geschichte g - Bergmoser und Höller

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U N T E R R I C H T S M AT E R I A L I E N
G GESCHICHTE
b e t r i fft u n s
6· 2005
Der Islam
Mit zwei farbigen OH-Folien
Entstehung, Frühzeit, Ausbreitung
Der Islam
Entstehung, Frühzeit, Ausbreitung
Z U M I N H A LT
1
M AT E R I A L I E N
5
Grundkurs: Entstehung und Ausbreitung des Islam
5
1. Teil: Der Islam und der Westen: Ist ein Dialog möglich?
M 1.2 Dialog statt Vorurteil
M 1.3 Der Dialog darf nicht nur Taktik sein
5
5
5
2. Teil:
M 2.1
M 2.2
M 2.3
M 2.4
M 2.5
M 2.6
M 2.7
M 2.8
M 2.9
M 2.10
Was ist eigentlich der Islam?
Der erste Muslim
Das Glaubensbekenntnis
Gespräch mit einer Muslima
Dimensionen des Islam
Vergleich der 3 Weltreligionen
Gemeinsamkeiten
Trennendes
Der Koran
Vielfalt des Glaubens
Vor welchen Herausforderungen steht der Islam?
6
6
6
7
7
8
8
9
10
11
3. Teil:
M 3.1
M 3.2
M 3.3
M 3.4
Herrschaft und Spaltung im frühen Islam
Zeittafel
Begründung von Kalifat und Schisma
Ein guter Rat für den Kalifen
Das Kalifat als göttliche Ordnung
12
12
12
13
13
4. Teil:
M 4.2
M 4.3
M 4.4
Die arabisch-muslimische Expansion
Ein Soldat Amrs, des Eroberers von Ägypten, erzählt
Erklärungsansätze
Islamisierung: Wie verbreitete sich der Islam?
14
14
14
18
5. Teil:
M 5.1
M 5.2
M 5.3
Ist der Islam eine kriegerische Religion?
Djihad – heiliger Krieg der Muslime?
Das islamische Verständnis von Krieg und Frieden
Der Islam – friedlich oder kriegerisch?
18
18
19
19
6. Teil:
M 6.1
M 6.2
M 6.3
Der Islam – die überlegene Kultur?
Modernität und Erkenntnis
Warum verlor der Islam seine Überlegenheit?
Westliche Vorurteile
20
20
21
21
Erweiterungsmodul: Frauen im Islam
M 7.1
Frauen im Koran
M 7.2 Die Frau im frühen Islam
M 7.3 Frauen und Islam heute
M 7.4 Von der Muslima zur Frauenrechtlerin – Ayaan Hirsi Ali
22
22
22
23
25
Folien
M 1.1
M 4.1
„Test the West“
Die arabisch-muslimische Expansion
Folie 1
Folie 2
Klausurvorschlag
„Warum sind die Muslime ökonomisch zurückgeblieben?“
26
UNTERRICHTSVERL AUF
27
L I T E R AT U R
3. Umschlagseite
Hinweis der Redaktion:
Für das Jahr 2006 ist eine Ausgabe
von „Geschichte betrifft uns“ zum Thema „Christen und Muslime – Begegnung der Kulturen“ geplant.
Impressum
Herausgeberin:
Myrle Dziak-Mahler
Autorinnen und Autoren:
Andreas Bremm
Birgit Jathe
Klaus Wohlt
Erscheinungsweise:
sechs Ausgaben pro Jahr
Abonnement pro Jahr:
48,– € unverb. Preisempf. inkl. MwSt.
zzgl. 4,50 € Versandpauschale (innerhalb Deutschlands)
Mediengestaltung:
graphodata AG, Aachen
Anzeigen:
Kirsten Mainz
T 0241-93888-173
Druck:
Image Druck GmbH, Aachen
Verlag:
Bergmoser + Höller Verlag AG
Karl-Friedrich-Straße 76
52072 Aachen
DEUTSCHLAND
T 0241-93888-123
F 0241-93888-188
E [email protected]
www.buhv.de
Titelbild:
Das Grabmal Mohammed Ahmeds in
Khartum. Reproduktion nach: Francis
Robinson: Weltatlas der alten Kulturen.
Der Islam. München: Christian Verlag
1990, 4. Aufl., S. 127
ISSN 0176-943X
Z U M I N H A LT
1
Andreas Bremm/Birgit Jathe/Klaus Wohlt
Der Islam
Entstehung, Frühzeit, Ausbreitung
Der Islam und der
Westen
Das Thema Islam beschäftigt und
beunruhigt seit dem 11. September 2001 die Öffentlichkeit in besonders starkem Maße. Es ist in allen
Medien präsent, mal reißerisch aufgemacht und Gewalt assoziierend, mal
seriös in umfangreiche Dossiers eingebettet (z.B. www.zeit.de). Umfragen lassen Ängste erkennen, der Islam wird als „Gefahr für die westliche
Welt“ gesehen (z.B. http://sozpsy.unitrier.de/umfragen/usa/ergebnisse).
Muslime ihrerseits beklagen verstärkte Feindseligkeit durch die deutsche
Bevölkerung. Für die Entstehung und
Verallgemeinerung integrationsfeindlicher Vorurteile gibt es viele Gründe,
ein wichtiger ist die Unkenntnis der
muslimischen Religion und Kultur. Genauso wie wir nicht mit Neonazis und
deren Tun in einen Topf geworfen
werden wollen als „Deutsche“, so
wehrt sich auch die überwiegende
Mehrheit der Muslime gegen die Verzerrung des Islam durch fundamentalistische Terroristen.
Die Problematik dieses verbreiteten
Vorurteilsklimas wird auch in den vorliegenden offiziellen Quellen (hier die
ehemalige Integrationsbeauftragte der
Bundesregierung und der ehemalige
Präses der evangelischen Kirche im
Rheinland – vgl. M 1.2 und M 1.3) gesehen. Diese beiden Vertreter machen den wahrscheinlich einzig vernünftigen Vorschlag, nämlich mit der
anderen Seite in den Dialog zu treten.
Trotz Bedenken wegen der „Dialogfalle“ sehen die Autoren keine Alternative.
Im Hinblick auf die genannten Zusammenhänge kann der Geschichtsunterricht Wesentliches leisten: Er
vermittelt differenzierte Kenntnisse
zur „islamischen Welt“, legt damit
Grundlagen zur Erfassung und zum
G
Verständnis gegenwärtiger und sich
abzeichnender Entwicklungen von
welthistorischer Bedeutung und ermöglicht so aufgeklärte Teilnahme an
aktuellen Diskussionen und die Entwicklung differenzierterer eigener Positionen. Der Zugang zum Thema
wird multiperspektivisch gestaltet, sodass anliegende Problemstellungen
ergebnisoffen erarbeitet und diskutiert werden können.
Was ist eigentlich der
Islam?
Der Islam ist die historisch zuletzt entstandene monotheistische Weltreligion, die sich wie Judentum und
Christentum auf denselben Stammvater Abraham beruft. Gemeinsamkeiten finden sich in vielen Bereichen,
vor allem in den ethischen Forderungen an die Gläubigen. Allerdings zeigen auch Gespräche mit dialogbereiten und wohlwollenden Vertretern
der drei Religionen durchaus Trennendes auf.
Der Koran als Zentrum des Glaubens
ist für Muslime das wirkliche und
wahre Wort Gottes. Ein muslimischer
Autor wie Salman Rushdie, den aber
die meisten Muslime als Ketzer ansehen und der mit einer Todes-Fatwa
belegt ist, fordert dagegen, den Koran
als historische Quelle anzusehen und
entsprechend wissenschaftlich zu arbeiten. Damit nähert er sich einer
westlichen kritischen Exegese.
Beim Islam handelt es sich um ein
umfassendes System religiöser, sozialer, kultureller, rechtlicher und politischer Aspekte. Einzelne Muslime
fordern eine Anpassung an die modernen Gegebenheiten und Herausforderungen, was von traditionellen
Gläubigen aber heftig abgelehnt wird.
Diese sehen nämlich gerade im Abweichen von den in ihren Augen ewig
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
gültigen Werten die Ursache vieler
Probleme der Muslime in der modernen Welt.
Islam bedeutet die Hingabe an Gott.
Goethe macht in folgendem Vers aus
seiner Gedichtsammlung „West-östlicher Diwan“ von 1819 klar, dass diese
religiöse Grundhaltung allen Menschen möglich ist: „Wenn Islam Ergebung in Gottes Willen heißt, im Islam
leben und sterben wir alle.“
Formal ist derjenige Muslim, der öffentlich vor Zeugen das Glaubensbekenntnis, die Schahada, ausspricht:
„Ich bezeuge, dass es keine Gottheit
außer Gott/Allah gibt und dass Mohammed der Gesandte Gottes ist.“
Die Glaubenspraxis ist in fünf religiöse
Grundpflichten, den sogenannten
fünf „Säulen des Islam“ konzentriert.
Sie stellen persönliche und gesellschaftliche Handlungen zugleich dar:
1. das Glaubenszeugnis; 2. das rituelle Pflichtgebet fünfmal täglich Richtung Mekka; 3. das Fasten im Monat
Ramadan; 4. die Pflichtabgabe neben
freiwilligen Almosen; 5. die Pilgerfahrt nach Mekka zur Kaaba, dem religiösen Zentrum der islamischen Welt.
Mohammed wird als das „Siegel der
Propheten“ gesehen, das heißt der
letzte in der Reihe von Gottes Boten,
in die nach der Lehre des Koran auch
Jesus Christus gehört. Mohammed ist
danach nur Prophet, er wird nicht als
göttlich angesehen. Die Botschaft
Gottes sei schon früher den Menschen zugesandt worden, von ihnen
aber verändert, vergessen oder verfälscht worden. Deshalb sieht sich der
Islam als abschließende religiöse Offenbarung. Die Bedeutung Mohammeds als Religionsstifter, als Staatsmann und Gesetzgeber, als Krieger,
als Ehemann und als Mitglied eines Stammesverbandes sollte durch
Schülerreferate erarbeitet werden.
Der Islam
2
Z U M I N H A LT
Herrschaft, Spaltung
und Expansion
Bis zum Tode Mohammeds gelang es,
die gesamte arabische Halbinsel der
Umma anzugliedern und Grundzüge
eines Staatswesens zu schaffen, das
die alten tribalen Strukturen überlagerte. Diese Integration der Stämme
unter die Zentralinstanz wird von vielen Historikern als die größte Leistung
des Theokraten gewertet. Nach seinem überraschenden Tod entschied
ein enger Kreis von Mohammed nahestehenden Muslimen im Konsens
über die Nachfolge und die Regierungsform. Mohammed selbst hatte
dazu keine Regelungen hinterlassen
und auch der Koran gab keine Hinweise. Die ersten vier Nachfolger/
Stellvertreter (khalifa) des Propheten
stammten aus diesem Kern der neuen
arabischen Elite. Sie waren frühe
Muslime, Gefährten Mohammeds, die
zum Stamm der Quraisch gehörten
und mit ihm von Mekka nach Medina
geflüchtet waren („Higra“). Diese später
als „rechtgeleitet“ verklärten Kalifen
beanspruchten weder absolute Herrschaft, noch Unfehlbarkeit; sie verstanden sich als Nachfolger des Gesandten Allahs. Mit dem fünften Kalifen aus der Familie der Umaiya –
ebenfalls aus dem Stamm der Quraisch – übernahm die alte mekkanische Geldaristokratie, gegen die der
Prophet gekämpft hatte, die Herrschaft in der Umma. Das Kalifat wurde dynastisch und die UmaiyadenKalifen (661–750) nahmen den Titel
„Stellvertreter Allahs“ an. Sie konnten
sich von Damaskus aus gegen den
vierten Kalifen Ali durchsetzen. Das
Kalifat entwickelte sich also von der
durch Konsens legitimierten Stellvertreterschaft des Propheten zu einer
Herrschaft von „Gottes Gnaden“ und
ist als Produkt der politischen Geschichte des Islam zu verstehen.
Offenbar war das Einvernehmen in
der arabischen Elite, durch das die
„rechtgeleiteten Kalifen“ ausgewählt
wurden, schon früh kaum aufrechtzuerhalten: Der zweite Kalif Umar
(634–644) wurde genauso wie sein
Nachfolger Utman (644–656) ermordet und der vierte Kalif Ali (656–661)
konnte seine Herrschaft bereits nur
auf einen Teil der Muslime stützen
und wurde ebenfalls ermordet. Die
zentrale Streitfrage war die nach der
Legitimation des Kalifats, also nach
G
der Person, die die Umma repräsentieren sollte, die sich kaum eindeutig beantworten ließ. Weitgehend unbestrittenes Kriterium blieb das der
Abstammung von den Quraisch. Wesentlich für das Kalifat der „rechtgeleiteten Kalifen“ waren daneben frühe
Verdienste um den Islam gewesen.
Wohl schon für das Kalifat Utmans
war der genealogische Gedanke mitentscheidend. Er war als früher Muslim und Mitstreiter Mohammeds ein
untypischer Angehöriger der bei den
Quraisch führenden Familie Umaiya.
Der Kalif Ali, ebenfalls Gefährte des
Propheten, war dessen Vetter und
Schwiegersohn und somit nächster
männlicher Nachkomme. Diese Verwandtschaft wurde von den Anhängern Alis (Partei Alis = Schia Ali) zur
einzigen Legitimationsbasis des Kalifats erhoben. Spätestens im ersten
innerislamischen Krieg zwischen Alis
Anhängern und seinen Gegnern war
die Umma in Sunna und Schia gespalten. Nach dem Bürgerkrieg erschien
der Statthalter in Damaskus Mu’awiya von den Umaiya „einer überwiegenden Mehrheit der Muslime als die
einzige unter den gegebenen Verhältnissen zur Herrschaft fähige Persönlichkeit. […] Das Herrschaftsproblem
hatte sich eindeutig von einer Legitimationsfrage zu einer Machtfrage hin
verschoben.“ (Noth, A.: Früher Islam.
In: Geschichte der arabischen Welt,
S. 78.)
Unter Umar, der folgerichtig dem Kalifentitel „Anführer der Gläubigen“
hinzufügte, begann die arabische Expansion über die arabische Halbinsel
hinaus. In weniger als 100 Jahren bis
zur gescheiterten Belagerung Konstantinopels (715) erstreckte sich das
Kalifenreich von der iberischen Halbinsel bis zum Indus. Der schnelle und
weitreichende militärische Erfolg der
arabischen Expansion, die von den
Kriegen gegen die von der Umma abfallenden Stämme auf der arabischen
Halbinsel nach dem Tod Mohammeds
ausging (Ridda-Kriege), ist zunächst
mit günstigen historischen Voraussetzungen wie der Schwäche des byzantinischen sowie des sassanidischen
Reiches zu erklären. Die Eroberer stießen, schon weil sie vielfach als Befreier von der Herrschaft dieser Großreiche begrüßt wurden, zunächst auf
wenig Widerstand. Zudem verlangten
sie von den „Schriftbesitzern“ keine
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Konversion zum Islam, sondern boten
gegen Abgaben Schutz (dhimma). Die
Motive der Muslime zur kriegerischen
Expansion umfassten einmal das Umlenken von innerem Konfliktpotential
auf gemeinsame Beutezüge und die
Stabilisierung der Herrscherposition
des Kalifen, um die Einheit der Umma
zu sichern. Der Kampf für Erhalt und
Stärke der islamischen Umma qualifizierte diesen Kampf als „Sache Gottes“ und der kämpferische Einsatz des
Einzelnen in diesem Sinne – schon in
der vorislamischen arabischen Gesellschaft ein Wert an sich – wurde als
verdienstlich vor Gott angesehen. Diese besondere Motivation der Kämpfer
war sicherlich auch Hintergrund des
militärischen Erfolgs gegen Söldnertruppen. Die Expansionskriege sind
nicht in missionarischer Absicht geführt worden, schon weil die kämpfenden Stammesverbände vom Tribut, der Beute und der Kopfsteuer
profitierten – letztendlich ein weiteres
nicht zu unterschätzendes Motiv, die
Expansion auszuweiten. Die Arabisierung und innere Islamisierung der
vom Kalifenreich beherrschten Territorien gestalteten sich vielmehr als
langwieriger Prozess, der, angesichts
der religiösen Toleranz der Muslime,
mit der Attraktivität und dem Sog der
„herrschenden Religion“ bzw. der Religion der Herrschenden und auch mit
der Befreiung von der Kopfsteuer für
Konvertiten erklärt werden kann. Die
These, der Islam sei gewaltsam verbreitet worden, mit „Feuer und
Schwert“ sozusagen, ist also ein zwar
verbreiteter, jedoch zu simpler Erklärungsansatz. Heutige islamistische
Bestrebungen und Gewalttaten werden in der Öffentlichkeit mit diesem
Mythos verknüpft, da sie häufig als in
einer Jahrhunderte zurückreichenden
Tradition aggressiver, expansionistischer Bestrebungen stehend und als
von „dem Islam“ als einer grundsätzlich gewalttätigen und aggressiven
Religion ausgehend wahrgenommen
werden. Zwar propagieren militante
Extremisten in der Regel eine verklärte Vergangenheit, jedoch ist der Islamismus eher als moderne politische
Ideologie auf islamischer Basis im
Kontext konfliktträchtiger, krisenhafter Entwicklungen in den Staaten des
Nahen Ostens zu sehen.
Der Islam
Z U M I N H A LT
Der Islam – die überlegene Kultur?
Vom „goldenen“ Zeitalter der Blüte islamischer Kultur wird vom 9. bis 11.
Jahrhundert gesprochen. Neben Kulturzentren wie Damaskus und Kairo
wird besonders Córdoba in Andalusien wichtig. Die kulturelle und
zivilisatorische Überlegenheit gegenüber dem „Abendland“ war beeindruckend; die Beispiele in den Quellen
können natürlich nur Schlaglichter
werfen, nämlich auf den Bereich von
Medizin und Astronomie. Während
Mohammed das Streben nach Wissen als göttlichen Auftrag formuliert
hat, sieht sich der Abendländer als Pilger auf dem Weg ins Jenseits. In Erwartung des jüngsten Gerichts misst
er diesseitigem Wissen nur minimalen Wert zu.
Interessant, aber wissenschaftlich
nicht befriedigend beantwortet bleibt
die Frage nach dem Untergang dieser
blühenden Kultur. In der heutigen Diskussion um die Bedeutung bzw. die
Rückständigkeit islamischer Staaten
in vergleichenden Untersuchungen,
wie sie z.B. die UNO durchgeführt hat,
wird dieses Problem schmerzlich bewusst. In Diskussionen ist immer wieder von der jahrhundertelangen Demütigung der Muslime die Rede. Der
berühmte Islamwissenschaftler Bernard Lewis untersucht diese Frage in
einem seiner zahlreichen Bücher
(What Went Wrong?“, deutscher Titel
„Der Untergang des Morgenlandes“,
erhältlich bei der BpB, Bonn 2002).
Nach dem Scheitern vor Wien 1683
und den darauf folgenden Niederlagen musste das Osmanische Reich
1699 im Friedensvertrag von Karlowitz seine Unterlegenheit anerkennen. Als konkrete Folge ergaben sich
in den Führungsschichten die Fragen:
„Was haben wir falsch gemacht?“ sowie „Wer hat uns das angetan?“: Diese Fragen zielen einerseits ab auf einen Sündenbock, andererseits auf
Selbstreflexion. Die Debatte über beide Fragen dauert nach Lewis bis zum
heutigen Tage an.
Frauen im Islam
Aus dem Koran geht hervor, dass
Frauen und Männer gleichzeitig geschaffen worden sind, dass sie gleich
vor Gott sind. Im frühen Islam waren
Frauen nicht unbedingt als unterdrückt anzusehen. Mohammeds ers-
G
te Frau Chadidcha lebte als Witwe
selbstständig und in privilegierten
Verhältnissen. Frauen wie sie machten Heiratsanträge, waren gebildet
und gesellschaftlich engagiert. Seine
Anhänger wies Mohammed später
an, sich in Fragen aller Art an seine
Lieblingsfrau Aischa zu wenden. In
der Frage der Abstammung und der
Legitimität religiöser Führung wurde
der Abstammung von Mohammeds
Tochter Fatima große Bedeutung beigemessen. Der Islam intendierte und
schuf eine bessere Versorgung und sicherere Stellung von Frauen als unter
uneinheitlichen tribalen Strukturen.
Unterschiedliche Auslegungen des
Korans belegen Widersprüchlichkeit
und Widersprüchliches. Insofern verwundert es nicht, Interpretationen zu
finden, die Gleichberechtigung betonen, und andere, die ungleiche Rollen
und Rechte sehen. Eine konsensuale
Theorie, was an der Rolle und Situation der islamischen Frau der Religion
zuzuschreiben ist und was traditionelle patriarchalische Hintergründe hat,
existiert nicht.
Neben historischen reinen Orientklischees (Leben im Harem u.a.) ist
die westliche Darstellung der Rolle
und Situation der Muslimas heute
überwiegend negativ: Unterdrückung
durch praktizierte Scharia, Bevormundung durch männliche Familienmitglieder, aufgezwungener Ehrenkodex,
Ehrenmorde, Zwangsheirat, strikte
Bekleidungsgebote, gravierende Bildungsmängel, gesundheitliche Unterversorgung. Die Situation muslimischer Frauen heute gestaltet sich
vielfältig und differenziert. Zum einen
ergibt die regionale Untersuchung in
islamischen Ländern wie der Türkei,
den arabischen Staaten (und innerhalb derselben), im Iran, in Pakistan,
Indonesien usw. bereits große rechtliche und soziale Differenzen, zum anderen lässt das Leben von Muslimas
in Afrika eine besondere Symbiose
von Religion und Tradition erkennen,
ebenso das Leben von Migrantinnen
in westlichen Ländern. Die Türkei mit
ihrer streng laizistischen Verfassung
bietet eine interessante Sonderrolle.
