Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik HEGELS BEGRIFF DER SITTLICHKEIT IN DESSEN GENESE UND IN DEN JENAER SYSTEMENTWÜRFEN Inaugural-Dissertation Zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie Vorgelegt von KIHO NAHM Aus Cheongpyeong, Korea Dekan: Prof. Dr. Klaus Harney Referent: Prof. Dr. Walter Jaeschke Korreferent: Prof. Dr. Wolfgang Bonsiepen Tag der mündlichen Prüfung: 12. Juni 2008 Bochum, März 2008 Inhaltsverzeichnis I. Einleitung .................................................................... 1 II. Sittliche Themen bis zu Jenaer Zeit ......................................................... 1. Konzept der Volksreligion .................................................................. 1.1. Kritik an objektiver Religion ............................................................ 1.2. Volksreligion und Sittlichkeit ......................................................... 2. Leben als Vereinigung durch Liebe .................................................... 2.1. Kritik an Positivität .................................................................... 2.2. Neuschätzung der Positivität und Vereinigung .................................. 2.3. Liebe, Leben und Sittlichkeit .......................................................... 3. Jenaer Systementwürfe ..................................................................... 3.1. Systematischer Ansatz ................................................................ 3.2. Konzept des philosophischen Systems ........................................ 3.3. Exkurs : Von der Natur- zur Geistesphilosophie ........................ 3.4. Einführung in die Bewusstseinslehre ............................................. 7 7 7 15 27 27 40 57 74 74 78 93 102 III. Von der Bewusstseinslehre bis zum sittlichen Subjekt ...................... 1. Theoretisches Bewusstsein ............................................................. 1.1. Anschauung, und Raum und Zeit .................................................... 1.2. Erinnerung und Zeichen ............................................................. 1.3. Gedächtnis und Sprache ........................................................... 1.4. Verstand und Vernunft ............................................................. 2. Praktisches Bewusstsein .............................................................. 2.1. Begierde bzw. Trieb und Befriedigung ..................................... 2.2. Arbeit und Werkzeug ............................................................... 2.3. Vernünftige List des Ich ............................................................ 3. Totales Bewusstsein ..................................................................... 3.1. Genuss und Charaktere ............................................................. 3.2. Liebe und Ehe ......................................................................... 3.3. Familienbesitz und Kind ........................................................... IV. Volksstaatslehre der allgemeinen Sittlichkeit ................................... 1. Kampf um Anerkennung ............................................................ 1.1. Ursprung des Kampfes um Anerkennung ................................. 1.2. Kritik am Naturrecht ........................................................... 112 112 112 124 129 133 147 147 160 168 174 174 183 190 199 199 199 209 1.3. Kampf und dessen Auflösung .................................................... 2. Volksgemeinschaft ................................................................... 2.1. Volk und Werk ............................................................... 2.2. Gesellschaftliche Tätigkeit der Anerkennung ............................ 2.3. Anerkanntsein der Person als des gesellschaftlichen Subjekts ..... 2.4. Gesetz als wirkliches Anerkanntsein ........................................ 2.4.1. Familiengesetz ............................................................ 2.4.2. Eigentumsgesetz ......................................................... 2.4.3. Gesetzliches Bestehen des Einzelnen ................................ 2.4.3.1. Privatrechtsstreit ..................................................... 2.4.3.2. Strafrecht ............................................................ 2.4.3.3. Gesetz im Leben des Volks ............................................ 3. Staat ..................................................................... 219 231 231 243 261 284 288 292 298 298 303 308 311 V. Zum Schluss .......................................................................... 344 Bibliographie ............................................................................. 347 Siglen Br EI E II E III FN FS GMS GPR HaD HH HLeben HLP HPR HR HS Hegel, G. W. F.: Briefe von und an Hegel Bd. I, Hg. Hoffmeister, Johannes. Hamburg 1961. Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1817, Gesammelte Werke Bd. 13, Hg. Bonsiepen, Wolfgang u. Grotsch, Kraus. Hamburg 2000. Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827), Gesammelte Werke Bd. 19, Hg. Bonsiepen, Wolfgang u. Lucas, Hans-Christian. Hamburg 1989. Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Gesammelte Werke Bd. 20, Hg. Bonsiepen, Wolfgang u. Lucas, Hans-Christian. Hamburg 1992. Hegel, G. W. F.: Fragment einer Naturrechtsvorlesung (1802) in Religionsphilosophie und spekulative Theologie Bd. 3/1, Hg. Jaeschke, Walter. Hamburg 1994. Hegel, G. W. F.: Frühe Schriften, Gesammelte Werke Bd. 1, Hg. Nicolin, Friedhelm u. Schüler, Gisela. Hamburg 1989. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kant Werke Bd. IV, Darmstadt 1998. Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Theorie Werkausgabe Bd. 7, Redaktion Moldenhauer, Eva u. Michel, Karl Markus. Frankfurt am Main 1986. Hegel und die antike Dialektik, Hg. Riedel, Manfred. Frankfurt am Main 1990. Jaeschke, Walter: Hegel Handbuch, Stuttgart/Weimar 2003. Rosenkranz, Karl: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Darmstadt 1998. Hegels Logik der Philosophie, Hg. Henrich, Dieter u. Horstmann, RolfPeter. Stuttgart 1984. Hegels Philosophie des Rechts, Hg. Henrich, Dieter u. Horstmann, RolfPeter. Stuttgart 1982 Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, Hg. Lucas, Hans-Christian u. Pöggeler, Otto. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986. Hegel-Studien, Hg. Nicolin, Friedhelm u. Pöggeler, Otto bzw. Jaeschke HSB HStaata, HStaatb HWP HZeit JI J II J III Jc JKS KpV KrV KU MEW MR MSr, MSt N NH PhG Walter u. Siep, Ludwig. Bonn bzw. Hamburg seit 1961. Hegel-Studien Beiheft, Hg. Nicolin, Friedhelm u. Pöggeler, Otto bzw. Jaeschke Walter u. Siep, Ludwig. Bonn bzw. Hamburg seit 1963. Rosenzweig, Franz: Hegel und der Staat Bd 1, Bd 2, München u. Berlin 1920. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. Ritter, Joachim. Basel/Stuttgart seit 1971. Haym, Rudolf: Hegel und seine Zeit, Darmstadt 1962. Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe I, Gesammelte Werke Bd. 6, Hg. Düsing, Klaus u. Kimmerle, Heinz. Hamburg 1975. Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe II, Gesammelte Werke Bd.7, Hg. Horstmann, Rolf-Peter u. Trede, Johann Heinrich, Hamburg 1971. Hegel, G. W. F.: Jenaer Systementwürfe III, Gesammelte Werke Bd. 8, Hg. Horstmann, Rolf-Peter u. Trede, Johann Heinrich, Hamburg 1976. Friedrich Heinrich Jacobi, Hg. Jaeschke, Walter u. Sandkaulen, Birgit. Hamburg 2004. Hegel, G. W. F.: Jenaer kritische Schriften, Gesammelte Werke Bd. 4, Hg. Buchner, Hartmut u. Pöggeler, Otto. Hamburg 1968. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Kant Werke Bd. IV, Darmstadt 1998. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1971 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Kant Werke Bd. V, Darmstadt 1998. Karl Marx Friedrich Engels Werke Hg. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin seit 1956. Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie Bd. 2. Hg. Riedel, Manfred. Frankfurt am Main 1975. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten, Kant Werke Bd. IV, Darmstadt 1998. Rechtslehre, Tugendlehre. Hegel, G. W. F.: Hegels theologische Jugendschriften, Hg. Nohl, Herman. Tübingen 1907. Hegel, G. W. F.: Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808-1817, Theorie Werkausgabe Bd. 4, Redaktion Moldenhauer, Eva u. Michel, Karl Markus. Frankfurt am Main 1986. Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes, Gesammelte Werke Bd. 9, Hg. Bonsiepen, Wolfgang u. Heede, Reinhard, Hamburg 1980. RH RGV SDO SE VÄ II VGP VGP II VM II VNS VPG VPW I VPW IV VR I, IV WL I WL I/I WL II Jaeschke, Walter: Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983. Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Kant Werke Bd. IV, Darmstadt 1998. Kant, Immanuel: Was heisst: Sich im Denken orientieren?, Kant Werke Bd. III, Darmstadt 1998. Hegel, G. W. F.: Schriften und Entwürfe (1799-1808), Gesammelte Werke Bd. 5, Hg. Baum, Manfred u. Meist, Kurt Rainer. Hamburg 1998. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Ästhetik II Theorie Werkausgabe Bd. 14, Redaktion Moldenhauer, Eva u. Michel, Karl Markus. Frankfurt am Main 1986. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Einleitung, Orientalische Philosophie, Hg. Jaeschke, Walter. Hamburg 1993. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Theorie Werkausgabe Bd. 19, Redaktion Moldenhauer, Eva u. Michel, Karl Markus. Frankfurt am Main 1986. Hegel, G. W. F.: Vorlesungsmanuskripte II (1816-1831), Gesammelte Werke Bd. 18, Hg. Jaeschke, Walter. Hamburg 1995. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft Heidelberg 1817/18, Vorlesungen Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte Bd. 1, Hg. Claudia Becker u. a. Hamburg 1983. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe Bd. 12, Redaktion Moldenhauer, Eva u. Michel, Karl Markus. Frankfurt am Main 1986. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte Bd. I. Die Vernunft in der Geschichte, Hg. Hoffmeister, Johannes. Hamburg 1970. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte Bd. IV, Hg. Lasson, Georg. Hamburg 1968. Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831. Bd.1, 4, Hg. Ilting, Karl-Heinz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1973, 1974. Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik I (1812/1813), Gesammelte Werke Bd. 11, Hg. Hogemann, Friedrich u. Jaeschke, Walter. Hamburg 1978. Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik I/I 1832, Gesammelte Werke Bd. 21, Hg. Hogemann, Friedrich u. Jaeschke, Walter. Hamburg 1985. Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik II (1816), Gesammelte Werke Bd. 12, Hg. Hogemann, Friedrich u. Jaeschke, Walter. Hamburg 1981. ZPF 35 Zeitschrift für Philosophische Forschung Bd. 35, Meisenheim/Glan 1981. Bei Wörtern in griechischer Sprache steht aus technischen Gründen statt des spiritus asper ein acutus. I. Einleitung Der Mensch ist von Natur aus frei. D. h. er denkt und will mit Freiheit, weil er dies seinem Wesen nach kann. Das Denken ist das Erwägen des Allgemeinen, und das Wollen ist das Verlangen aufgrund des erwogenen Allgemeinen, sei es im realen Einzelnen, sei es rein idealiter. Indem der Mensch frei denkt und will, handelt er auch als das freie Allgemeine. Seine Handlung ist die Realisierung seines Selbst, das im Denken und Wollen Allgemeinheit erlangt. Das einzelne Selbst des Menschen ist also immer das liberaliter verallgemeinerte Selbst. Jedes Einzelne hat gemäß seinem allgemeinen Wesen Bestand. Und insofern mein Selbst allgemein ist, gilt es auch für den anderen Einzelnen. Jeder Mensch ist dem Wesen nach frei und muss daher frei bestehen können. Das, was seinen freien Bestand verhindert, ist Unwesen und Nichtallgemeines. Wenn es mir am Brot mangelt, müsste ich es zum Bestehen, zum Leben, haben und sogar dem Anderen nehmen können. Wenn der Andere sich seines Brots nicht entäußern, sondern sich nur als Einzelnen erhalten will, müsste ich mit meinem allgemeinen Willen für das Bestehen aller seine Einzelheit vernichten können. Die Allgemeinheit meines Selbst gilt auch für ihn, und ich kann daher meinen allgemeinen Willen in ihm durchsetzen. Diese Beschreibung deutet an, dass das moralische Denken und Wollen auch zur unmoralischen Handlung führen kann. Durch ein solches einfaches Nachdenken hierüber ist diese Abhandlung motiviert. Die unmoralische Handlung ist demnach weder einfach Akzidenz noch Fehler des moralisch denkenden Willens, denn jeder Verbrecher rechtfertigt sich in einer gewissen allgemeinen Weise vor, während oder nach der Tat. Seine Tat gründet auf seine vernünftige Selbstrechtfertigung. Das moralische Problem ist gar kein Problem zwischen Vernunft und Unvernunft. Nicht deshalb, weil er nicht hinreichend vernünftig denkt, will er ein Verbrechen, sondern eben deshalb, weil er trotz der Unvollständigkeit seiner Vernunft doch vernünftig denkt und will, begeht er Verbrechen. Nur wer sein Selbst verallgemeinern kann, kann sich auf den Anderen beziehen. Insofern das Verbrechen die reale Anwendung des einzelnen Willens als gemeinten Allgemeinen auf den Anderen ist, ist es, obzwar in beschränkter Weise, dennoch vernünftig. Beim rechtlichen oder moralischen Problem im weiten Sinne geht es also im Grunde genommen nicht um die Unvollständigkeit der Vernunft des Subjekts, sondern gerade um die wesentliche Beschränktheit der subjektiven Vernunft selbst. Das moralische Problem ist das Problem der Idealität und Realität der Vernunft. Nicht jede idealiter gerechte Vernunft kann sich unmittelbar sowohl im Individuum als auch im Staat realisieren. Die wahre Realisierbarkeit der subjektiven Vernunft beruht auf dem 1 realistischen Erkennen der bereits realisierten Vernunft in der natürlichen und gesellschaftlichen Entität. Eine moralische Diskussion ohne diese ontologische Basis kann überhaupt nichts mehr als ein subjektives Gespräch sein. Und die Moraltheorie der subjektiven Vernunft bis heute kann sich zwar idealiter und anhaltend verallgemeinern, aber nicht realiter und gründlich der unmoralischen Handlung gewachsen sein. Sie kann sogar vielmehr mit dem Subjektivismus der Unmoral übereinstimmen. Zum Beleg hierfür reicht es nur, einen Blick auf den allenthalben verübten Mord oder Krieg im Namen der allgemeinen Idee des Subjekts zu werfen. Dann geht die Philosophie heute wie zur Zeit Hegels auch “aus der Unsittlichkeit hervor” (JKS 81). Hegel ist der einzige Philosoph in der Neuzeit, der auf der ontologischen Basis die Moralität theoretisiert. Sein spezifischer Begriff bezüglich der Moralität ist bekanntermaßen eben die Sittlichkeit, die aber heute nicht mehr im Hegelschen Sinne als die über die Moralität hinausgehende Stufe verstanden wird. Eben deswegen wählt diese Abhandlung dieses Thema. Hegel versteht die Moralität ohne Bezug auf die Gemeinschaft des Lebens ‘nur als Verfallsform von Sittlichkeit’.1 Die Moralität muss sich auf das ontologische Erkennen des gemeinschaftlichen Lebens und dessen Elementen gründen. Die Morallehre muss also auch die Lehre von Polis und Oikos sein. Die Sittlichkeit ist die Moralität aufgrund des wesentlichen Verständnisses dessen, was gesellschaftlich und politisch, d. i. bereits vernünftig verwirklicht ist. Aber Hegel systematisiert freilich nicht von Beginn an seine eigene Sittlichkeit. Und sogar sein Werk, das einzig die Sittlichkeit thematisiert, besteht nicht abgesehen von seinem methodisch Schellingschen System der Sittlichkeit. Sein Begriff der Sittlichkeit ist eher das Ergebnis seiner kritischen Distanzierung von der moralischen Theorie und Praxis in seiner Zeit. Daher versucht diese Abhandlung von der Betrachtung des Spezifizierungsprozesses seines Sittlichkeitsbegriffs ausgehend folgendermaßen seine Philosophie der Sittlichkeit zu rekonstruieren. Zunächst werden die sittlichen Themen des jungen Hegel bis zur Jenaer Zeit im zweiten Kapitel behandelt. Als solche Themen lassen sich vor allem die Volksreligion bis zur Berner Frühzeit sowie die Liebe und das Leben in der Frankfurter Zeit nennen. Aber das Problembewusstsein der begrifflich noch nicht entwickelten Sittlichkeit kann schon im Tagebuch seiner Gymnasialzeit latent gespürt werden. Im Tagebuch vom 2. Juli 1785 notierte Hegel seine Meinung über die Ursache dafür, dass Sokrates vor seinem Tode einen Hahn als Opfer gegeben hatte. Sokrates lehrte nur, nach dem durch das eigene 1 Ilting, Karl-Heinz: Naturrecht und Sittlichkeit, S. 244. Aber dies Verstehen Hegels ist keine ‘Voraussetzung’, die, wie Ilting darstellt, später ‘fragwürdig’ geworden ist, sondern vor allem das Resultat der philosophischen Untersuchung der geschichtlichen Wirklichkeit. 2 Bewusstsein und vor ihm geprüften Allgemeinen zu suchen. Er ließ dennoch die geringe Gabe nicht einfach deshalb opfern, weil er vergiftet und bewusstlos war, sondern eben, “weil es Sitte sey”. Er wollte mit seiner Lehre nicht im Widerstand gegen die kleinliche Sitte seines Volks stehen, auch wenn sie irrational war, denn nach der nächsten Tagebucheintragung kann jedes Gute in seiner Realisierung “seine böse Seite” haben (FS 6). Ob diese böse Seite jedes Guten erträglich und zulässig oder nicht ist, wird zum Grundstein für Hegels Beurteilung der geschichtlichen Phänomene. Die objektive Religion und die Positivität werden später also eben wegen ihres im Namen des allgemeinen Guten eingesetzten unzulässigen Bösen vom jungen Hegel aufs Korn genommen, dementsprechend entwickelt sich sein sittliches Problembewusstsein durch die Themen der Volksreligion und des durch die Liebe vereinigten Lebens. Besonders hervorgehoben durch diese Konzeptionen wird gerade die Harmonie der Vernunft und der Sinnlichkeit, des Allgemeinen und des Einzelnen, des Volks und des Individuums, wie später noch näher zu beleuchten ist. Die Harmonie wird erst in der Jenaer Zeit in der Struktur der Sittlichkeit als dem Hauptthema seiner praktischen Philosophie eingehend erforscht und systematisiert. Sittlich ist es nach seinem Naturrechtsaufsatz, nicht nur moralisch zu sein, sondern ferner als “Bürger eines wohleingerichteten Volkes” “den Sitten seines Landes gemäß zu leben” (JKS 469). Die Sittlichkeit enthält daher die ganze gute Einrichtung des Volks und geht über die Trennung der neuzeitlichen Ethik in die subjektive Lehre der Tugenden und die objektive des Rechts hinaus. Diese Sittlichkeit als ‘eine intern differenzierte Einheit’ der Ethik, die ‘keine von der Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse systematisch gesonderte’ ist, findet schon im System der Sittlichkeit ihre erste einheitliche Darstellung.2 Aber diese Schrift ist schwer methodisch als Hegel eigentümlich anzusehen, obwohl sie inhaltlich detailliert beinahe alle Elemente des späteren reifen Systems in sich schließt, wie im letzten Teil des zweiten Kapitels über Hegels Konzept des Systems der Philosophie zu betrachten ist. Diese Abhandlung unternimmt also den Versuch, Hegels Begriff der Sittlichkeit durch seine Jenaer Systementwürfe hindurch systematisch zu rekonstruieren, wo er sowohl methodische als auch inhaltliche Eigentümlichkeit gewinnt. Damit werden allerdings die anderen Jenaer Schriften zur Sittlichkeit jeweils nachgeschlagen und verglichen. Die zwei Philosophien des Geistes in den Jenaer Systementwürfen lassen sich für die Philosophie des Sittlichen halten, außer dass die Bereiche des absoluten Geistes von Kunst, Religion und Wissenschaft am Ende der zweiten Geistesphilosophie gesondert, aber deshalb noch unklar differenziert dargestellt werden, weil bereits im Bereich des 2 HH, S. 153. 