Wenn die Badehaube über den Embryo gezogen wird Interview mit IST Austria Professor Carl-Philipp Heisenberg über die Kräfte, die die Gastrulation von Zebrafischen steuern, und die Ähnlichkeit zwischen Gastrulation und Badehauben. Ihre neuesten Publikationen erscheinen in einer Spezialausgabe von Science, die sich mit sogenannten „Kräften in der Entwicklung“ befasst. Worum geht es bei diesem neuen Feld? Heisenberg: „Kräfte in der Entwicklung“ versucht die Prozesse zu verstehen, durch die Embryonen ihre Form annehmen. Es untersucht also die Biophysik der Embryomorphogenese mit dem Ziel zu begreifen, welche Kräfte hinter der Formentwicklung der Embryonen stehen. In der Vergangenheit wurde Morphogenese des Embryos hauptsächlich genetisch erforscht. Mit den neuen biophysikalischen Techniken können wir nun unser genetisches Wissen über die molekularen Hauptdarsteller in der Morphogenese kombinieren mit quantitativen Messungen, wie diese Moleküle die Kräfte erzeugen, die die Morphogenese des Embryos auslösen. Was interessiert Sie daran, die Kräfte hinter der Gastrulation zu untersuchen? Heisenberg: Gastrulation ist ein morphogenetischer Prozess, bei dem sich die drei Keimblätter Ectoderm, Mesoderm und Endoderm bilden. Die Gastrulation führt zur Entstehung der embryonalen Körperachsen. Um zu begreifen, wie die embryonale Morphogenese reguliert wird, ist es essenziell die Kräfte, die diese Prozesse antreiben, zu verstehen. Unsere Forschung zielt darauf ab zu entdecken, wie diese Kräfte während der Gastrulation erzeugt werden und wie verschiedene Gewebe auf diese Kräfte reagieren. Letztendlich möchten wir wissen, wie die Interaktion zwischen diesen verschiedenen Prozessen die Embryomorphogenese antreibt. In Ihrer Publikation untersuchen Sie die Kräfte, die während eines bestimmten Moments der Gastrulation am Werk sind, nämlich während der Embryo von einer speziellen Zellschicht bedeckt wird. Wie können wir uns diesen Vorgang vorstellen? 1 Heisenberg: Zu Beginn der Gastrulation ähnelt die Form des Embryos einer Kugel. Eine hautartige Schicht, die sogenannte „Enveloping Cell Layer“ oder EVL, sitzt auf der Oberseite des Embryos und bedeckt anfangs nur ungefähr ein Drittel des Embryos. Um Schutz zu bieten, wird diese hautartige Schicht anschließend über den Rest des Embryos gezogen. Man kann sich diesen Vorgang vorstellen, wie wenn man sich eine Badehaube aufsetzt. Die Kraft, die notwendig ist, um die EVL-Kappe zu ziehen, kommt vom kontraktilen Rand der Kappe. Wenn die EVL den Punkt erreicht hat, an dem der Embryo am rundesten ist – also den Äquator der Kugel – nimmt man an, dass der Rand sich um den Umfang des kugelförmigen Embryos wie bei einer Raffung zusammenzieht, und so die Kappe über den Rest des Embryos zieht. Was haben Sie in Ihrer Publikation entdeckt? Heisenberg: Damit der Rand die EVL wie eine Raffung ziehen kann, muss der Rand bereits über den Äquator des Embryos hinausreichen. Bevor er den Äquator erreicht, würde eine Raffung des Randes die EVL in die entgegengesetzte Richtung ziehen - zurück zur Spitze der Kugel. In unserer Publikation haben wir uns entschieden, die im Rand der EVL erzeugten Kräfte zu untersuchen. Wir zeigen, dass die Annahme dass der Rand sich rafft, zu kurz greift und dass der Rand eine komplexere kontraktile Struktur ist als zuvor angenommen. Auf der einen Seite zieht sich der Rand tatsächlich um den Umfang des Embryos zusammen. Auf der anderen Seite haben wir entdeckt, dass der Rand auch die Fähigkeit hat, sich in die dazu senkrecht verlaufende Richtung, also entlang seiner Breite, zusammenzuziehen. Diese Verkürzung erzeugt eine Kraft, die direkt am Rand der EVL wirkt und so die EVL über den Rest des kugelförmigen Embryos zieht. Wie beeinflusst diese Verkürzung das Ausbreiten der EVL? Heisenberg: Die senkrechte Verkürzung wird übersetzt in eine Kraft, die am Rand der EVL wirkt. Dies geschieht, sobald das Material des kontrahierenden Ringes - das aus Aktin und dem Motorprotein Myosin besteht – ausreichend verankert ist mit den zellulären Strukturen, die ihn umgeben. Kurz gesagt: Damit die senkrechte Kontraktion eine ziehende Kraft ausüben kann, muss der Ring entlang seiner Breite verankert sein und so der Verkürzung entgegenwirken. Der Ring ist auf einer Seite am 2 Rand der EVL verankert, und wird auf der anderen Seite von bis jetzt nicht identifizierten zellulären Strukturen gehalten. Die Verankerung des Ringes scheint eine große Rolle in Ihrem Modell zu spielen, woher kommt diese? Heisenberg: Wir wissen noch nicht, woher die Verankerung des Ringes genau kommt. Ihr Ursprung könnte komplex sein und verschiedene molekulare Strukturen erfordern. Wir haben vorläufige Ergebnisse, die zeigen, dass der Rand an Zytoskelettstrukturen wie Mikrotubuli verankert ist. Aber es könnte auch eine unspezifische Verankerung sein, z.B. am Zytosol, der viskosen Flüssigkeit innerhalb von Zellen. Die Verankerung, die wir annehmen und messen, kann entweder unspezifisch oder spezifisch sein. Aber wir wissen, dass sie eine ausreichend starke Verankerung bietet, um die senkrechte Verkürzung in eine effektive Kraft zu übersetzen, die am Rand der EVL wirkt. Hat Ihre Arbeit Bedeutung für andere Vorgänge? Heisenberg: Unsere Arbeit analysiert einen wichtigen Aspekt der Zebrafisch-Gastrulation, aber hat auch weitere Bedeutung über die Gastrulation hinaus. Aktomyosin-Ringe, wie der am kontraktilen Rand der EVL, finden sich auch in anderen biologischen Strukturen und Vorgängen, wie Wundheilung und Zellteilung. Während der Wundheilung bildet sich ein kontraktiler Aktomyosin-Ring um den Rand des verletzten Gewebes. Er verkürzt sich, und zieht so das Gewebe wieder zusammen um die Wunde zu schließen. Diese Verkürzung wurde bisher auch als eine simple Raffung gesehen. Aber während der Gastrulation sehen wir, dass eine zusätzliche Kraft in die entgegengesetzte Richtung wirkt. Diese Kraft kann grundsätzlich auch in anderen Prozessen wirken, in denen Aktomyosin-Ringe eine Rolle spielen. Daher haben wir das Bild erweitert: von einem statischen Kabel, das sich um seinen Umfang zusammenzieht, zu einem dynamischen Bild in dem sich das Kabel auch in seiner Breite zusammenzieht. Wenn Sie so wollen, fügt das der Kontraktion von Aktomyosin-Ringen eine zusätzliche Dimension hinzu. 3