In Europa ist die Integrationsproblematik in den letzten Jahren zunehmend in den Vordergrund getreten. Es
sind die Migrantinnen, die mehr und
mehr bildungs- und integrationswillig
die Chancen nutzen wollen, die das
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
3
westliche System ihnen im Hinblick
auf Selbstbestimmung und Gleichberechtigung bietet. Nicht selten stoßen
sie dabei auf Schranken durch ihre eigene Verwandtschaft. Es sind dagegen die Traditionalisten und Fundamentalisten unter den Migranten, die
die Migration in den Westen teilweise
dazu benutzen, um mithilfe westlicher
Gesetze und ihnen nützlicher Kreise
in Politik und Gesellschaft die Islamisierung ihrer Gastländer voranzutreiben. Zunehmend wird in Europa auch
die Situation von Musliminnen öffentlich gemacht. Aktuell hat die Arbeit
von Ayaan Hirsi Ali (vgl. M 7.4) unmittelbar die breite Öffentlichkeit sensibilisiert. Es wird in Zukunft die Aufgabe von Politik und Gesellschaft
sein, von einer reinen Multikulturalität
hin zu einer echten Integration zu gelangen.
Methodischer Aspekt:
Sekundärliteratur
Die Quellenlage legt als einen fachmethodischen Schwerpunkt die Auswertung von Sekundärquellen nahe.
Ausschnitte aus Werken zweier Autoren durchziehen die Materialsammlung, Bassam Tibi und Hans Küng, deren Sachkompetenz unangefochten
ist. Tibi kontribuiert wissenschaftliche
Distanz zu einem Thema, das er als Insider kennt, Küng kann als kritisches
Pendant mit westlicher Biografie gelten. Beiden geht es um Aufklärung
von Sachverhalten, das Erreichen
einer breiten Öffentlichkeit, Multilog
mit dem Ziel des Auffindens von
Schnittmengen ebenso wie von praktikablen Lösungen für ein gewaltfreies
Zusammenleben und das Aufbrechen
veralteter, unhaltbar gewordener Inhalte und Strukturen. Im Unterrichtszusammenhang können die Intentionen beider Autoren mehrfach sinnvoll
thematisiert werden, auch im Hinblick
auf den Klausurvorschlag, bei dem ein
Aufsatz Tibis zu bearbeiten ist.
Ebenso wird in den Materialien mehrfach das handbuchartige Standardwerk „Geschichte der arabischen
Welt“, begründet von U. Haarmann zitiert. (Die nachfolgenden Informationen über B. Tibi und H. Küng können
den Schülerinnen und Schülern als
Handout ausgeteilt werden.)
Der Islam
4
Z U M I N H A LT
Bassam Tibi wurde am 04.04.44 in Damaskus geboren. Er zählt zu den renommiertesten deutschen Politologen. 1963 kam Tibi nach Deutschland und studierte
Sozialwissenschaft, Philosophie und Geschichte in
Frankfurt. Neben seiner Professur für Internationale Beziehungen in Göttingen hatte er verschiedene Gastprofessuren in Amerika, Asien und Afrika inne. Daneben ist
er Mitglied diverser Projekte wie dem „Culture Matters“-Projekt der Harvard University.
Bassam Tibi erhielt 1995 das Bundesverdienstkreuz
und wurde 1997 vom „Amerikanischen Biographischen
Institut“ zum Mann des Jahres gewählt.
Tibi ist sunnitischer Muslim und nach eigenem Verständnis liberaler Reformmuslim, der sich den Werten
der Aufklärung, den Grund- und Menschenrechten verpflichtet fühlt. Sein Anliegen ist der religiöse und politische Dialog, was in seiner Tätigkeit für Organisationen
wie „Arabische Organisation für Menschenrechte“, „Islamisch-Jüdischer Dialog“ und „Córdoba-Trialog“ zum
Ausdruck kommt. Zusammen mit dem deutsch-jüdischen Prof. Wolffsohn wurde er 2003 mit dem Jahrespreis der „Stiftung für Abendländische Besinnung“ (Zürich) ausgezeichnet.
Tibi hat eine Vielzahl eigener Werke publiziert, die zur
Information über die islamische Welt beitragen sollen.
Darüber hinaus hat er sich durch Beiträge in Zeitungen,
Zeitschriften und Fernsehdiskussionen einen Namen
gemacht.
Hans Küng wurde 1928 in Sursee/Schweiz geboren.
Er studierte an der Päpstlichen Universität in Rom und
nahm mit seinem bereits damals erworbenen Ruf als
Reformtheologe als offizieller Berater am Zweiten Vatikanischen Konzil teil. Küng, mittlerweile Professor in
Tübingen, strebte weiter gehende Reformen als die des
Konzils an. Er brach kirchliche Tabus, stellte die Unfehlbarkeit des Papstes in Frage und versuchte die Lehre
von Jesus Christus in moderner Sprache zu erläutern.
Die deutschen Bischöfe warfen ihm vor, er leugne, Jesus sei der menschgewordene Gott, und füllten seine
Akte bei der Glaubenskongregation, der umbenannten
Inquisition, mit weiteren Negativseiten. Die Glaubenskongregation mit Kardinal Ratzinger an der Spitze entzog Küng 1979 die kirchliche Lehrerlaubnis. Küng durfte Priester seiner Heimatdiözese Basel bleiben, verlor
aber seinen Lehrstuhl. Die Universität Tübingen fand jedoch eine Lösung des Problems: Küng blieb Direktor
des „Instituts für ökumenische Forschung“ und wandte
sich in dieser Rolle in den folgenden Jahren dem Dialog
der Weltreligionen zu. Mit Ratzinger/Papst Benedikt
XVI. traf er im September 2005 zu einem als privat deklarierten Gespräch zusammen.
Lernziele
Grobziele
Feinziele
Die Schülerinnen und Schüler sollen
Vorurteils- und Urteils■ eigene
strukturen reflektieren
■ grundlegende Einblicke in Glaubensinhalte, in die prägenden historisch-politischen Entwicklungen
der frühislamischen Welt und in
die Konfliktfelder, die die aktuelle
Diskussion bestimmen, erhalten
Die Schülerinnen und Schüler sollen
1. Einstellungen und Haltungen gegenüber dem Islam reflektieren und bereit
sein diese ggf. zu ändern und das Problemfeld umreißen können
2. die grundlegenden Glaubensinhalte des Islam kennen und Gemeinsamkeiten
und Trennendes in den drei großen monotheistischen Religionen erläutern können
3. Bedeutung und Entstehung des Korans kennen und unterschiedliche religiöse und theologische Positionen innerhalb des Islam herausarbeiten
4. die Periodisierung islamischer Herrschaft und Expansion kennen
5. die Entwicklung des Kalifats erarbeiten und sich mit religiöser Legitimation
politischer Herrschaft auseinander setzen
6. Weiträumigkeit und Schnelligkeit der arabischen Expansion beschreiben und
multikausal begründen können sowie vom Prozess der Islamisierung unterscheiden
7. die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Djihad“ und die islamische Vorstellung von
Krieg und Frieden kennen und hinsichtlich der Rechtfertigung von Gewalt einordnen
8. die kulturelle Überlegenheit des islamischen Kulturkreises im Mittelalter erkennen und deren Wandel in Ansätzen begründen können
9. wesentliche auf Frauen bezogene Inhalte des Korans kennen
10. einzelne Regeln Mohammeds im historischen Kontext als eine Verbesserung
der Lage von Frauen verstehen
11. die vielfältige Lebensrealität von Muslimas in verschiedenen Staaten und Gesellschaften erfassen und Auswirkungen eines orthodoxen islamischen Frauenideals auf das Leben von Muslimas problematisieren
12. Sensibilität für die besondere Problematik der Migrantinnenrealität erwerben und Ayaan Hirsi Ali als „schwarze Voltaire“ mit ihren Thesen kennen lernen
G
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
M AT E R I A L I E N
1. Teil
M 1.2
5
Der Islam und der Westen: Ist ein Dialog möglich?
Dialog statt Vorurteil
Welche Erwartungen sind das?
30 KOCK: All das, was zu den Grundlagen eines freiheitlichen
Zum „Tag der Offenen Moschee“ am 3. Oktober 2004 erklärte Marieluise Beck (damalige Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration):
Zum diesjährigen „Tag der Offenen Moschee“ wünsche ich
den beteiligten Moscheegemeinden viele interessierte Besucherinnen und Besucher. Der „Tag der Offenen Moschee“ bietet die Gelegenheit, sich ein persönliches Bild
5 von Muslimen und dem Islam in Deutschland zu machen.
Dies scheint nötiger denn je. Jüngste Umfragen zeigen,
dass das Bild der Mehrheitsgesellschaft vom Islam in erschreckend hohem Maß von Fremdheits- und Bedrohungsassoziationen geprägt ist.
10 Nur Begegnung und Dialog kann auf beiden Seiten das
nötige Vertrauen schaffen, das die Grundlage für eine Integration der Muslime in unsere Gesellschaft bildet. Der Dialog zwischen der zugewanderten muslimischen Minderheit und der Mehrheitsbevölkerung muss dabei auf neue
15 Grundlagen gestellt werden. Dazu gehört eine Kultur der
selbstkritischen Reflexion und der Transparenz in den muslimischen Gemeinden ebenso wie die Öffnung der Mehrheitsgesellschaft für eine reale Begegnung mit Muslimen,
die an die Stelle dominanter Vorurteile treten muss.
Zitiert nach: www.integrationsbeauftragte.de/prt/presse/presse_970.php
M 1.3
Der Dialog darf nicht nur Taktik sein
Über den Dialog zwischen den Religionen sprach Joachim
Frank vom Kölner Stadt-Anzeiger mit Manfred Kock, dem
ehemaligen Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland.
[…] KOCK: Der christlich-islamische Dialog ist ja nicht erst
nach dem 11. September erfunden worden. Wir haben seit
den 70er Jahren lange Erfahrung gesammelt und reflektiert. Im Jahr 2000 hat die EKD eine Handreichung für Ge5 meinden veröffentlicht mit Anregungen für den Umgang
mit Muslimen. Wir leben in einem Land mit drei Millionen
Muslimen und müssen gemeinsam Antworten auf die Frage finden: Wie kann das Zusammenleben gelingen? Auch
ohne den 11. September gibt es Fremdheiten, Unsicherhei10 ten, auch Misstrauen.
Haben sich solche Stimmungen verstärkt?
KOCK: Es hat einen doppelten Schub gegeben. Zum einen
ist das Erschrecken über die inhumanen Erscheinungen
des Islamismus gewachsen. Alte Befürchtungen wurden
15 genährt durch die Rechtspraxis der Scharia mit ihren grausamen Strafen in einzelnen islamischen Staaten. Und jetzt
plötzlich die unmittelbare Bedrohung in Form terroristischer Aktionen von Islamisten. Zum anderen bestand auf
Seiten der Muslime eine gewisse Angst, dass sie nun alle
20 mit haftbar gemacht werden könnten für solche Verbrechen. Sie haben alles daran gesetzt, zu versichern, dass sie
damit nichts zu tun hätten, wenn es auch in manchen muslimischen Milieus klammheimliche Freude gegeben haben
mag. […]
25 Wie soll es weitergehen?
KOCK: Wir müssen klarer formulieren, was wir vom Islam
erwarten, wenn Menschen dieses Glaubens in einem säkularen, pluralen Staat mit christlichen Wurzeln leben.
G
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Miteinander in unserem Land zählt. Nämlich die im Grundgesetz verankerten Rechte und Pflichten: Menschenwürde
und Toleranz, das Recht der freien Glaubenswahl und der
Genuss der Religionsfreiheit. […]
35 Dazu hört man von Islam-Repräsentanten in Deutschland
nur Wolkiges.
KOCK: Das ist genau ein Punkt, den wir anmahnen. Der
Dialog darf nicht nur Taktik sein, um das Leben für die Muslime hier so vorteilhaft wie möglich zu gestalten. Ich wün40 sche mir, dass der Dialog zu einem „europäischen Islam“
führt.
Was ist das?
KOCK: Eine Praxis des Islam, die die Aufklärung mit einbezieht; die den Koran nicht als eine sakrosankte Schrift sieht,
45 aus der man sich nach Belieben seine Bausteine herausbricht, sondern die ihn von seiner friedfertigen Mitte her
interpretiert; die auch von ihrer organisatorischen Gestalt
und ihrer Rechtsauffassung her vereinbar mit unserem
Rechtssystem wird. Die Muslime müssen unsere Irritation
50 und unser Unverständnis begreifen darüber, dass Christen
sich in einem muslimischen Land noch nicht einmal zu erkennen geben, geschweige denn ihren Glauben öffentlich
praktizieren dürfen. […]
Ihnen wurde vorgeworfen, Sie nährten durch engen Kontakt
55 zum Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Nadeem
Elyas, einen Wolf im Schafspelz.
KOCK: Ich halte die Kritik an Herrn Elyas für überzogen. Ich
sehe bei ihm redliche Bemühungen um das Zusammenleben. Er muss ja auch innerhalb der islamischen Kommu60 nität vorsichtig sein, dass nicht der Eindruck entsteht, er
wäre von christlichen Gesprächspartnern vereinnahmt.
Kritiker fürchten eine „Dialogfalle“, der Islam sei keine tolerante Religion.
KOCK: Diese Leute müssen erst einmal sagen, wie sie denn
65 das Zusammenleben gestalten wollen. Plädieren sie für religiöse Vertreibung? Ich weiß um den Absolutheitsanspruch des Islam. Aber ich gehöre selbst einer Religion an,
die auch einen Absolutheitsanspruch erhebt, gleichwohl
aber andere Überzeugungen neben sich duldet. Das sollte
70 auch für den Islam gelten. Dialog ist also keine „Falle“, sondern die einzige Chance. Oder sollen wir den „Kampf der
Kulturen“ auf uns zukommen lassen und erstarren wie das
Kaninchen vor der Schlange?
aus: Kölner Stadt-Anzeiger vom 4.9.2002, S. 8
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Warum hält Marieluise Beck den „Tag der Offenen
Moschee“ für so wichtig? (M 1.2)
2. a. Welche Probleme sieht Manfred Kock im Zusammenleben von Muslimen mit Christen? (M 1.3)
b. Welche Lösungswege schlägt er vor?
c. Erläutern Sie die „Dialogfalle“.
Der Islam
6
M AT E R I A L I E N
2. Teil
M 2.1
Was ist eigentlich der Islam?
Der erste Muslim
Hans Küng, einer der bedeutendsten
deutschen Theologen, definiert den Islam folgendermaßen:
Wer war der erste Muslim? Der Großteil der Christen würde bestimmt antworten: Muhammad, der Prophet.
Und deswegen gibt es denn auch
5 heute noch viele, die diese Religion
unkorrekterweise „Mohammedanismus“ und ihre Anhänger „Mohammedaner“ nennen – zum großen Ärger
der Muslime. Denn in jeder elementa10 ren Einführung in den Islam kann man
lesen, was schon im Koran niedergelegt ist: Der erste Muslim ist Adam,
der erste Mensch. Denn schon er
„unterwarf“ sich dem einen und einzi15 gen Gott, so wie sich dann auch Noah
und Abraham, Mose und alle Propheten, ja, schließlich auch Jesus „unterwarfen“. Sie alle vollzogen auf ihre
Weise bereits „Islam“: „Unterwer20 fung“, „Hingabe“ an den Willen des
einen und einzigen Gottes. Und wenngleich die Ausprägungen dieser Lehre
immer den verschiedenen Völkern
und Zeiten angepaßt und so in man25 cher Hinsicht verschieden waren, so
ging es doch immer um ein und dieselbe Botschaft: Unterwerfung unter
Gott, Hingabe an Gott.
Nichts anderes hat denn auch der
30 Prophet Muhammad [ca. 570–632]
verkündet. Er hat als der letzte der
Propheten diese ewige Lehre nur auf
ihre höchste, endgültige Stufe gehoben. Der Islam ist also die eine wahre,
35 vollkommene, ewige Menschheitsreligion, die Religion von Anbeginn. Und
wie dies die Lehre des Koran, so ist es
auch die Lehre der Bibel, daß der
erste Mensch an den einen Gott
40 glaubte. Soweit das muslimische
Selbstverständnis, soweit die Geschichtstheologie des Islam.
Hans Küng: Der Islam. © 2004 Piper Verlag GmbH,
München, S. 56
M 2.2
Das Glaubensbekenntnis
Die „Galeere des Glaubens“: Diese Darstellung des Glaubensbekenntnisses in
Form eines Schiffes ist ein Meisterwerk der Kalligraphie, des „Schönen Schreibens“. (Zum Glaubensbekenntnis s. M 2.9)
Reproduktion nach: Francis Robinson: Weltatlas der alten Kulturen. Der Islam. München: Christian Verlag 1990
(4. Auflage), S. 203
M 2.3
Gespräch mit einer Muslima
Aus einem Gespräch zwischen Journalisten von Publik-Forum („Zeitung kritischer Christen“) und Frau Chérifa Magdi, promovierte Islamwissenschaftlerin
und freie Publizistin, die in Kairo und Frankfurt am Main lebt und arbeitet:
[…] Publik-Forum: Wie hat die fromme Muslimin, der fromme Muslim zu leben?
Magdi: In steter Verantwortung gegenüber den Menschen, insbesondere
gegenüber den Armen sowie gegenüber der Schöpfung. So ist die Verpflichtung
des islamischen Glaubens. Die ethische Grundgestalt der islamischen Religion
ist: Verantwortlichkeit. Der Islam ist eine Religion des Tuns. Im Islam wird die Liebe zu Gott und der Glaube an den Ewigen definiert durch die „guten Taten“. Als
da sind: Barmherzigkeit, Liebe und Mitempfinden für die Armen und Schwachen. […]
Publik-Forum: Ist der Islam infolgedessen eine betont ethische Religion?
Magdi: Ja. Die moralischen Anforderungen sind sehr hoch angesetzt. Dies erwächst auch aus dem islamischen Grundgedanken des Sich-Bewährens in dieser Welt, in dem Bemühen, gottgefällig zu sein. […]
Publik-Forum: Frau Magdi, gibt es eine Sure im Koran, die Sie ganz besonders
anspricht? Eine Sure, in der sich die Wahrheit und die Schönheit des Islams wie
in einem Brennspiegel bündelt?
Magdi: Ja. Für mich ist es die Sure 112, die „Sure der Treue, der Hingabe“. […]
„Sag, er ist Gott. Ein einziger Gott, durch und durch. Der, an den man sich mit seinen Nöten und Sorgen wendet. Er hat weder gezeugt, noch wurde er gezeugt.
Und keiner ist ihm ebenbürtig.“
Das ist für mich wie in einem Brennglas die Essenz des Islams. […]
Publik-Forum, Zeitung kritischer Christen, Oberursel Ausgabe Nr. 20/2001, S. II f.
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Geben Sie das muslimische Selbstverständnis nach M 2.1 wieder.
2. a. Diskutieren Sie die in M 2.3 angeführten „moralischen Anforderungen“.
b. Vergleichen Sie den Text mit Sure 2, Vers 177.
G
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
M AT E R I A L I E N
M 2.4
7
Dimensionen des Islam
Soziologisch-politologische wie philowissenschaftler Ernest Gellner sein 15 ist der Islam sicher auch, aber ob der
logisch-historische
WesensbestimBuch „Muslim Society“. Oder: „Der IsGroßteil der Muslime den Islam in ermungen des Islam bieten Wichtiges, 10 lam ist nicht nur eine politische Ideoster Linie so versteht?
Hans Küng: Der Islam. © 2004 Piper Verlag GmbH,
offenbaren aber oft bedenkliche
logie, sondern auch und vor allem ein
München, S. 94
5 Grenzen des Verstehens. „Islam ist
kulturelles System“, so schreibt der
der Entwurf einer GesellschaftsordGöttinger Politologe syrisch-musliminung“, so beginnt der britische Sozialscher Herkunft Bassam Tibi. Dies alles
Leitfrage/Arbeitsauftrag
Listen Sie die „Dimensionen des Islam“ aus M 2.4 auf und konkretisieren Sie sie.
M 2.5
Vergleich der 3 Weltreligionen
Hans Küng: Der Islam. © 2004 Piper Verlag GmbH, München, S. 93
G
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
8
M AT E R I A L I E N
M 2.6
Gemeinsamkeiten
Das heißt: Nicht eine Einheitsmystik wie in Indien oder eine
Weltharmonie wie in China, sondern – bildlich gesprochen
– das Gegenüber von Gott und Mensch bestimmt von Anfang an wie das Judentum, so auch das Christentum und
5 dann den Islam. So ist das Christentum wie die anderen
beiden prophetischen Religionen eine Religion der Konfrontation von Gott und Mensch, von heiligem Gott und
sündhaftem Menschen. Aber durch Gottes Wort an den
Menschen und durch des Menschen Glauben an Gott wird
10 sie zu einer Religion der Kommunikation.
Deshalb ist vor aller Herausarbeitung des spezifisch Christlichen die große Gemeinsamkeit des Christentums mit Judentum und Islam herauszustellen: Gemeinsam ist:
■ der Glaube an den einen und selben Gott Abrahams,
15 des Stammvaters aller drei Religionen, der nach allen drei
Überlieferungen der große Zeuge dieses einen wahren
lebendigen Gottes ist, der in Klage, Lobpreis und Bitte angeredet werden darf: Es geht bei allen dreien um Glaubensreligionen;
20 ■ eine nicht in kosmischen Zyklen denkende, sondern
zielgerichtete Schau der Geschichte: Sie hat ihren Anfang
in Gottes Schöpfung, erfährt ihre Bestätigung durch Gottes
Handeln und rettende Zeichen in der Zeit und ist ausgerichtet auf ein Ende durch Gottes Vollendung: Es geht um
25 geschichtlich denkende Religionen;
■ die immer neue Verkündigung des Wortes und Willens
Gottes durch eine ganze Reihe prophetischer Gestalten: Es
geht nicht um mystisch, sondern um prophetisch geprägte
Religionen;
30 ■ die Niederlegung einer ein für allemal gegebenen und
bleibend normativen Offenbarung Gottes an den Menschen in Gestalt einer Offenbarungsschrift: Es geht um Religionen des Wortes und des Buches;
■ schließlich das in des einen Gottes Willen begründete
35 Grundethos einer elementaren Humanität: die Zehn (oder
ihnen entsprechende) Gebote Gottes („Dekalog“): Es geht
um ethisch ausgerichtete Religionen.