3 Volks bzw. Staates die Rede vom absoluten Geist ist. Jene Bereiche werden also hier außer Betracht bleiben. Hingegen wird die Bewusstseinslehre in den beiden Geistesphilosophien als der erste Teil der Hegelschen Philosophie der Sittlichkeit eingeführt, weil die sittliche Fähigkeit des wirklichen Subjekts nur dadurch begründet werden kann. Darüber hinaus zeigt die Jenaer Bewusstseinslehre eine erhebliche Differenz von der geistesphänomenologischen, in dem Punkte, dass jene nicht wie diese die Erfahrung des Bewusstseins, sondern die logische Struktur des Bewusstseins als Existenzform des Geistes bis zu seiner Totalität bzw. Wirklichkeit behandelt. Diese Struktur des Bewusstseins bis zum sittlich wirklichen Subjekt wird im dritten Kapitel zur Darstellung gebracht. Die hier unterschiedenen zwei ersten Formen des Bewusstseins, nämlich das theoretische und praktische Bewusstsein, können und müssen nur elementarisch und logisch verstanden werden. Denn es besteht in Wirklichkeit kein solches gesondertes Bewusstsein. Das dritte totale Bewusstsein verhält sich zur Totalität des Seins durch die theoretische Verallgemeinerung und praktische Realisierung und ist insofern sittlich wirklich. Es ist erst das subjektive Korrelat der Sittlichkeit, das Familie bildet, gesellschaftlich arbeitet und Mitglied des Volkes bzw. Staates in Rechtsverhältnissen wird. Das vierte Kapitel zieht die gesellschaftliche Tätigkeit des sittlichen Subjekts und deren Erzeugnisse in Betracht. Die gesellschaftliche Tätigkeit in der unumgänglichen Beziehung auf den Anderen hat das Moment der Selbstaufhebung des Einzelnen zur Bedingung. Denn sonst würde die interpersonelle Beziehung in der Gesellschaft nur als die einander ausschließende Beziehung des selbstständigen Einzelnen mit dem totalen Bewusstsein bleiben. Die Einzelnen, die sich selbst nicht aufheben und überwinden, gelangen nicht anders als zum endlosen Kampf miteinander, der eigentlich keine Gemeinschaft ermöglicht. Der Kampf ist einerseits unausweichlich, insofern jeder Einzelne als die selbstständige und unabhängige Person mit dem totalen Bewusstsein besteht, aber muss andererseits auch insofern aufgehoben werden, als jeder lediglich in einer Gemeinschaft sein Leben führen kann. Diese bewusstseinsimmanente Unvermeidlichkeit des Kampfes und sozialontologische Notwendigkeit seiner Auflösung ist durch Hegels Theorie des Anerkennungskampfes erklärbar. Hier spielt, wie später zu zeigen sein wird, die Reflexionsfähigkeit des für sich gewordenen totalen Bewusstseins eine wichtige Rolle. Die gesellschaftliche Tätigkeit ist zuerst die sich selbst aufhebende und einander anerkennende Tätigkeit der Einzelnen in ihrer dem Wesen nach kämpferischen Beziehung zueinander. Durch diese Tätigkeit wird das im Volk gemeinsame Anerkanntsein der einzelnen Personen und der ihnen zugehörigen Produkte hervorgebracht. Dies Anerkanntsein muss in der Gemeinschaft gelten und mit 4 Macht wirken können. Es ist eben das Recht, das als das geistige Werk des Volkes erkannt und als die institutionelle Wirklichkeit im Staat realisiert wird. Demnach werden im übrigen Teil des vierten Kapitels die Rechtsverhältnisse und Institutionen der Gesellschaft und die Verfassung des Staates erörtert. Hegels Rechtsbegriff in der Jenaer Zeit ist freilich noch nicht so systematisch ausgedehnt, die einzelne Person, Gesellschaft und Staat, wie in der Rechtsphilosophie, unter sich zu subsumieren und zu begründen. Aber die Jenaer Geistesphilosophien erklären bereits die objektive Realität des wirklichen Geistes als die Rechtsverhältnisse, die in den Sitten, Institutionen und gesellschaftlichen Tätigkeiten vorhanden sind. Und nach der Rechtsphilosophie ist “das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit”, aus dem die sittliche “Welt des Geistes” “als eine zweite Natur” hervorgebracht ist (GPR § 4). Wenn selbst die beste Gemeinschaft von ihrem Mitglied nicht selbstbewusst erkannt wird, ist jene für dieses nichts mehr als eine unorganische Welt, wie später vorbildlich in der Erziehung des Kindes zu zeigen ist. Die sittliche Welt ist die Welt des freien Geistes, in der jeder seine gegebene Natur frei und selbstbewusst durch die Erziehung und Bildung zur sittlichen Gestalt erhebt und erheben kann. Sie ist die Welt der versittlichten Natur, die vom Geist des Volkes als die zweite geistige Natur gebildet wird. Sie ist eben der Anhaltspunkt, in dem die frei verallgemeinerte Moralidee des Subjekts ihre wahre Realisierbarkeit erlangt. Gerade hierin liegt die wiederum schätzenswürdige Bedeutung der Hegelschen Sittlichkeit. Diese Abhandlung steht auf dem folgenden Grundstandpunkt, der zur Hegel-Lektüre erfordert und auch später in den einschlägigen Textteilen ausführlich erläutert und wiederholt erwähnt wird. Der Standpunkt ist eben Hegels epistemologischer Realismus, der auf seinem ontologischen Verständnis basiert. Hegel verweigert keineswegs das, was ist, sei es Natur, sei es Geist. Er bemüht sich nur darum, ein unvollständiges Sein dessen, was ist, in seiner Vollständigkeit, d. i. philosophisch zu denken. Der Natur oder Materie lässt sich daher nur ordine generis die Priorität zuschreiben, während der Geist oder die Seele ordine essentiae vorgeht, indem das Wesen geistig ist. Ein Seiendes ist da als ein Was-Sein nach seinem geistigen Wesen, obzwar in unvollständiger Seinsweise. Das wahre Erkennen ist deshalb das Erkennen des wesentlichen Wasseins des Seienden. Das Seiende kann sowohl materialiter als auch selbst spiritualiter existieren. Epistemologisch zu achten ist vor allem, dass das Erkennen eines äußeren Gegenstandes nichts anderes als das Erkennen eben des in der Außenwelt außer uns existierenden Gegenstandes selbst ist. Der erkannte Inhalt ist freilich idealistisch, aber in erster Linie nur so in der Referenzialität auf den äußeren Gegenstand. Ontologisch gesagt, ist selbst ein vollständigstes Wesen ohne Existenz gleich Nichts. Der ideale Inhalt kann ein über 5 den erkannten Gegenstand hinausgehendes, eigenes System haben. Aber insofern er das wesentliche System eben des erkannten äußeren Gegenstandes ist, ist seine Realisierung bzw. Existenz lediglich in diesem Gegenstand oder dem Gegenstand gleicher Art möglich, unbeschadet, ob in besserer Form oder nicht. Und nur insofern er durch diese Realisierung bestätigt wird, ist er epistemologisch endgültig wahr. Hegels Erkenntnistheorie enthält also mehr als die einfache Korrespondenztheorie. Sie könnte realistische Korrespondenztheorie genannt werden, die den Gegenstand adäquat erkennt und ferner praktisch bestätigt. Hegels Philosophie ist daher auch nichts mehr und nichts weniger als das geistige System dessen, was äußerlich oder geistig real ist. Sie kann also überhaupt nicht pauschal mit Idealismus betitelt werden, und sie ist auch sehr weit entfernt von der heutigen Modephilosophie, die im Namen der Dekonstruktion der Vernunft nur eine negative Einstellung gegen die geistig reale Vernunft einnimmt.3 Ein bedeutsames Spezifikum der Philosophie Hegels liegt vielmehr in seiner Einsicht, dass die Vernunft selbst gewaltsam sein kann, insofern sie durch den verallgemeinerten Willen des unaufgehobenen Einzelnen durchgesetzt wird. Die Vernunft, in der die Einzelheit des Subjekts nicht überwunden und aufgehoben ist, erreicht lediglich Allgemeinheit um ihres einzelnen Subjekts willen und ist daher gegen Andere gewaltsam. Das Moment dieser Gewaltsamkeit wird in der Betrachtung über Zwang, Verbrechen, Rache usf. ans Licht treten. Diese Einsicht Hegels schließt konsequent an seine seit seiner Jugendzeit auf die Harmonie der Vernunft und der Sinnlichkeit ausgerichteten Augen an. Der erste Blick dieser Abhandlung richtet sich zuerst also auf dieses sittliche Problembewusstsein des jungen Hegel, das später als die Sittlichkeit herauskristallisiert wird. Diese Abhandlung sieht die erste eigentümliche Kristallisation der Hegelschen Sittlichkeit in den Jenaer Systementwürfen. Das nähere Eingehen auf seine reife Rechtsphilosophie in den Gestalten von Vorlesungen und Grundlinien, auf die hier nur stellenweise verwiesen wird, bleibt daher als Aufgabe nach dieser Abhandlung übrig. 3 Selbst der philosophische Dekonstruktivismus begibt sich nicht in diese Weise ans Werk. 6 II. Sittliche Themen bis zur Jenaer Zeit 1. Konzept der Volksreligion 1.1. Kritik an objektiver Religion Das sittliche Thema, das den jungen Hegel zunächst fesselt, ist die Volksreligion. Diese steht aber nicht in einem religionsphilosophischen Kontext, sondern wird behandelt als Mittel zur Aufklärung des Volkes. Der Grund dafür, dass die Religion in der Mitte seiner Aufklärungsphilosophie steht, besteht darin, dass gerade sie ein gutes Medium ist, in dem die Idee der Aufklärung zur allgemeinen Bildung des Volks wird. Die allgemeine Idee darf nicht durch “die kalte Buchgelehrsamkeit” der besonderen Gruppe von Theoretikern einfach äußerlich gegeben oder erzwungen werden (FS 46). Die Realisierung der Idee liegt nicht in der idealen Theorie, sondern wird erst dadurch vollendet, dass sie zur Bildung des Volkes wird. Und in der Religion ist das Volk Subjekt der aufklärerischen Idee. Solche Idee wird vom gebildeten Volk in äußeren Gestalten ausgedrückt und realisiert. Die unmittelbarsten äußeren Ausdrücke solcher Idee durch das gebildete Volk sind für den jungen Hegel gerade Religion. Dies besagt umgekehrt, dass auch bisherige religiöse Ausdrucksgestalten die Widerspiegelung einer bestimmten Volksbildung waren. Und wenn die Aufklärung das Aufkommen einer neuen allgemeinen Idee bedeutet, benötigt sie auch einen kritischen Blick auf die bisherigen Religionsgestalten. Insofern steht sein Konzept der Spätaufklärung auch in der Tradition der Reformation. In seinem gymnasialen Tagebuch vom 1. Juli. 1785 ist die Rede von solchen Bildungsgestalten als Bedingung für “eine pragmatische Geschichte” (FS 5). Hierzu gehören ihm zufolge nicht nur die einfache Erzählung von Fakten, sondern auch die Entwicklung von Charakteren berühmter Männer oder einer ganzen Nation, von ihren Sitten, Gebräuchen, Religionen etc. sowie von verschiedenen Veränderungen und Abweichungen bei anderen Völkern, auch das Nachspüren von Aufstieg und Zerfall großer Reiche und das Zeigen dessen, was diese oder jene Begebenheit sowie eine Staatsveränderung für die Verfassung der Nation, für ihren Charakter u. s. w. für Folgen gehabt habe. Aber was bei der Bildung durch diese pragmatische Geschichte vor allem schwer fällt, ist der “Entwurf von einer Aufklärung des gemeinen Mannes” als Mitglied eines Volkes, wie er in einem anderen Eintrag vom 22. 3. 1786. gesteht. Ein solcher Entwurf kann in Wahrheit nicht durch Wissenschaften und Künste von einem beschränkten Sonderstatus aus vollzogen werden. Der Gymnasiast verficht die 7 Auffassung, “diese Aufklärung des gemeinen Mannes habe sich immer nach der Religion seiner Zeit gerichtet, und sie erstreke sich überhaupt nur auf die Aufklärung durch Handwerker und Bequemlichkeit des Lebens” (FS 30). Bei diesem Gedanken taucht bemerkenswerterweise die Religion als Kernpunkt der Volksaufklärung auf. Sie könnte den Abstand zwischen den wissenschaftlichen Prinzipien und dem Leben des Volkes überbrücken. So liegt das Interesse des jungen Hegel schon von Anfang an auf der Rolle der Religion in der Geschichte. Die Geschichte ist also auch schon von daher für ihn ‘Geschichte der maßgeblichen Institutionen und der maßgeblichen religiösen Vorstellungen’.1 So war er in erster Linie Anhänger der Aufklärung und Reformation, also konnte er später auch die französische Revolution positiv aufnehmen.2 Die französische Revolution ist ein anderes Motiv, das den Studenten Hegel allgemeine Inhalte der aufklärerischen Idee lehrte und zur religiösen Verwirklichung anleitete. Deren Ideal schätzte er danach zu Lebzeiten immer positiv ein.3 Z. B. die vom reifen Hegel gehaltenen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte sagen aus, die französische Revolution sei “ein herrlicher Sonnenaufgang,” bei dem der Mensch nicht von einem bestimmten Stand, Geschlecht oder Rasse, sondern als Mensch im allgemeinen eben nur “das Sichselbstbestimmen” erkenne und erhalte und lediglich aufgrund dieser “Freiheit des Willens” und des “Rechts” des eigenen freien Willens Gesellschaft und Staat realiter aufzubauen beginne (VPW IV. 920-926). Auch nach dem viel früheren Brief an Schelling vom 16. April 1795 gibt es “kein besseres Zeichen der Zeit, als dieses, daß die Menschheit an sich selbst so achtungswert dargestellt wird” (Br 24). Das Menschsein des Menschen ist eben die Freiheit, und die Einheit beider ist ‘das Prinzip der Weltgeschichte’.4 Die Geschichte seines freien Menschseins ist nicht mehr die eines bestimmten Bereichs, sondern nun eben die Weltgeschichte. Der junge Hegel geht über die bloß theoretische Verteidigung der revolutionären Idee hinaus bis zu deren 1 Pöggeler, Otto: Der junge Hegel und die Lehre vom weltgeschichtlichen Individuum, HPR, S. 23. Über den Zusammenhang von Reformation und Revolution bei Hegel, Oeing-Hanhoff, Ludger: Metaphysik und Freiheit, S. 212-261. 3 Nach Otto Pöggeler lässt sich Hegels Konzeption über die Verfassung in Bezug auf die französische Revolution zwischen Zeiten vor und seit dem Frankfurter Aufenthalt unterscheiden. Seit der Frankfurter Zeit führe er gegenüber dem revolutionären Konzept der gleichen Machtverteilung das Moment der konzentrierten Macht in den Staat ein. Pöggeler, Otto: Hegels Option für Österreich, HS 12, S. 83-128. Dies verrät, wie Walter Jaeschke erwähnt, die ‘Ambivalenz von Zustimmung zu den Idealen der Revolution und Enttäuschung über ihren Verlauf.’ HH, S. 10. Über die Hervorhebung Hegels als des Philosophen der französischen Revolution, Losurdo, Domenico: Hegel und das Deutsche Erbe, S. 19-31. Ritter, Joachim: Hegel und die französische Revolution, S. 15-28. Im Gegesatz dazu, HZeit, S. 31-33. 4 Ritter, Joachim: Hegel und die französische Revolution, S. 21. Die Realisierung dieses Prinzips in der Geschichte ist ein echt religionsphilosophisches Thema Hegels als ‘die wahrhafte Theodizee.’ OeingHanhoff, Ludger: Metaphysik und Freiheit, S. 129. 2 8 Einführung und Verwirklichung in Deutschland, 5 das damals schon Land der Reformation und der gedanklichen Aufklärung ist. “Ohne Änderung der Religion kann keine politische Revolution erfolgen” (VPW IV. 931). Daher richtet sich seine Aufklärungsphilosophie darauf, die revolutionäre Idee auf die reformatorische Tradition Deutschlands zu pfropfen. Sie führt zum Konzept einer neuen Religionsgestalt in kritischer Entfernung gegenüber der bisherigen Religion in der Geschichte. In solch einer Absicht stellt der Aufsatz aus seiner letzten Gymnasialzeit, Über die Religion der Griechen und Römer (1787) Ursprung und Entstellung der Religion in der Geschichte dar. Wie alle Nationen stellten sich Griechen und Römer im unmittelbaren Verkehr mit der Natur kindlich “Gott als ein allmächtiges Wesen” vor, “das sie und Alles blos nach Willkür regiere”. Weil sie “Alles nur unter sinnlichen Vorstellungen denken” konnten, machten sie sich “körperliche Bilder von der Gottheit”, jeder für sich “nach dem Ideal” “von dem furchtbarsten Wesen”, und brachten diesem ein Opfer dar (FS 42). Dass das höchste Wesen durch dieses Geschenk nicht erhalten wird und dass Glück und Unglück vielmehr an ihnen selbst liegen, konnten sie nicht erwägen. Diese Nationen, die Mehrvölkerstaaten waren, verehrten in dieser Weise ihre eigenen Götter, wollten mit dieser Verehrung oder durch Menschen im nahen Umgang mit Göttern ihr zukünftiges Schicksal erkunden. Die klügeren und listigeren Priester, die solche Neigungen dieser Abergläubischen beobachteten, waren imstande, auch gut zu bemerken, “daß die Völker sich durch nichts so willig leiten lassen, als durch die Religion”. Dadurch wurde die Religion Mittel der Herrschaft eines besonderen Stands. “Nur wenn eine Nation eine gewisse Stufe von Bildung erreichte, konnten Männer von aufgeheiterter Vernunft unter ihr auftreten, bessere Begriffe von der Gottheit erlangen und sie andern mittheilen” (FS 44). Das Streben der griechischen Weisen, “viel aufgeklärtere und erhabnere Begriffe von der Gottheit” zu zeigen, weist gut auf, wie schwierig es ist, die reine Wahrheit von Irrtümern zu reinigen, und “wie gewöhnlich es ist, durch Gewöhnung und Verjährung an gewisse Vorstellungen den größten Unsinn für Vernunft, schändliche Thorheiten für Weisheit zu halten” (FS 44-45). Hierbei schließt der Aufsatz mit der Aufforderung, auch unsere bisher nie bezweifelten, nur überlieferten Meinungen selbst zu überprüfen. Des Weiteren müssen auch überlieferte Lehren und Überzeugungen gründlich bezweifelt und überprüft werden, dadurch müssen mehr aufgeklärte Wahrheiten gefunden werden. Aber die Aufklärung und Entdeckung der Wahrheit darf nicht am Kamin des zweifelnden Gelehrten bleiben. Wie Hegel oft mit den Worten Lessings bekräftigt: Es kann durch “die kalte Buchgelehrsamkeit, die sich mit todten Zeichen in’s 5 Losurdo, Domenico: Hegel und das Deutsche Erbe, S. 26. 9 Gehirn nur drückt” (FS 46, 51)6 kein ganzes System der Erziehung und Bildung richtig aufgestellt werden. Zuvörderst muss das Streben nach der Aufklärung selbst über die ‘Grenzen seiner eigenen Leistungsfähigkeit aufgeklärt werden’. 7 Sogar selbst die großen Männer sind immer bezogen auf den Genius ihres Volkes oder ihrer Zeit, leben aus ihm und in ihm, durchsetzen ihn. Deshalb besteht die Vollendung der Aufklärung darin, dass sich ihre neue Idee in der Volksbildung verkörpert. Von daher steht Hegel in der Spannung zwischen wissenschaftlicher Untersuchung und deren Verwirklichung im Volk. Dieses Spannungsverhältnis ist zugleich ein Kreislauf, denn einerseits wird seine Untersuchung zumeist über Bildungs- und vor allem Religionsgestalten des Volkes in der Geschichte durchgeführt, andererseits ist die hieraus resultierende aufgeklärte Wahrheit das, was wiederum in Bildungsgestalten des Volkes zu realisieren ist. Hierauf gründet sich seine Aufstellung der Religion als des hauptsächlichen Themas. Dieses Spannungsverhältnis wiederholt sich auch in seiner Forschung über Volksreligion. Auf der einen negativen Seite hat sie zur Aufgabe, die mit der “Summe der begriffslosen Worte” (FS 51) unterdrückenden Elemente der Religion einer Zeit zu kritisieren und die Ursache ihres Untergangs zu analysieren, andererseits positiv die Geschichte der jeweils durch die Volksreligion realisierten Freiheit des Menschen wiederherzustellen. Die erstere Aufgabe ist nichts anderes als eine Art Religionskritik, d. i. ihre Eignungsprüfung für die Aufklärung,8 die letztere zielt auf das Prinzip der freien Versöhnung und Einheit, das sich in mehreren Religionsgestalten im allgemeinen entwickelt. “Denn der menschliche Geist war zu allen Zeiten im allgemeinen derselbe, nur daß seine Entwiklung durch die Verschiedenheit der Umstände unterschiedlich modificirt wird” (FS 53)9 Ein Teil der Hegelschen Religionskritik, die aber viel bekannter ist, ist seine Kritik an der Positivität. Bei einer sorgfältigen Betrachtung lässt sich erkennen, dass diese Kritik nicht zu Beginn seiner Religionskritik auftritt. Vielmehr wandelt sich sein Verstehen der Positivität durch drei Stufen, die gebildet werden durch frühere Schriften bis zum Jahr 1794, Schriften von 1795 bis 1796, in denen die eigentliche Positivitätkritik geübt wird, und Schriften ab 1797, in denen dieser Begriff immer mehr nur rein logisch benutzt wird. Die Rede von der Positivität entsteht zuerst in der zur Gruppe der Studien 6 Die später in Hegels Schriften des Öfteren vorkommenden Ausdrücke, wie “tote Begriffe”, “kalte Vernunft” u. s. w. stammen aus Lessings Nathan der Weise und bedeuten die unrealisierbare Aufklärung als auf der Spitze der Ideen bleibend. 7 Busche, Hubertus: Das Leben der Lebendigen, HSB 31, S. 33. 8 HH, S. 60. 9 Dies Problembewusstsein ist für Hegel der Ursprung der einen Religionsgeschichte, deren logische Erklärung als ein genuines Thema der Philosophie geliefert werden kann. Jaeschke, Walter: Zur Logik der bestimmten Religion HLP, S. 173. 10 1792/93-1794 gehörenden Schrift, Religion ist eine der wichtigsten Angelegenheiten. “Positive Religion beruht nothwendig auf Glauben an die Tradition, durch die sie uns überliefert wird”. Hier ist Positives überhaupt nicht kritisch, sondern vielmehr wertneutral erwähnt. Es bedeutet in der ersten Phase lediglich die bloß historische Gegebenheit.10 Daher sind positive religiöse Gebräuche, die zur Tradition gehören, vom Standpunkt der Vernunft aus tauglich in dem Maße, wie sie “zur Erwekung frommer Empfindungen” im Volk beitragen (FS 96). Was seine Kritik in der Tübinger Zeit11 zuerst aufs Korn nimmt, ist die objektive Religion. Diese Religion ist vor allem “Theologie” (FS 75) und auch “fides quae creditur” (FS 87). Die Bestimmung der Theologie als der objektiven Religion folgt Fichtes Einteilung im Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1793). Hiernach ist Theologie ‘blosse Wissenschaft, todte Kenntnis ohne praktischen Einfluss; Religion aber soll der Wortbedeutung nach (religio) etwas seyn, das uns verbindet, und zwar stärker verbindet, als wir es ohne dasselbe waren’.12 Fichte verweigert hier vom Gesichtspunkt seines Primates der Praxis aus die reine wissenschaftliche Theologie und fasst ins Auge eine praktische Theologie auf der Suche nach der heiligen Verpflichtung (religio). Die praktisch wirkungslose Theologie ist auch für Hegel nichts anderes als die Religion an der Stelle des toten Objekts. 13 Sie gewährleistet ohne Kontrolle der Vernunft keinen freiwilligen Glauben, sondern zieht immer das freie Vermögen des Volks zum Vernunftglauben in Zweifel. Daher ist nur “fides quae creditur” erlaubt, d. i. der passiv vergegenständlichte Glauben, für dessen Untersuchung und Verständnis vornehmlich “der Verstand und das Gedächtnis” beansprucht werden, und dessen Inhalt ‘in Form eines theologischen Systems gelehrt’14 und geglaubt wird. Der Verstand und das Gedächtnis stellen ihn in einem Buch als ein wissenschaftliches System dar, bringen ihn durch Vortrag zum Ausdruck. Für dieses Buch der objektiven Religion sind die für alle Religionen auch notwendigen praktischen Kenntnisse “nur ein todtes Kapital” (FS 87). Solche theologische Religion als “Sache des Verstands und des Gedächtnisses” (FS 90) ist für den jungen Hegel “nicht mehr Religion” im wahren Sinne (FS 89). Denn wie er notiert, ist der Mensch “ein aus Sinnlichkeit und Vernunft zusammengesetztes Wesen” (FS 78); und “eine kalte 10 Busche, Hubertus: Das Leben der Lebendigen, HSB 31, S. 30. Über die reale Entstehungszeit des Tübinger Fragments, HH, S. 60. 12 Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung, S. 43. FS, Anhang, S. 470. 13 Aber diese Aufnahme Hegels distanziert sich kritisch mit der Vertiefung der Kant-Forschung. Nach dem Brief vom Ende Januar 1795 wird diese “der theologischen Logik kein Ziel und Damm mehr” setzende Schrift Fichtes deutlich dafür verurteilt, dass sie die alte Methode anwendet, “in der Dogmatik zu beweisen”, d. i. “nach Befestigung des moralischen Glaubens die legitimierte Idee von Gott” rückwärts, d. i. “von der Ethikotheologie her jetzt zur Physikotheologie” auszuführen, und dadurch Missverständnisse der Kantischen Philosophie verursacht. Br, S. 17. HH, S. 12. 14 HH, S. 61. 11 11 Vernunft” (FS 86), sogar eine nicht von sich selbst, sondern von außen gegebene fremde Vernunft, die sich durch sinnliche Handlungen nicht ausdrücken lässt, sondern vielmehr diese beherrscht oder zurückstößt, kann den Geist und die Religion des Volkes nicht beleben. Zudem ist “das HauptElement bei allem Handeln und Streben” des gemeinen Menschen bzw. des Volkes die “Sinnlichkeit” (FS 84). Der Verstand, der isoliert von der Sinnlichkeit des Menschen ist, ist vielmehr lediglich “ein Hofmann, der sich nach den Launen seines Herrn gefällig richtet” (FS 94). Hierin liegen die Schranke der Verstandesaufklärung und die abstrakte Zwanghaftigkeit der objektiven Religion. Die objektive Religion wird dem unreifen Verstand des Menschen von Jugend an zwanghaft aufgenötigt (FS 89) und “durch Tiraden über Aufklärung” zu seinem vergegenständlichten Glauben. Die so vergegenständlichte, daher objektive Religion, deren dogmatische Lehren die Vernunft lediglich untersucht, ist nichts anderes als “FetischGlauben” (FS 103). Sie zwingt als “das ganze System von dem Zusammenhange unserer Pflichten und Wünschen mit der Idee von Gott und der Unsterblichkeit der Seele” (FS 138) den Menschen zum Erlernen, wird den Gehorsamen zu einem “Schwäzer der Aufklärung” machen, die lediglich “Afterweisheit” hat (FS 98), und den Ungehorsamen für einen Ungebildeten halten. Für den jungen Hegel aber enthält der Religionsbegriff nicht nur Religion als bloßes wissenschaftliches System, sondern er besagt zugleich, “daß sie das Herz interessirt; daß sie einen Einfluß auf unsre Empfindungen und die Bestimmung unsers Willens hat” (FS 85). Ihr wissenschaftliches System selbst wird nicht vollständig abgelehnt, sondern es heißt, sie darf weder nur als ein gegenständlicher Glaube der Vernunft bleiben, noch andererseits lediglich in den nicht durch die Vernunft filtrierten Gestalten der Sinnlichkeit Gott vorstellen. Die Religionen der vielen sinnlichen Völker, die allein aus Furcht vor einem sinnlich vorgestellten Gott handeln, deshalb als Grund ihrer Handlungen de facto nur Klugheit haben, könnten nicht mehr als ein “blosser Aberglauben” sein (FS 91). Die wahre Religion besteht eben darin, dass die kalte Vernunft selbst der objektiven Religion zur praktischen Vernunft des sinnlichen Menschen wird und dass ihre vernünftigen Lehren selbst durch sinnliche Handlungen realisierbar werden. Gegenüber der reinen Natur des Menschen ist schon annehmbar “das was in der Lehre von Gott praktisch ist, was ihm zu Triebfedern zu Handlungen, zur Quelle der Erkenntnis der Pflichten und zur Quelle des Trostes werden kan” (FS 8384). Die Entstehung der Religion zeigt gut diese ursprüngliche Neigung der menschlichen Natur. Denn selbst im Aberglauben sind die sinnlichen Vorstellungen von Gott und Gebräuchen nach ihren begrifflichen Inhalten schon moralisch, d. i. deuten “schon mehr auf Bewustseyn von einer höhern nach grössern Zweken als sinnlichen 12 bestimmten Ordnung hin” (FS 91), in dem Sinne, dass von der angebeteten Gottheit Glück für den Gerechten, Unglück für den Ungerechten erwartet wird. Diese ursprüngliche Neigung zum Bewusstsein von einer höheren Ordnung nach größeren Zwecken ist “ein natürliches Bedürfniß des menschlichen Geistes” (FS 84), das eben nichts anderes als “das tiefe moralische Bedürfniß der Vernunft” ist (FS 106). Die Forderung der praktischen Vernunft nach dem Glauben an Gottheit und Unsterblichkeit, um danach die Verwirklichung dieses ihres natürliches Bedürfnisses, d. i. des höchsten Gutes, hoffen zu können, ist gerade der Keim der Religionsentstehung (FS 91). Eine wahre Religion, die sich Hegel angelegen sein lässt, ist ihm zufolge die subjektive Religion, in der die aufklärerische Idee der Vernunft und das natürliche Bedürfnis des menschlichen Geistes in Verbindung stehen. Daher ist die subjektive Religion kein Gegenbegriff zur objektiven Religion, die durch die Idee der Vernunft systematisiert ist. Sie stellt uns unsere Pflichten und Gesetze als Gesetze Gottes vor, durch diese Vorstellungen der Erhabenheit und Güte Gottes gegen uns erfüllt sie “unser Herz mit der Bewunderung und mit Empfindungen der Demut und Dankbarkeit” (FS 85). Diese Vorstellungen werden bald vermittelst der “Phantasie” (FS 79, 80) oder der “Gebräuche” (FS 96) erworben. Ihr Resultat ist die ‘Beförderung der Moralität’,15 d. i. das Treiben der Keime der feineren, frömmeren, mehr moralischen Empfindungen, die die Natur in jeden Menschen gelegt hat. Die getriebenen Keime sind “eine wirkliche Receptivität für moralische Ideen und Empfindungen”, die die Vernunft ihrerseits erforscht und lehrt. Durch die “Erziehung” und “Bildung” zu diesem Vorstellungsvermögen werden die moralischen Ideen der Vernunft in der subjektiven Religion leicht zu Bestimmungsgründen unserer Willen und Empfindungen (FS 89). Eine Randbemerkung in den Studien 1792/93-1794 stellt diesbezüglich auch Reformation so dar, dass Reformatoren den Wert der subjektiven Religion gut einsahen. Sie gaben sich Mühe, durch die subjektive Religion “den Menschen zu bessern” (FS 76) und diese Kunst der subjektiven Religion mit Worten zu systematisieren. Aber für Hegel ist jenes Streben zwar nötig für die Volksbildung und die Verwirklichung der Ideen, allein die dogmatische Systematisierung nur mit Worten unerwünscht. Die subjektive Religion ist nicht einmal in die objektive Dogmatik der Worte zu versteinern, sondern wird davon abgestoßen. Sie äußert sich vielmehr “nur in Empfindungen und Handlungen” (FS 87), die keine großen Kenntnisse der Religion verraten, sondern das religiöse Gefühl des Herzens, das Erkennen Gottes in der Natur des Herzens ans Licht bringen. Sie ist “Lebendig, Wirksamkeit im innern des Wesen, und Thätigkeit nach aussen”. Sie ist “das lebendige Buch der Natur” in jedem Menschen, das ihn selbst 15 RH, S. 43. 