzeptiert wird, geht es dann vor allem um bestimmte Antidepressiva,
Neuroleptika und Rezidiv-Prophylaktika (z. B. Lithium oder Carbamazepin).
Bei zunehmend wahnhaftem Charakter des Beschwerdebildes sind hochpotente Neuroleptika mit ihrer antipsychotischen Wirkung mitunter nicht zu umgehen, zumindest zeitlich begrenzt. Bei schweren aggressiven Durchbrüchen
gilt dies auch für Benzodiazepin-Tranquilizer, die bekanntlich einen milden
anti-aggressiven Effekt entwickeln können.
Was die Erkenntnisse der neuropsychologischen Untersuchungen, vor allem
mit den bildgebenden Verfahren anbelangt, könnte sich jedoch die Pharmakotherapie eines Tages heilsam in den Vordergrund schieben (ob mit dem bisher
verfügbaren Psychopharmaka-Arsenal oder mit neueren medikamentösen
Überlegungen, wie sie in der forensischen Forschung angedacht sind). Einzelheiten dazu siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie, vor allem „das
Böse aus psychiatrischer Sicht“.
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LITERATUR
Schon historisch ausführliche Darlegungen, insbesondere was den Wahn anbelangt. In letzter Zeit auch vermehrt zum Thema paranoide (wahnhafte) Persönlichkeitsstörungen, vor allem aus dem englisch-sprachigen Bereich. Nachfolgend eine begrenzte Übersicht, die auch ältere Beiträge enthält.
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