Hans Küng: Das Christentum. © 1994 Piper Verlag GmbH, München, S. 54
M 2.7
Trennendes
Ein sehr fundamentaler Vorwurf gegenüber den Juden, der
auch in den Aussagen von Muslimen der Gegenwart auftaucht, betrifft den angeblichen jüdischen „Erwählungsstolz“. Gemeint ist, dass nach muslimischem Verständnis
5 Juden fälschlicherweise aus der Thora eine besondere
Erwählung des jüdischen Volkes durch Gott ableiten. Richtig sei vielmehr, dass alle Menschen vor Gott/Allah gleich
seien und dass von einer besonderen Erwähltheit des jüdischen Volkes durch Gott nicht die Rede sein könne und
10 dürfe, zumal ein solcher „Erwählungsglaube“ zu einer arroganten Abgrenzung gegenüber anderen Menschen und
Religionen führen könne.
Juden weisen gegenüber dieser muslimischen Kritik darauf hin, dass der Glaube an die besondere Erwählung Is15 raels bzw. des jüdischen Volkes für Juden die Einsicht nach
sich zöge, Gott und den Menschen gegenüber besonders
verpflichtet zu sein. […] Ein jüdischer Missionsanspruch oder
ein jüdisches Überlegenheitsgefühl existiere nicht. […]
Gegenüber dem Christentum wird vor allem ein grundsätz20 licher Vorwurf erhoben: die „Vergöttlichung“ Jesu Christi
und die Propagierung der Vorstellung vom „stellvertretenden Sühneleiden“ Jesu Christi. Konkret wirft der Koran
dem Christentum vor, über das „Trinitätsdogma“ (Gott
offenbart sich als „Gottvater“, als „Sohn“ und als „Heiliger
25 Geist“) eine „Mehrgötterlehre“ zu verbreiten bzw. dem
einen Gott andere Götter zuzugesellen. Kritisiert wird weiter, dass mit dem Glaubenssatz, Jesus Christus sei „für unsere Sünden gestorben“, die Verantwortlichkeit jedes einzelnen Menschen für sein eigenes Leben in Frage gestellt
30 werde. Die Botschaft des ethischen Monotheismus werde
so verfälscht.
Aus der Kritik des Koran und des Islam […] zu folgern, dass
der Koran keine besondere Hochschätzung Jesu Christi
entwickle, ist allerdings grundfalsch. Richtig ist, dass der
35 Koran Jesus anders versteht […] und so in seinem Sinne
bemüht ist, ein „falsches“ Jesus-Bild des Neuen Testaments und des Christentums zu korrigieren.
Zur „Christologie“ oder dem Christus-Bild des Koran gehört
vor allem die strikte Betonung der „Jungfrauengeburt“
40 Jesu – denn Jesus sei zwar nur Mensch und Prophet gewesen, aber einer der herausragenden Propheten Gottes.
[…] Zum Zweiten wird deutlich betont, dass Jesus nicht
wirklich am Kreuz gestorben sei, Gott habe ihn vielmehr
vor seinem Tod „zu sich genommen“.
Jörg Bohn: Islam. Studienheft Rel07c. Institut für Lernsysteme. Hamburg: 2004,
S. 56 ff.
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Erläutern Sie die Kernbegriffe, mit denen Küng die Gemeinsamkeiten der drei Religionen zusammenfasst (M 2.6).
2. Vergleichen Sie die Zehn Gebote (Ex 20,1–21) mit dem islamischen Pflichtenkodex (Sure 17,22–38).
3. Fassen Sie die Vorwürfe des Islam gegen das Christentum, wie sie in M 2.7 geäußert werden, zusammen und
verfassen Sie eine theologische Erwiderung.
4. Halten Sie es für legitim, einer anderen Religion „Glaubensfehler“ vorzuhalten? Begründen Sie.
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GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
M AT E R I A L I E N
M 2.8
9
Der Koran
Text 1: Bedeutung
stätigt damit, daß er die Wahrheit und das bindende Gesetz
Der Koran ist Ursprung, Quelle und Unterscheidungsist, welches ohne wenn und aber befolgt werden muß […]
norm alles Islamischen, allen islamischen Glaubens, Han- 30 Mit nachweisbarer Sicherheit deckt sich der Inhalt des heute
delns und Lebens. Ihm kommt höchste, absolute Autorität
vorhandenen Qur’an-Textes mit der Offenbarung, die der Prozu. Und auch der westliche Soziologe und Politologe wie
phet Muhammad vom Engel Gabriel erhalten hatte. Außerauch der westliche Philologe und Historiker müssen zudem kannten viele Menschen beim Tode des Propheten noch
nächst einmal ernst nehmen, was der Koran für die gläubiden gesamten Qur’an auswendig, wie es über Jahrhunderte
35 hinweg bis zum heutigen Tage der Fall ist. Dies erleben wir
gen Muslime ganz konkret in ihrem Leben bedeutet.
Hans Küng: Der Islam. © 2004 Piper Verlag GmbH, München, S. 95 f.
Muslime fast tagtäglich beim Gebet, wenn ein Vorbeter einen
Fehler bei der Rezitation der Ayat begeht und sofort von den
Text 2: Inhalt
hinter ihm stehenden Betenden die korrekte Aussprache und
Wenn die Christen von Jesus als dem Fleisch-gewordenen
den genauen Inhalt des Satzes in allen Einzelheiten zu hören
Gott reden (Inkarnation), sprechen die Muslime von dem 40 bekommt […]. Diese Gewährleistung der Unversehrtheit des
Koran als dem Buch-gewordenen Gott (Inlibration). Nicht
Qur’an bleibt solange bestehen, wie Allah das Leben auf Erwenige islamische Rechtsgelehrte vertreten deswegen die
den zuläßt. Jeder Versuch, den Qur’an zu fälschen – wie ge5 Auffassung, dass es Nichtmuslimen verboten sei, den Koringfügig dies auch sein mag – wird fehlschlagen bis zum Taran zu berühren, zu besitzen oder herzustellen.
ge der Auferstehung.
Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD). Zitiert nach:
Inhaltlich finden sich im Koran viele Motive aus der Bibel,
www.islam.de/1422.php
insbesondere die Geschichten um Abraham sowie auch
um dessen Sohn Ismael, den die Araber als ihren Stamm10 vater verehren und der mit seinem Vater zusammen die
Text 4: Kodifizierung
Der Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin:
Kaaba in Mekka erbaut haben soll. Auch der SchöpfungsAls Mohammed starb, existierte der Koran in seiner heutibericht ist enthalten mit Adam und Eva, außerdem Noah,
gen Form noch nicht. Vielmehr gab es Personen, die Teile
Joseph, Moses, David und Salomo. Aus dem Neuen Testades Korans auswendig kannten, und ebenso gab es schriftment kommen auch Jesus und Maria häufiger vor. Die Pro15 pheten der jüdischen und christlichen Tradition werden
liche Aufzeichnungen […].
5 Damit stand die junge Gemeinde vor einem Dilemma.
ebenfalls vom Koran anerkannt.
Hartmann Wunderer (Hrsg.): Der Islam und die westliche Welt. Geschichtliche
Denn in wessen Hand lag nun die durch Gott legitimierte
Reihe für die Sekundarstufe II. © Bildungshaus Schulbuchverlage, Westermann
Autorität, die der Prophet besaß und die ihren Ausdruck in
Schroedel Diesterweg Schöninngh Winklers GmbH, Braunschweig 2003, S. 40
der Verkündigung des Korans fand? […]
Schon unter den ersten beiden Nachfolgern Mohammeds
10 […] gab es Bemühungen, eine Koranausgabe zu schaffen.
Text 3: Islamische Sicht
Die Offenbarung des Qur’an, des heiligen Buches des IsEndgültig gelang das aber erst unter dem dritten Kalifen
lam, gilt als das wichtigste Ereignis in der Menschheitsge’Utman Ibn ’Affan (reg. 644–656). […]
schichte, und wird es auch weiterhin als solches bleiben
Die Kenntnis zahlreicher abweichender, sog. „unkanonischer“
bis zum Tage des Jüngsten Gerichts; denn Prophetentum
Lesarten wurde dennoch auf verschiedenen Wegen weiter5 und Herabsendung göttlicher Botschaften haben mit dem 15 gegeben, und zwar sicherlich deshalb, weil sie für die InterTod des Propheten Muhammad, dem Letzten aller Propheten,
pretation auch des ’utmanischen Textes von Interesse waren.
ihr Ende gefunden. […]
Differenzen sind ganz überwiegend dort zu beobachten, wo
Das Heilige Buch, der Qur’an, ist das Wort Allah’s; das einder Text mehrere Deutungen zuläßt oder schwierigere gramzige, das seit seiner Offenbarung unverfälscht und vollkommatische oder auch inhaltliche Probleme bietet. […]
10 men erhalten geblieben ist. Kein anderes Buch in der 20 Es bleibt also das überaus bemerkenswerte Faktum zu beMenschheitsgeschichte wird soviel gelesen, zitiert und
tonen, daß der Text von Gottes geoffenbartem Wort keiauswendiggelernt wie der Qur’an. Es gibt auch kein andeneswegs eindeutig fixiert ist, sondern in einem genau festres Buch im menschlichen Dasein, das in gleichem Maße
gelegten Rahmen Varianten der Lesung und damit auch
das Leben des einzelnen, der Familie und der Gesellschaft
der Interpretation zuläßt.
Hartmut Bobzin: Der Koran, Beck Wissen in der Beck’schen Reihe Nr. 2109, Mün15 geprägt hat.
chen: Verlag C. H. Beck 1999, S. 100 ff.
Und es gibt kein anderes Buch, das die Menschheit jemals
gekannt hat, dem Richtigkeit, Glaubwürdigkeit und TreffsiLeitfragen/Arbeitsaufträge
cherheit in allen seinen Worten und Aussagen so eigen
sind, wie dem Qur’an; denn er ist das vollkommene Werk
20 des Schöpfers. […]
1. Erläutern Sie anhand von Text 1 und 2 Inhalt und
Bedeutung des Korans.
Das Wunder des Qur’an besteht auch darin, daß seine Of2. Untersuchen Sie die Wertung des Korans durch
fenbarung […] keinen sachlichen Fehler enthält, gleichden Zentralrat der Muslime (Text 3).
wohl, um welches Wissensgebiet es sich auch handelt. […]
3. Vergleichen Sie das islamische Selbstverständnis
Der Qur’an ist absolut unfehlbar, denn er ist übernatür25 licher und übermenschlicher Herkunft. […] Der Gläubige leiin Text 3 mit dem westlich-wissenschaftlichen Zugang in Text 4.
tet deshalb in aller Selbstverständlichkeit die Qur’an-Aya
mit den Worten ein: „qala-llah (Allah hat gesagt)“, und be-
G
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
G
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Gibt es „den Islam“? Diskutieren Sie auf der Basis von M 2.9.
M 2.9
Leitfrage/Arbeitsauftrag
Globus Infografik GmbH, Hamburg
10
M AT E R I A L I E N
Vielfalt des Glaubens
Der Islam
M AT E R I A L I E N
M 2.10
11
Vor welchen Herausforderungen steht der Islam?
Aus einem Gespräch mit Navid Kermani, promovierter Islamwissenschaftler
und Philosoph (Berlin):
Publik-Forum: Gibt es eigentlich den
Islam?
Kermani: Nein. Den Islam gibt es
nicht. Es gibt die Orthodoxie, den Isla5 mismus und die vielen reformerischen
Bestrebungen. Es gibt die Volksfrömmigkeit und die Mystik, die den Alltag
sehr stark prägt. Es gibt noch etliche
Ausprägungen mehr, und alle sind sie
10 noch einmal von Land zu Land, ja von
Schicht zu Schicht verschieden, zumal
der Islam keine Kirche im eigentlichen
Sinne kennt, die bestimmte Auslegungen verbindlich definiert. […]
15 Publik-Forum: Vor welcher Herausforderung steht dieser vielfältige Islam
heute?
Kermani: Wenn wir etwas pauschalisierend von der islamischen Theolo20 gie sprechen, dann meine ich, dass
sie nicht umhinkommen wird, sich in
einem umfassenden Sinn auf die Säkularisierung einzulassen. In der islamischen Welt hat sich die Frage der
25 Säkularisierung lange Zeit nicht so
scharf gestellt wie in Europa mit der
Zeit der Aufklärung. Es hat auch den
30
35
40
45
50
55
scharfen Gegensatz von naturwissenschaftlichem und religiösem Wissen
im Islam so nicht gegeben. Heute
aber stellt sich die Frage der Säkularisierung mit neuer Brisanz. Dabei wäre
es falsch, von den Muslimen nun einfach eine Aufklärung nach westlichem Vorbild zu fordern. […]
Publik-Forum: Gehört zur Säkularisierung des Islams auch ein anderer Umgang mit dem Koran? Eine historischkritische Lesart zum Beispiel?
Kermani: Der Koran ist – anders als
die Bibel – kein inspiriertes Buch über
Gott, das in einem längeren Prozess
entstanden ist, sondern beansprucht,
Gottes Wort selbst zu sein. Er ist in einem relativ kurzen, historisch relativ
nahen Zeitraum entstanden. Deshalb
stellt sich heute weniger die Aufgabe
einer historisch-kritischen Lektüre,
sondern zunächst einmal ganz grundsätzlich die Frage, wie der Koran zu
deuten ist: Ist der Koran wörtlich zu
verstehen? Sind alle Aussagen relevant für unsere heutige Lebenssituation? Inwiefern ist der Koran ein
Gesetzesbuch? Es geht also in der
heutigen Diskussion innerhalb der islamischen Welt um Auslegungsfragen.
Publik-Forum: Welche konkreten Probleme müssen hier gelöst werden?
60 Kermani: Der Koran ist zu einer bestimmten Zeit in einem Prozess der
Verschriftlichung mündlicher Tradition entstanden und reflektiert die Situation der damaligen Zeit. Die Frage,
65 vor der islamische Theologie immer
schon stand und auch heute steht,
lautet: Wie gehen wir heute mit den
Aussagen des Korans um, da sich die
gesellschaftlichen Bedingungen ge70 ändert haben? Es geht um die Klärung
des konkreten historischen Hintergrunds einzelner Aussagen: Warum
zum Beispiel wurde Alkohol zunächst
erlaubt und später dann verboten?
75 Und was folgt daraus für heute? Muss
Alkohol auch heute verboten bleiben?
Der Islamismus sieht in seinem Umgang mit dem Koran von diesem historischen Kontext völlig ab. Der Text
80 wird zur Ikone. Damit aber verliert der
Koran seinen dynamischen Charakter,
der es erlaubt, neue Antworten auf
neue Herausforderungen zu finden.
Publik-Forum, Zeitung kritischer Christen, Oberursel,
Ausgabe Nr. 20/2001, S. VI ff.
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Wie beantwortet Navid Kermani die Frage nach den Herausforderungen, vor denen der Islam steht?
2. Klären Sie die Begriffe Säkularisierung und Aufklärung und erörtern Sie mögliche Folgen für die arabische Welt.
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Der Islam
12
3. Teil
M 3.1
M AT E R I A L I E N
Herrschaft und Spaltung im frühen Islam
Zeittafel
Mohammed
ca. 570 Geburt Mohammeds aus dem Stamm der Qurais
in Mekka
622
„Higra“: Flucht Mohammeds nach Medina. (Als Beginn der islamischen Zeitrechnung angesetzt.) In
Medina Schaffung der Grundlagen eines islamischen Gemeinwesens. Mohammed gelingt es,
sesshafte wie nomadisierende Stämme der arabischen Halbinsel – z.T. gewaltsam – zum Beitritt zur
neuen Gemeinschaft (umma) zu bringen.
632
Tod Mohammeds
Die „rechtgeleiteten“ Kalifen
632– Abu Bakr, erster Kalif, verhindert die Abfallsbewe634
gung arabischer Stämme (ridda-Kriege)
634– Kalif Umar, ermordet. Beginn der Expansion über
644
die arabische Halbinsel hinaus. Militärische Niederlassungen und Anfänge islamischer Staatsund Finanzorganisation.
644– Kalif Utman, ermordet. Fortsetzung der Eroberun656
gen; innere Konflikte um Führungs- und Besitzprivilegien. Redaktion des anerkannten Korantextes.
656– Kalifat des Ali, kann nur noch einen Teil der Mus661
lime hinter sich versammeln; Beginn des ersten
Bürgerkrieges zwischen der Partei (Schia) Alis und
seinen Gegenspielern von den Qurais, auf deren
Seite Mohammeds Witwe Aischa kämpft.
Kalifat der Umaiyaden (661–749)
661– Kalifat des Mu’awiya aus der mekkanischen Fami680
lie Umaiya, das Kalifenamt wird erblich. Damaskus
wird Zentrum des arabischen Reiches. Zweite große Expansionsperiode.
Einführung des Arabischen als Verwaltungssprache und einer arabischen Währung.
Religiös-politische Oppositionspartei der Schiiten,
Gegenkalifat in Mekka, mehrere Revolten, die niedergeschlagen werden.
747
Rebellion, getragen von arabischen Stammeseinheiten, persischen und schiitischen Gruppen, Eroberung des Irak und von Damaskus
756
Der einzige überlebende Umaiyade gründet das
unabhängige Emirat von Córdoba (al-Andalus)
Kalifat der Abbasiden 750–1258
Kalifat der Nachkommen von Mohammeds Onkel Abbas.
Das islamische Reich verliert arabischen Charakter, Zentrum der Herrschaft wird das neu gegründete Bagdad, persische, vorislamische Traditionen werden integriert
786– Kalifat des Harun al-Raschid gilt als Blütezeit der is809
lamischen Zivilisation.
9. Jh. Politische Entmachtung des Kalifen und Auflösung des
Reiches: Gouverneure etablieren regionale Dynastien.
1258 Mongoleninvasion
Osmanisches Reich etwa 1300-1922/24
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GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
M 3.2
Begründung von Kalifat und Schisma
Der Prophet hatte vor seinem unerwarteten Tode keine
Weisungen über die Nachfolge in der Leitung seiner Gemeinde gegeben. Mit dem Hingang des Theokraten, der im
Namen Gottes sprach, stand die Erhaltung der Theokratie
5 in Frage. Kalif (halifa), d.h. Nachfolger und „Stellvertreter“
des Propheten, mußte der Frömmste sein, und er sollte
gottwohlgefällig herrschen. Aber wie war dies zu gewährleisten? Eine Einigung unter Muhammads Weggefährten
wurde erreicht; aber sie war bereits Kompromiß, barg den
10 Keim des Konfliktes in sich. Die Legitimation des Kalifen
durch den Konsens der Gemeinde (im Wahlgremium der
šura) und durch die Zugehörigkeit zum Geschlecht Mohammads, den Quraiš, trug unumstritten nur die beiden ersten im Amte. […] Aber jene Kriterien der Legitimation wur15 den unbrauchbar, als mit dem Bruch in der muslimischen
Aristokratie der Prophetengenossen aus dem Stamm der
Quraiš die Einheit der Gemeinde zerbrach. Die Politik Utmans (644–56) – Politik für die Hausmacht [der Umaiyaden], gegen die rivalisierenden Clans des Prophetenhauses
20 […] – schuf nicht nur böses Blut und soziale Unruhe; sie
wurde gebrandmarkt als Verrat an der Theokratie: als „Neuerung“ […] gegen Gottes Gebot und des Propheten Geheiß.
(„Neuerung“ wird der Inbegriff der Häresie, so wie das „Herkommen“, die sunna, zum Inbegriff der Rechtgläubigkeit er25 hoben wird.) Die Ermordung Utmans führte zum ersten
Bürgerkrieg. Die Parteien des Bürgerkriegs, der unter seinem Nachfolger Ali (656–61) ausbrach, sind zugleich die
Konfessionen des ersten religiösen Schismas, und ihre politisch-religiösen Standpunkte bleiben in der Reflexion der
30 Theologen bis in die Disputationen der Spätzeit Paradigmen der Debatte um die Theokratie.
Die Partei Alis […], des Vetters und Schwiegersohns des
Propheten, hatte von Beginn an ihre Ansprüche erhoben.
Von Beginn auch waren diese Ansprüche auf Alis beson35 dere Nähe zum Propheten gegründet […] und wie es
scheint, suchte er hieraus eine besondere religiöse Autorität abzuleiten. Hier jedenfalls sucht die Schia ihre Legitimation, als sie in die politische Opposition und – nach vergeblichem Kampf – ins Abseits des Sektierertums gerät […].
40 Mit den Stimmen der Medinenser (der „Helfer“ […] Muhammads nach seiner Hiǧra) wurde Ali endlich 656 zum
Kalifen gewählt. Doch ihm fehlte die Autorität, die prekäreSituation zu meistern. […]
Der Führungsanspruch der politischen Schia war und blieb
45 verknüpft mit der arabischen „Aristokratie“ der Prophetenfamilie. Aber entscheidend für ihre religiöse Ausstrahlung
und prägend für die Lehre des schiitischen Islams waren
die Erwartungen, die ihr aus der wachsenden Anhängerschaft iranischer Mawali zuflossen: Mawali waren die
50 nichtarabischen „Beisassen“, Klienten arabischer Familien
nach der Bekehrung zum Islam, alteingessessen im Irak
und in Persien […]. Die Hoffnung auf den durch leibliche
und geistliche Erbfolge legitimierten, „charismatischen“
Herrscher wurde in diesen Kreisen genährt: auf den sünd55 losen und gerechten Imam, […] der allein die göttliche Führung aller Muslime zum Heil […] vermitteln könne […].
Gerhard Endreß: Der Islam. München: Verlag C. H. Beck 1997 (3. Aufl.), S. 47 ff.