13 seinen eigenen inneren Willen bestimmen, dadurch in äußeren sinnlichen Handlungen zum Ausdruck bringen lässt. Also ist sie auch in erster Linie jedem Individuum eigentümlich. Erst nachdem die ursprüngliche Neigung jedes Individuums freiwillig entwickelt ist, sich vernünftige Ideen angeeignet hat, ist nun über die konkrete Realisierung der Ideen, des Weiteren der Freiheit selbst, zu sprechen. Daher hat in der subjektiven Religion nicht zuletzt ernst genommen zu werden, “ob und wie weit das Gemüth gestimmt ist, sich von religiösen Beweggründen bestimmen zu lassen – wie groß seine Reizbarkeit für diselbe ist; und dann welche Arten von Vorstellungen vorzüglich Eindruck auf das Herz machen – welche Arten von Empfindungen am meisten in der Seele angebaut, und am leichtesten hervorzubringen sind” (FS 88). Sie ist je nach den betrachteten Neigungen dem Individuum auf diese Weise eigen. Demzufolge ist die Hauptaufgabe der Reformation und Aufklärung in den Augen des jungen Hegel die Subjektivierung der objektiven Religion. Denn nur insofern, als die Lehren dieser Religion von jedem Individuum selber verstanden und begriffen, zu seiner Liebe zu Pflichten und zu seiner Achtung für moralische Gesetze werden, d. i. “als sie einen Bestandtheil der subjektiven ausmacht,” ist sie bedeutsam. (FS 90) Aber die Aufgabe kann lediglich als “das grosse Geschäft des Staats” (FS 139) zur Durchführung kommen. Denn auf der einen Seite, wenn die ursprüngliche Neigung des Individuums auch affiziert wird, sind dennoch Erziehung und Bildung notwendig zum Verstehen und Verkörpern der vernünftigen Ideen. Andererseits, obwohl die vernünftigen Ideen im eigenen Geist jedes Individuums subjektiviert sind, bedeutet dies noch nicht ihre Verwirklichung als eine allgemeine Bildung des Volkes. Hegel stellt einer anderen wahren Religion auf der Ebene von Gesellschaft und Staat, sozusagen der Volksreligion, diese Aufgabe. Das Volk bedeutet bei Hegel objektiv immer eine historische und soziale Einheit als Inbegriff der Individuen.16 Es ist zwar die Grundlage der geschichtlichen Entwicklung in Form einer Gesellschaft aus Individuen, aber hat zugleich seinen Geist in Form der Natürlichkeit.17 Dieser Geist findet insbesondere subjektiv in den im voraus geurteilten Meinungen der Mitglieder Ausdruck. Die VorUrteile im Sinne quasi von Vorverständnis aber können sowohl “wirkliche Irrtümer” als auch “wirkliche Wahrheiten” sein, die, obwohl noch nicht durch die Vernunft selbst geprüft, trotzdem “auf Treu und Glauben anerkannt” sind (FS 95).18 Die wirklichen 16 Pöggeler, Otto: Der junge Hegel und die Lehre vom weltgeschichtlichen Individuum, HPR, S. 23. Kirn, Michael: Der Begriff der Revolution in Hegels Philosophie der Weltgeschichte, HSB 11, S. 342. Was diese objektive Einheit in eine staatliche Einheit erweitert ist, ist Nation. Busche, Hubertus: Das Leben der Lebendigen, HSB 31, S. 59. Siehe auch, VNS, § 127, 159. 17 Losurdo, Domenico: Hegel und das Deutsche Erbe, S. 275. 18 Diese Zweideutigkeit der Vorurteile entspricht der Doppelbedeutung des Volksbegriffs. Das Volk als ein gesellschaftliches Wesen, das wirkliche Irrtümer hat, ist vulgus, Pöbel, großer Haufen, sondern als ein 14 Irrtümer sind typisch für den Glauben und dessen Gegenstände, die durch die objektive Religion ins Individuum geprägt, an der Stelle des Objekts gesetzt sind. Nämlich Irrtümer, die daraus entspringen, dass die Gestalten der Sinnlichkeit und Phantasie, der eingerichteten Gebräuche und ferner der wissenschaftlichen Sprache, die nur Vermittlungsrollen zum Vorstellen der vernünftigen Ideen spielen sollen, für die vernünftigen Ideen selbst gehalten werden. Die Volksreligion muss Menschen zu diesem Festhalten “an dem Buchstaben und den Gebräuchen” (FS 100) so wenig wie möglich veranlassen. Dagegen liegen die wirklichen Wahrheiten, die Inhalte der vernünftigen Ideen, eben in solchen Gestalten, die zwar Einfluss auf die frommen Empfindungen und moralischen Handlungen des Individuums ausüben, aber doch nicht reflektiert, sondern nur geglaubt sind. So zweideutig sind die Vorurteile. Demgegenüber soll sich die Volksreligion darum bemühen, dass die vernünftigen Ideen von jedem Individuum begriffen, versichert, zum Zustand seines Herzens werden, der dann die “Weisheit” als “eine Erhebung der Seele” (FS 97) sein und immer fromme Empfindungen und moralische Handlungen motivieren wird. D. h. die Volksreligion muss positiv “das Volk zur VernunftReligion” führen, “Empfänglichkeit dafür” besorgen (FS 100). 1.2. Volksreligion und Sittlichkeit Die Volksreligion kommt beim jungen Hegel schließlich als ‘eine populäre Vorform zu einer reinen Vernunftreligion’19 zum Vorschein. Sie hat zur Aufgabe “Volksbildung” (FS 106), die sich durch die Vermittlung der vernünftigen Ideen der objektiven Religion mit den subjektiven religiösen Neigungen entwickelt. Als Vermittlungsmedien lassen sich in Anlehnung an die damals gängige öffentliche Religion aufzählen “die Begriffe von Gott und Unsterblichkeit”, die die objektiven Grundsätze der Religion sind, Empfindungen und Überzeugungen eines Volks, die aus den Grundsätzen fließen und sich auf dessen Denk- und Handlungsweise auswirken, und “auch die Mittel, wodurch diese Ideen dem Volk theils gelehrt, theils eindringlich fürs Herz gemacht werden” (FS 86). Da der Mensch “das tiefe moralische Bedürfnis der Vernunft” von Natur aus hat, vertragen sich einfache “auf allgemeine Vernunft gegründete” Religionsgrundsätze auch mit der jeweils auf solch ein Bedürfnis gebauten Volksbildung (FS 106), die wiederum auch ihrerseits nach ihrer Änderung allmählich die Grundsätze der Vernunft modifiziert. geschichtliches, kulturelles Wesen, das wirkliche Wahrheiten in der Gesellschaft konkret realisiert, ist es Nation. Busche, Hubertus: Das Leben der Lebendigen, HSB 31, S. 57. Des Weiteren wird die Zweideutigkeit der Vorurteile später charakteristisch für die “öffentliche Meinung” in Rechtsphilosophie, 1821. GPR, § 316-320. 19 Busche, Hubertus: Das Leben der Lebendigen, HSB 31, S. 44. 15 Dieser Aufklärungsverlauf der Volksbildung ist daher gegenläufig und kreisend. Einerseits führt der Weg vom Ausgangspunkt der objektiven Religion zur subjektiven, d. i. von neuen vernünftigen Ideen einer Zeit zur subjektiven Bildung des Volks. Auf diesem Weg werden als Systeme der Erziehung und der Bildung die Mittel betont, durch die die Ideen dem Volk gelehrt und zum Zustand des Herzens gemacht werden. Andererseits gibt es den allmählichen Weg von den sinnlichen Ausdrucksgestalten der sich geschichtlich entwickelnden Volksbildung zu den darin enthaltenen vernünftigen Ideen. Hier ragen große Individuen hervor, die den Geist einer Zeit auffassen und mit dem Genius des Volks verbinden. Die Volksreligion hat die Aufgabe der Bildung des Volks zur Vernunftreligion. Die Vernunftreligion ist die Religion der Moral, in der “die Idee der Heiligkeit als die lezte Höhe der Sittlichkeit, und der lezte Punkt des Bestrebens gesezt” ist (FS 100). Sie ist die Religion eines freien Volks, weil deren Terminus ad quem ein verinnerlichter Zustand der vernünftigen Ideen ist, die zu Gründen der freiwilligen Bestimmung seiner freien Empfindungen, Willen, und Handlungen geworden sind. In dieser Hinsicht taucht der Ausdruck, “Sittlichkeit” erstmals bei Hegel auf. Der Begriff lässt sich aber hier noch nicht einmal als sein eigentümlicher Begriff charakterisieren, sondern er deckt sich vielmehr unter dem Einfluss der Kantischen Philosophie mit der Moralität, deren Verständnis zudem der Kritik der reinen Vernunft (1781/87) näher steht als der Kritik der praktischen Vernunft (1788). Aber trotz der Rede von der Kantischen Sittlichkeit ist es auch beachtenswert, dass für die Aufgabe der Volksreligion die institutionelle Verwirklichung bzw. die verwirklichten objektiven Produkte der vernünftigen Ideen mit berücksichtigt sind. Dies wird außer der geschichtlichen Betrachtung der Religion auch eben seine politisch-ökonomische Forschung in Anspruch nehmen. Diese beide Untersuchungen sind daher beim jungen Hegel keine getrennten Themen, sondern ‘nur unterschiedliche Momente einer Theorie der Sittlichkeit’.20 Er notierte zwar schon seit der Stuttgarter Zeit Exzerpte aus Kantischen Schriften, deren konzentriertes Studium er aber erst in Bern durchführte.21 Daher ist die Volksreligion, die in der Tübinger und der frühen Berner Zeit entworfen wird, in einen nicht so engen Zusammenhang mit der Kantischen Philosophie zu stellen. Besonders die Betonung der Rolle der Sinnlichkeit bei Hegel zeigt große Unterschiede von der Rolle des sinnlichen Elements in der Kritik der reinen Vernunft, die den Vernunftglauben auch ‘auf die Voraussetzung moralischer 20 RH, S. 37. HLeben, S. 14. HStaata, S. 17. HZeit, S. 33-35. HH, S. 2, 7. Und im häufig angeführten Brief vom 16. April 1795: Hegels Erwartung einer “Revolution in Deutschland, die von Prinzipien ausgehen wird, die vorhanden sind und nur nötig haben, allgemein bearbeitet, auf alles bisherige Wissen angewendet zu werden.” Br, S. 23-24. 21 16 Gesinnungen gründet’, die als ‘ein natürliches Interesse’ an ‘Verheißungen und Drohungen’ auftreten.22 Diese sinnlichen Triebfedern werden sogar von Kant selbst in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) für die autonomen Moralgesetze des nur die Kausalität der Vernunft habenden reinen Willens ausgeschlossen,23 und in der Kritik der praktischen Vernunft ist nur ‘eine Triebfeder des Willens’ gültig, ‘so fern sie durch Vernunft vorgestellt wird’, d. h. nur die Triebfeder, die ‘in einem moralisch-guten Willen’ nichts anderes als ‘das Gesetz selbst’ ist. 24 Dagegen umfasst Hegels Sinnlichkeit nicht nur die moralisch gültige Triebfeder, sondern überdies alle Phantasie, Empfindung, Herz u. a., die in den äußeren Gestalten von Symbolen, Zeremonien, Gebräuchen u. a. die vernünftigen Ideen als die wirkliche Bildung des Volks realisieren, transportieren und entwickeln. Wegen dieses realen Anliegens gelangt Hegel dazu, die Selbstrevision Kants zu übergehen25 und zuletzt scharfe Kritik an der Tautologie der kantischen Moral zu üben. Sein Anliegen der Sinnlichkeit als Wirklichkeit der Vernunft führt Hegel vor allem zur Aufmerksamkeit auf Kants ähnlichen Versuch in dessen zeitgenössischer Schrift, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793).26 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ist die konkrete Entwicklung der “Moraltheologie” auf der Basis der reinen praktischen Vernunft, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft eigentlich beabsichtigte.27 Ihm zufolge hat die Natur des Menschen die ‘angeborne Schuld (reatus)’ als die ‘Bösartigkeit’, die aus der ‘Gebrechlichkeit’ und ‘Unlauterkeit’ entspringt. Sie ist nicht stark genug, um moralischen Grundsätzen der Handlungsbestimmung immer zu folgen, und hat auch zu viele gröbere Neigungen, um Motive allein nach dem moralischen Kriterium zu unterscheiden. Diese ‘Gebrechlichkeit’ und ‘Unlauterkeit’ tritt zuweilen mit dem Gebrauch der Freiheit vom Menschen zu Tage. Und so ursprünglich die Freiheit dem Menschen ist, so inhärent ist ihm die Schuld daraus, und, indem diese Schuld durch den Gebrauch der Freiheit entsteht, ist sie auch zurechenbar. Denn wenn sie nicht zurechenbar wäre, wäre dies Ablehnung der Verantwortung für die beim Gebrauch der Freiheit unvermeidliche Endlichkeit des Menschen; dann wäre die Tugend eine glückliche Abwesenheit des trotz der Endlichkeit unverursachten Lasters im Resultat der freien Handlung. Dies ist nichts anderes als ‘eine gewisse Tücke des menschlichen 22 23 24 25 26 27 KrV, B839, B857-858. RH, S. 43-44. GMS, BA70-74, BA97-113. KpV, A141. HH, 61. FS, Anhang, S. 474-475. HH, 60-61. Busche, Hubertus: Das Leben der Lebendigen, HSB 31, S. 50-56. KrV, B842-856. 17 Herzens’. Die angeborene Schuld ist der ursprüngliche Grund für die Zurechenbarkeit der weiteren menschlichen Handlung. Deshalb kann der Mensch als der angeborene Schuldige nicht umhin, die Verantwortung für den Gebrauch der Freiheit auf sich zu nehmen. Wie beschaffen er moralisch ist, hängt allerdings völlig von seinem freien Willen ab. Aber er als Verantwortlicher für seine angeborene Schuld müsste freiwillig gut zu sein wollen, weil nur dieser Wille geeignet für die Vernunft des Menschen ist, die den freien Gebrauch ihrer selbst zur Voraussetzung hat und ihn wegen seiner Endlichkeit auch von Natur aus bösartig macht. Sogar den Willen zum Gutsein hat jeder Mensch andererseits in seiner ursprünglichen ‘Empfänglichkeit der Achtung fürs das moralische Gesetz’. Diese Empfänglichkeit wurzelt lediglich in der praktischen Vernunft; sie ist deshalb der natürliche Grund des vernünftigen Wesens und seiner Zurechnungsfähigkeit. Allein dennoch bringt nicht jeder wegen seiner natürlichen Endlichkeit solch eine Anlage realiter zustande. Aus diesem Grund kommt es nun auf die ‘Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage’ an, die auch die Bildung des gemeinen Menschen bedeutet. Dafür ist von großem Belang die Herstellung der Reinheit des moralischen Gesetzes, die ‘nicht von der Besserung des Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart, und von Gründung eines Charakters’ auf der Basis der reinen Vernunft ausgeht.28 Die Bildung zur reinen Vernunft ist eben die Reinigung des moralischen Gesetzes. Auf dem Weg der Bildung vergegenständlicht die Vernunft ihr natürliches Bedürfnis nach einem Endzweck aller moralischen Handlungen als ‘die Idee eines höchsten Guts’, die aber ‘aus der Moral’ hervorgeht, und ‘nicht die Grundlage derselben’ ist. D. h. diese Idee ist Ergebnis des natürlichen Bedürfnisses der dem Moralgesetz zugrunde liegenden Vernunft, alle moralischen Handlungen unter einen Zweck zu denken und zu vereinigen, und deshalb nicht die Grundlage des vernünftigen Moralgesetzes. Mit dieser Idee führt die Moral ‘unumgänglich zur Religion’. 29 Denn die Einheit der Sittlichkeit und der Glückseligkeit als der ganz verschiedenen Elemente des höchsten Guts30 kann zwar durch die reine praktische Vernunft als ‘ein synthetischer praktischer Satz a priori’ aufgestellt werden, aber realiter ist der Mensch nicht der vollständigen Einheit in dieser Welt fähig. Die Würdigkeit durch die moralische Handlung, glücklich zu sein, führt nicht immer zur Realisierung der Glücklichkeit durch den Menschen in dieser Welt. Deshalb muss für die Versicherung der Vollständigkeit der Moral ‘ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher’ angenommen werden. Dadurch gelangt die Moral notwendig zur 28 29 30 RGV, A13-58. RGV, AIII-IV. GMS, A90-96. KpV, A198-203. 18 Religion.31 Die Religion bzw. ‘der Begriff von der Gottheit’ entspringt also eigentlich nur aus dem Bewusstsein des Moralgesetzes und ‘dem Vernunftbedürfnisse’,32 eine den Effekt des sittlichen Endzwecks in einer Welt ermöglichende Macht anzunehmen. Diese Religion ist Vernunftreligion aufgrund des vernünftigen Moralgesetzes. In dieser Hinsicht beabsichtigt Kant in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, die Realisierbarkeit der Vernunftreligion durch die Betrachtung des historischen Volksglaubens zu beweisen, d. h. durch die Entlarvung, dass das geschichtliche System der durch die sinnliche Vorstellungsart des Volks ausgedrückten Offenbarung im Lichte der moralischen Begriffe auf das Vernunftsystem der Religion zurückgeführt wird. Die Offenbarung ist ihm zufolge religiöse Erkenntnis der Moralgesetze als Gebote Gottes. Sie hat also mannigfaltige historische Symbolgestalten nach der jeweiligen Vorstellungsart jedes Volks. Diese Symbolgestalten sind am meisten sinnlich ‘wegen des natürlichen Bedürfnisses aller Menschen, zu den höchsten Vernunftbegriffen und Gründen immer etwas Sinnlichhaltbares, irgend eine Erfahrungsbestätigung u. d. g. zu verlangen’. Der Volksglaube ist meistens der unmittelbare Glaube an diese Gestalten. Dagegen gibt es immer in der Geschichte ‘den aufgeklärteren Teil’ des Volks, der versucht, die symbolische oder buchstäbliche Bedeutung des Volksglaubens mystisch oder geistig auszulegen. Diese Auslegung besteht in der einfachen Verstehbarkeit der ‘Endabsicht’ der Verfasser der Symbole, ‘bessere Menschen zu machen’. Der Versuch selber erweist also schon die Tendenz zum Moralglauben der Vernunft im Volksglauben. Die Symbolgestalten sind ‘Hülfsmittel’, die reinen Lehren der Vernunft ‘öffentlich in Gang zu bringen’, und populäre ‘Hülle’, in der der Vernunftglaube33 verborgen ist. Daher, um den sinnlichen und empirischen Volksglauben auf die Grundlage des Moralglaubens zu stellen, wird die gründliche Auslegung der Offenbarung bis zu deren Zusammenstimmung mit dem Sinn der allgemeinen praktischen Regeln der reinen Vernunftreligion durchgeführt. Die religiöse Bedeutung der Auslegung wird der Beweis der konkreten Entwicklung der Vernunftreligion in der historischen Religion sein und die gegenwärtige Bedeutung die Aufklärung des Volksglaubens zum Vernunftglauben. Für Kant ist der ausgezeichnete Gegenstand der Auslegung eben das neue Testament des Christentums, das einzig und allein Moralreligion war.34 31 RGV, AIV-VIII. Das ‘Bedürfnis der Vernunft’ ist schon einmal in einer vorherigen Schrift vom Jahr 1786, Was heisst: Sich im Denken orientieren? als ein ‘subjektiver Grund’ erklärt, bei Selbsterweiterung ‘über alle Grenzen der Erfahrung’, ‘was sie durch objektiven Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf’, aber durch logische Selbstorientierung im Denken vorauszusetzen und anzunehmen. SDO, A309-318. 33 ‘Ein jeder Glaube, selbst der historische, muß zwar vernünftig sein,...allein ein Vernunftglaube ist der, welcher sich auf keine andere Data gründet, als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind’. SDO, A319. 34 RGV, A100-157. 32 19 Dieses Konzept Kants für die Ethikotheologie scheint mit dem Konzept des jungen Hegel für die Volksreligion übereinzustimmen, insbesondere darin, dass beide die Vernunftreligion enthalten. Außerdem ist das Verhältnis zwischen der objektiven und der subjektiven Religion bei Hegel anscheinend mit dem Kantischen Verhältnis zwischen der historischen offenbarten Religion und der vernünftigen Moralreligion zu vergleichen. Auch in dem Gesichtspunkt, dass die praktische Vernunft “Hervorbringung des höchsten Guts in der Welt,” d. i. “Moralität, und ihr angemessene Glückseligkeit” als den höchsten Zweck des Menschen aufstellt (FS 155) und dass sich “das reinste System der Moral” nach dem Prinzip der praktischen Vernunft an die christliche Religion anschließt (FS 150), ist Hegel Schüler Kants. Dennoch unterscheiden ihn seine eigentümlichen Ansätze in vieler Hinsicht erheblich von der Kantischen Philosophie. Erstens und vor allem verbirgt der Volksglauben Kants zwar den Vernunftglauben, allein der erstere ist nicht Subjekt des letzteren, sondern lediglich Gegenstand der ‘Volkslehrer’, die den Volksglauben einer ‘moralischen Lehre’ annähern.35 Die Bildung des Volksglaubens ist daher auf die vernünftigen Interpreten der Symbolgestalten völlig angewiesen. Auch Hegel richtet zwar seine Aufmerksamkeit auf die Verborgenheit der Vernunft in der Volksreligion, allein das Subjekt, sich die verborgene Vernunft anzueignen, soll nicht ein gelehrter Interpret, sondern eben das Volk selbst sein. Die subjektive Religion Hegels, in der das Volk die vernünftige und objektive Bedeutung der Symbole innerlich besitzt, ist deshalb verschieden von der vernünftigen Moralreligion Kants. Die Volksreligion ist die populäre Vorform zur Vernunftreligion und zugleich das Subjekt, sich die Ideen der Vernunft anzueignen. Denn zweitens hätte die kalte wissenschaftliche Systematisierung der Symbolgestalten durch die Kantischen Interpreten nur einen anderen “FetischGlauben” zur Folge (FS 100, 103). Wenn die systematisierte Auslegung, die zwar vernünftig sein kann, hingegen die Abhängigkeit von Zeichen und Buchstaben veranlasst, gehört sie für Hegel zur objektiven Religion. Diese Einseitigkeit Kants ist auf seine Ignorierung der Frage zurückzuführen, wie die moralischen Ideen der Vernunftreligion andererseits zur Ausbildung ‘von nichtmoralischen, geschichtlich vorgegebenen Inhalten’ kommen. 