Der Islam
13
M AT E R I A L I E N
M 3.3
Ein guter Rat für den Kalifen
Abu Jusuf (731–798 n. Chr., Rechtsgelehrter) leitet sein auf
Veranlassung des Abbasiden-Kalifen Harun al-Rasid verfasstes Werk über die Landsteuer so ein:
Gott schenke dem Herrscher der Gläubigen ein langes Leben, er vermehre seinen Ruhm in der Fülle des Genusses
und dem Fortbestand der Ehre und lasse, was er ihm gewährt, fortdauern in den Segnungen des Jenseits, die sich
5 weder erschöpfen noch schwinden, und in der Gesellschaft des Propheten – Gott segne und bewahre ihn! […]
Hüte dich davor, deine Herde zu verlieren, damit dich ihr
Herr dafür nicht haftbar macht und dir ihren Wert von deinem Lohne abzieht. Ein Gebäude muß gestützt werden, be10 vor es einstürzt. Zu deinen Gunsten geht nur, was du zum
Wohl jener getan hast, die Gott in deine Obhut gab, zu deinen Lasten, was ihnen geschadet hat. Vergiß also nicht, für
jene zu sorgen, welche Gott dir anvertraut hat, dann wirst
auch du nicht vergessen. Vernachlässige sie und ihr Wohl15 ergehen nicht, dann wirst auch du nicht vernachlässigt. Du
wirst deinen Anteil an dieser Welt nicht verlieren in den Tagen und Nächten, da deine Zunge mit Eifer Gott rühmt und
preist und für seinen Propheten – Gott segne und beschütze ihn –, den Führer auf den rechten Weg, betet.
20 Gott ernannte in seiner Gnade und seiner Güte die Herrscher zu Stellvertretern […] auf seiner Erde und verlieh ihnen
ein Licht, damit sie ihren Untertanen in unklaren Angelegenheiten leuchten und die Pflichten, über welche sie im
Zweifel sind, klären könnten. Die Erleuchtung des Macht25 habers besteht darin, daß er Strafen für Übertretungen […]
durchsetzt und daß er jedem das Seine verschafft, mit
Nachdruck und klarem Befehl. Die Belebung der überlieferten Praxis [sunna], welche gottesfürchtige Männer eingerichtet haben, ist von größter Bedeutung, denn die Bele30 bung der Überlieferung ist eine jener guten Taten, welche
leben und nicht sterben. Die Tyrannei des Hirten ist der
Untergang der Herde; verläßt er sich auf unwürdige und
schlechte Menschen, ist das der Untergang der Gemeinde.
Herrscher der Gläubigen, vervollkommne die dir von Gott
35 gewährten Wohltaten, indem du sie gut gebrauchst, und
trachte sie zu vermehren, indem du dich dafür dankbar
zeigst; den Gott, der Allmächtige, sagt in seinem Buch:
„Wenn ihr dankbar seid, werde ich euch noch mehr (Gnade) erweisen. Wenn ihr aber undankbar seid (werdet ihr es
40 büßen müssen). Meine Strafe ist heftig“ [Koran XIV, 7].
Nichts ist Gott lieber als gute Taten, nichts ihm verhaßter
als Übeltaten. Sünden begehen heißt, seine Wohltaten
leugnen. Wahrlich, es gab wenige, die, wegen ihrer Undankbarkeit für Gottes Wohltaten, nicht ihrer Macht be45 raubt und von Gott der Herrschaft ihrer Feinde unterworfen
wurden, wenn sie nicht doch noch voller Schrecken bereuten. Herrscher der Gläubigen, ich bitte Gott, der dir durch
die Verleihung der Macht die Gunst erwies, ihn zu erkennen, er möge dich nie dir selbst überlassen, sondern dir ge50 währen, was er seinen Heiligen und Freunden gewährte,
denn darin ist er Meister, und an ihn wenden wir uns.
B. Lewis (Hrsg.): Der Islam von den Anfängen bis zur Eroberung von Konstantinopel. Bd. 1. © Patmos Verlag GmbH & Co. KG/Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf/Zürich 1981, S. 224–229
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GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
M 3.4
Das Kalifat als göttliche Ordnung
Um einzuschätzen, wie bedeutsam das Kalifat für das Verständnis der islamischen Geschichte ist, sollte man sich
vergegenwärtigen, dass es von 632 bis 1924 die von Muslimen über Jahrhunderte anerkannte Staatsform, d.h.
5 Merkmal der Einheit im Islam, war. Das Kalifat beansprucht
die politische Heimat der Umma zu sein, die […] universell
ist und anstrebt, die gesamte Menschheit zu vereinigen.
Diese Herrschaftsform kann als die Grundlage einer islamischen imperialen Größe umschrieben werden; sie gilt als
10 göttliche Ordnung, weil der Kalif nach der Doktrin kein selbständiger Herrscher ist, sondern ausschließlich den göttlichen Willen repräsentieren soll. Es versteht sich von
selbst, dass dieser Anspruch nur als Legitimation für königlich-absolute Herrschaft gedient hat. […]
15 Trotz der Entsprechung des Sakralen und des Weltlichen
in der islamischen Weltanschauung lässt der Islam, im
Gegensatz zum Christentum, – zumindest in der religiösen
Doktrin – keine Übertragung sakraler Eigenschaften auf
den Menschen zu, selbst auf den Propheten Mohammed
20 nicht. […] Wie kam es dann aber dazu, dass es im Islam –
ähnlich wie im Christentum […] – zur Etablierung einer
Herrschaft von Gottes Gnaden und so zur Heiligung des
Herrschers (der Kalif als Walter Allahs auf Erden) gekommen ist?
25 Im Koran steht ein […] zentraler Vers […], der die Gläubigen
zum Gehorsam gegenüber Gott und dem Propheten Mohammed auffordert, weil dieser die Herrschaft der ersten
Zentralinstanz in Arabien […] verkörpert. Seine Nachfolger
[…] nannten sich Khalifat rasul Allah/Nachfolger des Ge30 sandten Gottes, beanspruchten für sich somit keine sakralen
Eigenschaften. Während der ersten dynastischen Geschichtsepoche des Islam, d.h. während der OmaiyyadenHerrschaft, nannten sich die Kalifen dann aber Khalifat Allah, d.h. sie maßten sich an, praktisch als Sachwalter Got35 tes auf Erden zu gelten. Da der islamische Theozentrismus
weder einen autonom-menschlichen Handlungsspielraum
noch eine Souveränitätslehre (nur Gott ist der Souverän)
zuläßt, liefen die Annahme des Titels Khalifat Allah und die
damit verbundene Interpretation auf eine Sakralisierung der
40 Herrschaft hinaus, die nicht in der islamischen Offenbarung begründet ist […].
Bassam Tibi: Einladung in die islamische Geschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 37 ff.
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Erläutern Sie Auswahlkriterien, Stellung und Legitimation der „rechtgeleiteten“ Kalifen und ordnen
Sie sie in den historischen Kontext ein. (M 3.1, M 3.2)
2. Interpretieren Sie M 3.3: Arbeiten Sie Selbstverständnis und Stellung der abbasidischen Kalifen,
Erwartungen an die Herrschaft und Aufgaben des
Herrschers heraus. Vergleichen Sie mit dem Kalifat
der islamischen Frühzeit.
3. Geben Sie die Aussagen BassamTibis thesenartig
wieder. (M 3.4).
Der Islam
14
4. Teil
M 4.2
M AT E R I A L I E N
Die arabisch-muslimische Expansion
Ein Soldat Amrs, des Eroberers von
Ägypten, erzählt
Der folgende Text stammt von dem arabischen Historiker
und Theologen Tabari (gest. 923), der sich auf den Bericht
eines Soldaten beruft. Der genannte Amr war muslimischer
Feldherr.
Als wir Babylon (das moderne Alt-Kairo) erobert hatten, ergaben sich die Dörfer auf dem Land eins nach dem andern,
bis wir nach Balhib kamen, einem dieser Dörfer auf dem
flachen Lande. Die Gefangenen, die wir gemacht hatten,
5 waren bereits nach Mekka, Medina und nach Jemen gelangt. Der Herr Alexandriens sandte, als wir in Balhib ankamen, Botschaft an Amr, in der er sagte: „Früher habe ich an
Eroberer Tribut entrichtet, die zorniger über mich waren als
ihr, Volk der Araber, an Perser und Griechen. Wenn ihr be10 gehrt, daß ich euch Tribut zahle, so will ich es tun unter der
Bedingung, daß ihr mir die Gefangenen zurückgebt, die ihr
in meinem Lande gemacht habt.“
Amr ließ ihm zurückmelden: „Über mir steht ein Herrscher,
ich kann ohne ihn keine Entscheidungen treffen. Wenn es
15 dir recht ist, will ich mich von dir entfernt halten, und du
hältst dich von mir fern, bis ich meinem Kalifen gemeldet
habe, was du mir vorschlägst. Wenn er es von dir annimmt,
nehme auch ich es an; wenn er mir gebietet, anders vorzugehen, gehorche ich ihm.“ Der Herr Alexandriens war ein20 verstanden, und Amr schrieb dem Kalifen Omar – damals
pflegte man vor uns Soldaten keinen Brief, der verfaßt wurde, geheimzuhalten – und er führte an, was ihm der Herr
Alexandriens vorgeschlagen hatte.
Wir hielten die Reste der Gefangenen, die wir gemacht hat25 ten, bei uns zurück und machten bei Balhib halt, lagerten
uns und warteten auf die Antwort Omars, bis daß sie eintraf.
Amr las sie uns vor. Sie lautete: Ich habe deinen Brief erhalten, in dem du erwähnst, was der Herr Alexandriens dir
30 vorschlägt, nämlich, daß er dir Tribut zahlen wolle, unter
der Bedingung, daß du ihm unsere Gefangenen aus seinem
Lande zurückgibst. Bei meinem Glauben: Ein fester Tribut,
den wir und die Muslime, welche nach uns kommen, erhalten, ist mir viel lieber als Beute, die verteilt wird, und die
35 dann ist, als wäre sie nie gewesen.
Schlage dem Herren von Alexandrien vor, er solle dir Tribut
zahlen, unter der Bedingung, daß die Gefangenen, die sich
in deinen Händen befinden, vor die Wahl gestellt werden
zwischen dem Islam und der Religion ihres Volkes. Wer von
40 ihnen den Islam wählt, der soll zu den Muslimen gehören;
er soll Teil haben an ihrem Reichtum, und er soll dazu verpflichtet sein, wozu sie verpflichtet sind. Wer die Religion
seines Volkes erwählt, dem werde jener Tribut auferlegt,
der den Anhängern ihrer Religion gebührt.
45 Was aber jene Gefangenen betrifft, die bereits in Arabien
zur Verteilung gelangt sind, und die nach Mekka, Medina
und nach dem Jemen geschickt worden sind, die können
wir nicht zurückgeben. Wir wollen ihm auch nicht Frieden
gewähren zu Bedingungen, in denen für ihn keinerlei Nach50 teil läge.
Amr sandte zum Herrn von Alexandrien, um ihm zu melden, was der Beherrscher der Gläubigen schrieb, und jener
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GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
antwortete: „Ich bin einverstanden.“
Da sammelten wir alle Gefangenen, die wir in Händen hat55 ten, und die Christen versammelten sich auch. Wir brachten einen jeden unserer Gefangenen nach vorn und stellten
ihn vor die Wahl zwischen Islam und Christentum. Wenn er
den Islam wählte, riefen wir: Gott ist am größten! mit noch
lauterer Stimme, als wir es bei der Eroberung ihrer Dörfer
60 gerufen hätten. Dann brachten wir ihn auf unsere Seite.
Wenn er aber das Christentum wählte, dann grunzten die
Christen laut und holten ihn auf ihre Seite hinüber. Wir legten ihm Tribut auf und waren betrübt, so sehr, wie wenn einer der Unsrigen zu ihnen übergelaufen wäre […]
65 Dann wurde Alexandrien vor uns aufgetan, und wir zogen
ein.
Arnold Hottinger: Die Araber. Werden, Wesen, Wandel und Krise des Arabertums.
Zürich: Atlantis 1960, S. 47 f.
M 4.3
Erklärungsansätze
a) Die historischen Voraussetzungen für die ersten – so
entscheidenden – Erfolge muslimischer tribaler Gruppen
außerhalb der Arabischen Halbinsel waren in den dreißiger
Jahren des siebten Jahrhunderts ohne Zweifel äußerst
5 günstig. Im Norden und Nordosten […] befanden sich weitestgehend unbefestigte und immer schon durchlässige
Randgebiete von entfernten Provinzen der beiden Großreiche (Byzanz, Iran der Sassaniden-Dynastie), die schließlich
[…] der muslimischen Eroberung zum Opfer fielen. Diese
10 beiden seit langem konkurrierenden Imperien hatten zudem bis kurz vor dem Erscheinen muslimischer Formationen auf ihrem Territorium im Kampf um die Herrschaft über
Syrien erschöpfende Kriege miteinander geführt und waren […] auch innenpolitisch alles andere als stabil. Ernst15 hafte – und vor allem schnelle – Reaktionen auf die ersten
lokalen Erfolge der Muslime mögen gerade auch aus diesen Gründen nicht erfolgt sein. Wesentlicher allerdings
scheint eine Fehleinschätzung (Unterschätzung) des Gegners gewesen zu sein […].
20 b) Wenn wir die muslimische Seite der ersten futūh-Erfol.
ge betrachten, so erscheint zunächst als wesentlicher Faktor die Tatsache, daß es im Rahmen und/oder nach Abschluß der ridda-Kämpfe1) offenbar gelang, tribale Gruppen
in den Randzonen für eine – zunächst wohl nur als lokal
25 und zeitlich begrenzte – Zusammenarbeit zu gewinnen,
für gemeinsame Aktionen also, deren Ziele nicht genau
festgelegt waren, die aber den miteinander Verbündeten
aufgrund der wechselseitigen Stärkung erfolgversprechend erschienen […] und bei denen muslimischerseits das
30 Bekenntnis der Partner zum Islam nicht unbedingt als Voraussetzung für die Zusammenarbeit verlangt wurde. […]
Die Abmachungen […] lassen bereits in den Anfängen eine
Verhaltensweise der Eroberer erkennen, die außerordentlich weitreichende Konsequenzen haben sollte: ihre Bereit35 schaft (und Fähigkeit) zum Kompromiß und Arrangement.
Eine muslimische Ökumene […] ist wesentlich durch Vereinbarungen und Verträge zustandegekommen und nicht
durch eine praktizierte Missionskriegs-Mentalität. Den
Muslimen ist anscheinend sehr schnell deutlich geworden,
Der Islam
M AT E R I A L I E N
15
40 daß die autochthone Bevölkerung in den Regionen ihrer er- 90 […] Was aber von Anfang an fehlte […], waren ein einheit-
sten Vorstöße zu großen Teilen wenig Grund und Neigung
licher, durchsetzbarer militärischer Oberbefehl und eine
zur Loyalität gegenüber den Repräsentanten der jeweiligen
zentrale Definition der Kriegsziele […]
politischen Ordnungen hatte, in die sie eingebunden war,
Das einigende Element […] ist somit nicht in Führungsperdaher auch keine großen Anstrengungen unternahm, diese
sönlichkeiten oder klar definierten und unter allen Umstän45 ernsthaft zu verteidigen. Der Grund hierfür ist vor allem in 95 den zu erreichenden Kriegszielen zu suchen, sondern in
bereits seit langer Zeit schwelenden und zum Teil erbittert
der Einstellung und den Handlungsmaximen der die Erobeausgetragenen Religionskonflikten zwischen Provinzbevölrungen tragenden Personengruppen. Um jene zu definiekerung und herrschender Staatsgewalt zu suchen […]. Eine
ren, genügt es nun nicht, das Streben nach materiellem
politische Neuorientierung, möglicherweise ein Wechsel
Gewinn, die immer wieder berufene „Beutegier“ u.ä., zu re50 der Herrschaft, konnten daher großen Teilen der autoch- 100 klamieren […]; in diesem Zusammenhang ist sehr wohl auf
thonen Provinzbevölkerung in Syrien/Palästina und im Irak
den Islam als formative und entscheidende Kraft zu verdurchaus als attraktiv erscheinen, falls sie sich unter Vorweisen. Dabei muß allerdings der Aspekt der religiösen
aussetzungen vollzogen, die eine Verbesserung ihrer LeÜberzeugung, des „Glaubens“, der futūh-Kämpfer
beiseite
.
bensumstände versprachen.
bleiben, nicht weil er als irrelevant anzusehen wäre, son105 dern weil er nicht zu qualifizieren ist. Die Rede kann und
55 c) In dieser Situation war es nun von höchster Bedeutung,
muß aber sein vom Islam als integrierender Kraft und als
daß die allmählich vordringenden Muslime von der eingeBasis für das Streben des einzelnen futūh-Kämpfers
nach
.
sessenen Bevölkerung in den Provinzen der Großreiche
persönlicher Anerkennung. Es wurde schon des öfteren
durchweg Unterwerfung, nicht aber Konversion zum Islam
darauf hingewiesen, daß der Kampf ein normaler und vor
verlangten […]. Man hatte es nämlich während der futūh. 2) 110 allem auch positiv bewerteter Bestandteil tribalistischer Le60 vornehmlich mit „Schriftbesitzern“ […] zu tun. Mit „Schriftbensform auf der Arabischen Halbinsel gewesen ist. Gebesitzer“-Gruppen auf der Arabischen Halbinsel hatte sich
kämpft wurde für den Erhalt und die Stärkung der jeweils
bereits der Prophet verschiedentlich vertraglich geeinigt,
eigenen tribalen Gruppe und gegen – prinzipiell – alle anund in Sure 9,29 war offenbart worden, daß diese zu bederen Gruppen […]. Aus der Kombination der spezifischen
kämpfen seinen, bis sie eine Abgabe (ǧizya) entrichten; und 115 Einbindung des Kampfes in das Offenbarungswerk Gottes
65 diese war in Art und Höhe nicht festgelegt, somit gab es
mit der […] Einigung der tribalen Gruppen auf der Arabiweiten Verhandlungsspielraum. […] Es entwickelte sich die
schen Halbinsel unter dem Vorzeichen des Islam ergab
für die muslimischen Eroberungen so typische und für ihsich nun für die bereitstehenden arabischen Stammeskrieren Erfolg so entscheidende Vertragspraxis der Eroberer,
ger ein revolutionär-neues sowohl „Für“ als auch „Gegen“
der bei aller Verschiedenheit der Abmachungen das einfa- 120 ihres Kriegshandwerks. Das „Für“ war nun […] durch die
70 che Schema zugrundelag: Die Muslime erhalten Abgaben
umfassenden Belange aller, die in der islamischen umma
(eben: ǧizya) – ihre Vertragspartner erhalten Schutz
zusammengeschlossen waren, [definiert]; die generelle
(_dimma) […] später mündeten [die Abgaben] in eine regel(koranische) Qualifizierung dieser Belange als „Sache Gotrechte Besteuerung ein. Der muslimischerseits gewährte
tes“ gab dem Kampf zudem eine bis dahin unbekannte reliSchutz bezog sich vor allem auf Leben, mobilen und immo- 125 giöse Legitimation. Das neue „Gegen“ (nur noch Nicht75 bilen Besitz, ferner Kultstätten und Religionsausübung der
Muslime) konnte die vorhandenen kriegerischen Kräfte […]
jeweiligen „Schriftbesitzer“ […].
zum ersten mal bündeln und in eine Richtung lenken. […
Die ausgehandelten Abgaben dürften des öfteren niedriger
Auch] dürfte […] die sehr persönliche „Werbung“ der koraals die vordem abzuführenden Steuern gewesen sein […].
nischen Offenbarungen für den ǧihād von erheblichem GeReligionsfreiheit hatte […] für viele der von der musli- 130 wicht gewesen sein. In der arabischen Gesellschaft spielte
80 mischen Eroberung betroffenen Untertanen der beiden
gerade die kriegerische Großtat des einzelnen Stammeszentralistischen Großreiche bis dato nicht bestanden, der
kriegers […] als allgemeine Anerkennung und Ruhm beHerrschaftswechsel brachte somit in einem wesentlichen
gründendes Faktum eine wichtige Rolle.
Albrecht Noth: Die arabisch-islamische Expansion. In: Ulrich Haarmann: GeschichBereich erhebliche Vorteile, ja die muslimischen Eroberer
te der arabischen Welt. München: Verlag C. H. Beck 2001, 4. Aufl., S. 58 ff.
wurden mitunter regelrecht als Befreier begrüßt. […]
85 d) [Den futūh-Erfolgen]
lagen weder ein festes Kriegsziel,
.
noch ein größeres strategisches Konzept, noch ausgeklügelte militärtaktische Erwägungen zugrunde; und gerade
[… darin] scheint ein Geheimnis der so eindrucksvollen
Weiträumigkeit arabisch-islamischer Expansion zu liegen.
1)
2)
ridda-Kämpfe: „Abfall vom Islam“; Kämpfe gegen die Abfallsbewegung arabischer Stämme nach Mohammeds Tod
futūh: „Öffnung“; Expansionskriege; eroberte Länder werden nach islamischen
Verständnis dem Islam „geöffnet“ (vgl. M 5.2)
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Legen Sie dar, welche Stellung nach Ansicht Omars Nicht-Muslimen zukommen soll und welche Begründungen
dazu gegeben werden. Welchen Einfluss auf den Erfolg der Expansion könnte dies gehabt haben? (M 4.2)
2. Fertigen Sie mithilfe von M 4.3 ein Schaubild mit der Überschrift „Erklärungen für die Schnelligkeit und Weiträumigkeit der arabischen Expansion“ an.
3. Erläutern Sie, welche Rolle der Historiker A. Noth der Religion für den Erfolg der Expansion zumisst. (M 4.3)
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GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
FOLIE 1
„Test the West“
Foto: Ellerbrok/Bilderberg
M 1.1
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GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
FOLIE 2
Die arabisch-muslimische Expansion
© Ansgar Jöbkes, 2005 (www.karthographie-online.de)
M 4.1
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GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
18
M 4.4
M AT E R I A L I E N
Islamisierung: Wie verbreitete sich der
Islam?
Die innere Islamisierung der vom Kalifenreich beherrschten Territorien war ein langwieriger Prozeß, der noch nicht
in allen Einzelheiten erforscht ist. […] Den Eroberern [war]
an einer Konversion der Unterworfenen nicht gelegen […];
5 sie gewährten den Christen, Juden und Zarathustriern den
Schutz (_dimma) des islamischen Staates und begnügten
sich mit ihren Abgaben, aus denen der Unterhalt der muslimischen Kämpfer bestritten wurde. […] Die christlichen Kirchen genossen den erwähnten Schutz; das Oberhaupt der
10 Nestorianer, der Katholikos, nahm am Hof der Kalifen von
Bagdad einen hohen Ehrenrang ein, und die […] syrische
(jakobitische) Kirche behauptete sich mit ihrer Hierarchie
und einem reichen Besitz an Ländereien, Kirchen und Klöstern. Die koptische Kirche in Ägypten, durch die arabische
15 Eroberung vom griechisch-orthodoxen Druck befreit, konnte ihre Stellung sogar ausbauen […]. Die Bevölkerung Ägyptens scheint noch bis ins 14. und 15. Jahrhundert überwiegend christlich gewesen zu sein; noch heute macht die
koptische Minderheit einen beträchtlichen Teil der Bevölke20 rung Ägyptens (ca. 10%) aus. Nur in Nordafrika ist die römisch-katholische Kirche – und mit ihr die lateinische Sprache – gänzlich verschwunden – vermutlich wegen ihrer
schwachen Infrastruktur. […]
Die innere Islamisierung des Kalifenreiches ist nur zum Teil
25 aus der Zuwanderung von Arabern aus der Arabischen
Halbinsel in die umgebenden Regionen zu erklären. Der
Hauptgrund war wohl der gesellschaftliche Sog der herrschenden Religion, die ja die Religion der Herrschenden
war; einem Muslim boten sich ganz andere Aufstiegschan30 cen als einem _
dimmı,- obwohl auch immer zahlreiche Nichtmuslime in hohen Stellungen anzutreffen sind; sogar im
Rang von Wesiren treffen wir Juden und Christen an, und
einzelnen Juden und Christen eröffnete die Konversion den
Zugang zu hohen militärischen Rängen. In Ägypten war
35 jahrhundertelang die gesamte Finanz- und Steuerverwaltung in den Händen christlicher Beamter; allerdings läßt
sich gerade anhand der koptischen Beamtenfamilien der
Prozeß der Islamisierung verfolgen: nach und nach finden
alle es opportun, den Islam anzunehmen. Dem Sog der
40 Attraktivität korrespondierte nur selten ein Druck von oben;
so hat der ägyptische Kalif al-H. akim
(996–1021) versucht,
seine Beamten vor die Wahl zwischen Konversion oder
Auswanderung ins byzantinische Reich zu stellen, aber dieser Versuch war nicht nur eine Ausnahme, er blieb auch er45 folglos; al-H
. akims Nachfolger mußte den Exilierten die
Rückkehr in die Heimat und zum alten Glauben gestatten.
Heinz Halm: Der Islam. München : C. H. Beck Verlag 2000, S. 30 ff.
Leitfrage/Arbeitsauftrag
Wurde der Islam kriegerisch verbreitet? Fassen Sie
Ihre Arbeitsergebnisse zur arabisch-muslimischen Expansion unter dieser Fragestellung zusammen.
(M 4.1–M 4.4)
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GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
5. Teil
M 5.1
Ist der Islam eine
kriegerische Religion?
Djihad – heiliger Krieg der Muslime?
Das eine arabische Wort ǧihād meint nicht die beiden deutschen Worte „Heiliger Krieg“, sondern deckt ein weites
Bedeutungsfeld ab. Es bedeutet zunächst nur „Anstrengung“ und wird an manchen Stellen des Koran als morali5 sches „Sichabmühen“ auf dem Wege Gottes verstanden
[…]. Die Wortkombination „heiliger Krieg“ kommt im Koran
nicht vor: Krieg kann in islamischer Auffassung nie heilig
sein.
Aber an anderen Stellen wird das Word ǧihād als gewaltsa10 mer „Kampf“ verstanden im Sinne einer kriegerischen Auseinandersetzung: „Ihr müßt an Gott und seinen Gesandten
glauben und mit eurem Vermögen und in eigener Person
um Gottes Willen euch abmühen“; das Verb ǧāhada, „sich
einsetzen“ mit eigenem Vermögen und mit eigener Person,
15 bedeutet hier kämpfen, „Krieg führen“, wofür unmittelbar
das Eingehen ins Paradies versprochen wird […]. Ähnlich
lautende Koranverse gibt es mehrere […].
Während die Jünger Jesu von Botschaft, Verhalten und
Geschick ihres Messias her auf Gewaltlosigkeit verpflichtet
20 sind, so die Nachfolger des Propheten Muhammad
von
.
vornherein, falls nötig, auf eine kämpferische Auseinandersetzung, die auch Gewaltanwendung nicht scheut. Der
Krieg als Mittel der Politik wird bejaht, gewagt und – in
den meisten Fällen – gewonnen. So läßt sich kaum in
25 Abrede stellen, daß der Islam vom Ursprung her einen
kämpferischen Charakter hat, auch wenn sich die Aufforderungen zum Kampf zunächst auf die polytheistischen
Mekkaner und den Muslimen feindlich gesonnene arabische Stämme und so auf eine ganz bestimmte historische
30 Situation beziehen, in der die neue muslimische Gemeinschaft bedroht ist. […]
Aus der Biographie des Propheten verständlich ist die Erklärung heutiger muslimischer Autoren, daß in den Suren
von Mekka ǧihād nicht im Sinne von „Krieg“, sondern von
35 „Anstrengung“ beim Vorbringen von Argumenten im
Vordergrund stand und ein bewaffneter Kampf, ohnehin
aussichtslos, nicht erlaubt war; daß dann aber in den Suren
von Medina Muhammad
die ersten Offenbarungen mit der
.
Erlaubnis zum bewaffneten Kampf gegen die götzendie40 nerischen Mekkaner erhielt und so ǧihād zur Selbstverteidigung Pflicht wird. In weiteren Offenbarungen wird dann
ǧihād als „bewaffneter Glaubenskampf gegen Ungläubige“
immer deutlicher ausformuliert.
Das von Muslimen häufig vorgebrachte apologetische
45 Argument, der bewaffnete ǧihād beziehe sich nur auf Verteidigungskriege, läßt sich freilich nicht aufrechterhalten.
Dagegen sprechen allein schon die Zeugnisse der islamischen Chronistik, die belegen, wie der ǧihād politisch-militärisch von größter Bedeutung war. Man konnte sich ja in
50 der Tat kaum eine wirksamere Motivation für einen Krieg
vorstellen als eben den „Kampf“, bei dem es gegen die „Ungläubigen“ um die Sache Gottes selbst geht.
Hans Küng: Der Islam. © 2004 Piper Verlag GmbH, München, S. 710 f.
Der Islam
19
M AT E R I A L I E N
M 5.2
Das islamische Verständnis von Krieg und Frieden
Es trifft zu, dass der Islam nicht pazifistisch ist und über weite Strecken
der Geschichte den Djihad in den
Mittelpunkt stellt. Doch ist dieser kein
5 „heiliger Krieg“ und er wird von Muslimen sogar als Instrument des Friedens gedeutet. […]
Bei ihren Eroberungen glaubten die
Muslime, Djihad, nicht aber Krieg zu be10 treiben, und dass dies zudem dem Frieden diene. Im Islam bedeutet Djihad
nach dem eigenen Verständnis nicht
Krieg, schon gar nicht „heiliger Krieg“.
Nur die anderen, also Nicht-Muslime,
15 führen nach islamischem Verständnis
Krieg, weshalb die außerislamische Territorialität Dar al-harb/Haus des Krieges
genannt wird. […]
M 5.3
Muslime beanspruchen für ihre Welt
20 den Begriff Dar al-Islam/Haus des Is-
lam, das mit dem Haus des Friedens/Dar al-salam gleichgesetzt wird.
Die Erweiterung der islamischen Territorialität dehnt die Sphäre des Frie25 dens aus. […] Trotz des islamischen
Selbstverständnisses dürfen wir die
Tatsache nicht übersehen, dass Muslime ihren Djihad geschichtlich als
Krieg zur Verbreitung des Islam betrie30 ben haben. […]
Von seinem Ursprung her ist der Islam
arabisch, von seinem Anspruch her
jedoch universalistisch, d.h. als Religion beansprucht er, für die gesamte
35 Menschheit zu gelten. Auf dieser Dok-
trin baut das Projekt der islamischen
Expansion auf, das seit dem Tod des
Propheten und der Vereinigung der
Stämme zu einer stammesübergrei40 fenden Umma verfolgt wurde. Das
Mittel der islamischen Futuhat-Expansion war der Krieg. […]
Der Sammelbegriff für die islamischen Eroberungskriege lautet Futuhat
45 (wörtlich: Öffnungen). Ein Land zu erobern bedeutet nach islamischem
Verständnis, es „dem Islam zu öffnen/
Fataha“ […].
Bassam Tibi: Einladung in die islamische Geschichte.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
2001, S. 68 ff.
Der Islam – friedlich oder kriegerisch?
Christentum, Judentum und Islam
sind historisch und religionsphänomenologisch Geschwisterreligionen.
Elohim, Deus, Allah sind Namen für
5 ein und denselben transzendentalen
Bezugspunkt der drei Religionen, die
Abraham als ihren mythischen Urvater ansehen. Während jedoch Jesus
als Aufrührer am Kreuz endete, waren
10 Moses und Mohammed prophetische
Staatsgründer und Staatsmänner und
führten als solche Kriege. Eine Maxime wie „Gebt dem Kaiser, was des
Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“
15 enthält weder das Alte Testament
noch der Koran. Diese enthalten dafür
Aufforderungen, gegen die Ungläubigen zu kämpfen. Ganz frei von solchen Aufrufen ist jedoch auch das
20 Neue Testament nicht. So liest man
beim Evangelisten Matthäus (10, 34):
„Ich bin nicht gekommen, Frieden zu
bringen, sondern das Schwert.“
[…] Das Christentum verlor seine
25 Unschuld, als es im 4. Jahrhundert
in Byzanz und später in Rom Staatskirche wurde. In seinem Namen wurden fortan Kriege gefochten, Kreuzfahrer entsandt, Muslime und Juden
30 durch die Inquisition verfolgt, „Hexen“
med bereits Staatsmann war, entstan-
verbrannt, „Heiden“ gewaltsam bekehrt oder erschlagen usw. Der Dreißigjährige Krieg zwischen Katholiken
und Protestanten von 1618 bis 1648
35 raffte in manchen Regionen Europas
über die Hälfte der Bevölkerung hin.
Es war die Erfahrung dieses Krieges,
die bei uns zur Aufklärung beitrug und
die Erkenntnis reifen ließ, dass Staat
40 und Religion strikt zu trennen seien.
Obwohl sich diese Erkenntnis bis heute weitgehend durchgesetzt hat, genügt ein Blick nach Nordirland, wo
sich Protestanten und Katholiken be45 kriegen, oder auch in die USA, wo
Christen mit dem Hinweis auf die Bibel Abtreibungsärzte erschießen, um
zu erkennen, dass auch das Christentum bis heute zur Begründung von
50 Gewalt missbraucht wird.
Und der Islam? Mohammed sah sich
der Feindschaft der heidnischen Mekkaner gegenüber, gegen die er nach
seiner erzwungenen Auswanderung
55 nach Medina zum Dschihad aufrief.
Die Mekkaner wurden vor die Wahl
gestellt, sich zu bekehren oder getötet
zu werden. In dieser Zeit, als Moham-
60 den Koranverse wie dieser: „Er (Gott)
ist es, der seinen Gesandten mit der
Rechtleitung und der wahren Religion
geschickt hat, um ihr zum Sieg zu verhelfen über alles, was es (sonst) an
65 Religion gibt – auch wenn es den Ungläubigen zuwider ist.“ (Sure 9, 33).
Die Kalifen sind dieser Devise treu geblieben und haben die islamische
Herrschaft mit dem Schwert vom At70 lantik bis zum Indus ausgedehnt. […]
Wir müssen uns bewusst werden,
dass alle drei abrahamitischen Religionen den Virus der Gewalt in sich
tragen, der jederzeit ausbrechen
75 kann. Die Trennung von Religion und
Staat ist gewiss ein vorbeugendes
Mittel dagegen. Langfristig jedoch
muss es darum gehen, die friedfertigen Aspekte der einzelnen Weltreli80 gionen als für sie maßgeblich in den
Vordergrund zu rücken, so dass es Gewalttätern schwerer fällt, sich zur Legitimation ihres Tuns auf Gott zu berufen.
Gernot Rotter: Der Islam – friedlich oder kriegerisch?
Aus: E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit,
11/2001
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Heiliger Krieg – eine göttliche Weisung für Muslime? Erörtern Sie. (M 5.1)
2. Erläutern Sie das muslimische Verständnis von Krieg und Frieden. (M 5.2)
3. Erarbeiten Sie die Thesen Rotters (M 5.3) und diskutieren Sie vor dem Hintergrund Ihrer Arbeitsergebnisse von
Arbeitsauftrag 1 und 2.
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GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
20
6. Teil
M 6.1
M AT E R I A L I E N
Der Islam – die überlegene Kultur?
Modernität und Erkenntnis
Material 1: Ein „modernes“ Krankenhaus
Material 3: Ein „moderner“ Wissenschaftler
Hätte es vor tausend Jahren schon einen Nobelpreis gege„Lieber Vater! Du fragst, ob Du mir Geld bringen sollst.
ben, wäre er wohl reihenweise an muslimische WissenWenn ich entlassen werde, bekomme ich vom Krankenschaftler gegangen. […]
haus einen neuen Anzug und fünf Goldstücke für die ersDass die Erde eine Kugel ist, war für [… al-Biruni] selbstverte Zeit, damit ich nicht sofort wieder arbeiten muß. Du
5
ständlich. Ein halbes Jahrtausend vor Martin Behaim, der
5 brauchst also von Deiner Herde kein Tier zu verkaufen. […]
1492 in Nürnberg seinen „Erdapfel“ konstruierte, baute alIch liege auf der orthopädischen Station neben dem OperaBiruni einen Erdglobus. Mit fünf Metern Durchmesser war er
tionssaal. Wenn Du durch das Hauptportal kommst, gehst
zehnmal größer angelegt als der Globus des Deutschen, als
Du an der südlichen Außenhalle vorbei. Das ist die PolikliHalbkugel umfasste er aber nur die nördliche Hemisphäre. […]
nik, wohin sie mich nach meinem Sturz gebracht hatten.
10
Auf der sphärischen Oberfläche trug al-Biruni die Positionen
10 Dort wird jeder Kranke zuerst von den Assistenzärzten und
von Städten ein, die teils mit astronomischen Verfahren beStudenten untersucht, und wer nicht unbedingt Krankenstimmt und teils aus Entfernungsangaben abgeleitet worden
hausbehandlung braucht, bekommt dort sein Rezept, das
waren, die er von Reisenden erfragt hatte. […]
er sich nebenan in der Krankenhausapotheke anfertigen
Anfangs hatte al-Biruni gehofft, durch den Kontakt mit indilassen kann. […]
15 schen Astronomen etwas Neues hinzulernen zu können.
15 Aber Du läßt linker Hand auch die Bibliothek und den groDarin sah er sich aber getäuscht. Manches entsprach zwar
ßen Hörsaal, wo der Chefarzt die Studenten unterrichtet,
dem, was die Griechen auch und besser ausgearbeitet hathinter Dir. Der Gang links vom Hof führt zur Frauenstation,
ten. Dann aber störten ihn Kompromisse mit der VolksreliDu mußt Dich also rechts halten und an der Inneren Abteigion, wenn etwa die Mond- und Sonnenfinsternisse, die im
lung und der Chirurgischen vorbeigehen. […] Wenn Du Mu- 20 Kult noch heute eine Rolle spielen, auf einen unsichtbaren
20 sik oder Gesang aus einem Raum vernimmst, sieh hinein.
Dämon am Himmel zurückgeführt wurden. Als Ursache der
Vielleicht bin ich dann schon in dem Tagesraum für die Gefalschen Meinung entdeckte er, dass die indische Vorstelnesenden, wo wir Musik und Bücher zu unserer Unterhallung den Mond über der Sonne platziert hatte […].
tung haben. […]
Gotthard Strohmaier: Al-Biruni. Ein Gelehrter, den das Abendland übersah. Aus:
.Alles ist so hell und sauber hier. Die Betten sind weich, die
Spektrum der Wissenschaft 5/2001, S. 74 ff.
25 Laken aus weißem Damast und die Decken flaumig und
fein wie Samt. In jedem Zimmer ist fließendes Wasser, und
Material 4: Wissenschaftliche Erkenntnis
jedes wird geheizt, wenn die kalten Nächte kommen. Fast
Ausschnitt aus einer anatomischen Studie des Auges aus
täglich gibt es Geflügel oder Hammelbraten für den, desdem 9. Jahrhundert (hier: Abschrift aus dem 13. Jh.):
sen Magen es verträgt. […]“
30 Die Verhältnisse, von denen der Brief spricht, würden wir
ohne weiteres unserem gelobten 20. Jahrhundert zutrauen.
Tatsächlich schildert er eines der Krankenhäuser, wie sie
vor tausend Jahren in jeder größeren arabischen Stadt zwischen dem Himalaya und den Pyrenäen zu den unerläß35 lichen Einrichtungen gehörten.
Nationalbibliothek Kairo, Ägypten
Sigrid Hunke: Allahs Sonne über dem Abendland. © 1960 Deutsche VerlagsAnstalt GmbH, Stuttgart, S. 107 f.
Material 2: Ein „armer“ Ritter
Der syrische Arzt Usama ibn Munqid, geb. 1095, behandelte auch christliche Ritter. Dabei lernte er auch seine
abendländischen „Kollegen“ kennen.
Dem Ritter machte ich ein erweichendes Pflaster und der
Abszeß öffnete und besserte sich. […] Da kam ein fränkischer Arzt daher und sagte: „Der weiß doch überhaupt
nicht, wie sie zu behandeln sind!“, wandte sich an den Ritter und fragte ihn:“ Was willst du lieber: mit einem Bein
leben oder mit beiden Beinen tot sein?“ Der antwortete:
„Lieber mit einem Bein leben!“ Da sagte er: „Holt mir einen
kräftigen Ritter und ein scharfes Beil!“ […] Er schlug, unter
meinen Augen, einmal zu, und da das Bein nicht abgetrennt war, ein zweites Mal: das Mark des Beines spritzte
weg, und der Ritter starb sofort.“
Quelle: Die Kreuzzüge. Tafeltexte zur Ausstellung. Bischöfliches Dom- und Diözesanmuseum Mainz, 2004
G
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Interpretieren Sie Material 1 und 2 und vergleichen
Sie.
2. Was ist an al-Birunis Denken und Handeln „modern“? (Material 3)
3. Vergleichen Sie die Darstellung des Auges mit einer aktuellen aus Ihrem Biologiebuch. (Material 4)
Der Islam
M AT E R I A L I E N
M 6.2
Warum verlor der Islam seine Überlegenheit?
Der 1944 in Damaskus geborene Bassam Tibi ist Hochschullehrer in Deutschland. Er sieht sich als Vermittler und
Brückenbauer zwischen den Kulturen.
Zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert des gregorianischen Kalenders erreichte der Islam unter den Abbasiden
in Bagdad und unter den Omaiyyaden in Cordoba seinen zivilisatorischen Höhepunkt. Aber diese Blüte war nicht von
5 Dauer. […] Heute gehören die Muslime zu den Völkern der
„Dritten Welt“, d.h. zu der Sphäre der Menschen, die
Gegenstand der westlichen Entwicklungspolitik sind, sich
also noch zu „entwickeln“ haben. […]
Die Frage, warum die islamische Zivilisation das zwischen
10 dem 9. und 12. Jahrhundert erreichte zivilisatorische
Niveau nicht halten konnte und es im Verlauf der nachfolgenden Entwicklung eingebüßt hat, lässt sich nicht mit einfachen Erklärungen, erst recht nicht mit monokausalen
Deutungen beantworten. […] Was steht hinter der Kontinu15 ität und Diskontinuität islamischer Geschichte? Diese Fragen sind sehr komplex und auch ich kann keine befriedigende Antwort darauf geben. […]
Ich habe bereits mehrfach […] die Aussagen des Begründers der institutionellen deutschen Islamkunde C. H. Be20 cker zurückgewiesen, der uns in überheblicher Art belehrt,
dass die Antwort auf die Frage der Rückständigkeit der
Muslime „in rassenpsychologischen Tatsachen zu suchen“
sei. Heute kann eine solche Geschichtsdeutung nur noch
als impertinent, ja rassistisch bezeichnet werden. […]
25 [Es folgen drei gängige Erklärungen], die viele Muslime unserer Gegenwart in ihren Schriften als Deutung für den
Niedergang der islamischen Zivilisation bieten:
■ Die Mongolen-Invasion und der Niedergang Bagdads
[1258] durch diesen externen Faktor.
30 ■ Die christliche Verschwörung gegen den Islam, die von
den Kreuzzügen bis zu den westlichen Kolonialeroberungen bzw. bis zur Globalisierung in unserer Gegenwart anhalte.
■ Das Eindringen der „Ausländer/Schu’ubiten“ (Perser
35 und Türken) unter islamischer Tarnung und ihre Entarabisierung des Islam […].
Die erste und die zweite Deutung werden von vielen Muslimen geteilt, wohingegen die dritte vorwiegend bei arabischen Muslimen vorzufinden ist. Jedoch ist von allen drei
40 Mustern nur das erste ernst zu nehmen, wenngleich es auf
Grund seiner Monokausalität fragwürdig bleibt, weil es die
innere Entwicklung der islamischen Zivilisation völlig außer
Acht lässt […]. Wäre das Zentrum dieser Zivilisation im 13.