36 Die wahre Vernunftreligion ist Hegel zufolge lediglich in subjektiver Form möglich, in der die Ideen der Vernunft zum Zustand des Herzens werden. Dieser Zustand des Herzens ist daher kein Zustand der passiven Achtung für Ideen, sondern erinnert an den Aristotelischen Begriff, έξις bzw. Habitus. Nach der Nikomachischen Ethik besteht die Tugend (αρετη) weder im Leiden (παθος), was im allgemeinen Lust und Unlust 35 36 RGV, A151. HH, S. 61. 20 begleitende Gefühle bedeutet, noch im Vermögen (δυναµις), mancherlei Gefühle zu fühlen, sondern sie ist ‘ein Dauerzustand des Seienden’ oder seines Charakters in Bezug auf die umsichtige Wahl des Willens oder der Handlungen, nämlich der Zustand, der sich im richtigen Maß für uns erhält (έξις πραιρετικη εν µεσοτητι ουσα τη προς ήµας). Die Mitte (µεσοτης) als der Maßstab der Aristotelischen Moralität wird durch das vernünftige Prinzip (λογος) und die praktische Weisheit (το φρονιµον) bestimmt.37 Deshalb werden zum Erwerben der Hexis nicht nur die theoretische und praktische Vernunft, sondern auch die vernunftgemäße habituelle Betätigung bzw. Übung (αί ενεργειαι) beansprucht.38 Dieser subjektive Zustand, der durch die vernünftige Praxis erlangt und in der Mitte des sinnlichen Menschen mit seiner Gewöhnung und Gewohnheit (εθος) vereinigt wird, hat eine große Verwandtschaft mit dem Hegelschen Zustand des Herzens, in dem durch die Bildung der Volksreligion die vernünftigen Ideen der Moralreligion beständig verkörpert sind. Schließlich sind die Symbolgestalten bei Kant nur als Hilfsmittel der Volksbildung gültig. ‘Feierlichkeiten, Glaubensbekenntnisse geoffenbarter Gesetze, und Beobachtung der zur Form der Kirche (die doch selbst bloß Mittel ist) gehörigen Vorschriften’, ‘alle diese Observanzen’ sind ‘im Grunde moralischindifferente Handlungen’, und auch die ‘Schrift’, die die ‘unveränderliche Aufbehaltung’ des Kirchenglaubens einzig ermöglicht, lässt sich lediglich durch die reine Vernunft allgemeingültig auslegen. Der vernünftige Moralglaube muss nämlich vor dem Kirchenglauben vorhergehen.39 Hier aber übersieht Kant, dass eben die Symbolgestalten des Kirchenglaubens nicht nur Mittel für die Fasslichkeit und Bildung, sondern auch ferner für die Realisierung der moralischen Vernunftreligion sind.40 Dagegen sind solche Mittel der Volksbildung für Hegel zugleich Produkte der vorstufigen Vernunft des Volks. Die Vernünftigkeit dieser Produkte wird sich nach der Entwicklung der Bildung vergrößern. Es verdient Beachtung, dass die sinnlichen Ausdruckgestalten der Volksbildung auch Medien sind, in denen die Ideen der Vernunft objektiv realisiert werden. Von Kant wird keine Rücksicht auf das Moment dieser Verwirklichung der Vernunft genommen. Die Entelechie der vernünftigen Ideen ist auch Ausdruck der subjektiven Sinnlichkeit und Empfindung des Volks. Der Ausdruck kann zwar in Form von Gebräuchen oder Institutionen auftreten, in denen die objektive Realität der vernünftigen Ideen erkannt 37 Funke, G: Artikel Hexis (habitus) HWP3, S. 1120-1123. Die έξις gibt Gohlke mit ‘Haltung’, und Ross mit ‘a state of character’ wieder. Aristoteles: Nikomachische Ethik, Übers. Gohlke. Ethica Nicomachea, The Works of Aristotle, Bd. 9, Übers. Ross, David. 1105b-1107a. 38 Aristoteles: Ethica Nicomachea, 1114a-1115a. 39 RGV, A143-145, A161-162. 40 HH, S. 61. 21 wird. Wer durch dieses Erkennen den Genius des Volks erfasst, wird ein großer Mensch sein, der das Bildungsniveau des ganzen Volks diagnostizieren und aufklären kann. Daher, auch wenn die letzte Höhe der Sittlichkeit dem Volk selbst für unerreichbar gehalten wird, und auch wenn wegen des menschlichen “Hangs zur Sinnlichkeit” “ausser der reinen Achtung fürs Gesez noch andre sich auf seine Sinnlichkeit beziehende Triebfedern” als nötige Bildungsmittel angesehen werden, besagt dies dennoch weder eine Unterbrechung des Bestrebens des Volkes selbst nach dieser letzten Höhe, noch bildet es einen unmittelbaren Beweis der Unerreichbarkeit für das Volk. Denn in allen sinnlichen Ausdruckgestalten des Volks spiegelt sich auch die Wirkung der moralischen Triebfeder in jeder Zeit wider. Den unmittelbaren Ausdruck von lauterer Sinnlichkeit gibt es nicht beim Menschen, insofern er von Natur aus das Bedürfnis der Vernunft hat. Und “schon blosse Kultur”, dass in den Ausdrucksgestalten “nur die grobe Sinnlichkeit verfeinert” ist, ist auch selbst “ein Gewinnst” (FS 100). In Hegels Absicht liegt hier deutlich die Läuterung der Rohheit der Sinnlichkeit, die Verfeinerung derselben selbst, daher die Bildung zur vernünftigen Sinnlichkeit.41 Die Ideen der Vernunft müssen in der Sinnlichkeit und der Empfindung des Volks subjektiviert werden. Die Volksreligion ist die Vermittlung, wodurch die objektive Religion der Ideen zur subjektiven Religion des sinnlich realisierungsfähigen Volks wird. In den sinnlichen Gestalten, in denen sich das Volk zum Ausdruck bringt, ist schon eine reale Vollendung der Ideen enthalten. Das Volk verschafft den Ideen Wirklichkeit durch seine sinnlichen Medien. Demgemäß muss sich die Volksreligion für die Volksbildung um sowohl subjektive als auch objektive Bedingungen selbst bemühen. Das Volk hat für die Bestimmung des Willens und der Handlung subjektive Vermögen wie Erkennen, Denken u. a. und als Resultat der Handlung objektive Gestalten wie Dogmen, Gebräuche, Institutionen u. a. Die Volksreligion, um auf das Volk im Ganzen zu wirken, muss demnach zweifach eingerichtet werden. Zunächst, weil das Volk eine historische und soziale Einheit aus Einzelnen ist, muss die Volksreligion auch die Bildung der Einzelnen einschließen. D. h. ihre subjektive Bedingung ist vor allem, die Religion der gebildeten Einzelnen zu werden. Die Subjektivierung der vernünftigen Ideen durch die Volksreligion wird durch die Erziehung der einzelnen Volksmitglieder vollzogen. Die Aufgabe, jedes Mitglied zur Religion zu leiten und die Ideen erlernen zu 41 Hegels ‘Schwanken in der Bewertung der Sinnlichkeit’, worauf Busche hinweist, kann in dieser Hinsicht neu bewertet werden. Busche, Hubertus: Das Leben der Lebendigen, HSB 31, S. 48. Im Kantischen Ausgangspunkt Hegels ist die Sinnlichkeit für die moralische Handlung zwar auch völlig ungültig, aber des Weiteren müssen die die Moralität bestimmenden Ideen der Vernunft auch der Sinnlichkeit immanent sein, weil sie nur dadurch erst endgültig realisiert sein können. De facto verraten schon die Ausdrucksgestalten des Volks die Anwesenheit der Vernunft in seiner Sinnlichkeit. Dies ist Hegelsche Aristotelisierung des Kantischen Platonismus, der das Jenseits der Sinnlichkeit vorzieht. 22 lassen, schreibt Hegel aber der “privatReligion” zu. Diese dritte wahre Religion steht aber im Verhältnis zur Volksreligion, nicht wie die subjektive zur objektiven Religion.42 Wenn die subjektive Religion ein Habitus ist, in dem die Ideen der objektiven Religion in Verbindung mit der Neigung des Individuums stehen, und die Volksreligion die Rolle der pädagogischen Vermittlung zwischen beiden spielt, ist die Privatreligion eine Art Volksreligion im Horizont des Individuums, ihre individualisierte Gestalt in jedem Mitglied. Zu ihrer Aufgabe gehören daher “die Ausbildung des einzelnen seinem Charakter gemäs, die Belehrung über Collisionsfälle der Pflichten, die besondern Beföderungsmittel der Tugend, Trost und Aufrichtung in einzelen Leiden und Unglücksfällen” u. s. f. (FS 102). Um auf diese Weise “die Moralität einzeler Menschen zu bilden” (FS 111) wäre de facto “die langsame PrivatBildung” (FS 77), die langsame, geduldige, unverdrossene Anstrengung von Eltern und sich selbst, und dafür geeignete Umstände erfordert (FS 111). Hegels Nachdruck auf ihre Rolle im volksinnerlichen Bereich hat zum Vorbild die Belehrung, die große Menschen als “Lehrer und Meister” anboten. Als musterhafte Lehrer werden von ihm nach dem typischen Vergleich der damaligen Spätaufklärung oft Sokrates und Christus erwähnt. Sokrates als Bürger der Republik, als ein Mann, als ein Vater, “ging darauf aus – die Menschen zu belehren, über das was ihr höchstes Interesse erweken soll – aufzuklären” (FS 118). Er unternahm den Versuch, Begriffe aus der Seele jedes zufällig angetroffenen Menschen durch “eine gewöhnliche Conversation” gemäß seinem Charakter zu entwickeln (FS 115), aber er errichtete keine Schule oder Zunft außer der Rolle der “Hebamme” (FS 119). Sogar vor dem Tode hinterließ er “keine maurerische Zeichen, keinen Befehl – seinen Namen zu verkündigen” (FS 120), sondern er belebte die Hoffnung auf “die Unsterblichkeit der Seele” “bis zu dem Punkte – als der menschliche Geist, seinen sterblichen Gefährten vergessend, sich herausheben kan” (FS 119). Er zeigte schlechthin auf, dass “das αγαθον” “mit uns gebohren” ohne Umweg ist, “zur Fertigkeit im Guten die Menschen zu bringen”, d. i. “etwas, das nicht eingepredigt [werden kann]” (FS 120). Sein Dämon ist seine individuelle Gestalt der griechischen Volksreligion in seinem Leben, durch das er Ideen ihres allgemeinen Guts in concreto vorführte. Was er zeigte, ist weder theoretisches System noch Befehl der allgemeinen Ideen der Vernunft, sondern gerade ihre Entelechie im konkreten Leben. Demnach etablierte jeder seiner Schüler nicht einmal als Haupt oder Mitglied einer Schule eine seine Belehrung verbreitende, isolierte 42 HH, 61. Dies Missverständnis taucht z. B. in der Interpretation Menzes sichtbar auf. Er identifiziert die subjektive Religion falsch mit der Privatreligion, ferner die Volksreligion nur mit einer neuen (!) sinnlichen Religion, die in keiner oder nur negativer Beziehung auf das positiv gewordene Christentum steht. Menze, Clemens: Das Ideal der Volksbildung beim jungen Hegel in: Der Weg zum System, S. 225, 231. 23 Gruppe, sondern vielmehr war er “Meister für sich” “in einem eigenen Fach”, bzw. Held “im Handeln und Leben” (FS 119). Hegel bringt schon 1788 vor dem Eintritt ins Tübinger Stift eine ähnliche Meinung Über einige charakteristische Unterschiede der alten Dichter zur Sprache, dass jeder “eine eigene Form seines Geistes und ein eigenes Gedankensystem” hatte und also “Original” war (FS 47). In der Konzeption der Volksreligion sieht er nun des Weiteren, dass die private Bildung von Sokrates wie die Privatreligion es ermöglicht, Original im eigenen Leben jedes Individuums zu sein. Diese Lehrweise gilt auch bei Christus. Die Belehrung Christi, von Matthäus 19, 21 geschildert, die Hegel des Öfteren zitiert (FS 121, 129), wenn ein Jüngling vollkommen sein wolle, solle er seine Güter verkaufen und an die Armen verteilen, belegt gut, “wie sehr Christus bei seinem Unterricht nur die Bildung und Vollkommenheit des einzelen Menschen vor Augen hatte und wie wenig es sich auf eine Gesellschaft im Grossen ausdehnen läst” (FS 121-122). Seine Belehrung passte “eigentlich nur für die Bildung einzeler Menschen”, sein Christentum war “ursprünglich eine PrivatReligion” (FS 139). Aber wegen der jüdischen Situation seiner Zeit konnte er nicht wie Sokrates als ein Mitglied der sittlichen Gemeinschaft unmittelbar lehren, sondern musste selbst eine familiäre Einheit der Zöglinge aufbauen. Er lebte eben zur Zeit der objektiven Religion, die sich schon daran gewöhnte, “von ihren Voreltern her, durch ihre NationalDichter auf eine rauhere Art haranguirt zu werden,” an Buchstaben und Predigten der “Schriftgelehrten und Pharisäer” zu glauben (FS 115). Also hatte er eine vom damals objektiv-religiösen Umstand isolierte, privatreligiöse Gruppe nötig, um die subjektive Religion durch sein Leben zu belehren. Was er jedoch in privater Beziehung zu den Aposteln zeigen wollte, ist wie bei Sokrates, nicht sowohl Befehle und System des Glaubens daran, 43 als vielmehr “ein wahres übermenschliches Ideal, das der menschlichen Seele, soweit sie sich davon entfernt denken mus, doch nicht fremde ist”, “kein kaltes Abstraktum” des Ideals, sondern “seine Individualisierung, daß wir es sprechen hören, es handeln und wandeln sehen”. Dadurch wird das göttliche Ideal “schon unserm Geiste verwandt”, “für unsre Empfindung noch näher” gebracht. Christus ist nun “also für den Gläubigen nicht mehr ein tugendhafter Mensch”, sondern die Erscheinung der Tugend selbst (FS 149). Diese Belehrung durch ein eigenes Leben scheint Hegel in der Neuzeit lediglich durch die eigene Anstrengung oder durch Eltern und die pädagogischen Umstände möglich zu sein. Diese Mittel sind allerdings kleinste gesellschaftliche Elemente, in denen die Ideen der Vernunft im privaten Lebensbereich 43 Aber das Missverständnis der Apostel, die Belehrung Christi auf die Befehle und den Glauben daran zurückzuführen, wird die Ursache der später zu betrachtenden Positivität des Christentums. FS, S. 118, 128. 24 des Individuums unmittelbar lebendig da sind. Erst hier wird jedes Volksmitglied Subjekt der subjektiven Religion. Wenn dieser Bereich unterdrückt würde, würde die Volksreligion nur zum Herrschaftsmittel der objektiven Religion. Während z. B. die Reformatoren inklusive Luther44 “eine KirchenGewalt als Stüze der GewissensFreiheit zum Gegengewicht gegen Fürstengewalt” aufstellten, “den Geistlichen die Macht durch Gewalt und über Beutel zu herrschen” benahmen, unterschieden sie doch nicht “zwischen den nötigen Einrichtungen bei einer herrschenden Volksreligion” und dem privaten Gebiet “einer partiellen Gesellschaft eines Klubbs” und wurden also dazu verführt, die Macht “noch über die Meinungen” des Einzelnen stellen zu wollen (FS 131). Die Emphase Hegels ist vielmehr also auf die Wichtigkeit der Privatreligion als Moment der Bildung gelegt, durch die die Ideen der Aufklärung zur Freiwilligkeit in jedem Individuum gemacht werden. Das Volk hat auch als Resultat der einzelnen Handlungen objektive Ausdrucksgestalten. Diese sind sowohl objektive Medien als auch Produkte, in denen die aufgeklärten Ideen durch die subjektiven Handlungen des Volks institutionell zugleich realisiert werden und sind. Die Volksreligion kommt bei der einfachen Subjektivierung der objektiven Religion nicht zur Vollkommenheit, sondern erst, wenn deren vernünftige Ideen im Leben des Volks ausgedrückt und verwirklicht werden. Diese Vollkommenheit wäre nichts anderes als ein Beweis der wirklichen Wahrheit der Ideen selbst in jeder Zeit. Daher muss die Volksreligion zu ihrer objektiven Bedingung im Volksleben auch objektive Lehren und Zeremonien haben. In Bezug auf jene Lehren spricht Hegel von vier notwendigen Eigenschaften. Zuerst müssen sie notwendig “so beschaffen seyn, daß sie eigentlich durch die allgemeine Vernunft der Menschen autorisirt sind”, damit jeder Mensch seine Verpflichtung aus Vernunft einsehen und fühlen kann, wenn er darauf aufmerksam wird (FS 103). Denn wenn ihre Autorität auch zwar vom religiösen Standpunkt aus auf die göttliche Offenbarung angewiesen, aber nicht durch die Vernunft des Menschen verstanden wäre, würden sie dennoch nur als Gegenstände der objektiven Religion oder des Fetischglaubens bleiben. Die Spontaneität gegenüber dem, was vernünftig noch nicht verstanden ist, kann lediglich Anlass zum Aberglauben und Missbrauch sein und “niemals im Gemüth die Wichtigkeit eines reinen ächten auf Moralität unmittelbar sich beziehenden praktischen Moments erlangen”. Der Volksreligion muss die Vernunftreligion der Moralität zu Grunde liegen. Darüber hinaus, wenn die objektiven Lehren zugleich durch die Vernunft aller verstehbar sein sollen, 44 Über die Berufung Hegels auf Luther als eine protestantische ‘Kampfparole’ schlechthin um die Freiheit des Glaubens und Gewissens, nicht um die ‘Rückkehr zur Reinheit des Ursprungs’, Losurdo, Domenico: Hegel und das Deutsche Erbe, S. 106-111. 25 müssen sie vor allem “einfach” sein. Aufgrund dieser Einfachheit werden sie gut nachvollziehbar und “um so mehr Kraft und Nachdruk auf das Gemüth, auf die Bestimmung des Willens zu Handlungen ausüben”. Außerdem müssen sie zugleich auch “so menschlich” sein, “daß sie der GeistesCultur – und der Stufe von Moralität angemessen sind auf der ein Volk steht” (FS 104). Mit anderen Worten, um nicht im Besitz der nur wenigen Menschen von großer Erfahrung und Kenntnis zu sein, müssen sie hinlängliche Volkstümlichkeit und Verwandtschaft haben, die je nach dem Bildungsniveau des Volks schätzbar ist. Außerdem, obwohl sie auf der allgemeinen Vernunft basieren, müssen sie auch für “Phantasie, Herz und Sinnlichkeit” sorgen (FS 103). Diese neigen ohne Regelung der Vernunft dazu, “abentheuerliche Ausschweifungen” zu wagen. Zur Vorbeugung dagegen und um ihnen “einen schönen Weg” nach den vernünftigen Ideen zu zeigen, ist es vielmehr wohl gut, “mit der Religion selbst Mythen zu verbinden” (FS 107). Dadurch könnten auch die Ideen mit schönen Farben der Sinnlichkeit des Volks bemalt werden. Auch die Zeremonien müssen Hegel zufolge drei notwendige Eigenschaften haben. Sie dürfen in erster Linie “so wenig als möglich Veranlassung zum FetischDienste” sein, müssen zweitens “die Andacht, die heilige Empfindungen zu erhöhen”, anzielen (FS 109) und ferner “um alle Geschäfte des Lebens freundlich weilen” (FS 110). D. h. wo “der Geist verfliegt”, dürfen sie kein Wesen der Volksreligion, sondern müssen Erhebungsmittel der Empfindung auf die Ideen der Vernunft sein. Für die Andacht als “ein solches reines Mittel” werden z. B. “die heilige Musik und der Gesang eines ganzen Volkes” empfohlen (FS 109). Die Volksreligion darf nicht um der Zeremonien willen “alle Bedürfnisse des Lebens” bzw. “die öffentliche SaatsHandlungen” (FS 103) vernachlässigen, sondern muss “die Anführerin, die Ermuntererin” des Lebens sein (FS 110). Dadurch werden die Ideen im Volk verinnerlicht und in dessen Leben ausgedrückt. Wenn sie durch die Privatreligion zum Ausdruck des originellen Lebens des Individuums kommen, werden sie durch die Volksreligion als das traditionelle Leben des Volks45 ausgedrückt. Nur durch dieses Konzept des jungen Hegel für die Volksreligion kann sein Sittlichkeitsbegriff beurteilt werden. Mindestens bis zum Jahre 1794 wird die Sittlichkeit vom Kantischen Standpunkt der Aufklärung aus von ihm als “der höchste 45 Der junge Hegel stellt auch eine Diagnose, dass für die Aufklärung des damals rückständigen Deutschland eine noch “eigentümliche vaterländische Tradition” fehle (FS 80). Daher bietet sich die Einwurzelung der aufklärerischen Ideen in der Tradition an. Die Volksreligion enthält auch diese Rücksichtnahme, die sich später an die Kritik des Berliner Hegel an den in der Tradition falsch verwurzelten Liberalismus der Restauration anschließt. Losurdo, Domenico: Hegel und das Deutsche Erbe, S. 99-106. 26 Zwek” der menschlichen Vernunft aufgestellt, die die praktische und gehaltreiche Realisierung der Ideen garantiert. Daher ist sein Sittlichkeitsbegriff synonym mit dem neuzeitlichen Begriff der Moralität bis Kant. Als Kantischer Schüler erblickt er “eine der vorzüglichsten” Anlagen des Menschen zur Moralitätsbeförderung in der “Anlage zur Religion” (FS 139). Umgekehrt gesagt, wird die Religion auch bei ihm in Hinsicht der Moralitätsbeförderung auf die Tugendlehre beschränkt. Die “Wirkung der Religion ist Verstärkung der Triebfedern der Sittlichkeit durch die Idee von Gott als moralischen Gesetzgebers – und Befriedigung der Aufgaben unserer praktischen Vernunft in Ansehung des von ihr uns gesezten Endzweks, des höchsten Guts” (FS 153-154). Aber “die Erkenntnis Gottes kan ihrer Natur nach nicht todt”, nicht getrennt von den Verhältnissen des Lebens sein, sondern entspringt aus dem praktischen Bedürfnis des Menschenlebens (FS 139). Wenn der Anfang der Erkenntnis Gottes das Menschenleben ist, ist auch der Topos der Realisierung der Idee Gottes das Menschenleben. Als moderner Aristoteliker beabsichtigt Hegel also die “Hervorbringung des höchsten Guts” “in der Welt” (FS 155). Die Sittlichkeit ist der menschliche Name der göttlichen Ideen der Vernunft. Sie ist ein Maßstab der Wahrheit der Ideen, die im Volksleben ausgedrückt, verwirklicht, dann erst bewiesen werden. Wenngleich sie vom jungen Hegel noch nicht von der Moralität auf der Basis der jenseits der Lebensverhältnisse objektiv aufgestellten Ideen unterschieden werden und in diesem Sinne noch ein subjektiver Begriff der Neuzeit bleiben, erlangt diese deontologisierte Sittlichkeit aber durch die Konzeption der Volksreligion wiederum den ontologischen Zusammenhang mit dem Leben. D. h. sie stellt unter dem Aspekt der Realisierung der objektiven Ideen im Leben durch die subjektive Sinnlichkeit und Handlung des Volks die Aristotelische institutionelle Implikation wieder her. Das “natürliche Bedürfnis der Menschen” zur Sittlichkeit kann “durch besondre Anstalten” des Volkes befriedigt werden (FS 154), worin sie “besonders etwas selbsterfahrnes, etwas selbstgeübtes” vom Volk ist (FS 149). 2. Leben als Vereinigung durch Liebe 2.1. Kritik an Positivität Während Hegels Interesse bis zur frühen Berner Zeit unter dem Einfluss der Aufklärung und der französischen Revolution meistens auf die Konzeption der Volksreligion als einer neuen Religionsgestalt gerichtet ist, ist seine Arbeit in der späteren Berner bis zur Frankfurter Zeit durch die Eignungsverifikation des Christentums zur Volksreligion 27 motiviert.46 Schon der Verfall der Aufklärung zum Fetischglauben wurde von ihm als durch die religiöse Objektivierung der nur subjektiv lebendigen Ideen und Lehren entstanden kritisiert. Die Modalität der Gewalt, die die Objektivierung im gesellschaftlichen politischen Bereich verursacht, wird nun auch durch die Schreckensherrschaft von Robespierre im Verlauf der französischen Revolution erlebt. Der Brief vom Weihnachtsabend 1794 an Schelling enthält Hegels erste, aber kritische Erwähnung über die Revolution als “die ganze Schändlichkeit der Robespierroten” (Br 12). Diese kritische Distanz gegenüber der Revolution deutet zugleich auf seine Verzweiflung über die Politik aufgrund der verabsolutierten subjektiven Ideen und sein fortwährendes Mitgefühl mit den revolutionären Ideen hin. 47 Sie spiegelt sich konsequent auch in seiner philosophischen Forschung wider, in der der Berner Hegel beginnt Schwindel zu fühlen bei der “höchsten Höhe” des Kantischen, des Weiteren, Fichteschen Systems, von dem er “eine Revolution in Deutschland” erwartet (Br 23-24). Der Schlüsselbegriff gegenüber einer solchen Problemlage ist die Privatreligion, die es in Hegels religiöser Konzeption zur Aufgabe hat, “die Moralität einzeler Menschen zu bilden” (FS 111). Wenn die Volksreligion den Geist eines Volks bildet, bildet und vermittelt die Privatreligion den Einzelnen als Volksmitglied zum Geist seines Volks. Ohne diese Bildung und Vermittlung wäre das Volk nicht frei von der Gefahr, die subjektiven Ideen zu verabsolutieren und durch den Terror durchzusetzen. Dahingehend stellt Hegel mehrere Vergleiche über ihre geschichtlichen Erscheinungen an, z. B. zwischen Sokrates und Jesus, der griechischen und der christlichen Religion. Ihm zufolge war die christliche Religion “ursprünglich eine PrivatReligion” (FS 139). Diese Einsicht erfordert zweierlei Betrachtungsweisen, eine positive darüber, was Jesus in der Anfangsphase der Privatreligion zur Bildung der einzelnen Menschen beitrug, und eine kritische über die Möglichkeit ihrer Erweiterung zur Volksreligion. Beide Betrachtungen bilden Themen des Leben Jesu (1795) und insbesondere die letztere kristallisiert sich als Positivitätskritik. Hegel betrachtet die Religion hier einerseits noch weiterhin lediglich ‘als Triebfeder der Moralität’ nach der Kritik der reinen Vernunft, und die Frage der Eignung des Christentums zur Volksreligion wird andererseits durch die Betrachtung über die spezifische Situation der Religion Jesu negativ entschieden.48 Sokrates lehrte, wie erwähnt, als ein Mitglied seines Volks “seine Weisheit im Getümmel des thätigen Lebens” (FS 148) und blieb immer “nur Lehrer und Meister”, indem er sich “durch sein Beispiel der Rechtschaffenheit und durch vorzügliche 46 47 48 RH, S. 43. HH, S. 10. HStaata, S. 19. RH, S. 46-47. 28 Vernunft” “für jeden” auszeichnete. Er bestritt “die Mythologie seines Volks nicht direkt”, sondern wollte nur ein vernünftiges Muster seines Volkes sein, und nur insofern war er Lehrer seines Volks (FS 198.) Seine Lehren “als Mann, als Vater”, als Bürger waren selbst akzeptierbar in konkreten Lebensformen des Volkes (FS 118). Also brauchte er keine Schule oder Gruppe von Anhängern zu gründen. Er galt lediglich als vortreffliches Beispiel dafür, wie sich allgemeine Vernunftideen in einem einzelnen Leben verkörpern. Hingegen bezeichnend für das Leben Jesu ist die Isolierung von seinem Volk, das nur abhängig von der objektiven Religion und deren positiven Inhalten sein Leben führte. Im Gegensatz zu seinem Volk hatte er Zöglinge nötig, die seine allgemeinen Lehren durch ihre einzelnen Leben zur Wirklichkeit machen sollten. Seine Organisierung der ausschließlichen Gruppe von Apostel, “denen er seinen Geist rein einhauchen könnte”, erwies sich aber als Grenze des Christentums als Privatreligion, über die seine Belehrung nicht hinausgehen konnte (FS 225). Er nahm sogar mit seinem “Prinzip der Tugend” unmittelbar eine angreifende Haltung gegen “die Moralitätzerstörenden Sazungen der Juden” ein (FS 198). Er belehrte zwar, wie Sokrates, jeden einzelnen Menschen, aber doch nicht als ein Volksmitglied. D. h. seine Belehrung konnte sich nicht über seine bestimmte Gruppe hinaus bis zum ganzen Volk ausweiten. Mit anderen Worten lehrte er zwar, wie Sokrates, allgemeine Ideen, konnte aber nicht ein musterhaftes Beispiel für sein Volk sein. Dementsprechend beschränkt sich die Allgemeinheit seiner Lehren auf die Einzelheit seiner Jünger, die seine Lehren willkürlich zu verstehen pflegten. Wenn er ihnen befahl, in alle Welt hinzugehen und alle zu taufen, hielten sie “diese Taufe – ein aüsseres Zeichen, für allgemein nothwendig”, und wenn er sagte, “wer da glaubet”, verstanden sie darunter “wer an mich glaubt” (FS 118). Seine allgemeine Belehrung konnte weder “als Grundsaz nur einer kleinen Gemeinde, eines geringes Dorfs” bestehen, noch sich “auf ein Volk” ausdehnen, dem er sich unmittelbar entgegensetzte. Denn seine Lehren eigneten sich “eigentlich nur für die Bildung einzeler Menschen” (FS 129). Aber wenn “fälschlich was nur für eine kleine Familie angeht – auf die bürgerliche Gesellschaft ausgedehnt” wird, führt dies zur Perversion (FS 131). Der Keim dieser Perversion liegt ‘bereits in der Urgeschichte der christlichen Religion’.49 Denn Jesus “direkte Angriffe stossen eine positive Religion um, und führen eo ipso wieder [in] eine positive” (FS 198). Diese Bilanz ist aus der von Rosenkranz betitelten Schrift, Das Leben Jesu, deutlich zu ziehen. Das Leben Jesu zieht die christliche Religion vor ihrem Verfall als “das reinste System der Moral” in Betracht. Hegels Absicht zielt darauf, die frühe christliche Religion als die Moralreligion der reinen Vernunft zu beweisen. Er liefert den Beweis dadurch, 49 HH, S. 64. 29 indem er innerhalb der Grenzen der Kantischen Vernunft aufzeigt, “daß der ganze Geist der Moral Christi mit der erhabensten Moral in Übereinstimmung gebracht werden kann, daß der unbedingteste Gehorsam gegen das Gesez darin eingeschärft wird” (FS 150). Der Erfolg des Beweises sollte die christliche Religion zur Privatreligion qualifizieren und damit die gegenwärtige Realisierung der Kantischen Philosophie durch die Privatreligion garantieren. Insofern dieser Versuch bei der religiösen Konzeption gründlich und endgültig unternommen wird, zeigt Hegel sich ein für allemal hierbei als strenger Kantianer. Trotzdem beachtet er auch die Differenz zwischen Jesus und Kant. Wie Sokrates die Mythologie und Legende seines Volks nicht unmittelbar negierte, so nahm Kant auch keine Rücksicht auf damalige “Bestreitungen der Dogmatik” “durch argumenta ad hominem”, sondern stellte lediglich sein “Prinzip der Tugend” auf, während Jesus mit dem gleichen Prinzip im Gegensatz zu seinem Volk stand (FS 198). Ob diese Strategie Jesu für die Privatreligion zu rechtfertigen ist, ist nun mit dem Kantischen Standpunkt der Moralität zu prüfen. Aus diesem Grund tritt Jesus hier nicht mehr als Protagonist der religiösen Mythologie auf, der übernatürliche Wunder tut, sondern ganz und gar als Lehrer der Moral, der im Gegensatz zum Volk “das ewige Gesez der Sittlichkeit” lehrt (FS 210). Dadurch tritt die Phantasie oder Empfindung des Volkes, die in der vorherigen Konzeption eine wichtige Rolle spielt, in den Hintergrund zurück, stattdessen hebt sich “der Dienst Gottes und der Vernunft” ab (FS 219). “Die reine aller Schranken unfähige Vernunft ist die Gottheit selbst”, die allein zum Gegenstand der Verehrung werden kann (FS 207). Dies Verständnis der Gottheit lässt zum einen Hegel mit der begrenzten Anführung der drei Evangelien von Johannes, Matthäus und Lukas ‘im Rahmen eines aufgeklärten Deismus’50 verbleiben, führt ihn aber zum anderen mit der Kantischen Sittlichkeit zum negativen, aber gewichtigen Ergebnis. Das Leben Jesu unterscheidet sich ihm zufolge in zwei Perioden, in die des “Nachdenkens in der Einsamkeit” und in die des Lehrens in der Öffentlichkeit. Das Hauptthema jenes Nachdenkens war bezüglich der Möglichkeit, “durch Studium der Natur und vielleicht durch Verbindung mit höhern Geistern” “unedlere Stoffe in edlere, für den Menschen unmittelbar brauchbare zu verwandeln” und führte zum Resultat der Überwindung des Wundergedankens “durch die Betrachtung der Schranken, die die Natur dem Menschen in seiner Macht über sie gesezt hat”. Damit bestehe die “Würde des Menschen” nicht im von oben gegebenen übermenschlichen Vermögen, sondern im Streben, innerhalb der von der Natur gestellten Schranken seine “über die Natur 50 HH, S. 66. Hegel ist sich auch seiner Schranken voll bewusst, als er am 30. August 1795 an Schelling schreibt, “auch im kirchenhistorischen Fache, wo ich sehr schwach bin”. Br, S. 33. 30 erhabene Kraft” zu erlangen. Die Selbstbildung Jesu vollendet sich so endlich mit der Überlegung des Menschenwesens. Demnach sieht Jesus “die wahre Bestimmung seines Lebens” darin, die erhabene Kraft der menschlichen Natur auszubilden und zu entwickeln (FS 209). In diesem Hinblick tritt er für den Berner Hegel als ein sein wahres Wesen verwirklichender Mensch zum Vorschein. Nach dem bereits in der Tübinger Zeit erhaltenen Verständnis ist der Mensch von Natur aus “ein aus Sinnlichkeit und Vernunft zusammengeseztes Wesen” (FS 78). “Seine Natur ist nicht blos auf Triebe nach Vergnügen eingeschränkt – es ist auch Geist in ihm, auch ein Funken des göttlichen Wesens”. Nämlich die erhabene Kraft des Menschen in seiner Natur ist eben der Geist als “das Erbtheil aller vernünftigen Wesen”, und mit Achtung auf “das innere Zeugnis” dieses Geistes “die Triebe der Natur” nicht zu verdammen, sondern zu leiten und zu veredeln, ist die “hohe Bestimmung” des Menschen (FS 212). Die Bildung bzw. Leitung der Sinnlichkeit durch die Vernunft besagt nichts anderes als die Sittlichkeit. Die Vernunft ist eben “ein wahres übermenschliches” Wesen, mit dem die Gottheit den Menschen begabte (FS 149), und nur “an die Vernunft zu glauben”, ohne irgendeiner Autorität zu folgen, ist der wahre Geist der Religion (FS 211). Auf diesem Geist, “in dem allein Vernunft und ihre Blüthe, das Sittengesez herrscht”, muss sich “die ächte Verehrung Gottes” gründen (FS 213). Gemäß diesem Geist lehrte Jesus als die mögliche Gültigkeit einer Handlungsmaxime zum allgemeinen Gesetz “das Grundgesez der Sittlichkeit” (FS 221), und als das Vermögen der Sittlichkeit, als den “höchsten Maasstaab, des Wissens und des Glaubens” die allgemeine Vernunft (FS 223). Die Sittlichkeit, die “nicht an eine besondere Nation, oder positive Einrichtungen gebunden ist”, sondern sich lediglich auf die Vernunft stützt (FS 210), ist “der einzige Maasstab der Wohlgefälligkeit Gottes” (FS 222). Als Tugenden nach diesem Maßstab lassen sich aufzählen: die Achtung des Menschen für sich, die Achtung für “die Menschheit” aller, einschließlich seiner Feinde aus “Liebe und Versöhnlichkeit”, Bruder- und Nächstenliebe, “Selbstständigkeit” und die “Freiheit eigenes Willens”, der allein der eigenen Vernunft folgen will u. a. (FS 217, 219, 265, 267). Aber Jesus, der als vernünftiger Mensch göttlich sein kann, zeigt seine Schranken darin, “daß das Leben und die Kraft Eines Menschen nicht hinreiche, eine ganze Nation zur Moralität zu bilden” (FS 225). Also wählte er zwölf Apostel, die seinen Geist in sich aufnehmen konnten, und befahl ihnen, seine Lehren zu verbreiten. Dadurch tritt die Religion der allgemeinen Vernunft ins Gehege der Privatreligion zwischen dem Lehrer und den Zöglingen, ferner in die Entgegensetzung des Aufklärers gegen die Ungebildeten ein. Jesus Lehren bringen so mit sich “Uneinigkeit und Streit” “zwischen Laster und Tugend, und zwischen Anhänglichkeit an hergebrachten Meinungen und 31 Gebräuchen des Glaubens, die durch irgend eine Autorität in den Köpfen und Herzen der Menschen gegründet worden sind, - zwischen der Rükkehr zum wiederauflebenden Dienste der in ihre Rechte eingesezten Vernunft”. Durch den Streit werden Freunde und Familien entzweit und in bessere und schlechtere Teile der Menschheit geteilt. Diese Selbstunterscheidung Jesu in der Isolation vom Volk läuft zuletzt auf die “Verfolgung” durch diejenigen hinaus, die noch an den Glauben der Autorität gebunden sind. Aber er als Morallehrer der reinen Vernunft brachte sich schon die Verfolgung als sein “Schiksal” zum Bewusstsein (FS 243). In “einer aüssern Form eines Staates, in einer Gesellschaft, unter den öffentlichen Gesezen einer Kirche”, wo sie das Reich Gottes zu sehen hoffen, fielen Jesus nur ungeistige Bilder des Todes auf (FS 250-251). Sein ganzes Leben ist gerade “der tägliche Umgang mit den Bildern des Todtes”, “eine meditatio mortis” (FS 136), um “die verlohrne Achtung gegen die weggeworfne Menschheit wiederherzustellen” (FS 268). Wenn der Glaube des Einzelnen auf Institutionelles, Gebräuchliches, Äußeres, also Totes angewiesen ist, hat die Aufklärung Jesu die Konfrontation mit dem Toten zur Bedingung. Doch sein Streben als eines Menschen muß notwendig scheitern; dieses Scheitern ist aber zugleich auch notwendige Bedingung für die Rechtfertigung seiner Belehrung. Denn “der heilige Geist der Tugend” muss nicht bezeugen, dass er “in der Hülle dieses Körpers” seine Bestimmung vollendet hat, sondern sein äußeres Leben verlassen, damit “eine höhere Laufbahn in bessern Welten” zeigen kann, “wo der Geist schrankenloser sich zum Urquell alles Guten emporschwingt, und in seine Heimath, in das Reich der Unendlichkeit, eintritt” (FS 258, 266). Der Tod Jesu ist bereits im Gegensatz zum Toten in der Bedingung seiner Belehrung impliziert, und im Hintergrund des Gegensatzes steht de facto der Kantische Grundgegensatz zwischen der reinen und der unreinen Moralität, Autonomie und Heteronomie, Vernunft und Sinnlichkeit. Sein Gegensatz und seine Isolation ermöglichen lediglich die Privatreligion und treiben ihn am Ende über die Grenze der Vernunft hinaus mit “Ja” zu antworten auf die Frage des Oberpriesters, ob er “ein Sohn der Gottheit” ist (FS 271). Die Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit ist nicht mehr menschlich. Seine Antwort mit der isolierten Vernunft auf die sinnliche Frage wird seinen Tod als Mensch veranlassen. Jesu Entgegensetzung gegen das Tote führt nunmehr nicht zur Harmonie, sondern vielmehr zur Trennung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit. Damit hebt er sich nicht so sehr als Lehrer der reinen Moral, sondern vielmehr als Lehrer der Moralreligion hervor. Er kommt zu lehren nicht mehr die vernunftgemäße Moralität einer Religion, sondern die sich immer mehr zur Religion machenden und auf religiöse Dogmen fixierende Moralität, d. i. eine Religion der Moralität. Er selber muss für den moralischen Sieg, 32 paradoxerweise auch notwendig, immer eine solche Rolle eines Lehrers der Moralreligion spielen und den “Glauben an seine Person fodern, dessen seine VernunftReligion nur bedurfte, um sich dem positiven entgegenzusezen” (FS 290). Dies ist das Resultat vom nach dem Kantischen Prinzip verstandenen Leben Jesu. Als der Glaube an die Person Jesu zum Kern der Moralreligion und seine Autorität zum religiösen “Princip der Verbindlichkeit zur Moralität” wurde (FS 291), geriet die christliche Religion von selbst auf die Bahn der positiven Religion. Direkte Angriffe gegen eine positive Religion lassen sich nur in positiver Weise vornehmen und wie bereits erwähnt, “führen eo ipso wieder [in] eine positive” (FS 198). Die Ursache für diese Verderbnis der christlichen zur positiven Religion wird des Weiteren in den drei Fragmenten gründlich analysiert, die etwas nach dem Leben Jesu von Hegel abgefasst, späterhin von H. Nohl mit der Überschrift Die Positivität der christlichen Religion, versehen wurden. In den Fragmenten, die im Folgenden näher beschrieben werden, befasst sich Hegel mit den negativen Ergebnissen des Leben Jesu, aber unabhängig von dessen Kontext. Daher können die Fragmente bei seiner religiösen Untersuchung dieser Zeit für das Gegengewicht gegenüber dem mit der Aussicht auf die Privatreligion affirmativ anfangenden Leben Jesu gehalten werden. Die Positivität befindet sich nun in ihrer zweiten Phase: Erst in kritischer Hinsicht bedeutet Positives bekanntermaßen das, was aus Autorität als objektive Verbindlichkeit gegeben ist. Und die Analysis der Positivität der christlichen Religion liegt von nun an im Verstehen der ‘inneren Logik der Geschichte der christlichen Religion, in Verbindung mit den äußeren Umständen’.51 Hegels frühere Studien sehen die Ursache der “Ausartung” der Religion in der Einführung der geheimen oder auch allgemein bekannten, aber geschichtlich überlieferbaren Mysterien (FS 126). Wenn diese Mysterien ohne vernünftige Rechtfertigung als “die positive Lehren einer Religion” angesehen werden, haben sie “nicht eigentliche Moralität, sondern nur Legalität zum Zwek und zur Folge” (FS 145). Die Legalität beruht lediglich auf der Ausübung der religiösen Gebote, d. h. einem Praktizieren der positiven Lehren, das nicht im Geiste der Tugend, sondern “nur dem Buchstaben nach geschieht” (FS 128). In der christlichen Religion kamen solche Mysterien zuerst sozusagen als Begriffe wie ewige Seligkeit und Verdammnis vor, und jede Sekte heftete die Begriffe “an den Glauben ihrer positiven Lehren” an (FS 200). Demnach ist nun die Frage zu stellen, ob ihre positiven Lehren lediglich allein durch die Vernunft gerechtfertigt oder lediglich positiv aufgeladen sind. In diese Frage ist die Eignungsverifikation der christlichen Lehren für die Kantischen Hilfsmittel zur 51 HH, S. 69. Hieraus entwickelt sich ein ‘Religionsbegriff’, ‘der sich nicht im Gedanken der reinen Tugendlehre erschöpft’ und von Anfang an ‘Religion nicht als bloß Positives’ fassen kann. RH, S. 48. 33 populären Zirkulation der rein vernünftigen Lehren einbezogen. Wenn Jesus in Hegels Augen konsequent Lehrer der Moral geblieben wäre, wären seine Lehren als irgendwie auf der Vernunft gegründet oder als Resultat eines solchen Versuchs erklärbar. Aber das erste Fragment bezüglich der Positivitätskritik, Man mag die widersprechendsten Betrachtungen... beschreibt Jesus als einen Menschen, der “wenig gegen die vereinigte Macht eines eingewurzelten Nationalstolzes” vermochte, der auf der Autorität der jüdischen Religion basierte (FS 284). Vor Kummer, am Geist der jüdischen Zeit zu scheitern, musste er seine Belehrung unvermeidlich “auf die gleiche Autorität gründen”. Denn “auf Vernunft allein sich berufen zu wollen, hätte den Fischen predigen geheissen”. Auf diejenigen, die keinen Sinn für Vernunft haben, kann nur “die Entgegensetzung einer gleichen Autorität” gegen ihre wirksam sein. Er musste daher so “sehr viel” “von seiner Person” als Lehrer der Tugendreligion, als Sohn der Gottheit, als Messias, wie als Lehrer der Moral sprechen. Seine Lehren sollten schließlich nicht darum erlernt werden, “weil sie den moralischen Bedürfnissen unsers Geistes angemessen, sondern weil sie Gottes Willen seyen” (FS 289). Daher leisteten auch seine Wunder, die er selbst hatte überwinden wollen, keinen geringen Beitrag dazu, den Glauben an seine Autorität zu verstärken. Abgesehen von ihrem realen Entstehen setzen Wunder doch Verständnislosigkeit ihrer Wirkungsweise voraus. Jedenfalls wurden die Taten Jesu von seinen Jüngern und Freunden für Wunder gehalten und ihretwegen – nicht “wegen seiner Lehre”, sondern “wegen seiner Wunder” – wurde er respektiert (FS 291-292). Aus diesen Veranlassungen ergibt es sich, dass seine Religion von Anfang an nicht rein moralisch, sondern positiv war. Jesus ist nun für Hegel ‘nicht mehr ein Ideal der reinen praktischen Vernunft’.52 Seine Religion wurde weiterhin von den Jüngern, die wegen ihrer unbesiegten jüdischen Vorurteile noch auf seine Person und Autorität beschränkt waren, verbreitet, institutionalisiert, verstaatlicht. Die Moralgesetze, die lediglich aufgrund der übermenschlichen Autorität als Gebote Gottes verstanden werden, kann die christliche Religion nicht als gemäß der Autonomie des vernünftigen Willens, sondern allein “als etwas ausser uns bestehendes, als etwas gegebenes” vorbringen und daher keine reine Moralität lehren (FS 350). Demzufolge werden auch Schäden, die der heteronome Anspruch der christlichen Religion auf die moralische Verbindlichkeit geschichtlich mit sich brachte, zur Zielscheibe der harten Kritik Hegels. Darunter fallen u. a. die Erweiterung der lediglich für die kleine Sekte möglichen Gütergemeinschaft zur christlichen Gemeinde, das Verderben der Maxime der Gütergemeinschaft zum Mittel, “sich im Himmel einzukaufen” (FS 299), das Sprechen von der Gleichheit der Menschen nur “in den Augen des Himmels”, also nicht “in diesem Erden-Leben” (FS 52 HH, S. 71. 34 300), das Rechtfertigen des Staates, sogar des Despotismus durch die Verachtung der bürgerlichen und politischen Freiheit und des Lebensgenusses zwecks des künftigen Himmels. Anhand dieser Kritikpunkte gelangt Hegel schließlich zur fundamentalen bedeutenden Erkenntnis, dass die Positivität der Religion, besonders der christlichen, keinesfalls die reine Moralität sein kann und vor allem, dass die Kantische Einheit der Moralität und der Religion im Grunde genommen nicht möglich ist. Kant zufolge ist die Vernunft ‘das Vermögen der Prinzipien’53 und wird bei ihrem praktischen Gebrauch lediglich durch die moralische Handlung selbstzweckmäßig benutzt. Nämlich die Handlung, in der die Vernunft nur sich selbst zu causa finalis hat, ist die moralische Handlung, die ihrerseits daher durch diesen Zweck als causa efficiens bestimmt ist. Dafür bietet die Vernunft ihre Begriffe als ‘reine praktische Gesetze’54 an, die als Bedingung für die moralische Handlung notwendig und allgemeingültig sind. Diese Gesetze sind in dem Sinne auch moralische Gebote, indem sie dem Willen zur moralischen Handlung befehlen, ihnen zu folgen. Aber die Gesetze bzw. Gebote sind für Hegel lediglich “subjektiv”, insofern sie nur den Willen bestimmen. Trotzdem werden sie als notwendig und allgemeingültig “von Kant” aber im anderen Sinne “objektiv genannt”. Daraus entstehen zwei Probleme. Das eine bezieht sich auf das Missverständnis der christlichen Kirche, das andere auf die Grundaporie der praktischen Philosophie Kants. Die christliche Kirche behandelt im Gegenteil zur Ansicht Kants die moralischen Gebote der Vernunft als das Objektive “wie Regeln des Verstands” (FS 350). Im Erkennen ist objektiv für Kant das, was für alle Subjekte und zugleich für die Objekte als Gegenstände möglicher Erfahrung notwendig und allgemeingültig ist.55 Die Regel ist ‘die Vorstellung einer allgemeinen Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltiges, (mithin auf einerlei Art) gesetzt werden kann’, und ‘wenn es so gesetzt werden muss’, heißt sie ‘Gesetz’. Der Verstand ist ‘das Vermögen dieser Regeln’, ein Mannigfaltiges der Erscheinungen mit seinen reinen Begriffen unter eine Einheit zu setzen. Ohne die Regel des spontanen Verstandes wären alle Subjekte der Erfahrung lediglich rezeptiv, alle Gegenstände der Erfahrung bloß mannigfaltig und keine objektiven Erfahrungen möglich. In diesem Sinne sind die Verstandesregeln objektiv. Und wenn eine Verstandesregel ferner ‘der Erkenntnis des Gegenstandes notwendig’ anhängt, in diesem weiteren Sinne auch objektiv ist, ist sie ein Gesetz.56 Die christliche Religion hält die moralischen Gebote für so objektiv wie die Verstandesregel, besonders im zweiten Sinne der Regel, ähnlich wie die Gesetze des erkannten Gegenstandes. Mit 53 54 55 56 KrV, A299. KrV, A800. Eisler, Rudolf: Kant Lexikon, S. 399. KrV, A113-127. 35 anderen Worten gilt das Moralgebot für die christliche Religion als ein Handlungsgesetz, als ob dieses außer uns vom Herrn der Verstandeswelt gegeben worden wäre. Demzufolge kann die Vernunft zwar nur das gegebene Moralgesetz zu ihrer subjektiven Maxime machen, aber selbst die Triebfedern für dieses kann sie nicht finden, weil sich die Triebfedern als sinnlich auch dem objektiven Handlungsgesetz unterwerfen. Deshalb übermittelt uns die christliche Religion lediglich “die objektive Triebfedern”, “die nicht das Gesez selbst”, sondern dem Gesetz gemäß sind (FS 350). Damit ist die Freiheit der menschlichen Vernunft im Christentum nicht mehr möglich. Dagegen ist nach der Kritik der praktischen Vernunft, im Sinne vom ‘Faktum der Vernunft’, das Moralgesetz schlechthin objektiv. Das Moralgesetz dringt sich uns schlechthin ‘als synthetischer Satz a priori’ auf. D. h. für die moralische Handlung bestimmt die Vernunft sich als Willen so unmittelbar, dass seine Maxime die allgemeine Form des Gesetzes hat. Diese Bestimmungsweise der Vernunft, ein der subjektiven Maxime dienendes Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens ‘durch die objektive Form eines Gesetzes überhaupt’ ‘zu denken’, beweist gerade die Realität des Moralgesetzes als Faktum der Vernunft. 