Jahrhundert nicht schon von innen so weitgehend ge45 schwächt gewesen, hätte die Mongolen-Invasion gar nicht
in jenem Ausmaß erfolgreich sein, ja sie hätte abgewehrt
werden können. Zudem hat der Niedergang der wissenschaftlichen Tradition im Islam nichts mit externen Faktoren zu tun. Die Mongolen haben zwar ganze Bibliotheken in
50 Tigris und Euphrat geworfen, zuvor aber hatte die islamische Orthodoxie die Bücher der islamischen Rationalisten
und Aufklärer verbrannt und die Verbreitung ihres Denkens
verhindert […].
M 6.3
21
Westliche Vorurteile
Obwohl die arabische Welt seit 1300 Jahren unmittelbar
vor den Toren Europas liegt, weiß man bei uns im allgemeinen weniger von ihr als von manchen untergegangenen
Völkern und Kulturen. Und das Wenige ist meist falsch.
5 Und obwohl seit Jahren Touristen in Scharen zu arabischen
Sonnenstränden strömen, obwohl Minister und Wirtschaftler geschäftig zu den für westliche Industrien aufnahmefreudigen Bohrturmeignern eilen, beschränkt sich die
Kenntnis der arabischen Völker, ihrer Kultur, ihrer Leistun10 gen und ihrer Beiträge zur abendländischen und Weltkultur
bei ihnen meist auf wenige stereotype Äußerlichkeiten, wo
nicht auf tief eingefleischte Vorurteile.
Schuld daran ist eine Geschichtsschreibung, die jahrhundertelang von religiösen Voreingenommenheiten gelenkt
15 ihr Bild verzerrte, ihre hohen Kulturleistungen herabwürdigte und verfälschte, indem sie sie verschwieg. Selbst
neuzeitliche Historiker setzten die Taktik des Herabminderns und Verschweigens fort. Bislang begann für das
abendländische Bewußtsein Weltgeschichte, ja jede Litera20 tur-, Kunst- und Wissenschaftsgeschichte flüchtig im alten
Ägypten und Babylon, um andächtig in Griechenland und
Rom zu verweilen und mit knappem Seitenblick auf Byzanz
zum christlichen Mittelalter und in die Neuzeit überzugehen. Weder hielt man das Europa vor diesem Mittelalter ei25 ner Beachtung wert, noch das, was zugleich mit dem
Mittelalter in der Welt geschah. Daß währenddessen in
engster Nachbarschaft die Araber durch ein Dreivierteljahrtausend das führende Kulturvolk der Erde waren und
damit eine doppelt so lange Blütezeit erlebten wie die Grie30 chen, ja daß sie das Abendland unmittelbarer und vielfältiger beeinflußt haben als jene – wer wußte davon und wer
sprach davon? Allein um der Griechen willen gestand man
ihnen bisher eine Bedeutung zu: sie hätten dem Abendland
die Schätze der Antike „vermittelt“. Dies war das einzige
35 Positivum, das ihr Verdienst um das Abendland zu würdigen vorgab, während es doch ihre Rolle auf die eines Briefträgers herabdrückte, der die griechische Post in den Türschlitz des Abendlandes gesteckt hatte. […]
Sigrid Hunke: Allahs Sonne über dem Abendland. © 1960 Deutsche VerlagsAnstalt GmbH, Stuttgart, S. 9
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. a) Welche Erklärungsansätze für den Niedergang
der islamischen Kulturüberlegenheit werden bei Tibi
(M 6.2) angeführt?
b) Welche davon kann er akzeptieren? Warum?
c) Erläutern Sie seine Kritik an monokausalen Deutungsansätzen.
2. Arbeiten Sie die Aussagen der Autorin sowie ihre
Intentionen heraus und überprüfen Sie ihre Argumentation. (M 6.3)
Bassam Tibi: Einladung in die islamische Geschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 93 ff.
G
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
22
M AT E R I A L I E N
Frauen im Islam
M 7.1
Frauen im Koran
Sure 4/4. Teil
2. O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, Der euch aus einem einzigen Wesen erschaffen hat; aus diesem erschuf Er
ihm die Gefährtin, und aus beiden ließ Er viele Männer und
Frauen sich vermehren. […]
4. Und wenn ihr fürchtet, ihr würdet nicht gerecht gegen
die Waisen handeln, dann heiratet Frauen, die euch genehm dünken, zwei oder drei oder vier; und wenn ihr fürchtet, ihr könnt nicht billig handeln, dann (heiratet nur) eine
oder was eure Rechte besitzt. Also könnt ihr das Unrecht
eher vermeiden. […]
21. Und wenn ihr eine Frau gegen eine andere tauschen
möchtet und habt der einen bereits einen Schatz gegeben,
so nehmt nichts davon zurück. Möchtet ihr es etwa durch
Lüge und offenbare Sünde zurücknehmen?
Sure 4/5. Teil
35. Die Männer sind die Verantwortlichen über die Frauen,
weil Allah die einen vor den andern ausgezeichnet hat und
weil sie von ihrem Vermögen hingeben. Darum sind tugendhafte Frauen die Gehorsamen und die (ihrer Gatten)
Geheimnisse mit Allahs Hilfe wahren. Und jene, von denen
ihr Widerspenstigkeit befürchtet, ermahnt sie, laßt sie allein in den Betten und straft sie. Wenn sie euch dann gehorchen, so sucht keine Ausrede gegen sie; Allah ist hoch
erhaben, groß. […]
130. Und ihr könnt kein Gleichgewicht zwischen (euren)
Frauen halten, sosehr ihr es auch wünschen möget. Aber
neigt euch nicht gänzlich (einer) zu, also daß ihr die andere
gleichsam in der Schwebe lasset. Und wenn ihr es wiedergutmacht und recht handelt, dann ist Allah allverzeihend,
barmherzig.
131. Und wenn sie sich trennen, so wird Allah beide aus
Seiner Fülle unabhängig machen; denn Allah ist huldreich,
allweise.
Der Koran: Übersetzung unter Leitung von Hazrat Mirza Tahir Ahmad. 12. Aufl.,
München 2001
M 7.2
Die Frau im frühen Islam
Entscheidend neue Akzente haben göttliche Vorschriften
ferner in dem so wesentlichen Lebensbereich des gegenseitigen Verhältnisses von Mann und Frau gesetzt, obgleich auch hier wiederum vorislamische Grundmuster
5 nicht „abgeschafft“ und durch ein gänzlich neues Konzept
ersetzt wurden. Unangetastet blieb vor allem die weit überlegene Rechtsstellung des Mannes, etwa sein Initiativrecht
auf Anbahnung und Auflösung eines Eheverhältnisses, seine – auch finanzielle – Dominanz innerhalb der Ehe, sein
10 Recht auf mehrere Frauen, sei es im Rahmen einer Ehe, sei
es – auch gleichzeitig – im Rahmen des (legalen) Konkubinats (mit Sklavinnen). Immerhin wird einem Mißbrauch dieser unbestrittenen Herrschaft des öfteren empfehlend und
warnend Einhalt geboten, die Herrschaft damit eher in die
15 Nähe von Verantwortlichkeit gerückt.
Eine wesentliche „atmosphärische“ Veränderung im Verhältnis der Geschlechter zueinander bedeutete es zudem,
G
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
daß Mann und Frau in ihrer Eigenschaft als Gläubige als
prinzipiell absolut gleichberechtigt angesehen wurden; ei20 ne Ebene, auf der ein solcher grundsätzlicher Ausgleich
des Gefälles zwischen den Geschlechtern hätte stattfinden
können, war bis dahin nicht existent, ihre Schaffung kann
man mit gewissem Recht als revolutionär bezeichnen. […]
Über diese grundsätzliche Aufwertung des Frauenbildes
25 hinaus und gewiß davon ausgehend kam es dann durch
koranische Offenbarungen auch zu sehr konkreten Einschränkungen der traditionellen männlichen Dominanz.
Dies geschah – entscheidend – vor allem über finanzielle
Regulative. So wird die Brautgabe des Mannes nach Voll30 zug der Ehe Eigentum der Frau (nicht mehr Eigentum ihrer
Familie, genauer: des männlichen Teils dieser Familie), wie
sie auch allgemein in der Ehe Vermögen erwerben und
über dieses – bei strikter Gütertrennung! – verfügen kann.
Wenn auch mit geringerem Anteil als die männlichen Be35 rechtigten, so kann sie doch überhaupt (das ist das Entscheidende!) Verwandte, auch ihren Mann, beerben. Als
Geschiedene oder Witwe ist sie zudem – ihre neue finanzielle Eigenständigkeit gab dazu überhaupt erst die Möglichkeit – jeder männlichen Verfügungsgewalt entzogen:
40 weder ihre noch die Verwandten ihres Mannes haben gegen ihren Willen Zugang zu ihrem Vermögen oder das
Recht, sie wieder zu verheiraten.
Ebenfalls eindeutig zugunsten des weiblichen Bestandteils
der muslimischen umma regeln göttliche Offenbarungen
45 die traditionelle Erscheinungsform der Polygamie. Gewiß
nicht der Gesichtspunkt einer Erweiterung der Möglichkeiten des sexuellen Genusses, sondern eindeutig der Aspekt
der – gerade auch finanziellen – Fürsorgepflicht des Mannes steht bestimmend im Vordergrund […] [. Die entspre50 chenden Offenbarungen] erwecken eher den Eindruck
einer Warnung vor den [mit der Polygamie] verbundenen
Belastungen und Risiken, geben eher Verhaltensratschläge
für den Fall ihrer Unvermeidbarkeit.
Gewiß ist das Bild, welches sich aus all diesen koranischen
55 Vorschriften und Regeln für das Verhältnis der Geschlechter zueinander ergibt, von einer „Gleichberechtigung“ im
Sinne heutiger Vorstellungen und Forderungen meilenweit
entfernt. Der einzig zulässige Vergleich, nämlich derjenige
mit der Situation auf der Arabischen Halbinsel zur Zeit
60 Muhammads,
muß jedoch zu dem Urteil führen, daß hier
.
grundlegend neue Akzentsetzungen vorgenommen worden sind, die sich vielleicht so zusammenfassen lassen:
Innerhalb einer eindeutig von Männern dominierten Gesellschaft verliert die Muslimin den nahezu ausschließlichen
65 Objekt-Charakter ihrer heidnischen Geschlechtsgenossin,
ihr werden vergleichsweise bedeutsame Möglichkeiten –
sowohl in materieller als auch in ideeller Hinsicht – eröffnet, auch als handelndes Subjekt aufzutreten.
Albrecht Noth: Die Higra. In: Ulrich Haarmann: Geschichte der arabischen Welt.
München : C. H. Beck Verlag 2001, 4. Aufl., S. 51 f.
Der Islam
M AT E R I A L I E N
23
M 7.3 Frauen und Islam heute
Text 1:
Eine Position von Muslimas in
Deutschland
Wir Muslimische Frauen sind der Meinung, daß die Quellentexte des Islam,
nämlich der Qur’an und das was uns
über die Lebensführung des Prophe5 ten Muhammad bekannt ist, nur eine
Tendenz verfolgen:
Die Befreiung der Frau auf allen Gebieten unter Berücksichtigung ihrer
speziell weiblichen Natur […]
10 Es gibt keinen Grund, warum nicht
auch eine Frau aktiv bei der Gestaltung und dem Aufbau der Gesellschaft mitarbeiten könnte. In der echten islamischen Ummah sind beide,
15 sowohl Mann als auch Frau, engagierte vollwertige Mitglieder. Beide haben
das Recht und die Aufgabe an der Bildung einer gerechten Ordnung mitzuwirken. Sie sind politisch gleichbe20 rechtigt. […]
Der Islam erkennt den Grundsatz der
Gleichberechtigung der Menschen im
Falle unterschiedlicher Geschlechter
an, aber er richtet sich gegen die Iden25 tität der Rechte und Pflichten beider.
Die Unterschiede zwischen Mann und
Frau sind komplementär. […]
Eine muslimische Frau darf nicht ans
Haus gebunden werden, aber sie soll
30 ihre Aufgabe als erste Bezugsperson
der Kinder verantwortungsvoll übernehmen, vor allem während der ersten Lebensjahre des Kindes. Das
muss die gesellschaftliche Position ei35 ner Frau in keiner Weise beeinträchtigen, höchstens ihre Produktivkraft in
anderen Bereichen, z.B. im Arbeitsleben. Wenn sie aber ihren Erziehungsauftrag gewissenhaft erfüllt, ihre Kin40 der glücklich erzieht, legt sie damit
den Grundstein für eine glücklichere
Gesellschaft, und ihre Arbeit ist von
unschätzbarem Wert. Nichtsdestoweniger darf das ihre eigene Vervoll45 kommnung und Gottergebenheit beeinträchtigen.
Text 2:
„Gute Religion für uns Frauen“
Text 3:
Der Begriff der Ehre (namus)
Fragen an die muslimische Theologin
und Pädagogin Fatima Haditcha (Niger):
Publik-Forum: Benachteiligt der Islam
Frauen?
Haditcha: Immer diese typisch europäischen Fragen! (Sie lacht.) Klar, als
5 Interviewer aus Deutschland müssen
Sie das fragen, d’accord. Die bei Ihnen im Westen oftmals monierte Benachteiligung der Frauen bezieht sich
zuerst auf die islamische Erbregel.
10 Töchter erben nur halb so viel wie
Söhne. Jedoch: Wir Frauen erhalten
vor der Heirat unsere Mitgift. Dieses
Vermögen erhalten wir Frauen –
wenn nicht gegen den Islam versto15 ßen wird – im Falle der Scheidung zurück. Der Transfer des Erbes ist im Islam für die Töchter zeitlich vernünftiger geregelt als für die Männer. Denn
Söhne erben spät, nach dem Tod des
20 Vaters. – Das insgesamt Entscheidende ist: Im Islam sind Frauen und Männer von Grund auf gleich vor Gott.
Publik-Forum: Wie steht es mit der
Polygamie?
25 Haditcha: Hier gilt es, kritisch und vernünftig den Koran, die Lehre und ihre
Überlieferungs- und Auslegungsgeschichte zu betrachten. Die Mehrehe
mit bis zu vier Gemahlinnen wurde er30 laubt, nachdem der Prophet und seine Getreuen die Erfahrung von Krieg
und dem daraus resultierenden Elend
der unversorgten Witwen gemacht
hatten. […] Ein Muslim, der seinen
35 Glauben von Herzen ernst nimmt, heiratet nicht mehrere Frauen […].
Im Interview befragt, drückt ein ca.
50-jähriger Dorfbewohner aus der Nähe von Kayseri seine Auffassung von
Ehre so aus:
Ahmet: Im Allgemeinen wird die Ehre
eines Mannes im Zusammenhang
mit seiner Frau betrachtet. D.h., meine Frau gilt als meine Ehre, meine
5 Schwester gilt als meine Ehre. Wenn
die Frau oder die Schwester eines
Mannes ohne sein Wissen sich heimlich mit einem Mann trifft, wenn zwischen ihr und einem Mann eine heim10 liche Beziehung existiert und die
Familie dies erfährt, dann wird dies
zu einer namus-Angelegenheit. Wenn
die Frau eines Mannes mit einem
anderen Mann heimlich eine Bezie15 hung unterhält, dann gilt dies für ihren Mann als Ehrlosigkeit. Darüber
hinaus, wenn jemand, während die
Hausbesitzer schlafen, in das Haus
eindringt und eine Sache oder ein
20 Vieh fortbringt, so wird dies für den
Mann zu einer Angelegenheit von namus. Denn die Leute werden sagen:
Wo bist du gewesen? Du hast so fest
geschlafen, du hättest nicht einmal
25 bemerkt, wenn sie deine Frau mitgenommen hätten. Das Wichtigste für
einen Mann ist daher seine Frau und
seine Schwester.
Publik-Forum, Zeitung kritischer Christen, Oberursel,
Ausgabe Nr. 6/2005, S. X
Islamisches Zentrum Hamburg: Faltblattserie 05.
Frau und Islam. www.islamisches-zentrumhamburg.de.
Die Ehre in der türkischen Kultur. Ein Wertsystem im
Wandel. Hrsg. von der Ausländerbeauftragten des
Senats von Berlin. Berlin 1991, S. 11
Text 4:
Zu den Ursachen der Frauenfrage
Auch im Christentum und Judentum
wurde der Mann über die Frau gestellt. Seit wann darf eine Jüdin überhaupt die Thora lesen? Der Mann ist
5 das Haupt der Frau, heißt es in der Bibel. Das ist im Islam nicht viel anders.
Deshalb hat auch der Islam und nicht
nur die patriarchalische Tradition mit
der Frauenfrage zu tun. Jede Religion
10 braucht eine Anpassung an die Zeit.
Wenn Religion orthodox gelebt wird,
dann ist sie immer frauenfeindlich.
Egal welche.
Fragen der Ehre. Interview des Kölner StadtAnzeiger mit der Berliner Anwältin Seyran Ate˛s,
11./12.06.2005. Interviewerin Astrid Wirtz für
„Moderne Zeiten“.
G
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
24
M AT E R I A L I E N
Text 5:
Frauen unter der Scharia
Das Ehe- und Familienrecht gilt als
Kern der Scharia. Mit wenigen Ausnahmen ist die Scharia heute in allen
islamischen Ländern, aber auch in Tei5 len von Afrika und Südostasien eine
wesentliche oder sogar die einzige
Grundlage des Personenstandsrechts
und damit der Rechtsprechung in
Zivilprozessen. Eine säkulare, von reli10 giösen Normen abgekoppelte Rechtssprechung in Ehe- und Familienangelegenheiten existiert also weithin
nicht. Einzig die Türkei schaffte die
Scharia im Zuge der Gründung der
15 Türkischen Republik als Gesetzesgrundlage ab und richtete die Eheund Familiengesetzgebung 1926 am
Schweizerischen Zivilgesetzbuch aus.
In den übrigen Teilen der islamischen
20 Welt wird die ungebrochene Gültigkeit der Schariagebote insbesondere
in der Ehe- und Familiengesetzgebung weder von maßgeblichen theologischen Autoritäten noch von der
25 Bevölkerung grundsätzlich in Frage
gestellt. […]
Während nach westlicher Auffassung
die Unterdrückung der Frau im Islam
vor allen Dingen an Äußerlichkeiten
30 wie der Kleidungsfrage zum Ausdruck
kommt, zeigen sich die wirklichen Benachteiligungen an ganz anderer Stelle und zwar im rechtlichen Bereich.
Christine Schirrmacher: Frauen unter der Scharia. In:
Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 48/22.11.2004, S. 10
Text 6:
Das blockierte Potential der
Frauen
Text 7:
Immer nur negativ – ein Leserbrief
Humankapitalbildung in der WissensZu Ihrem Kommentar „Zum Dicksein
gesellschaft kann die Hälfte der arabigezwungen!“ (woman 06/2005): Ich
schen Bevölkerung – die weibliche –
komme aus Jordanien und habe noch
nicht ausschließen und auf deren pronie erlebt, dass Mädchen bei uns ge5 duktives Potential außerhalb der 5 mästet werden, damit sie dem Schönhäuslichen Sphäre verzichten. Angeheitsideal arabischer Männer entspresichts der Analphabetenraten muss
chen. Noch mehr stört mich, dass Sie
„empowerment“ von Frauen mit der
in diesem Zusammenhang einseitig
flächendeckenden Durchsetzung des
über Analphabetismus berichten. Das
10 Schulbesuches der Mädchen auch in 10 Bildungsniveau in Jordanien und einiländlichen Räumen beginnen, ungegen Golfstaaten ist sehr hoch. Traurig,
achtet der aus den kulturellen Tradidass immer nur negative Sachen aus
tionen herrührenden massiven Widerder arabischen Welt (Extremismus,
stände. Analphabetinnen können ihre
Unterdrückung der Frau) Erwähnung
15 Kinder auch nicht das Lesen lehren 15 finden. All das gibt es auch in Europa.
Maram Dalgamoni, Bonn. In: Woman 08/2005 vom
und die Schulaufgaben begleiten.
05.04.2005, S. 143. Leserbriefe@womanGender-Gleichstellung beginnt mit
magazin.de
gleichem Zugang zu elementaren
Dienstleistungen, was neben Bildung
20 vor allem Gesundheit einschließt.
Nicht nur sind mehr als die Hälfte aller
Araberinnen illiterat; auch die Müttersterblichkeit ist doppelt so hoch wie
in Lateinamerika und viermal so hoch
25 wie in Ostasien. […]
Kulturelle und rechtliche Barrieren
verstärken die Arbeitslosigkeit von
Frauen. Die durch die religiösen Regeln erzwungenen betrieblichen Vor30 kehrungen für die Geschlechtertrennung am Arbeitsplatz haben entsprechende Effizienzverluste zur Folge.
Dieter Weiss: Freiheit, Wissen und Ermächtigung
von Frauen in arabischen Ländern. In: Aus Politik
und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung
Das Parlament, B 48/22.11.2004, S. 8
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Erarbeiten Sie das Frauenbild im Koran. (M 7.1)
2. Inwiefern veränderte der Koran die Lage der Frauen? Erstellen Sie ein Schaubild, das die Veränderungen für Frauen
im frühen Islam verdeutlicht. (M 7.2)
3. Beschreiben Sie Selbstverständnis, Möglichkeiten und Schranken der Lebensrealität von Muslimas heute. (M 7.3)
4. Entwerfen Sie ein Konzept, wie eine zukunftsorientierte Politik in muslimischen Ländern aussehen könnte. (Grundlage: Texte 5 und 6)
5. Reagieren Sie in Form einer E-Mail auf Text 7.
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GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
Der Islam
M AT E R I A L I E N
M 7.4
25
Von der Muslima zur Frauenrechtlerin – Ayaan Hirsi Ali
Text 1:
Die schwarze Voltaire
An einem Novemberabend im Jahre 2001 fand im Amsterdamer politisch-kulturellen Zentrum „Balie“ eine Veranstaltung zum Thema „Voltaire und der Islam“ statt. Aus Anlass
der niederländischen Übersetzung von Voltaires „Philoso5 phischem Wörterbuch“ aus dem Jahr 1776 traf sich auf
dem Podium eine bunte Gesellschaft. Die Diskussion der
Teilnehmer war lebhaft, mit recht divergierenden Ansichten, doch als eine Philosophin anfing, aufklärerische Prinzipien in Frage zu stellen, und es mit der Lobeshymne auf die
10 multikulturelle Gesellschaft zu bunt trieb, stand in den Zuschauerrängen eine Frau auf und erhob Einspruch. Sie
sprach Niederländisch mit einem leichten Akzent und war
schwarz – fast immer ein Grund, dass es in einem Saal
mucksmäuschenstill wird. Diese Frau kritisierte die hollän15 dische Philosophin heftig und warf ihr vor, keine Ahnung
vom Islam zu haben. […]
Jaffe Vink: Die schwarze Voltaire. In: Cicero. Magazin für politische Kultur, Sept.
2005
Text 2:
„Ich klage an“
Laßt die Voltaires unserer Zeit in einer sicheren Umgebung
an einer Epoche der Aufklärung für den Islam arbeiten. Diese Chance wird uns in unseren Heimatländern oft nicht
gewährt. Der Islam hat keinen Prozeß der Aufklärung
5 durchlaufen, noch ringen islamische Gesellschaften mit
denselben Problemen wie das Christentum vor der Zeit der
Aufklärung. Ein Kennenlernen der Vernunft würde den
Geist jedes einzelnen Muslims vom Joch des Jenseits befreien, von den ständigen Schuldgefühlen und der Versu10 chung des Fundamentalismus. Zudem würden wir lernen,
selbst die Verantwortung für unsere Rückständigkeit und
unsere Probleme zu übernehmen. Deshalb laßt uns nicht
im Stich. Gönnt uns einen Voltaire. […]
In muslimischen Familien ist es ein schweres Tabu, über
15 Verhütung, Abtreibung und sexuelle Gewalt zu sprechen.
Das Tabu stammt direkt aus unserer Religion. Ein schwangeres Mädchen sagt zu Hause kein Wort darüber. Die bindende Kraft ihrer Religion wirkt sich ausschließlich negativ
aus, als reine Unterdrückung. Das Ergebnis ist nicht Ver20 bundenheit oder Zusammengehörigkeit, sondern innere
Zerrissenheit und schreckliche Einsamkeit. […]
Was in diesem Bereich [dem Verhältnis von Mann und
Frau] der stark patriarchalischen Werteorientierung von
den meisten Muslimen als Norm angesehen wird, ist in der
25 modernen Gesellschaft schlichtweg unangebracht; es gilt
als überholt und menschenunwürdig. Der Jungfrau/HureKult, der Wunsch nach möglichst vielen Söhnen, das
Beschneiden von Mädchen (meist unter Berufung auf die
Religion verteidigt), die Zwangsverheiratung von Töchtern
30 – all das sind Attribute der Ehrmentalität. Muslime werden
diese Praktiken und die damit verbundenen Werte als
Gruppe – also Frauen wie Männer – aufgeben müssen. Geschieht das zu langsam oder in unzureichendem Maße,
wird nicht viel aus der Emanzipation der Muslime werden.
35 […]
In den traditionell ausgerichteten muslimischen Gemeinschaften sind es oft die Mütter, die ihre Töchter unter ihrer
Fuchtel halten, und die Schwiegermütter, die ihren Schwiegertöchtern das Leben unerträglich machen. Cousinen und
40 Tanten tratschen endlos übereinander und über andere
und tragen mit dieser sozialen Kontrolle zum Erhalt ihrer eigenen Unterdrückung bei. […]
Der dritte Grund, warum ich meine Stimme erhebe, ist der,
daß kaum einmal jemand muslimischen Frauen zuhört. Die
45 offiziellen Interessenvertreter sind fast durchweg Männer.
[…] [Sie] überbieten sich darin, die enormen Probleme
muslimischer Mädchen und Frauen im Westen zu leugnen,
zu trivialisieren oder auszublenden. […]
Ayaan Hirsi Ali: Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen.
© 2005 Piper Verlag GmbH, München, S. 38 ff.
Text 3:
Submission Teil I1)
Aus dem Drehbuch des Films Submission Teil I:
Ort:
Islamistan (ein fiktives Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung Muslime sind und die Scharia geltendes Recht ist).
Rollenbesetzung
Amina Hauptrolle (spricht während des Gebets mit Allah)
Aisha liegt, nachdem sie einhundert Stockschläge bekommen hat, in Fötushaltung
Safiya empfindet Geschlechtsverkehr in der Ehe als Vergewaltigung
Zainab grün und blau geschlagen, weil sie ihrem Mann
nicht gehorcht
Fatima verschleiert und Inzestopfer
Abgedruckt in: Ayaan Hirsi Ali: Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen. © 2005 Piper Verlag GmbH, München, S. 179–189, hier: S. 179 f.
1)
Ayaan Hirsi Ali schrieb den Text für Theo van Goghs (gest. 02.11.2004)
12-Minuten-Film. Die auf der Leiche des erstochenen van Gogh hinterlassene
Todesdrohung galt ihr. Der Täter Mohammed Bouyeri wurde am 26.07.05 zu
einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. a. Wer ist Ayaan Hirsi Ali? (Text 1)
b. Informieren Sie sich über ihre Biografie.
c. Für wie bedeutsam halten Sie ihre Arbeit? Warum?
2. Arbeiten Sie aus Text 2 die Positionen Hirsi Alis heraus.
3. Diskutieren Sie Hirsi Alis These, dass der Islam eine „Aufklärung“ braucht.
4. Wie inszeniert Hirsi Ali die Lebenswirklichkeit von Muslimas? (Text 3)
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Der Islam
26
M AT E R I A L I E N
KLAUSURVORSCHLAG
„Warum sind die Muslime ökonomisch zurückgeblieben?“
Die Welt des Islam umfasst heute 1,5 Milliarden Muslime.
56 Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit gehören der Organisation der islamischen Konferenz an. In der
Weltwirtschaft aber stehen die Muslime trotz ihres demo5 graphischen und politischen Gewichts am Rande. Unter
den 56 islamischen Staaten exportiert allein Malaysia Industriegüter, alle anderen sind wirtschaftlich unterentwickelt.
Warum ist das so? Auf die Frage gibt es zwei entgegenge10 setzte Antworten. Während die verbreitete Meinung im
Westen Islam und Rückständigkeit aufeinander bezieht,
erklären sich die Muslime ihr wirtschaftliches Elend alleine mit der Dominanz des Westens. Wer hat Recht in der
Debatte?
15 Richtig ist, dass eine allgemeine Deutung des historischen
Befundes möglich ist, aber auch ihre Grenzen hat. Die
Welt des Islam zeichnen Einheit und Vielfalt aus. Richtig
ist auch, dass die islamische Zivilisation bessere Tage gesehen hat, weshalb es schlicht falsch ist, die Rückständig20 keit der Muslime auf den Islam zurückzuführen. Für Europa bedeutete das Mittelalter Rückständigkeit, Ignoranz
und Dunkelheit. Die islamische Zivilisation rangierte
damals an erster Stelle; sie hatte eine prosperierende
Wirtschaft, die weite Teile Asiens und Afrikas bis hin nach
25 Spanien umfasste, wenngleich es damals noch keine
Weltwirtschaft gab. […]
Trotzdem besteht in der westlichen, und besonders in der
deutschen Geschichtsschreibung die Neigung, die Europäer höher als die nicht-westlichen Völker einzustufen.
30 Diese Sicht gilt es zu revidieren, denn die islamische Zivilisation war vom 9. bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts die
entwickeltste der Welt: Auf die Religionsstiftung vom 7.
Jahrhundert folgte das islamische Welteroberungsprojekt,
aus dem die islamische Zivilisation hervorgegangen ist.
35 Vom 9. Jahrhundert an wendeten sich die Muslime von
der Djihad-Expansion ab und der inneren Entfaltung ihrer
Zivilisation zu. Die Hellenisierung des Islam und das Aufblühen von Wirtschaft und Handel trugen zur Entstehung
eines islamischen Rationalismus bei. Eine islamische Auf40 klärung entwickelte sich.
Diese gute Zeit ging spätestens mit dem 17. Jahrhundert
zu Ende. Warum dieser Bruch? Zunächst gibt es unzweifelhaft eine zeitliche Parallelität zwischen dem Aufstieg
des Westens und dem Niedergang der islamischen Zivili45 sation. Bedeutet dies, dass beides auch kausal zusammenhängt? Muslime unterstellen dies. […]
Auch die islamische Zivilisation strebte eine Globalisierung an. Es war die Vision des Islam, als Religion und Zivilisation das eigene Gebiet, das Dar al-Islam (Haus des Is50 lam) auf die gesamte Welt zu erweitern.
Diese Vision leitete die Handlungen der Muslime seit dem
7. Jahrhundert Doch mussten sie diesen Platz seit Ende
des 16. Jahrhunderts verstärkt für den Westen räumen,
der ein technisch-wissenschaftlich überlegenes Globali55 sierungsprojekt in Gang setzte. Dies bleibt eine Wunde in
der muslimischen Kollektiv-Seele. […]
In der Zeit von Karl dem Großen bis zur Renaissance hat
G
GESCHICHTE b e t r i fft u n s 6 • 2 0 0 5
der Islam besser abgeschnitten als das Abendland. Trotzdem gelang dem Islam mit seiner damals überlegenen
60 Wirtschaft nicht der Sprung zur Globalisierung. Die Frage
nach den Ursachen ist noch immer nicht beantwortet […]
Schon nach der Auflösung der islamischen Ordnung mit
dem Ende des Osmanischen Reiches 1924 hat in den
Dreißigerjahren der islamische Erneuerer Schakib Arslan
65 sich die Frage im Titel eine Buches gestellt: Warum sind
die Muslime heute rückständig, während andere sich vorwärts bewegt haben? Arslans Antwort ähnelt jener, die
sich viele Muslime nach der erschütternden Niederlage im
Sechs-Tage-Krieg 1967 gaben: „Weil wir uns vom Islam
70 wegbewegt haben“. Demnach heißt das Allheilmittel: AlIslam huwa al-Hall (Der Islam ist die Lösung). Damit kann
man allerdings ebenso wenig die Wirtschaftsentwicklung
erklären wie mit dem anderen Extrem, dem Hinweis auf
die Überlegenheit des Westens.
75 In der Schule in Damaskus lernte ich – wie meine Generation – einen weiteren Erklärungsversuch: Die Kreuzzüge
seien schuld am Niedergang der islamischen Zivilisation.
Seither habe der Westen versucht, die Muslime unten zu
halten – so denken viele Muslime. […]
80 Wie auch immer, die Erklärung der wirtschaftlichen Rückständigkeit der Muslime mit den Kreuzzügen ist historisch
falsch. In jener Zeit gab es weder eine westliche Zivilisation noch eine Globalisierung. Die religiösen Eiferer wollten Jerusalem erobern und hatten keine Vision von einer
85 globalisierten Welt, wie sie die Muslime seit dem 7. Jahrhundert betrieben. Der Wettstreit findet nicht zwischen
den Religionen Islam und Christentum, sondern zwischen
dem Westen und der islamischen Zivilisation statt, zwischen zwei rivalisierenden Globalisierungsprojekten. […]
90 Es gab den Rationalismus der islamischen Aufklärung von
al-Farabi im 9. Jahrhundert bis Ibn Ruschd (Averroes) im
12. Jahrhundert Doch war diese Strömung der islamischen Orthodoxie nicht willkommen. […] Schließlich siegt
die Orthodoxie über die Rationalisten. […] Dies hat ent95 scheidend verhindert, dass Rationalität und Berechenbarkeit
von Wirtschaft und Gesellschaft institutionalisiert wurden. […]
Bassam Tibi: Wirtschaft und Kultur im Islam. Warum sind die Muslime ökonomisch
zurückgeblieben? Die militärische Revolution des Westens und der Erfolg der Orthodoxie im Kampf gegen Rationalität und Berechenbarkeit. In: Süddeutsche Zeitung, 24.12.2001
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Geben Sie Fragestellungen und Argumente des
Verfassers wieder.
2. Erläutern und diskutieren Sie Tibis Ausführungen
ausführlich mithilfe eigener Kenntnisse.
3. a. Nehmen Sie begründet Stellung zu der These,
es handle sich um „zwei rivalisierende Globalisierungsprojekte“.
b. Entwerfen Sie eine Replik auf Tibi aus der Sicht
eines orthodoxen Muslims/einer orthodoxen
Muslima.
(Wählen Sie entweder Aufg.3.a. oder 3.b.!)
Der Islam
UNTERRICHTSVERL AUF
27
Grundkurs:
Entstehung und Ausbreitung des Islam
EINSTIEG
M 1.1 – M 1.3
Impuls, Unterrichtsgespräch, Partnerarbeit, Diskussion
Brainstorming
Sammeln von Vorkenntnissen und Haltungen zum Islam sowie ggf. zu aktuellen Problemen
Auswertung des Fotos „Test the West“ (M 1.1, Folie 1)
Die Frauenfiguren des Fotos sind als „stereotype“ Vertreterinnen ihres „Lebensstils“ dargestellt. Das Plakat
behauptet den auffälligen Kontrast bzw. das Nebeneinander dieser Lebensstile. Der „Westen“ bietet seinen
Lebensstil an bzw. drängt ihn auf. Das Foto überzeichnet dies. Da die Frauen des Plakates nicht als Identifikationsfiguren taugen, soll das Plakat durch seine Kontrastierung eher als witziger Eyecatcher wirken.
Mögliche Leitfrage: Ist ein Dialog möglich?
Ist er überhaupt von allen Seiten gewünscht? Welche Alternativen gibt es?
■ Notwendigkeit von persönlichen Kontakten um vorhandene Bedrohungsängste und Vorurteile abzubauen und Vertrauen zu schaffen. Ziel: Integration. (M 1.2)
■ Der offizielle Kirchenvertreter (M 1.3) stellt die Frage nach einem gelungenen Zusammenleben, besonders nach dem 11.09.2001. Vielfältige Probleme: Islamistischer Terror und die Reaktionen darauf;
Anerkennung der Verbindlichkeit des Grundgesetzes mit seinen Rechten und Pflichten; Verbindlichkeit
der Aussagen islamischer Repräsentanten. Als Lösung schlägt er einen „europäischen Islam“ vor, der
mit unserem Rechtssystem vereinbar ist und den Koran von seiner friedfertigen Mitte her interpretiert.
■ Mit der „Dialogfalle“ wird ein gefährliches Feindbild entworfen: Danach zieht die andere Seite die
„wohlmeinenden, naiven Deutschen über den Tisch“ und ist prinzipiell nicht an Integration interessiert.
ERARBEITUNG I
M 2.1 – M 2.4
Hausaufgabe, Einzelarbeit, Unterrichtsgespräch
Definition des Islam (M 2.1): Es handelt sich um eine monotheistische, ewige und wahre Religion. Islam bedeutet Unterwerfung unter Gott, Hingabe an Gott. Die Lehre wurde vom Propheten Muhammad verkündet. (Der Text des Glaubensbekenntnisses findet sich in M 2.9)
Moralische Anforderungen in den Augen einer modernen Muslima (M 2.3): Kernbegriff ist Verantwortlichkeit gegenüber den Mitmenschen, insbesondere den Armen und Schwachen sowie der Natur. Vers 177 aus Sure 2 lehnt die formelle Frömmigkeit ab und fordert verantwortungsbewusste und
gläubige Handlungen.
Dimensionen des Islam (M 2.4): Der Islam ist mehr als die Religion: Er ist eine Gesellschaftsordnung
mit Rechtsvorschriften (Scharia) zu allen Lebensbereichen. Er ist eine politische Ideologie, d.h. er umfasst die Herrschaft und ihre Legitimation. Er ist ein kulturelles System und impliziert Kunst, Bildung,
Sprache und Geschichte.
Arbeitsanregung: Die Schülerinnen und Schüler könnten sich die Grundlagen des Islam erarbeiten
und sie ggf. vortragen. Mögliche Aufgaben bzw. Referatsthemen: Die so genannten „5 Säulen“ des Islam; Leben, Werk und Wirkung Mohammeds; Das Bilderverbot im Religionsvergleich; Die Bedeutung
der Sunna für Muslime.
■
■
■
■
ERARBEITUNG II
M 2.5 – M 2.7
Arbeitsteilige Gruppenarbeit, Expertenrunde, Diskussion
Gemeinsamkeiten der drei monotheistischen Religionen (M 2.5, M 2.6):
Religionen der Kommunikation, Gegenüber von Gott und Mensch; Glaubensreligionen; geschichtlich
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Der Islam
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UNTERRICHTSVERL AUF
denkende Religionen; prophetisch geprägte Religionen; Religionen des Wortes und des Buches; ethisch
ausgerichtete Religionen. Die Pflichtenlehren von Judentum, Christentum und Islam stimmen weitgehend überein.
Kritik am Christentum (M 2. 5, M 2. 7):
Ablehnung der Lehre der Dreifaltigkeit, des göttlichen Charakters Christi und seines Sühnetodes.
!
●
Für einen Christen ist diese muslimische Sicht nicht akzeptabel. Eine Erwiderung kann möglicherweise mit Hilfe von theologischer Kompetenz – etwa im Religionsunterricht – formuliert werden. Grundsätzlich kann jedes Dogma jeder Religion diskutiert werden. Allerdings ist ein Rückgriff auf kompetente
theologische Sachkenntnis nötig. Mögliche Fragen: Wie, wann, durch wen und gegen wen sind Positionen zu bestimmten theologischen Fragen historisch verbindlich gemacht worden? Hinweis auf christliche „Ketzer“ und den Umgang mit ihnen. Welcher Anspruch steht hinter einer Kritik an Glaubensinhalten
anderer religiöser Gruppen? Geht es evtl. um das Durchsetzen von angeblich einzig „wahrer“ Erkenntnis?
M 2.8
Vorbereitende Hausaufgabe, Unterrichtsgespräch
Wesensmerkmale des Korans
Für Muslime ist der Koran das Wort Gottes selbst und daher höchste, unantastbare Autorität. Das hat
Folgen für den Umgang mit dem Buch. Inhaltlich finden sich viele Motive der Bibel wieder. (Texte 1
und 2)
■ Wertungen durch den Gebrauch von Superlativen sowie qualifizierenden Adjektiven, wobei die religiöse Sprache eine prinzipielle Aura der Unantastbarkeit schafft (Text 3)
■ Im islamischen Selbstverständnis gilt der Koran als heilig, unverfälscht und vollkommen, übernatürlich und übermenschlich. Dagegen untersucht der westliche Professor für Islamwissenschaft und
semitische Philologie – bei allem religiösen Respekt – den Koran als historische Quelle aus einem bestimmten zeitlichen, räumlichen und sozialen Umfeld und stellt sprachwissenschaftliche, grammatische und inhaltliche Differenzen fest. (Text 3 und 4)
Vertiefender Arbeitsauftrag Internetrecherche:
? Inwieweit besteht heute in islamischen Ländern Freiraum für Koran-Interpretationen? Das Schicksal
●
von Nasr Hamid Abu Zaid ist ein Beispiel für den aktuellen Vorwurf der „Ketzerei“ gegenüber liberalem
Denken.
? Informieren Sie sich über Abu Zaid und vergleichen Sie seine Situation mit der von Hans Küng. Infor●
mieren Sie sich über den deutschen Islamwissenschaftler, der aus Angst vor fundamentalistischer Repression nur noch unter dem Pseudonym Christoph Luxenberg philologische Arbeiten zum Koran veröffentlicht. Diskutieren Sie dieses Problem in der Klasse.
(Zu beiden Autoren führt z.B. www.google.de zu vielen interessanten Diskussionsbeiträgen.)
■
VERTIEFUNG
M 2.9 – M 2.10
Unterrichtsgespräch
■
■
■
Gibt es „den“ Islam? (M 2.9): Aufspaltung des Islam in verschiedene Glaubensrichtungen, zentrale
Streitfrage ist die nach dem rechten Nachfolger des Propheten (vgl. auch „Herrschaft, Spaltung, Expansion“ unter „Zum Inhalt“)
Die Herausforderungen des modernen Islams (M 2.10): Säkularisierung, Trennung von naturwissenschaftlichem und religiösem Denken, historisch-kritische Analyse und Exegese des Korans. Ist er
wörtlich zu nehmen? Inwieweit ist er für die heutige Lebensrealität relevant?
Begriffsdefinitionen (M 2.10): Säkularisierung ➝ Trennung von Kirche und Staat; Aufklärung ➝ insbesondere Kampf gegen den Absolutismus, gegen Bevormundung, überholte Vorstellungen, unkritisch übernommene Traditionen und religiöse Intoleranz
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ERARBEITUNG III
M 3.1 – M 3.4
Ggf. vorbereitende Hausaufgabe, Partnerarbeit, Unterrichtsgespräch;
Einzel- oder Partnerarbeit, Unterrichtsgespräch
Kalifat der „rechtgeleiteten“ Kalifen (M 3. 1, M 3. 2)
■
Legitimation: Der Kalif wurde im Konsens der frühesten Glaubens- und Kampfgenossen Mohammeds, die mit ihm aus Mekka geflüchtet waren, ausgewählt.
Stellung: Die „rechtgeleiteten“ Kalifen verstehen sich als Stellvertreter des Propheten.
Auswahlkriterien: der „frömmste“ und führungsfähigste
!
●
Die historische Einordnung findet sich in „Zum Inhalt“ unter „Herrschaft, Spaltung und Expansion“.
■
■
Quelleninterpretation: Das sunnitische Kalifat (M 3. 3)
Selbstverständnis: Eine von Allah verliehene Herrschaft als sein Stellvertreter auf Erden. Dynastisch
legitimierter Monarch („devote Segenswünsche“)
Aufgaben/Erwartung: Herrschaft gottgefällig und gerecht ausüben, Sorge um das Wohl der Untertanen und Herrschaft in deren Sinne, Rechtsprechung, Durchsetzung der Gesetze, Bewahrung der
rechten Glaubenspraxis
Drohungen und Warnungen vor Vernachlässigung dieser Aufgaben und Abkehr von einer Herrschaft
auf der Basis religiöser Prinzipien, vor Tyrannei. Rückschlüsse sind auf die Herrschaftspraxis der Kalifen, der in der Quelle ein Ideal entgegengestellt wird („Fürstenspiegel“), möglich.