57 Denn die Möglichkeit der allgemeinen Gesetzgebung der Willensmaxime ist eben das Moralgesetz. Das Moralgesetz ist das Faktum der freien Vernunft. Es ist das Gesetz der Vernunft und, insofern die Vernunft schlechthin frei ist,58 das Gesetz der Freiheit.59 Bereits in der freien Gesetzgebung der Vernunft besteht die Realität des Moralgesetzes. Und durch das Bestimmen erhält die Vernunft erst ‘zum erstenmale objektive, obgleich nur praktische Realität’. ‘Die objektive Realität’ ‘einer reinen praktischen Vernunft’ ist daher ‘im moralischen Gesetze a priori gleichsam durch ein Faktum gegeben’. Die Vernunft wird bei der moralischen Gesetzgebung nämlich als ‘im Felde der Erfahrung durch die Ideen selbst wirkende Ursachen’ immanent gebraucht.60 Aber trotz der Objektivität des Moralgesetzes als Faktum der Vernunft bleibt andererseits noch eine Aporie der praktischen Philosophie Kants übrig. Sie stellt, wie schon oben angedeutet,61 die Frage, wie die Vernunft in der Bestimmung von sich als Willen notwendig ein Moralgesetz wählt, bzw. ‘wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des freien Willens sein’ kann.62 Darauf 57 KpV, A56. GMS, A99-102. 59 Dies besagt nicht die Wirklichkeit der Freiheit, sondern drückt bloß das Gesetz als Faktum der freien Vernunft, ihrer Freiheit, aus, die empirische Motivationen beim Wollen ausschließen muss. Daraus wird nicht nur die notwendige Wahl des Moralgesetzes vom empirisch wollenden und handelnden Menschen, sondern auch die Zurechnung des Unsittlichen unmöglich. Schneider, Friedhelm: Hegels Propädeutik und Kants Sittenlehre, S. 55-65. 60 KpV, A83-96. 61 Siehe S. 11. 62 KpV, A128. 58 36 antwortet die Kritik der reinen Vernunft mit den sinnlichen Triebfedern als ‘Verheißungen und Drohungen’ in jener Welt.63 Während diese Lösung die Vernunft abhängig von sinnlichen Elementen macht, wird die Frage in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als die der Möglichkeit des kategorischen Imperativs im guten Willen gestellt und so beantwortet, dass der freie Wille des vernünftigen Wesens der die vernünftigen Gesetze notwendig wählende Wille als Mitglied der Verstandeswelt nach dem Prinzip der Autonomie ist. D. h. der Wille jedes vernünftigen Wesens kann ‘nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein’,64 und die Eigenschaft oder Selbstheit dieses Willens ist der Wille, der durch seine Freiheit seine Vernünftigkeit will, sozusagen der allgemein gesetzgebende Wille, dessen Idee das ‘Prinzip der Autonomie des Willens’ bedeutet.65 Das vernünftige Wesen wird durch das notwendige Denken über die Idee der Freiheit als die Voraussetzung seines eigenen Wollens zum Mitglied der Verstandeswelt, die nicht mehr lediglich ein nur negativ benutzbarer Grenzbegriff für ‘die bloß Gegenstände’ des Denkens des Verstandes in der Kritik der reinen Vernunft,66 sondern eine Art Grundbegriff für die Sinnenwelt und deren Gesetze ist. Und deshalb sind die Gesetze der Verstandeswelt nichts anderes als Gesetze der Vernunft. Ohne Einfluss der Sinnlichkeit, vielmehr als Bestimmungsgrund für seine sinnliche Handlung, will der Wille des vernünftigen Wesens als ein Mitglied der Verstandeswelt durch seine Freiheit notwendig die vernünftigen Moralgesetze. Aber diese Lösung ist auch nicht befriedigend, weil sie auf dem Dualismus der Welt, also des Menschen beruht. Wenn der menschliche Wille, wie Kant selbst erwähnt, sinnlich affiziert und auch als Grund für die sinnliche Handlung aufgestellt wird,67 müsste die Lösung auch bezüglich der Gültigkeit des guten Willens im sinnlich affizierten Willen gefunden werden. Aber das moralische Sollen ist de facto hier lediglich ein notwendiges Denken über das freie eigene Wollen des vernünftigen Wesens zum Guten als die Bedingung für das Gutsein des sinnlichen Willens, also als die Nötigung des kategorischen Imperativs für diesen Willen. Das Sollen ist nur konditionale Tatsache, nicht selbst bewiesen. Denn das Wollen einer Handlung in der Sinnenwelt schließt nicht notwendig den Begriff des Willens des vernünftigen Wesens in sich ein. Dafür wäre Selbstentscheidung des sinnlichen Menschen für den Willen der Vernunft nötig.68 Auf diese noch ungelöste Aporie ist die Antwort der Kritik der praktischen Vernunft kurz 63 64 65 66 67 68 KrV, B857-858. GMS, A100-102. GMS, A70-74. KrV, A249-257. GMS, A106-109. Högemann, Brigitte: Die Idee der Freiheit und das Subjekt, S. 108. 37 und bündig. Die Aporie ist ‘ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem’.69 Erklärbar ist lediglich die Frage, wie das Moralgesetz als der objektive Bestimmungsgrund der Handlung ‘zugleich der subjektiv-hinreichende Bestimmungsgrund’ bzw. ‘Triebfeder (elater animi)’ zur Handlung sein kann. Kant sucht nun den subjektiven Grund, das Moralgesetz zur Maxime des freien Willens zu machen, in der moralischen Triebfeder, die er für ‘ein moralisches Gefühl’ der ‘Achtung fürs moralische Gesetz’ erklärt. Diese Achtung ist ihm zufolge schon ‘die Sittlichkeit selbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet, indem die reine praktische Vernunft dadurch, daß sie der Selbstliebe, im Gegensatze mit ihr, alle Ansprüche abschlägt, dem Gesetze, das jetzt allein Einfluß hat, Ansehen verschafft’.70 Aber diese Erklärung scheint Hegel noch immer nicht zu befriedigen. Denn die “Achtung für das Sittengesez kan nur in demjenigen Subjekt bewirkt werden, in welchem dieses Gesez gesezgebend ist, aus dessen Innern es selbst hervorgeht” (FS 350). Einerseits wird das Gefühl der Achtung eingeführt, um zu zeigen, dass das Moralgesetz auch der subjektive Bestimmungsgrund ist. Andererseits setzt das Gefühl aber de facto voraus, dass sich das Moralgesetz auf die praktische Vernunft des Subjekts schon irgendwie auswirkt. Das Gefühl der Achtung ist nur Tautologie des Moralgesetzes, das überhaupt nicht empirisch sein soll, also alle Bestimmtheiten und Einzelheiten des empirischen Gefühls und der Maxime aufhebt und nur “die Form der Tauglichkeit” von diesen empirischen Materien zum Moralgesetz aufnimmt (JKS 435). Hier nimmt Hegel bereits seine Jenaer Kritik an der Tautologie des Kantischen Moralgesetzes voraus, das die einzelne Materie der Maxime aufhebt und nur ihre Form analytisch in seine Allgemeinheit aufnimmt. Nach seinem Naturrechtsaufsatz, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (1802) gibt es, weil “jede Bestimmtheit” “fähig” ist, “in die Begriffsform” des Gesetzes “aufgenommen zu werden”, de facto “gar nichts, was nicht auf diese Weise zu einem sittlichen Gesetz gemacht werden könnte” (JKS 436). Kants naturalistischer Fehler der petitionis principii macht es schließlich noch schwieriger, die Wirksamkeit der Moral, insbesondere die Moralreligion im menschlichen Subjekt zu begründen.71 Die positive Lösung der christlichen Religion ist bekanntermaßen, “das Sittengesez den Menschen als etwas gegebenes” von außen her aufzustellen (FS 350). Dagegen unternimmt Hegel in der Jenaer Zeit den Versuch, vom subjektiven Wollen ausgehend die Moralität als mit der Legalität bzw. Gesetzmäßigkeit Identisches zu setzen. Das zweite kurze Fragment in Bezug auf die Positivitätskritik, Ein positiver Glaube ist... 69 KpV, A128. KpV, A127-134. 71 Über den Fehlschlag der Kantischen Deduktion der Moralität von der schlechthinnigen Voraussetzung der Freiheit siehe Paton, H. J.: Der kategorische Imperativ, S. 302-306. 70 38 entwickelt die Kritik an der Autorität bis zur Kritik an der Postulatenlehre Kants. Der positive Glaube an die Autorität setzt “notwendig Verlust der Freiheit der Vernunft, der Selbständigkeit derselben” voraus (FS 353), und seiner Möglichkeit liegt “die moralische Kraftlosigkeit, und das Gefühl, eine obzwar noch vorstellende und von gegebnen Vorstellungen getriebne Maschine zu sein” zugrunde (FS 356). Diese Kraftlosigkeit ist spürbar auch im damals kursierenden “Postulate der Harmonie der Glükseeligkeit mit der Sittlichkeit” (FS 357). Kant zufolge muss die Vernunft bei der Bestimmung des Willens zur moralischen Handlung ohne Rücksichtnahme auf die Glückseligkeit als Resultat lediglich ihre Gesetze befolgen. Die Vernunft bei ihrer Bestimmung kann weder garantieren noch beweisen, dass die moralische Handlung notwendig mit sich die Glückseligkeit bringt, weil die vernünftigen Gesetze der Verstandeswelt in der Sinnenwelt keine Anwendung finden können. Aber wie die Glückseligkeit ohne Moralität blind ist, ist die Moralität ohne Glückseligkeit leer. Das höchste Gut besteht lediglich insgesamt aus dem obersten Gut als Tugend und dem vollendeten Gut als Glückseligkeit.72 Ohne Resultat der Moralität zu sein, wäre die Glückseligkeit minderwertig und die nicht zur Glückseligkeit führende Moralität unvollkommen. Letzten Endes ist die glückliche Realisierbarkeit der praktischen Vernunft in der Sinnenwelt suffiziente Bedingung für den moralischen Gebrauch der Vernunft; dieser Gebrauch und die moralische Handlung sind notwendige Bedingungen für die Glückseligkeit. Kant erläutert so die Harmonie von beiden als Grund und Folge, dass sie durch die Vernunft gefordert werden muss, damit der praktische Gebrauch der reinen Vernunft selbst hinreichend möglich sein kann. Aus diesem Postulat der Harmonie gehen bekanntlich hervor das Postulat der Unsterblichkeit, die den unendlichen Fortschritt der Vernunft bis zur vollkommenen Angemessenheit ihres Willens für das Moralgesetz versichert, und das Postulat des Daseins Gottes, das die notwendige Verbindung zwischen Moralität und Glückseligkeit garantiert. 73 Der Kritikpunkt Hegels besteht eben darin, dass die Forderungen der Vernunft nicht an sich selbst gestellt sind, sondern “an etwas, das sie in dieser Rüksicht als von sich unabhängig, unbestimmbar anerkennt”. Wie kann sich die Vernunft auf ihrer schwindelnden Spitze der Moralität die Harmonie mit der Glückseligkeit wünschen, deren Notwendigkeit sie nicht bestimmen kann? Ihr Wunsch ist eine Täuschung. Hegel zufolge ist das, was einen solchen Wunsch hegt, de facto die Sinnlichkeit. Die Forderung ist de facto lediglich das “Gefühl von Sollen, von Herrschen” im Subjekt, in dem die Vernunft sein Herrscher geworden ist. Aber vom Subjekt, in dem die 72 73 KpV, A199-200. KpV, A220-237. 39 Sinnlichkeit mehr herrschend ist, würde das Sollen oder das Postulat der Vernunft nach den eigenen Bedürfnissen der Sinnlichkeit “als ein Verlangen nach Glükseeligkeit” gedeutet werden (FS 357). Das Postulat der Vernunft entlarvt zuletzt ihre moralische Kraftlosigkeit mindestens für ihre Harmonie mit der Sinnlichkeit und verursacht notwendig die Abhängigkeit vom ihr fremden Wesen. Hegels Schlussfolgerung gegenüber der Kantischen Philosophie lässt sich nun relativ leicht zusammenfassen. Die Moralgesetze der Kantischen Vernunft können nur subjektiv gelten. Wenn diese Gesetze als objektive aufgestellt werden, erfordert dies eine der Vernunft fremde Autorität, die selbst zur Quelle der positiven Religion wird. Wie die Vernunft gegenüber der Sinnlichkeit despotisch wird, so wird auch sie gleichfalls dem ihr gegenüber fremden Wesen untertan. Dies lässt sich alles auf die Trennung der menschlichen Geisteskräfte bis zum Gegensatz der Vernunft und der Sinnlichkeit zurückführen, obzwar Kant selbst sie “für die Wissenschaft gemacht hat”. Auf der einen Seite ist die Kantische Trennung wissenschaftlich als eine “heilsame” Arbeit anzusehen, weil dadurch die nicht zu übertretenden Grenzen der Vernunft und der Sinnlichkeit gegeneinander und damit im Fall des Übertretens der Ursprung der positiven Religion in der Geschichte deutlich gemacht werden (FS 349). Aber der wissenschaftliche Versuch Kants, beide wiederum in Einklang zu bringen, ist andererseits in Hegels Augen misslungen, deshalb selbst zum philosophischen Ursprung des positiven Glaubens geworden. Das dritte Fragment, Jedes Volk hatte... ist, kurz gesagt, eine lebendige Beschreibung davon, wie die christliche Religion mit der Autorität der göttlichen Vernunft die Nationalphantasien aller Völker vernichtete. In der Geschichte offenbarte sich der Geist der Zeit “in der Objektivität seines Gottes”, “als der Mensch selbst ein Nicht-Ich und seine Gottheit ein anderes Nicht-Ich war” (FS 375). Des Weiteren kommt diese Positivitätskritik Hegels für den Sittlichkeitsbegriff zu einem bedeutenden Ergebnis, d. i. zum Bedürfnis eines neuen Begriffs der Vernunft, die nicht allein in der Trennung verbleibt. Am Ende des oben genannten zweiten Fragments spricht Hegel zuerst von seinem eigenen Begriff der Vernunft, nämlich “daß die Vernunft absolut, in sich selbst vollendet ist, - daß ihre unendliche Idee nur von sich selbst, rein von fremder Beimischung geschaffen werden muß, - daß diese nur durch Entfernung eben dieses sich aufdringenden Fremden, nicht durch eine Anbildung desselben vollendet werden kan” (FS 358). Diese absolute Vernunft wird später alle Vermögen des menschlichen Geistes und deren Objekte in sich einschließen. Der Sinnlichkeit wird hier auch eine mit der Vernunft harmonisierbare Rolle zugeschrieben, lediglich das der Vernunft fremde Element der Sinnlichkeit wird überwunden. Die in sich vollendete Vernunft aber lässt sich lediglich in Form des Systems darstellen und 40 nur in Gestalt der Geschichte verwirklichen. Der erste Schritt dieser Absicht, die sich erst in der Jenaer Zeit verkörpert, ist das Thema von Liebe und Leben in der Frankfurter Zeit. 2.2. Neuschätzung der Positivität und Vereinigung Wenn die Vernunft selbst absolut ist, braucht sie kein göttliches Prinzip über sich, sondern sie ist selbst auch göttlich. Sie ist selbst die Einheit des Subjekts und Objekts, der Freiheit und Natur. 74 Aber diese Einheit wird in dieser Welt nicht in ihrer eigentümlichen Form gegeben, sondern sie stellt sich dar, manifestiert sich immer in Form der Trennung. Trotz dieses Ansatzes geht der Frankfurter Hegel wahrscheinlich wegen des Verzichts auf den Kantischen Begriff der Vernunft und der Distanzierung von der Kantischen Philosophie nicht unmittelbar von der absoluten Vernunft selbst als Prinzip der Einheit aus, sondern richtet sein Augenmerk auf die Suche nach einem neuen Ersatzprinzip, das mit Primat des Praktischen immer zugleich ‘empfindende und wissende Einheit, nur unterscheidbar, nicht aber real trennbar’ ist.75 Das Prinzip der Einheit in Form der Trennung, also im Horizont des Endlichen, ist eben die Liebe, die er in dieser Zeit entwickelt. Mit der Liebe beginnt er nun erst prinzipiell zu philosophieren, und er versteht den Inhalt ihrer unendlichen Einheit als Leben. In dieser Hinsicht treten Liebe und Leben als das zweite sittliche Thema des jungen Hegel auf. Die erste Rede von der Liebe fndet sich schon lange vor der Frankfurter Zeit im Manuskript, Vier Predigten (1792-1793). Aber die Liebe kommt hier bloß als eine der Tugenden Jesu in Betracht. Demnach macht die christliche Liebe allein “uns fähig”, “unsern Beleidigern von Herzen zu verzeihen” (FS 62). Jedoch verdient Beachtung, dass sie in der früheren Zeit als “das Grundprincip des empirischen Charakters” mit den moralischen Empfindungen aufgestellt wird. Sie ist die vernünftigste Sinnlichkeit, die das objektive Moralgesetz in den Empfindungen des Subjekts lebendig bewirkt. D. h. insofern “die Liebe in andern Menschen sich selbst findet oder vielmehr sich selbst vergessend – sich ausser seiner Existenz heraussezt, gleichsam in andern lebt, empfindet und thätig ist – so wie die Vernunft als Princip allgemeingeltender Geseze sich selbst wieder in jedem vernünftigen Wesen erkennt, als Mitbürgerin einer intelligiblen Welt”, 74 Auch Kant thematisiert allmählich eine solche Einheit, die in der ersten Kritik als ‘die Vernunfteinheit’, in der zweiten als die ‘Einsicht der Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens (des theoretischen sowohl als des praktischen)’ bezeichnet wurde, erst in der dritten, Kritik der Urteilskraft, 1790 als die ‘Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält’, begründet wird. KrV, A302-309, A326-327. KpV, A162. KU, A IV-V. 75 Elsigan, Alfred: Sittlichkeit und Liebe, S. 86-112. 41 ist sie vernunftverwandt, ebendarum auch menschlich (FS 101). Aber nachdem die christliche Religion “die Menschen zu Bürgern des Himmels” erzogen hatte, wurde die menschliche, vernunftverwandte Sinnlichkeit dem Menschen fremd, der dann die einander “zur Freundschaft und Liebe einladenden” frohen Gesichter verlor, die aber die Griechen im Altertum gehabt hatten (FS 110). Hegel erwähnt schon hier die Liebe als die vernünftigste Sinnlichkeit und erklärt ihre onto-logische Form als das sich im Anderen Finden. In dem Maße, wie die Liebe in der Distanzierung von der Kantischen Philosophie immer mehr als das Prinzip der Einheit bzw. der Vereinigung hervorgehoben wird, wird die Ursache der Positivität nunmehr meistens in der Tatsache der Trennung und der Entzweiung diagnostiziert. In einem Fragment der Frankfurter Zeit, Liebe und Religion, heißt es: “da, wo in der Natur ewige Trennung ist, wenn Unvereinbares vereinigt wird, da ist Positivität” (N 377). In einem anderen Fragment, Moralität, Liebe, Religion, erläutert Hegel den positiven Begriff der Moralität mit der Fichteschen Terminologie von Ich und Nicht-Ich in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/95).76 Fichte zufolge gilt der Lehrsatz der Wissenschaft des Praktischen: ‘das Ich setzt sich als bestimmend das Nicht-Ich’. 77 Dieser Lehrsatz besagt, dass das Ich selbst seine bestimmende Tätigkeit setzt. Hierin behauptet sich allerdings nur die Tathandlung des Sich–als–bestimmend-Setzens des Ich, nicht aber die Tätigkeit als das Bestimmen. Hingewiesen ist nicht darauf, dass das Ich eben das Nicht-Ich bestimmt, sondern lediglich, dass es sich als bestimmend setzt, daher dass sein Bestimmen gesetzt ist.78 Hegel zufolge ergibt dies sich daraus, dass das Praktische oder ferner Moralische nur als Objekt des zu erklärenden Begriffs aufgestellt bzw. berücksichtigt, aber nicht die Tätigkeit seines Begreifens selbst mitgedacht wird. Das Objekt des praktischen oder moralischen Begriffs ist also nur “eine gewisse Bestimmung des Ichs, die, um ein Begriff zu werden, um erkannt, um Objekt werden zu können”, “von der Bestimmung des Ich, das itzt erkennt, ausgeschlossen wird”. Es ist sozusagen irgendeine Bestimmung des ursprünglichen absoluten Ich, die verschieden von der Bestimmung des jetzt hier erkennenden Ich ist und diese ermöglicht. Während das Objekt des theoretischen Begriffs nur “das Nicht-Ich” ist, das erkannt wird, ist das Objekt des praktischen oder moralischen Begriffs “immer das Ich”, das will und handelt, und 76 HH, S. 86. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, S. 246. 78 Liebrucks sieht das Moment des Fanatismus schon in der theoretischen Philosophie der Fichteschen Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, wo dem Obersatz des absoluten Selbstsetzens des Ich der zweite und dritte nur analytisch hinzukommen. Liebrucks, Bruno: Recht, Moralität und Sittlichkeit bei Hegel MR, S. 30-33. 77 42 deswegen muss dafür die Tätigkeit immer mitberücksichtigt werden (N 374). D. h. das Ich als Objekt des moralischen Begriffs muss nicht allein so beschaffen sein, dass sein Bestimmen lediglich als Resultat seines Setzens verstanden wird, sondern auch ein solches Ich sein, das zugleich eben das Nicht-Ich bestimmt. Rein logisch geht zwar sein Setzen vorher, aber doch realiter, dadurch, dass das Ich das Nicht-Ich bestimmt, setzt es sich als bestimmend das Nicht-Ich.79 Der Fichtesche moralische Begriff ohne Rücksicht auf seine eigene Tätigkeit ist also letztlich nur “ein positiver Begriff”, “nur etwas Erkanntes, ein Gegebenes”. Fichte selbst versteht später im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797) den Begriff ‘als Thätigkeit des Anschauens selbst, nur nicht als Agilität, sondern als Ruhe und Bestimmtheit aufgefasst’, damit den Begriff des Ich als die ‘in sich zurückgehende Thätigkeit als feststehend und beharrlich aufgefasst’.80 Dieser positive Begriff ist darauf zurückzuführen, dass auch wenn Fichte von der Tathandlung ausgeht, deren Sein und deren setzende Tätigkeit dasselbe ist,81 dennoch die Struktur der Tathandlung de facto lediglich durch die Objektivierung dieser Tätigkeit erläutert wird. Die Handlungen, wie Setzen, Entgegensetzen und ihre Resultate werden daher nur als die Reihe ‘des Ich, das der Philosoph beobachtet, und die der Beobachtungen des Philosophen’82 erklärt; nicht das ‘dass’ der Tätigkeit des Ich wird dargestellt, sondern das ‘was’ des tätigen Ich durch den Philosophen begründet. Terminus ad quem dieser Begründung ist die absolute Tätigkeit des absoluten Ich als der unbedingte Grund für die bestimmte Tätigkeit des Ich. 83 Die Handlungsweise des absoluten Ich ist aber unbegreiflich, also “auch fürs Erkenntnisvermögen positiv”, gegeben. Hierin erblickt Hegel schon die Forderung nach dem Glauben in der Bestimmung des Menschen (1800) aufgrund der Tatsache, dass der Mensch nicht darum handelt, weil er erkennt, sondern er erkennt, weil er ‘zu handeln bestimmt’ ist, und dass seiner praktischen endlichen Vernunft der ‘Ruf zur Pflicht’ durch die unendliche Vernunft des ewigen Willens, ‘den kein Name nennt, und kein Begriff umfasst’, 79 Ebenfalls nicht deshalb, weil das Selbstbewusstsein absolut gegeben ist, ist das Bewusstsein möglich, sondern umgekehrt nur deshalb, weil das Bewusstsein selbst die Tätigkeit als die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ist, kann es zum Selbstbewusstsein gelangen, in dem das Subjektive und das Objektive absolut eins sind. Aber Fichte erklärt im Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, dass ‘Alles mögliche Bewusstseyn, als Objektives eines Subjekts’ das unmittelbare ‘Selbstbewusstseyn’ voraussetzt, in dem ‘Subjektives und Objektives unzertrennlich vereinigt und absolut eins’ ist. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, S. 526-528. Wenn dem so ist, ist das Selbstbewusstsein nicht das, was durch die Tätigkeit des Bewusstseins errungen wird, sondern, was nicht nur als logische, sondern ferner als reale Bedingung des Bewusstseins von außen her gegeben ist. 80 Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, S. 533. Die kursive Betonung vom Verfasser. 81 Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, S. 91-98. 82 Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, S. 454. 83 Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, S. 119-120, 250-253, 271-277, 295-296. 