Vergleich: Das Kalifat ist eine historisch gewordene, religiös überhöhte Herrschaftsform. Kalif ohne
päpstliche oder priesterliche Funktion; er ist „Beschützer“ und „Bewahrer“ des Glaubens, erläutert
oder interpretiert ihn jedoch nicht.
■
■
■
■
Historiker Tibi (M 3. 4)
Argumentation ist historisch-kritisch: In seiner Sicht ist die religiöse Legitimation politischer Herrschaft und die Sakralisierung des Kalifats Anmaßung.
■
!
●
In Lerngruppen mit entsprechenden Vorkenntnissen bietet sich ein Vergleich des Kalifats mit dem
Papst- bzw. Kaisertum an (Diskussion der These „Der Kalif war Papst und Kaiser in einer Person“). Auch
ein Vergleich mit der Entwicklung der Legitimation von Herrschaft in Europa (Aufklärung!) ist möglich.
EINSTIEG (ZU ERARBEITUNG IV)
M 4.1 (Folie 2)
Unterrichtsgespräch
?
●
■
■
Beschreiben Sie die arabisch-muslimische Expansion räumlich und zeitlich.
Weiträumigkeit und Schnelligkeit der Eroberung, eventuell Zuordnung zu Expansionsphasen ( s. Zeittafel M 3.1)
Hypothesenbildung: Was sind die Gründe für diesen außerordentlichen Erfolg der Expansion? (Überprüfung der Schülerantworten mithilfe der Texte M 4.2–M 4.4)
ERARBEITUNG IV
M 4.2 – M 4.3
Ggf. vorbereitende Hausaufgabe, Unterrichtsgespräch, Lehrervortrag;
arbeitsteilige Gruppenarbeit, Expertenrunden („Gruppenpuzzle“)
dhimmi-Status (M 4.2): Angehörige von monotheistischen „Schriftreligionen“ (Juden, Christen, Zarathustrier) galten als Schutzbefohlene (dhimmis) und bildeten eine besondere Kategorie von „Ungläubigen“. Gegen Zahlung eines Tributs, später einer besonderen Kopfsteuer, wurden ihnen Schutz ihres Lebens und Besitzes und Religionsfreiheit garantiert. Neben anderen Gründen erleichterte es diese Toleranz der Muslime
den Eroberten, die neuen Herrschaftsverhältnisse anzuerkennen. Die Konversion der Eroberten zum Islam
lag kaum im Sinne der arabischen Stammeskrieger, die Nutznießer dieses Systems waren.
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UNTERRICHTSVERL AUF
!
●
Arbeitsteilige Bearbeitung von M 4.3 unter der Fragestellung „Welche Gründe werden in den Texten
für die Schnelligkeit und Weiträumigkeit der arabischen Expansion aufgeführt?“
In einer zweiten Arbeitsphase kommen „Experten“ aus jeder Gruppe aus Phase 1 zusammen und stellen
die Gruppenarbeitsergebnisse vor. Die Gruppen erhalten dann den arbeitsgleichen Auftrag (vgl. Aufgabe
2) die Erklärungen überblicksartig in einem Schaubild festzuhalten. Die Schaubilder werden im Plenum
präsentiert und diskutiert.
!
●
Der multikausale Erklärungsansatz Noths wird in „Zum Inhalt“ unter „Herrschaft, Spaltung und Expansion“ inhaltlich ausgeführt.
VERTIEFUNG
M 4.4
Vorbereitende Hausaufgabe, Unterrichtsgespräch
Die These von der Verbreitung des Islam mit „Feuer und Schwert“ ist zu simpel (vgl. Bearbeitung von
M 4.2–M 4.3). Die arabisch-muslimische Expansion muss von der Islamisierung und Arabisierung der eroberten Territorien unterschieden werden. Die Expansionskriege wurden nicht in missionarischer Absicht
geführt und die Islamisierung ist als langwieriger Prozess zu verstehen, der angesichts der religiösen Toleranz der Muslime mit der Attraktivität des Islam als Religion der Herrschenden erklärt werden kann.
ERARBEITUNG V
M 5.1 – M 5.3
offenes Unterrichtsgespräch; Einzel-, Partnerarbeit, Unterrichtsgespräch
!
●
Sammeln von Vorkenntnissen und Vor(ein)stellungen der Schülerinnen und Schüler zum Begriff „Heiliger Krieg“ und der religiösen Legitimation von Gewalt.
Djihad (M 5. 1)
Mehrdeutigkeit des Begriffs: einerseits „sich abmühen“, andererseits „bewaffneter Kampf“ für die Sache
Gottes. Diese Zweideutigkeit ist nur im historischen Kontext zu verstehen: Wird der Koran als unverfälschtes Wort Gottes verstanden, ist gewaltsames Vorgehen gegen „Ungläubige“ zu rechtfertigen. (Anknüpfung an die Bearbeitung von M 2.8 evtl. sinnvoll)
Krieg und Frieden (M 5. 2)
Vorstellung von der Aufteilung der Welt in eine Sphäre des Friedens und eine des Krieges. Die Eroberer
hatten in ihrem Verständnis das ideale Ziel: die Sphäre des Friedens ausdehnen, also die Welt unter muslimische Herrschaft zu bringen. Die „Schutzbefohlenen“ (vgl. Teil 4 des Grundkurses, S. 14 ff.) gehören
zur Sphäre des Islam.
Thesen Rotters (M 5. 3)
Trotz mancher Unterschiede sei mit allen drei Religionen (Christentum, Judentum und Islam) Gewalt
legitimiert und motiviert worden: Sie trügen das „Virus der Gewalt“ in sich. Mögliches Ziel der Argumentation: Betonung der friedfertigen Aspekte der Religionen.
ERARBEITUNG VI
M 6.1
Gruppenarbeit, Unterrichtsgespräch
Modernität und Rückstand: Vergleich verschiedener Mentalitäten (Material 1 und 2)
Überlegenheit des arabisch-islamischen Kulturkreises gegenüber dem Abendland. Der abendländische
„Kollege“ fühlt sich aber trotz seiner mangelnden Kenntnisse und Fähigkeiten dem syrischen Arzt überlegen. Übertragbarkeit: Was hier für den Bereich Medizin erläutert ist, gilt auch für andere Wissens- und
Forschungsgebiete.
Ein „moderner“ Wissenschaftler (Material 3 und 4)
Moderne Arbeitsweise: theoretisch, experimentell, empirisch. Abergläubische Vorstellungen wie die Ein-
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UNTERRICHTSVERL AUF
31
wirkung von Dämonen verbannt er aus seiner Arbeit. Anatomische Studien waren im europäischen
Mittelalter aus religiösen Gründen zwar nicht grundsätzlich verboten, jedoch sehr selten. (Material 3)
Die Darstellung des Auges entspricht in Grundzügen heutigen Abbildungen. (Material 4)
VERTIEFUNG
M 6.2 – M 6.3
Partnerarbeit, Unterrichtsgespäch
Erklärungsansätze für den Niedergang der islamischen Zivilisation
Rassenpsychologische Deutung; Mongolen-Invasion und Untergang Bagdads 1258; christliche Verschwörung gegen den Islam; Entarabisierung des Islam durch Perser und Türken
Tibi kann nur die Erklärung der Mongolen-Verwüstung akzeptieren. Doch auch diese Deutung wird
als monokausal kritisiert, da sie „innere Entwicklungen“ nicht berücksichtige. Monokausale Antworten sind komplexen Fragen nicht angemessen, man muss multiperspektivisch vorgehen. (M 6.2)
Hunke (M 6.3) kritisiert das eurozentrische Überlegenheitsdenken, das die Leistungen der arabischen
Welt nicht wahrnimmt, sondern sie auf die Rolle des „Briefträgers“ reduziert. Verantwortlich macht
sie dafür die Geschichtsschreibung, die mit religiöser Voreingenommenheit die „alten Vorurteile“
pflegt. Hunke fordert eine neue, unvoreingenommene Betrachtung der arabischen Welt.
■
■
■
Erweiterungsmodul: Frauen im Islam
EINSTIEG
Offenes Unterrichtsgespräch
!
●
Sammeln von Vor(ein)stellungen über Rolle und Lebensrealität von Muslimas; möglicher Impuls:
Folie M 1.1, weitere Fotos aus Zeitungen und Zeitschriften
ERARBEITUNG I
M 7.1 – M 7.3
Hausaufgabe, Tafelanschrieb, Einzel- oder Partnerarbeit, Unterrichtsgespräch
Frauen im Koran (M 7. 1)
Gleichheit/Rechte: in der Schöpfung; Absicherung von Waisen; gerechte, gleiche Behandlung der
Ehefrauen; Frau behält Geschenke bei Scheidung; Unabhängigkeit nach der Scheidung
■ Ungleichheit: ein Mann kann bis zu vier Frauen heiraten; Vorrang der Männer/Gehorsam der Frauen;
Strafe bei Ungehorsam.
⇒ Nebeneinander von Gleichheit und Ungleichheit; Problem der Auslegung der Verse
■
Die Frau im frühen Islam (M 7. 2)
Verbesserungen: Gleichberechtigt als Gläubige, eigenes Vermögen, Verfügungsgewalt, Erbin, eigene
Entscheidung über Wiederheirat
■ Unverändert: rechtliche Überlegenheit des Mannes (Ehe, Finanzen, Konkubinat, Polygamie) – Aspekt
der Verantwortung wird betont.
⇒ Im historischen Kontext gesehen verbesserte der Koran die Lage der Frauen.
■
Lebenswirklichkeit von Muslimas heute
■
■
Stichwort- und thesenartige Erarbeitung: z.B. Frauen als „Ehre“ des Mannes; orthodoxe Auslegung ist
i.d.R. frauenfeindlich; Scharia; laizistische Türkei; arabische Staaten: Analphabetismus, mangelnde
Gesundheitsfürsorge, hohe Müttersterblichkeit, Geschlechtertrennung, wirtschaftliche Effizienzverluste; Relativierung von Negativaspekten, Extremismus usw.
Strukturierung der Ergebnisse nach inhaltlichen Blöcken (oder Regionen); Trennung zwischen Sachinformationen und Wertungen
Mögliches Konzept einer zukunftsorientierten Politik:
Gesellschaftlicher Rahmen, der Rechts- und Chancengleichheit bietet; Trennung Religion – Staat; ver-
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besserte Bildungs- und Berufschancen für Frauen; Verbesserungen im Gesundheitswesen; politische Partizipation. (Der Staat Türkei ist in diesem Sinne am ehesten fortgeschritten. Frage, ob staatliche Regelungen und gesellschaftliche Akzeptanz im Einklang stehen.)
!
●
Arbeitsanregung: Welche Gründe könnten Frauen veranlassen zum Islam zu konvertieren? Recherchieren Sie, wenn möglich, auch bei Konvertitinnen selbst. (Vgl. Alice Schwarzer: Die Gotteskrieger, Köln
2002.)
VERTIEFUNG/FALLBEISPIEL
M 7.4
Textarbeit, Unterrichtsgespräch, Kurzreferat
Ayaan Hirsi Ali: Niederländerin, Migrantin, Islamkennerin, „schwarze Voltaire“. 1969 in Somalia geboren, Tochter eines Oppositionspolitikers, 1992 Flucht vor der Zwangsheirat mit einem Cousin in die
Niederlande, dort Studium. Sie wird Kritikerin des Islam und des Multikulturalismus, Abgeordnete im
niederländischen Parlament und Autorin/Mitautorin des Filmprovokateurs Theo van Gogh. Wechsel von
der Partij van de Arbeid, der sie naiven Multikulturalismus vorwirft, zur rechtsliberalen VVD, in der sie ihre Vorstellung von einer Integrationspolitik mit Verpflichtung auf die westlichen Werte- und Demokratievorstellungen besser realisieren zu können glaubt. Mehrere Todesdrohungen durch Islamisten.
Tipp: Informationen über Ayaan Hirsi Ali findet man u.a. unter: www.zeit.de, www.cicero.de,
www.emma.de.
Resonanz im Westen als integrierte Migrantin: Sachkenntnis, Glaubwürdigkeit. Kritik: sie sei durch
persönliche Erfahrungen zu wenig distanziert; Kritik vieler Muslime: „Nestbeschmutzerin“
Positionen: islamische Welt ist rückständig; Aufklärung/Vernunft fehlt; Sexualität wird tabuisiert; Kritik an patriarchalischer Ordnung und Ehrvorstellungen; Kontrolle von Frauen durch Frauen; Problem:
nur Männer als Sprecher der Muslimas und Muslime
Drehbuch: Ausschließlich negativ, voller Gewalt und Bestrafung; Frauen als reine Objekte; Hauptfigur
Amina: nonkonformes Verhalten, beginnt Dialog mit Allah statt sich ihm zu unterwerfen (siehe Filmtitel); Bezug Islam = Unterwerfung unter Allah
■
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■
■
!
●
?
●
?
●
Arbeits- und Diskussionsvorschläge
Entwerfen Sie ein Storyboard für einen Kurzfilm zum Thema „Frauen und Islam“.
„The Life of Brian“ (Monty-Python-Team): Wie geht der Film mit der eigenen Religion um? Gibt es ähnliche Filmelemente zum Islam von Muslimen? Warum nicht?
? Erstellen Sie ein Informationsposter oder eine Wandzeitung zum Thema „Frauen und Islam in der
●
aktuellen Mediendarstellung“.
Klausurvorschlag
■
■
■
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Zu 1: Divergenz: Westen ➝ Islam rückständig; Muslime ➝ „Dominanz des Westens“. Islamische
Zivillisation bis zum 16. Jh. überlegen. Bruch im 17. Jh., als westliche Zivilisation global durch technische Innovationen die Führung übernimmt. Muslimische Interpretationen der Rückständigkeit: Gewalt des Westens, Verlassen des islamischen Weges, Kreuzzüge. Tibis Thesen: militärisch-technischer Fortschritt des Westens; innerislamische Gründe: Festhalten an der Orthodoxie. Autor bezieht
sich auf Gegenwart und Geschichte der islamischen Welt, er fokussiert Modernismusproblem und
Globalisierungsstreben. Begrenztheit des jetzigen Erkenntnisstandes.
Zu 2: Umfassende Darstellung von Sachwissen aus den Materialien, multikausal und multiperspektivisch angelegt. Tendenziell als Belege für und Ergänzung zu Tibis Ausführungen. (Kreuzzüge in der
Argumentation unumgänglich, Detailkenntnisse können an dieser Stelle noch nicht erwartet werden.)
Zu 3a: These von der Rivalität der Zivilisationen. Moderne vs. vormoderne Zivilisation mit Aufholbedarf. Erörterung an selbst gewählten Beispielen: Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit der Angleichung. Zahlreiche Diskussionsansätze, da Tibi das Globalisierungsstreben beider Seiten betont. Westliche Zivilisation vs. islamische Zivilisation, Dominanz der Religion vs. Dominanz der ökonomischen
Kontrolle? u.a.
Zu 3b: Nachvollziehen einer (zumeist gegensätzlichen) Perspektive: z.B.: Vorwürfe, Tibi bediene sich
westlicher Begrifflichkeit, sei Instrument des Westens, bagatellisiere westlichen Kolonialismus und
modernen Imperialismus, habe den islamischen Weg verlassen. Betonung der Opferrolle.
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Der Islam
EMPFOHLENE LITERATUR
Zur Einführung
Bassam Tibi: Einladung in die islamische
Geschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001
Kompetente, gut lesbare Einführung von
einem medienbekannten Experten, der
auch zentrale Themen der europäischen
Diskussion aufgreift.
Walter M. Weiss: Islam. Schnellkurs.
Köln: Dumont 2003 (4. Auflage)
Reichhaltig illustrierte umfassende Grundinformationen über alle Bereiche des Islam und seiner Geschichte.
Heinz Halm: Der Islam. Geschichte und
Gegenwart. München: C. H. Beck Verlag 2004 (5. Auflage)
ders.: Die Araber. Von der vorislamischen Zeit bis zur Gegenwart. München:
C. H. Beck Verlag 2004 (5. Auflage)
Beides sind kompakte, lesbare, kompetente Darstellungen – durchaus auch für
Schülerinnen und Schüler zu empfehlen.
Hadayatullah Hübsch: Islam-99. Fragen
und Antworten zum Islam. Information
ohne Indoktrination. Nienburg: Betzel
Verlag 1998
Anschaulich formulierte, gut verständliche Fragen und Antworten von einem
deutschen Konvertiten.
Endreß, Gerhard: Der Islam. Eine Einführung in seine Geschichte. München:
C. H. Beck Verlag 1997 (3. Auflage)
Brauchbares Studienbuch.
Adel T. Khoury u.a.: Islam-Lexikon. Freiburg: Herder 1999
Albert Hourani: Die Geschichte der arabischen Völker. Frankfurt a. M.: Fischer
Taschenbuchverlag 2000
Der Koran. Übersetzung von Max Henning, Einleitung und Anmerkungen von
Annemarie Schimmel. Ditzingen: Reclam 1996
Frauen und Islam
Ayaan Hirsi Ali: Ich klage an. Plädoyer
für die Befreiung der muslimischen
Frauen. München: Piper Verlag 2005
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel „De maagdenkooi“ („Der
Jungfrauenkäfig“) in den Niederlanden.
Zeitgleich mit der deutschen Ausgabe
ist die türkische Übersetzung erschienen, was nicht wenige als mutig einschätzen. Titel: Itham ediyorum. Müslüman Kadinlara Baski Bitsin!
Farideh Akashe-Böhme: Die islamische
Frau ist anders. Gütersloh: Gütersloher
Verlagshaus 1997
Rita Breuer: Familienleben im Islam.
Freiburg: Herder Verlag 2002
Ralf Elger u.a. (Hrsg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte. Alltag. Kultur. München: Beck 2001/Lizenzausgabe der
Bundeszentrale für politische Bildung
Christine Schirrmacher/Ursula SpulerStegemann: Frauen und die Scharia.
München: Diederichs Verlag 2004
Weltreligion Islam. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2002
Sammlung unterschiedlichster Beiträge aus „Das Parlament“.
Filme
Theo van Gogh/Ayaan Hirsi Ali: Submission Part I
Zurzeit nicht im freien Handel erhältlich.
Zur Vertiefung
Hans Küng: Der Islam. Geschichte,
Gegenwart, Zukunft. München: Piper
2004
Grundlegendes aktuelles Werk des
„Brückenbauers“ zwischen den Weltreligionen.
Heinz Halm (Hrsg.) begründet v. Ulrich
Haarmann: Geschichte der arabischen
Welt. München: C. H. Beck Verlag
2004 (5. Auflage)
Umfangreiches Standardwerk mit Beiträgen renommierter Fachhistoriker.
Fatih Akin: Gegen die Wand. Mit Sibel
Kekilli, Birol Ünel. DVD 2004.
Preisgekrönter deutscher Spielfilm, der
spannend und hochdramatisch ein Leben zwischen den Kulturen schildert.
Zur Interkulturellen Geschichtsdidaktik und -methodik
Bundeszentrale für politische Bildung
(Hrsg.): Islam. Politische Bildung und interreligiöses Lernen. Arbeitshilfen für
die politische Bildung. Bonn 2002 und
2003
G GESCHICHTE b e t r i fft u n s
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bietet Planungsmaterial für einen modernen und interessanten Geschichtsunterricht in den Jahrgangsstufen 9–13
enthält jeweils eine vollständige Unterrichtsreihe mit Sachinformationen zum
Thema, einsatzfertigen Materialien, einem ausführlichen Unterrichtsverlauf und
zwei farbigen OH-Folien
freut sich auf Ihre Anregungen und Unterrichtsentwürfe: Bergmoser + Höller
Verlag AG, Redaktion „Geschichte betrifft uns“, Postfach 50 04 04, 52088 Aachen,
DEUTSCHLAND, [email protected]
Umfangreiches, vielfältiges Material,
für den Unterricht in verschiedenen
Klassenstufen aufgearbeitet.
Internet-Tipps
Gemeinsames Internetportal der Bundeszentrale für politische Bildung, der
Deutschen Welle, des Goethe-Instituts
und des Institut für Auslandsbeziehungen zum Dialog mit der islamischen
Welt.
http://www.qantara.de/
Die Wochenzeitschrift „Die Zeit“
http://www.zeit.de
Umfassende Dossiers zu relevanten
Fragestellungen.
Zentralrat der Muslime in Deutschland:
http://www.islam.de
Der ZMD ist der größte Dachverband
von islamischen Organisationen in
Deutschland.
Deutsches Orient-Institut:
http://www.duei.de/doi
Das DOI beschäftigt sich multidisziplinär mit den gegenwärtigen Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten.
http://www.al-hijab.ch
Muslimische Mode zum Bestellen.
Hinweis: Die in diesem Heft angegeben
Internetadressen haben wir geprüft
(Redaktionsschluss: Oktober 2005).
Dennoch können wir nicht ausschließen, dass unter einer solchen Adresse
inzwischen ein ganz anderer Inhalt dargeboten wird.
ZU DEN AUTORINNEN/
AUTOREN
Andreas Bremm ist Lehrer für Geschichte und Geographie und Schulbuchautor.
Birgit Jathe ist Studienrätin für Geschichte und Englisch.
Klaus Wohlt ist Studiendirektor und
Abteilungsleiter an einer Gesamtschule.
Er unterrichtet die Fächer Geschichte
und Französisch. Er veröffentlichte in
diversen Schulbüchern.
Alle drei Autoren beschäftigen sich seit
einigen Jahren mit der Thematik „Islam“ im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II und unterrichten an einer Gesamtschule.
IN VORBEREITUNG
Jugend in der DDR
Alltag in der Diktatur
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