43 gegeben wird. 84 Die Forderung, die “nur durch ein mächtiges und beherrschendes Objektiv (Autorität)” irgendeines absoluten ursprünglichen gegeben wird, ermöglicht lediglich den positiven Glauben (N 375). Bei Fichte ist die ursprüngliche Subjektivität des praktischen Ich im theoretischen Hinblick so “nur als ein Objektives” aufgestellt (N 374), dass sie von Anfang an nicht als sich selbst erklärt werden, sondern nicht anders als auf das unbegreifliche absolute Ich angewiesen sein kann. Ferner ist auch die ursprüngliche Objektivität der Natur lediglich als Anderes oder Nicht-Ich des nur so objektiv betrachteten tätigen Ich erklärt, daher nur auf die entgegensetzende Handlung dieses Ich angewiesen. In der Fichteschen Philosophie sind also Subjekt und Objekt, Freiheit und Natur schon zu Beginn entweder absolut getrennt und unvereinbar, oder das Ding an sich ist im Ich, weil sonst widersprüchlich,85 und es gibt keine Natur im materiellen Sinne.86 Nun besteht die Positivität darin, dass das eigentlich Subjektive als Objektives aufgestellt wird, wie die Kantische Aufstellung des Vernunftgesetzes oder die Fichtesche des tätigen Ich als eines Objekts eine fremde Autorität zur Folge haben. Diese Objektivierung entspringt des Näheren aus der Trennung des Subjekts und Objekts, aus dem ursprünglichen Objektverlust des Subjekts. Wenn das Objekt nicht mehr vertraut ist, muss das Subjekt an die Stelle des Objekts treten. Wenn die Natur nicht mehr verwandt ist, muss die Vernunft sich selbst für die Objektivität der Natur verantwortlich machen,87 quasi wie ‘die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt’ des Subjekts ‘zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung’ sind.88 Auf Grund dieser Einsicht fängt Hegels Hauptwerk über Liebe und Leben, Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798-1800), mit der Geschichte der noahschen Flut an, die dem Menschen den ungeheuersten Unglauben an die Natur 84 Fichte: Die Bestimmung des Menschen, S. 263, 303. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, S. 283. ‘Die wahre moralische Autonomie’ des Ich bei Fichte hat Siep zufolge ‘an sich überhaupt keine Beziehung auf die Natur’, sondern nimmt nur an einer eigenen Welt mit eigener Gesetzlichkeit teil. Die moralische Ordnung dieser Welt ist ‘selber Gott – aber sie ist so wenig weiter zu begreifen, wie Gott für ein endliches Wesen begreifbar ist’. Siep, Ludwig: Autonomie und Vereinigung. Hegel und Fichtes Religionsphilosophie bis 1800 in: Der Weg zum System, S. 298. 86 Fichte: Die Bestimmung des Menschen, S. 303. Diese extreme Seite Fichtes wird kurz darauf von Jacobi als ‘die Alleinphilosophie’ ‘der Ichheit’ mit dem ‘bloß LOGISCHEN ENTHUSIASMUS’, auch von Hegel in Glauben und Wissen als im Bereich der Moralität zu “absoluter Tyrannei” des reinen Willens-Ich führend beurteilt. Jacobi, Friedrich Heinrich: Jacobi an Fichte (Sendschreiben) (1799) im Textteil von Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799-1807), S. 4-24. JKS, S. 409. 87 Dass an der Beziehung in dieser ursprünglichen Trennung der menschlichen Vernunft von der Natur Hegel allmählich “die positive Seite” “jeder Religion” erkennt, belegt sein Fragment einer Naturrechtsvorlesung, 1802. “Weil der Geist in der Religion nicht in der Idealität der Wissenschaft, sondern in der Beziehung auf die Realität ist”, hat er “in jeder Religion” “die aus dem empirischen Dasein des Volkes entnommene Begrenzung”. FN, S. 50. 88 KrV, A158. 85 44 verursachte (N 243). Die Natur, die durch die übermäßige Flut für feindselig gehalten worden ist, wird zum Gegenstand der Beherrschung des Menschen, der die vorherige ruhige Vereinigung mit der Natur verlor. Dass etwas beherrscht wird, heißt, dass ihm seine Selbstständigkeit entzogen wird. Die zu verlierende Selbstständigkeit der Natur ist ihre eigene wirkliche Objektivität. Durch die feindliche Trennung bleibt nun lediglich die ideale Subjektivität des Menschen als gültig übrig. Das Ganze, in dem Natur und Mensch vorher vereinigt waren, ist in die herrschende Idee und die feindselige Wirklichkeit entzweit. Die durch Beherrschung wiederherzustellende höchste Einheit ist nicht in dieser unselbstständigen Wirklichkeit, sondern erst nur als das gedachte Ideal des Menschen möglich. Hegel zufolge baute Noah also “die zerrissene Welt” in einem “Gedachten” wieder auf. In der Welt dieses Gedachten ist das gedachte Ideal als die höchste Einheit ein wahres Seiendes. Das ursprünglich Subjektive ist als Objektives festgestellt, das als das wahre Seiende alle anderen Seienden in der Entzweiung regiert. Es verspricht dem Noah, ebenfalls Kant und Fichte die Beherrschung der Natur, die dem menschlichen Zweck gemessene Notwendigkeit der Natur, und das nur vom Ich gesetzte Nicht-Ich, nämlich so “daß keine Wasserflut mehr die Menschen verderben sollte”. Und es legt dem Menschen als Herrscher der Natur das Gebot auf, dass sie einander nicht morden sollen, das Moralgesetz, dass sie einander nicht beherrschen, sondern als Person behandeln sollen, und das Recht, durch die Beschränkung seiner Freiheit auch die Freiheit der anderen zu beschränken (N 244). Das gedachte Ideal als Objektives versichert dem gehorsamen Menschen die Beherrschung der Natur und setzt den ungehorsamen der feindseligen Natur aus. Die andere biblische Mythe von Nimrod, der gegen eine andere mögliche Sintflut von Gott her einen Turm zu bauen versuchte, symbolisiert eine andere Art und Weise, durch die unmittelbare Überwältigung der Natur die zerrissene Harmonie wieder zu gewinnen. Dafür sammelte und bändigte Nimrod zerstreute Menschen “durch Gewalt”, mit der er ohne Noahs Vermittelung des dritten Ideals “eine tyrannische Herrschaft” der Stärkeren errichtete. Aber für Hegel suchen beide Lösungen, von Noah und Nimrod, gleichfalls nur “einen Frieden der Not” mit der Natur zu schließen, der unter der Fortdauer der Feindseligkeit möglich ist (N 245). In dieser Trennung und Feinseligkeit gegen Natur liegt Hegel zufolge das Schicksal des jüdischen Volks, dessen Geschichte bei Abraham begann und dessen Unselbstständigkeit von Moses festgelegt wurde. Insbesondere Abraham und Moses, die das Schicksal ihres Volks nicht überwanden, werden nun von Hegel für die Kristallisationskerne der Positivität der jüdischen Religion gehalten. Abraham wurde zum Stammvater eines Volks durch “eine Trennung” vom Ganzen der “Beziehungen, in 45 denen er mit Menschen und Natur bisher gelebt hatte” (N 245-246). Der Akt der Trennung führte seinen Geist dazu, “sich in strenger Entgegensetzung gegen alles fest zu erhalten” und die herrschende Einheit über alles Entgegengesetzte als “das Gedachte” aufzustellen (N 246). Damit wurde Gott nun zum Ideal, das dieser Welt völlig fremd über diese Welt herrschte. Gegenüber diesem gedachten Ideal, dessen Gottheit in seiner “Verachtung gegen die ganze Welt” eingewurzelt ist, können Mensch und Natur in dieser Welt als “allein der Günstling” folgsam da sein (N 247). Auch die einzige Liebe Abrahams zu seinem Sohn musste am Befehl des Ideals scheitern, mit seinen eigenen Händen seinen Sohn zu schlachten und als Opfer darzubringen. Dies besagt, dass die Realisierung der Ewigkeit in dieser Welt vollständig unmöglich wird oder kein Ewiges mehr diesseits da ist, weil das Kind das Medium des Fortbestehens der Lebendigkeit, also eine Teilnahmeweise an der göttlichen Unsterblichkeit in dieser Welt ist. Der Geist Abrahams errichtete zuletzt seinen Nachkommen das Schicksal der Unselbstständigkeit und Gehorsamkeit. Moses, der das passive Volk vom Zustand der Knechtschaft in Ägypten befreite, schritt ebenfalls nicht bis dahin fort, das Schicksal selbst zu besiegen. Er konnte kein echter Befreier für das Volk sein, das “ohne Seele und eigenes Bedürfnis der Freiheit” war (N 249), und wurde also im besten Falle ein Gesetzgeber, der statt des äußeren Jochs der Sklaverei “ein andres” inneres Joch der Gesetze auflegte. Sein Prinzip der Gesetzgebung geht nicht über den Geist seiner Vorfahren hinaus. Von seinem Geist wird “das unendliche Objekt”, das als Ideal gedacht ist, nun zwar für “das einzige unendliche Subjekt” gehalten, das aber als “die einzige Synthese” gilt, also außer sich “die wahren, reinen Objekte” als “die Antithesen” hat. Die Verwandlung des Erkennens des unendlichen Objekts ins Erkennen des absoluten Subjekts bedeutet hier überhaupt kein Selbsterkennen der Subjektivität des Menschen, sondern vielmehr die Vertiefung der Trennung und der Subordination. Denn um etwas als Objekt erkennen zu können, muss es im Voraus ein Subjekt, einen lebendigen Menschen geben. Das Erkennen des unendlichen Objekts, das das menschliche endliche Subjekt zur Voraussetzung hat, ist widersprüchlich. Vielmehr muss vorher das absolute unendliche Subjekt sein, das erst dadurch, daß es dem Menschen Leben gibt, zum Objekt und somit zur “einzigen Synthese“ wird. Ihm stehen die Antithesen – einerseits “das jüdische Volk”, andererseits “das ganze übrige Menschengeschlecht und die Welt” – in absoluter Entgegensetzung gegenüber. Ihre “allgemeine Feindschaft” lässt sich also notwendig “nur auf Kosten” einer von beiden auflösen. Dem jüdischen Volk wird das “Befreien”, “der Besitz” des Lehens, “ein gesichertes Essen, Trinken und Begatten”, also das Leben, aber lediglich als “Geschenk” versprochen, und für die übrigen Völker und Natur werden nur Gesetze gelten, nach denen diese beherrscht, bebaut, verwendet, 46 also zum endgültigen Tod verurteilt werden (N 250). Aber alle beide können dem absoluten Subjekt gegenüber nicht selber Subjekt sein. Das absolute Subjekt89 ist nur Produkt der Vergegenständlichung der verlorenen Subjektivität des entfremdeten Menschen. Das gedachte Ideal, das Noah an die objektive Stelle der unvertrauten Natur gesetzt hat, wird nun zum absoluten Subjekt radikalisiert, und der Mensch, dem sogar seine minimale Subjektivität des Erkennens genommen ist, wird zum reinen Objekt. Für den Geist des Volkes als Objekts bleibt letztlich das “odium generis humani” übrig, das nichts anderes als Hass gegen das andere Menschengeschlecht und die Welt, und zugleich gegen die Menschheit in sich ist (N 257). Diese extrem negative Hegelsche Interpretation der jüdischen Religion ist sicherlich eine voreilige Vorbehandlung, um auf der nächsten Stufe seine durch die Liebe Jesu paradigmatisierte Vereinigungsphilosophie hervorzuheben. Vor dem frühgeschichtlichen Hintergrund des Hasses gewinnt die Liebe Jesu an Bedeutsamkeit. Der Geist des Christentums und sein Schicksal setzt also ‘die Absonderung, die Entzweiung als eine geschichtliche Realität voraus’. 90 Hegel wendet das Element der Positivität in der Kantischen und Fichteschen Philosophie demnach allzu sehr erweitert auf die Religionsgeschichte an. Dadurch aber erlangt er die Erkenntnis der Grundstruktur des positiven Denkens, das als Schicksal in der Geschichte auftaucht. Nach einem anderen Fragment dieser Zeit, Religion, eine Religion stiften, ist “Begreifen” “beherrschen”.91 Etwas zu begreifen bedeutet, es mit seinen Begriffen zu verstehen. Diese Begriffe sind im begreifenden Denken des Menschen ideell vorhanden und zugleich als Begriffe vom Etwas als Gegenstand gedacht. Das Etwas wird nur durch Begriffe begriffen, mit denen als mit seinem ideellen Besitz der Mensch es versteht. Dadurch werden Begriffe auch als dem Gegenstand zugehörig gedacht. Der begriffene Gegenstand ist daher der vergegenständlichte Begriff. Vor allem ist etwas an sich ohne begriffliche Hinweise überhaupt Nichts. Wenn etwas beispielsweise ein Baum, ein Bach genannt wird, sind schon hierin der Namensbegriff, Baum oder Bach, und seine Eigenschaftsbegriffe als dem Etwas gehörig, ferner als das Etwas selbst gesetzt. Aber keiner gebot dem 89 Auch über die Kritik des Jenaer Hegel an dem absoluten Subjekt als Prädominanz des Begriffs über das Lebendige, das vom Absoluten als dem Subjekt, als der Bewegung des zu sich Werdens, und von der unendlichen Subjektivität als dem freien, allgemeinen und vermittelnden Denken, und endlich vom Geist als der diese beiden konstituierenden, absoluten Subjektivität unterschieden werden muss, siehe Jaeschke, Walter: Absolute Subject and Absolute Subjectivity in Hegel, S. 193-205. 90 HH, S. 89. RH, S. 56. 91 Dies ist höchstwahrscheinlich Hegels Formulierung gegenüber Schellings Beschreibung des Menschen als des Herrn der Natur in seinen Philosophischen Briefen von 1795: Der Mensch ‘weist die objektive Welt in ihre bestimmte Schranken, über die sie nicht treten darf. Indem er das Objekt sich vorstellt, indem er ihm Form und Bestand giebt, beherrscht er es’. Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus, S. 107. 47 Menschen, dieses da Baum oder Bach zu nennen. Nur sein Begreifen setzt Begriffe vom Gegenstand als diesen Gegenstand selbst. Das Begreifen von Etwas heißt also begriffliches Beherrschen von Etwas. Und insofern der lebendige Mensch im ideellen Besitz von Begriffen ist, wird dem begriffenen Gegenstand durch die Vergegenständlichung der Begriffe eine Lebendigkeit seiner Begriffe, “eine Seele” gegeben. Aber wenn der mit Begriffen belebte Gegenstand des Weiteren vom lebendigen Menschen abgetrennt und als lebendiger Träger seiner Begriffe angesehen wird, wird die Beziehung der Beherrschung umgekehrt. Dieses Moment im Begreifen ist insofern notwendig, als der Gegenstand selbst realiter vom Subjekt getrennt ist. Einen Gegenstand zu begreifen bedeutet zwar, ihn begrifflich zu beherrschen, aber ihn mit Begriffen zu beleben heißt in einem gewissen Sinne, “ihn zum Gotte zu machen”, der seinerseits Begriffe trägt und Begreifen verwaltet. Das begriffliche Beherrschen des Gegenstandes ist gleichzeitig das Beherrschtwerden durch den begrifflich belebten Gegenstand. Wenn diese beiden Momente auseinander gehen, wird das Begreifen nur ein einseitiges und gewaltsames Beherrschen und der belebte Gegenstand bloß ein unendliches Objekt, der Gott im positiven Sinne. Eben auf der Radikalisierung dieses Moments beruht das positive Denken. Aber die so positiv vergötterten Gegenstände selbst können andererseits auch als einfache Naturdinge einer unbegriffenen “bloßen Notwendigkeit unterworfen sein”. Dem Menschen, der nicht ständig ein begreifendes Leben führen kann, erscheinen sie auch nicht immer nach den begriffenen Gesetzen. Daher sind sie Hegel zufolge lediglich “bloße Halbgötter”, die kein Ewiges bewirken können. Eben darum wird ferner die vollkommene Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand, die Vereinigung von begreifendem Subjekt und begriffenem Objekt oder die Einheit der Freiheit und der Natur vielmehr als ein Ideal gedacht. Das Ideal, das so gedacht ist, “daß Natur Freiheit ist, daß Subjekt und Objekt nicht zu trennen sind”, ist “Göttliches”, das “das Objekt jeder Religion” ist (N 376). Gedacht, begriffen zu werden bedeutet in erster Linie, zum Gegenstand des Denkens, des Begreifens zu werden. Wenn also das so gedachte, zum Gegenstand des Denkens gewordene Ideal nur objektiv bleibt und wenn eine Religion dies Objektive als das “Prinzip des Lebens und der Handlungen aufstellt”, das nicht zum Subjektiven wird, ist sie positiv (N 374). Daher wird die Positivität einer Religion dementsprechend danach entschieden, ob sie das Moment der im Begreifen bzw. Denken notwendigen Vergegenständlichung eben recht nur als Moment selbst versteht oder das Produkt der Vergegenständlichung als reales Objekt missversteht. Schließlich hält Hegel die Positivität in dieser dritten Phase für ein logisches Moment, das dem Begreifen bzw. Denken notwendigerweise immanent ist. Das Denken ist in diesem Hinblick ursprünglich beschränkt. Insofern es die 48 Vergegenständlichung zur notwendigen Bedingung hat, ist es von Anfang an positiv. Seine Vergegenständlichung bedeutet, etwas bloß Einzelnes mit dem fremden allgemeinen Begriff auszustatten und diesen an die Stelle jenes Einzelnen setzen zu lassen. Das so notwendig im Denken vergegenständlichte Allgemeine ist Hegel zufolge “eine unzerstörbare Positivität”, solange der Mensch denkt (N 266).92 Aus diesem Grund sind nun in diesem Kontext auch die Kantischen Moralgesetze und das Fichtesche absolute Ich erneut einzuschätzen. Wenn die Positivität um des Denkens willen unvermeidlich ist, stellt sich eine weitere Frage, was den Menschen zum Denken nötigte. Die Antwort hängt mit dem Zustand zusammen, in dem der Mensch dazu gelangte, durch keine andere Tätigkeit mehr als das Denken unmittelbar mit der äußeren Natur umzugehen. Diesen Zustand identifiziert Hegel in der Frankfurter Zeit mit der Erzählung der noahschen Sintflut und später in der Jenaer Zeit mit der Erzählung der Namensgebung Adams, durch die der Mensch vom Reich der Bilder der Natur ins Reich seiner eigenen Namen gegenüber der Natur überging (J I.288ff. J III.189ff.). Aber nicht zuletzt darauf ist Acht zu geben, dass er dort die Trennung von der Natur als das Schicksal des jüdischen Volks auffasst. Die biblische Sintflut, mit der das Volk Erfahrung machte, versinnbildlicht, dass die feindlich gewordene Natur keine menschenverwandte Objektivität mehr hat und deshalb der Mensch gezwungen wird, das natürliche Objekt durch ein gedachtes zu ersetzen. Daher ist das Schicksal des jüdischen Volks das aller Völker, die durch solche Erfahrungen die vertraute Natur verloren, aber auch das aller Menschen, die das Verhältnis der Feindschaft durch das des Denkens überwinden wollen. Insofern kann Hegels obzwar eigentlich ungerecht negative Interpretation der jüdischen Religion jedoch nicht einfach als antisemitisch angesehen werden. Darüber hinaus merkt Hegel an, dass die Vergegenständlichung für das Denken zwar notwendig, aber nicht hinlänglich ist. Das Denken ist, einfach gesagt, das Verhältnis des Denkenden und des zu Denkenden. Zum einen ist aber dieses zu Denkende nicht nur vom Denken jenes Denkenden abhängig, sondern auch vom äußeren Gegenstand selbst. Zum anderen wird auch das Denkende weder nur durch das Naturereignis zum Denken affiziert, noch verlässt es sich allein auf das absolute Subjekt mit der freien Spontaneität. Das Naturereignis oder das absolute Subjekt als Grund für das Denken führt ohne weiteres zur Positivität. Sondern das Denkende ist vielmehr auf seine Tätigkeit selbst als Denken angewiesen. Welche äußeren Motive auch immer seien, so ist als der Grund 92 Der von Perperzak erhobene Vorwurf gegen Hegel wegen der Unterschätzung ‘alles Unmittelbaren vom Standpunkt des Begreifens’, den Hegel ‘niemals beweisen’ könne, ist nicht einmal treffend. Peperzak, Adrian: Hegels Philosophie der Religion und die Erfahrung des christlichen Glaubens, HSB 11, S. 203213. 49 für das Denken die Selbstentscheidung zum Denken schon hinreichend.93 Das Denken muss als seinen Grund nicht außer sich, sondern in sich habend betrachtet werden, nur dadurch lässt sich die freie Selbstständigkeit des menschlichen Subjekts versichern. Das Denken ist demnach die Tätigkeit selbst, durch die das Denkende das zu Denkende über den äußeren Gegenstand selbst in sich und zugleich das Gedachte durch die Vergegenständlichung im Gegenstand an sich setzt. Also ist die Tätigkeit als das Verbinden der gedachten Begriffe mit dem Gegenstand an sich auch schon die erste Bedingung für die Entscheidung der Wahrheit des Denkens. Hegel formuliert zur Betonung des Denkens als Tätigkeit im Fragment Moralität, Liebe, Religion: “Begriff ist eine reflektierte Tätigkeit” (N 374). Der Begriff als das Gedachte ist das, was als Objektives im Gegenstand an sich vergegenständlicht ist. In diesem objektiven Begriff ist deswegen schon die Tätigkeit reflektiert. Der Begriff ohne Rücksicht auf die Tätigkeit wird lediglich als Objektives verbleiben und dem Subjekt als nur etwas Erkanntes oder Gegebenes erscheinen. Daher muss die Tätigkeit des Denkens auch in Form des vergegenständlichten Objekts nicht verloren gehen, sondern wiederum als reflektiert im Begriff mitgefasst werden. Das objektive Moralgesetz Kants muss daher nun zugleich als die reflektierte Tätigkeit des sich die Maxime aufstellenden Subjekts, und das sich als das Nicht-Ich bestimmend setzende Ich Fichtes zugleich als die reflektierte Tätigkeit dieses Bestimmens erfasst werden. Außerdem lässt sich der Begriff als Objektives aber nicht allein auf die Tätigkeit des Denkens zurückführen. Er ist ja nichts anderes als irgendein Begriff von einem äußeren Gegenstand an sich, vor allem ein Begriff von einem Was- oder Wiesein des Gegenstandes an sich. Er hat deshalb auch das Sein des Gegenstandes an sich zur Bedingung. Ein Begriff von etwas, was nicht ist, ist widersprüchlich. Selbst Nichts, wenn als Relatum des Begriffs, ist als Unbestimmtheit. Insofern es einen Begriff gibt, muss sein Relatum notwendig und unbedingt sein, was und wie es auch immer sei. Aber vom Standpunkt des Seins selbst aus ist das Beziehen unseres Begriffs auf das Sein völlig gleichgültig. Das insbesondere gewichtige Frankfurter Fragment, Glauben und Sein mit Anspielung auf Hölderlins Urteil und Sein94 verrät Hegels Grundeinstellung zur Beziehung. Nämlich, “dadurch, daß es [sc. das Sein] ist, sei es deswegen nicht für uns”. Ob im Faktum des Seins dieses selbst “für uns oder nicht für uns” ist, ist für es 93 Denkexterne Elemente werden gerade durchs Denken selbst erhellt, für das nur selbst die Entscheidung zum Denken schon ausreicht, wie Schelling sie als die ‘Anticipation der praktischen Entscheidung’ zum Aufstellen eines Systems, später Hegel als den “Entschluß, rein denken zu wollen” darstellt. Schelling: Philosophische Briefe, S. 81. E I, § 36. WL I/I.56. 94 Baum, Manfred: Metaphysischer Monismus bei Hölderlin und Hegel, HS 28, S. 97. Henrich, Dieter: Hegel und Hölderlin, HS 11, S. 29-52. 50 selbst ganz und gar gleichgültig. Wenn es ist, ist es also schlechthin als sich selbst ohne Rücksicht auf die Beziehung auf uns. Lediglich vom Standpunkt des Denkens aus ist vorauszusetzen, dass das Sein für uns ist. Denn das Denken hat für seinen Begriff zwangsläufig das Sein des Gegenstandes an sich als sein Relatum zur Bedingung. Demnach soll das Sein für das Denken schon sein. Damit aber ist nicht gemeint, dass das Sein so bewiesen ist, dass es ist. Das Sein hat in sich keine Notwendigkeit für die Beziehung auf das Denken, sondern es ist für sich absolut unabhängig vom Denken. Mit anderen Worten, das “Sein kann nur geglaubt werden” (N 383). Aus der Notwendigkeit des Denkens lässt sich das Sein nicht im Voraus beweisen, sondern nur glauben. Diese Einsicht Hegels spiegelt plausibel den Einfluss der Jacobischen Philosophie wider. Während seine erste ausdrückliche Erwähnung Jacobis erst in der Jenaer Differenzschrift (1801) vorkommt, bildet für ihn schon seit der Tübinger Zeit die JacobiLektüre ein Gegengewicht gegenüber der Kantischen Philosophie. 95 Seine Lektüre scheint auch David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus (1787) eingeschlossen zu haben. In einer Polemik gegen die Unerkennbarkeit der Dinge an sich und die subjektive Begründung ihres Seins nur um des Erkennens oder Denkens willen legt Jacobi seine Lehre von Glauben und Offenbarung ausführlich dar. Für uns gibt es ‘ja für das Daseyn an sich eines solchen Dinges außer uns gar keinen Beweis, als das Daseyn dieses Dinges selbst’. Für uns, die eine äußere Bedingung für das Erkennen suchen, ist es deswegen unbegreiflich, ‘daß wir ein solches Daseyn gewahr werden können’.96 Dennoch werden wir ohne Vorkenntnis einer solchen Bedingung dieses Dasein mit Gewissheit gewahr. In der 1815 dem Werk vorangestellten Vorrede heißt es: ‘das reale Seyn, das Seyn schlechthin, giebt sich im Gefühle allein zu erkennen; in demselben offenbart sich der gewisse Geist’. 97 Das Gefühl ist daher das höchste objektive und reine Vermögen des Menschen, durch das das erkennende Subjekt und das zu erkennende reale Sein schlechterdings vereinigt werden. Der ‘wahre eigentliche Name für dies Gefühl’ ist Jacobi zufolge gerade der Glaube98 – der Glaube, ‘daß wir andre würkliche Dinge gewahr werden mit derselben Gewißheit, mit der wir uns selbst gewahr werden’. Weil für uns weder ein Beweis vom Sein selbst noch von der Gewissheit des Erkennens des Seins möglich ist, müssen die beiden schlechthin 95 HLeben, S. 40. Hzeit, S. 35-36. HStaata, S. 19. HH, S. 4. Über den Vergleich zwischen Kant und Jacobi, Hutter, Axel: Vernunftglaube. Kants Votum im Streit um Vernunft und Glauben Jc, S. 241-256. Hutter zufolge ist der Glaube der freien Vernunft, in dem sich beide treffen, auch ein Scheideweg, in dem Punkt, dass er für Jacobi unmittelbar erkennbar, unbeweisbar, für Kant ein Versuch ist, ‘Nichtidentität und Identität’ ‘von Verstand und Vernunft’ ‘in einem kritischen Vernunftbegriff zu vermitteln’. 96 Jacobi: David Hume, S. 32-33. 97 Jacobi: Vorrede, S. 424. 98 Jacobi: David Hume, S. 29. 51 geglaubt werden, ‘indem, was keines strengen Beweises fähig ist’, ‘nur geglaubt werden kann’.99 Ja, vielmehr der Beweis von beiden, d. h. vom Sein und von der Gewissheit des Erkennens, sind die beiden selbst, d. i. das Sein selbst und das Erkennen selbst. Jedes für sich lässt sich gar nicht beweisen, bevor das Sein da ist und das Erkennen in Angriff genommen wird. Und weil mit und in dem Gefühle bzw. Glauben der Vereinigung von beiden das Dasein selbst erkannt zu werden beginnt und dadurch die Vereinigung selbst zustande kommt, ist eben der Glaube das höchste Erkenntnisvermögen, dem Gott weiterhin die Vereinigung des Denkenden und des zu Denkenden, von Denken und Sein, garantiert. Er ist ‘also eine unmittelbare Überzeugung ohne beweisenden Schluß’.100 Deshalb sind auch alle Inhalte, die in ihm gewusst werden, nichts anderes als Offenbarungen. Aber gerade dieser Gesichtspunkt unterscheidet Hegel von Jacobi. Denn in erster Linie gilt der Glaube für Hegel nicht als das Vermögen der Vereinigung, der Wahrheit. Glauben ist lediglich “die Art, wie das Vereinigte, wodurch eine Antinomie vereinigt ist, in unserer Vorstellung vorhanden ist”, aber nicht das Vereinigte selbst. Es ist nur unsere Vorstellungsweise über das Vereinigte, in der Jacobi zufolge zwar die Vereinigung entsteht, die aber weder Inhalt des Vereinigten selbst verrät noch dessen Wahrheit versichert. 101 Eine Antinomie, Entgegengesetzte zu vereinigen ist eine Tätigkeit. Die Vereinigung des Erkennenden und der wirklichen Dinge, des Denken und des Seins, kommt eben in dieser und durch diese Tätigkeit selbst an den Tag, und wird nicht durch den von der Tätigkeit differenten Glauben versichert. Wenn die Tätigkeit als ein Objekt reflektiert und in unserer Vorstellung gesetzt wird, ist sie nur ein Geglaubtes. Und “das Geglaubte” als Objektives, in dem die Tätigkeit reflektiert ist, ist in Gefahr, die Tätigkeit selbst zu verlieren (N 382). Das Erkennen im Glauben beginnend verliert seine erkennende Tätigkeit selbst. Dann würde das Vereinigte nicht durch das Erkennen selbst, sondern durch das im Glauben versicherte Offenbaren von oben gegeben. Die Jacobische Philosophie ist daher, nach Hegels Glauben und Wissen, ein “Dogmatismus der absoluten Endlichkeit und Subjektivität”, der Gott alles anheim stellt, nur im Horizont der Endlichkeit verbleibt und immer noch nicht in die Philosophie eintritt. (JKS 378) Dagegen gilt der Glaube für Hegel nur vor der vereinigenden Tätigkeit. Während die Vereinigung durch die vereinigende Tätigkeit ans Licht gebracht wird, hat diese Tätigkeit umgekehrt kein 99 Jacobi: David Hume, S. 21. Bonsiepen, Wolfgang: Philosophie, Nichtphilosophie und Unphilosophie Jc, S. 263-264. 101 Sandkaulen zufolge besteht die Hegelsche Kritik darin, dass der von Jacobi aus dem Spinozismus gerettete Person-Gott nur als ‘daß’ bleibt, nicht als ‘was’ gewusst wird, während es für Jacobi um ‘die freie Identität eines Wer’ Gottes geht. Sandkaulen, Birgit: Dass, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen Jc, S. 217-237. Über die Hegelsche Reduktion des Gottesgedankens auf eine Zweieinigkeit im ähnlichen Sinne, Oeing-Hanhoff, Ludger: Metaphysik und Freiheit, S. 103-105. 100 52 anderes Motiv als die Vereinigung selbst.102 Daher sollte die Vereinigung vorher sein, bevor sie sich selbst durch die Tätigkeit entlarvt. Aber dass sie vor der Tätigkeit sei, kann nur gemeint oder geglaubt, nicht bewiesen werden. Also ist der Glaube lediglich in diesem Moment gültig. Darüber hinaus ist die vereinigende Tätigkeit immer, irgendwelche Entgegengesetzten zu vereinigen. Aber damit diese selber als die Entgegengesetzten, als “die Glieder der Antinomie”, gefühlt oder erkannt werden können, muss es im Voraus irgendwie vorausgesetzt sein, dass sie “schon vereinigt worden” sind. Wie ohne Maßstab kein Vergleich möglich ist, so ist ohne Vereinigung kein Gegensatz möglich. Für die Möglichkeit der Entgegengesetzten muss die Vereinigung als ihr “Maßstab” vorausgesetzt werden (N 382). Trotzdem, dadurch, dass sie als die Entgegengesetzten vereinigt werden müssen, ist “nicht bewiesen”, dass ihr Maßstab, ihre Vereinigung selbst ist. Sondern weil dadurch die Vereinigung vorgestellt wird, wird auch vorgestellt, dass sie ist, und de facto wird “diese Art von Vorhandensein der Vorstellung von derselben” “geglaubt”. Die Vereinigung selbst “kann nicht bewiesen werden”. Sie lässt sich vor der Tätigkeit nicht erkennen, sondern nur glauben (N 383). Aus dieser Darlegung Hegels ergibt sich eine wichtige Aporie. Durch die vorausgesetzte Vereinigung als Maßstab wird aber andererseits auch nicht erkannt, dass die Entgegengesetzten sind. Wie und woran lässt sich erkennen, dass die zu Vereinigenden eben Entgegengesetzte sind? Lassen sich auch diese nach dem geglaubten Maßstab nur glauben? Die Antwort Hegels darauf lässt die onto-logische Basis seiner in dieser Zeit wachsenden Dialektik sehen. Nämlich die Vereinigung ist nicht der Maßstab, durch welchen die Entgegengesetzten als Entgegengesetzte erkannt werden, sondern “an welchem die Entgegengesetzten, als solche, als Unbefriedigte erscheinen” (N 382). Die Entgegengesetzten erscheinen als solche. Alles, was in dieser Welt erscheint, ist beschränkt, unbefriedigt, abhängig, also mindestens dem Unbeschränkten, Befriedigten, Unabhängigen entgegengesetzt. Als Grund für das Sein dieses Entgegengesetzten wird die Vereinigung als Maßstab nur vorausgesetzt und geglaubt. Aber vom Standpunkt der Vereinigung selbst aus hat sie gleichfalls keine Notwendigkeit der Beziehung auf die vereinigende Tätigkeit, wenn und weil sie ist. Sie ist für sich schlechthin absolut unabhängig. In diesem Sinne sind Vereinigung und Sein Hegel zufolge “gleichbedeutend”. Diese strukturelle Gleichdeutigkeit von beiden besagt nichts anderes als ihre Identität. Die Vereinigung ist ein epistemologischer Ausdruck von Sein, und das 102 Gawoll identifiziert den Geltungsbereich des Glaubens bei Hegel mit dem Jacobischen und kommt endlich zum falschen Schluss, dass Hegel auch die Notwendigkeit erkenne, ‘die Unmittelbarkeit eines transsubjektiven Seins anzunehmen, das dem Denken und Handeln Objektivität verleiht’. Gawoll, HansJürgen: Von der Unmittelbarkeit des Seins zur Vermittelung der Substanz. Hegels ambivalentes Verhältnis zu Jacobi, HS 33, S.133-151, insbesondere 136, 151. 53 Sein 103 ein ontologischer von der Vereinigung. Die Vereinigung, die vor der vereinigenden Tätigkeit geglaubt werden kann, ist das Sein. Denn die zu vereinigenden Entgegengesetzten finden “nur in Einem Sein” ihre Vereinigung. Dafür spricht die Tatsache, dass Entgegengesetzte obwohl unvollständig, jedoch sind, also obwohl in beschränkter Weise, dennoch ihr Sein verraten. Dass sie vereinigt werden, heißt, dass sie immer mehr zum vollkommenen Sein selbst werden. Die vollständigste Vereinigung ist das eine Sein, das alle Weisen von einem Sein der Entgegengesetzten in sich vereinigt. Allerdings ist die Vereinigung bzw. das Sein vor der vereinigenden Tätigkeit unbeweisbar, lediglich geglaubt.104 Dieser Glaube ist vom Standpunkt der Tätigkeit des Menschen aus notwendig, solange Entgegengesetzte in endlicher Weise sind, von Natur aus immer vollständiger sein wollen, also nach und in dem einen Sein selbst vereinigt werden sollen. Er ist daher zuerst vor allem Glaube an das eine Sein selbst. Aber das geglaubte Sein ist andererseits “ein Gedachtes”, “ein Getrenntes”, also selbst ein dem Denkenden Entgegengesetztes, nicht das Sein selbst. Ohne diese Berücksichtigung kann es sich eben durch den Glauben und das mit diesem beginnende Erkennen bzw. Denken missverstehen, “daß es verschiedene Arten von Vereinigungen, von Sein gibt”. Denn wenn das Sein vorher zuerst geglaubt werden muss und erst durch die vereinigende Tätigkeit wie Erkennen, Denken u. a. an den Tag kommt, lässt sich damit meinen, dass das Sein in verschiedenen Weisen ist, in dem Maße, wie es durch diese Tätigkeit erfasst wird. Aber durch diese Tätigkeit wird das Sein selbst nicht schlechthin bestimmt, sondern lediglich seine eine Art von Sein im Erkennen oder Denken gesetzt.105 Das Missverständnis beruht darauf, dass nicht berücksichtigt wird, dass der Glaube “nicht Sein, sondern ein reflektiertes Sein” ist. Das geglaubte und gedachte Sein ist nicht das 103 Hier wird vom Verfasser der Ausdruck ‘das Sein (selbst)’ oder ‘das eine Sein’ auf gleicher Ebene mit Hegels Ausdruck “Sein” (ohne Artikel!) gebraucht, das von einem Sein unterschieden werden muss. N, S. 383. 104 Dies kann Hegels indirekte Antwort gegenüber Schellings Ansatz sein, der den ‘Uebergang vom Unendlichen zum Endlichen’ als ‘das Problem aller Philosophie bezeichnet. Später, im zweiten Jenaer Systementwurf, erklärt Hegel ausdrücklich, es könne “nicht gefragt werden, wie das Unendliche zum endlichen werde, oder herausgehe”. Schelling: Philosophische Briefe, S. 82. J II.173. 105 Wenn der Grundsatz von Marx, dass ‘das Bewußtsein der Menschen’ nicht ‘ihr Sein’, sondern ‘ihr gesellschaftliches Sein’ ‘ihr Bewußtsein bestimmt’, als die logische und reale Priorität des überhaupt nicht unbedingt unter die Tragweite des Denkens zu subsumierenden Seins verstanden wird, nimmt ihn Hegel hier vorweg. Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie MEW 13, S. 9. Auch Baum zufolge ist das Hegelsche Glauben ‘ein Voraussetzen von Sein als vom Subjekt unabhängiges’. Baum, Manfred: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik, S. 51. Auch: Metaphysischer Monismus bei Hölderlin und Hegel, HS 28, S. 99. Aber Baum interpretiert hier das Glauben falsch, bis auf die Unbeweisbarkeit des Seins selbst. S. 97-100. Bei Hegel können vielmehr alle fortschreitenden Urteile über das Sein, das in der vereinigenden Tätigkeit als ein Sein auftritt, insgesamt ein Beweis des Seins selbst sein. Also ist das Urteil nicht nur die Ur-Teilung als die Trennung des Seins, wie bei Hölderlin, sondern auch ein Dasein des Seins selbst in der Trennung, und es “bezieht sich hiemit auf das, was es an und für sich ist”. WL II.55. 54 Sein selbst, das außer der vereinigenden Tätigkeit objektiv ist, sondern das, was durch die Tätigkeit als ein Objektives reflektiert ist. “Das, was ist, muß” eben deswegen “nicht geglaubt werden”, “nicht reflektiert” werden. Aber, “was geglaubt wird, muß sein”. Was geglaubt wird, ist zweifellos das, was irgendwie ist, aber als ein Objektives gedacht, reflektiert, insofern vom Denkenden getrennt ist. D. h. die Trennung von Sein und Denken beruht nicht auf dem Sein, sondern auf dem Denken als einer vereinigenden Tätigkeit. Weil das Denkende auch vom Sein getrennt ist, will es sich mit dem Sein vereinigen. Aus der Notwendigkeit dieser Vereinigung muss die Tätigkeit angefangen werden, und daher kann das Sein zuerst nur geglaubt werden. Diese Einsicht Hegels zeigt, dass sein so genannter Idealismus106 de facto eigentlich vom ontologischen Realismus ausgeht. Sie lässt sich als die Restitution des traditionellen ontologischen Horizontes einschätzen, in dem Sein als solches (ον ή ον) vor der Entfaltung des Erkennens angenommen ist. Dagegen wird das Sein, das vor dem Erkennen nicht gewusst, sondern nur geglaubt werden kann, für Hegel erst durch diese Tätigkeit gewusst. Ohne Rücksicht auf die Tätigkeit bildet das gedachte Sein als Objektives lediglich die Ursache der Positivität. Es gibt allerlei vereinigende Tätigkeiten des Menschen; deshalb lässt sich missverstehen, dass auch das Sein selbst in allerlei Weisen ist. Dies ist aber Hegel zufolge eben durch die Endlichkeit des vereinigenden Seienden und seiner vereinigenden Tätigkeit verursacht, durch die das Sein nicht als solches, sondern unvollständig nach dem verschiedenen Blickwinkel ans Licht gerät. Aber das Sein müsste an und für sich sowohl vor als auch in der Beziehung auf uns immer ein identisches sein. Das eine Sein wird durch die Tätigkeit, obwohl nur zum Teil, jedoch immer irgendwie erhellt. Dafür präsentiert Hegel als Beleg, dass “ist” in allen Satzformen enthalten ist. Der Satz ist ein logischer Ausdruck irgendeiner vereinigenden Tätigkeit. Im Satz ist immer das “ist” enthalten, das Subjekt und Prädikat zusammenschließt und vereinigt. Das “ist” ist für Hegel nicht nur eine logische Kopula, die ein Attribut des Subjekts als ein Prädikat darstellt, sondern vor allem bringt es “ein Sein” ans Licht. Dieses eine Sein muss doppelsinnig verstanden werden. Es besagt zum einen, dass irgendein Subjekt als irgendein Prädikat ist. Ein Subjekt kommt zur Sprache als ein Sein mit einem Wesen, das sein Prädikat bezeichnet. Hier verrät dies eine Sein ein Sein des Subjekts als Wassein.107 Des Weiteren bedeutet es auch, dass das Sein 106 Über die unglückliche Geschichte der durch die falsche Benennung vom ‘absoluten’ oder pauschal ‘Deutschen Idealismus’ verdrehten Philosophie Hegels u. a., deren Einführung Jaeschke von der Schrift Friedrich Albert Langes ausgehend verfolgt, Jaeschke, Walter: Zur Genealogie des Deutschen Idealismus, Materialismus und Spiritualismus, S. 219-234. 107 Der Essenzialismus von Aristoteles verharrt in diesem Sinn von “ist”. ‘Das Sein wird vielfältig ausgesagt (το ον λεγεται πολλαχως)’. Aristoteles: Metaphysica, 1003a. Physica, 185a. De Anima, 410a. In der Form der Aussage, die in allen Texten des Aristoteles mit ‘man sagt’ oder ‘es wird gesagt, dass’ 55 selbst als ein Sein eines Subjekts mit einem Wesen ist. Hier verrät dies eine Sein als “ist”, obzwar in beschränkter Weise, jedoch irgendwie das Sein selbst, das in einem Moment seiend als ein Sein eines Subjekts mit einem Wesen ist.108 Gerade aus diesem Grund, d. i. weil jedes Subjekt immer auch eine Seinsweise des Seins selbst ist, ist “in jedem Satz” das “ist” enthalten (N 383). Das “ist” ist das fortwährende Präsens des Seins selbst in der vereinigenden Tätigkeit des Endlichen. Und eben deswegen ist das Sein selbst in einem Sinne auch die vereinigende Tätigkeit mit dem Endlichen als Mittel. 109 Mit anderen Worten ist das Sein selbst, das Unendliche in allen Vereinigungsformen des Endlichen, obwohl unvollständig, doch immer gegenwärtig. Ergo credo ut intelligam. Denn das geglaubte Sein tritt durch die Tätigkeit des Wissens u. a. in einer Seinsweise des Seins selbst auf. Et intelligo ut credam. Denn das bloß geglaubte Sein ist nicht das Sein selbst, sondern dies wird durch die Tätigkeit des Wissens u. a. nur allmählich beleuchtet. Gerade hierauf wird sich Hegels Dialektik beginnt, wird das Sein jeweils als ein verschiedenes Wesen habend verstanden. Diese Verständnisweise, die ‘in der Ontologie’ wurzelt, nimmt Hegel in seine Logos-Ontologie auf, obwohl sie bei Aristoteles keinen Widerspruch erlaubt. Aubenque, Pierre: Hegelsche und Aristotelische Dialektik HaD, S. 214-224. Van der Meulen, Jan: Begriff und Realität, HSB 1, S. 132-133. Der Grund des Aristoteles für seine Vorgehensweise ist, dass das Sein in der Aussage als ein Was-Sein gewusst wird, aber selbst kein Glied der Aussage, d. h. kein einziges Genus der Dinge in der Definition sein kann. ουχ οιον τε δε των οντων έν ειναι γενος ουτε το έν ουτε το ον. Metaphysica, 998b. (kursive Betonung vom Verfasser). Aber dieser Satz besagt nicht, wie Koch interpretiert, dass das Sein ‘kein Gattungsmerkmal’ sei, sondern dass es wegen seiner vollständigen Allgemeinheit und Prädizierbarkeit nicht selbst als ein Genus in der Aussage ausgedrückt werden kann. Koch, Anton Friedrich: Unmittelbares Wissen und logische Vermittlung. Hegels Wissenschaft der Logik Jc, S. 322-324. In diesem Sinne bezieht sich “ist” in jedem Satz bei Aristoteles auf ein Wassein des Seins in einem Seienden, nicht auf das Sein selbst. Die Vorgehensweise ist also allerdings von der platonischen des “ist” als Teilhabe am Sein als dem obersten Genus verschieden, wie in der Erläuterung Düsings. Aber die Grenze der Aussage bedeutet für Hegel, anders als für Aristoteles und Düsing, eben die Nichtidentität eines Seins als “ist” mit dem Sein selbst. Hegel versteht “ist” weder in erster Linie ‘als Inhaltsgleichheit’ noch setzt es ‘die logische Explizierbarkeit der einen Widerspruch einschließenden absoluten Identität’ voraus. Düsing, Klaus: Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel, HS 15, S. 95-150. Der Satz ist gerade vielmehr ein Ort (τοπος), wo de facto der Widerspruch entsteht, der nach der Differenzschrift nur die “rein formale Erscheinung des Absoluten” ist. JKS, S. 27. HH, S. 113. Über die Interpretation der Aristotelischen Verständnisweise als ‘der hermeneutischen Hypolepsis’, Ritter, Joachim: Metaphysik und Politik, S. 63-66. 108 Es gibt keinen Beleg dafür, dass Hegel Thomas von Aquin, daher die analogia entis, ernsthaft untersuchte. Dennoch tritt bei Hegel auch das Moment der Existenz im traditionellen Sinne der Ontologie unter dem Ausdruck des “seyend” als dass oder ens des Seins selbst in einem Subjekt auf. Allerdings ist Hegels eigener Existenzbegriff überhaupt nicht traditionell ontologisch in dem Punkte, dass auch die ideelle Existenz des begriffenen Seins im Geiste anerkannt wird. Dies ist höchstwahrscheinlich Spinoza zu verdanken, der die Identität der Ordnung und Verknüpfung der Ideen mit der Ordnung und Verknüpfung der Dinge behauptet. Spinoza: Ethica, II., Lehrsatz 7. S. 54. Nach den heideggerschen Untersuchungen Finks fehlt Hegel daher ‘eine existenzial-ontologische Interpretation’, aber er interpretiert jedoch ‘das Sein im Seienden’. Fink, Eugen: Sein und Mensch, S. 44-78. 109 Also alles, was an die Stelle des Subjekts des Satzes als eine Substanz gesetzt wird, ist zugleich auch Subjekt, insofern der Satz die vereinigende, d. i. ur- und in den Ursprung teilende Tätigkeit des Seins selbst vermittelt und in dem Endlichen ist. Das eigentliche Urteil als diese Tätigkeit wird erst in Glauben und Wissen als der Schluss erläutert. JKS, S. 328. 56 gründen. Wegen des Widerspruchs zwischen der Endlichkeit der Vereinigungsform (z. B. Satz) und der Unendlichkeit des Vereinigungsinhalts (z. B. Sein) ist alles Endliche dialektisch,110 das sich also auf der Suche nach der vollkommenen Vereinigung mit dem Unendlichen aufheben und entwickeln muss. Eine solche vereinigende Tätigkeit ist die nun zu betrachtende Liebe. 2.3. Liebe, Leben und Sittlichkeit Obzwar Hegel die vereinigende Tätigkeit wie Begreifen, Erkennen, Denken, u. a. schon dialektisch einsieht, ist es die Liebe, die in dieser Zeit als Prinzip der Vereinigung hervortritt. Wenn die Problemlage der Religion vorher meistens gemäß dem Kantischen Prinzip der Vernunft betrachtet wurde, taucht die Liebe nun als erstes philosophisches Prinzip Hegels auf. Zu den Motiven hierfür ist bereits seit der Tübinger Zeit das Verständnis der Liebe als der vernünftigsten Sinnlichkeit des lebendigen Subjekts zu zählen. Auch könnte, wie schon erwähnt, die Entfernung vom Prinzip der Kantischen Vernunft Hegel eher zur Liebe als zu einem anderen Prinzip geleitet haben. Aber nicht zuletzt müsste ihn sein allmähliches Erkennen der Positivität als notwendiges Moment in der Struktur des Denkens selbst auch dazu motivieren. Denn wenn das Denken eine Beziehung des Denkenden auf das Gedachte ist, die in der fundamentalen Trennung von dem zu denkenden Gegenstand an sich besteht, ist die Vereinigung des Denkens nicht unmittelbar möglich, sondern sie muss durch den Prozess der Reflexion hindurch gehen. Damit das, was über einen Gegenstand gedacht ist, nicht nur objektiv als dem Gegenstand gehörig, sondern zugleich als die reflektierte Tätigkeit des Denkenden aufgefasst werden kann, wird auch das reflektierende Erkennen seiner Tätigkeit gefordert. Aber ein solches Erkennen ist vom gewöhnlichen Menschen in der Volksreligion schwer zu bewerkstelligen. Das Augenmerk Hegels bei der weiteren Behandlung der Volksreligion ist auf das Prinzip gerichtet, nach dem die Vereinigung unmittelbar im Menschen dieser Welt erscheint. Und “nur in der Liebe allein ist man 110 Der Identitätssatz, der am Widerspruchlosesten zu sein scheint, ist auch widersprüchlich, daher endlich, weil A in A=A zur Behauptung seiner höchsten Identität selbst in Subjekt und Prädikat entzweit werden muss. Kroner, Richard: Von Kant bis Hegel, Bd.2, S. 313-314. JKS, S. 24-27. Andreas Arndt sieht auch in Glauben und Sein den ‘Leitfaden der Formierung des Hegelschen Dialektik-Begriffs’, der aus der Kantischen Antinomielehre herzuleiten ist, die ‘aus dem Vorliegen der Form des Widerspruchs weder auf die Nichtigkeit des Gegenstandes’ ‘noch auf einen subjektiven Argumentationsfehler’ schließt. Arndt, Andreas: Hegels Begriff der Dialektik im Blick auf Kant, HS 38, S. 105-120, besonders 112. Dies Verständnis des Widerspruchs bei Kant lässt sich zurückverfolgen bis in seine frühere Schrift, Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763). Über das etymologische Verhältnis zwischen ‘endlich’ und ‘In-Aufhebung-Begriffenes’, Scheiber, Wolfgang: „Habitus“ als Schlüssel zu Hegels Daseinslogik, HS 20, S. 128-129. 57 eins mit dem Objekt, es beherrscht nicht und wird nicht beherrscht” (N 376). Nicht so wie das Gedachte durch das Denken an die Stelle des Gegenstandes an sich als ein Objektives gesetzt wird, wird das Objekt durch das Lieben als ein Geliebtes gelegt und beherrscht. Auch nicht an der Stelle des objektiven Ideals gebietet das Geliebte die Liebe. Das Fragment Liebe und Religion erwähnt, der “Geliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir sehen nur uns in ihm, und dann ist er doch wieder nicht wir – ein Wunder, das wir nicht zu fassen vermögen” (N 377). Die Liebe ist Vereinigung, die in der Welt der Trennung unmittelbar erscheint. Sich im Anderen zu sehen besagt gar nicht, mit begrifflichen Mitteln den Anderen zum Seinigen zu machen, sondern ein mit mir identisches Wesen im von mir getrennten Anderen als ein alter ego zu finden. Dass diese Identität auch in der wirklichen Trennung da ist, kann nichts anderes als Wunder sein. Allerdings ist dieses Wunder nicht auf eine Autorität der positiven Religion angewiesen, in dem Sinne, dass die Liebe das nicht durch übermenschliche Vermögen, sondern das von jedem gemeinen Menschen zu wirkende Wunder ist. Allein wir als gemeine Menschen können einander zwar lieben, doch haben wir Schwierigkeiten, Liebe zu erfassen. Wenn die uns unfassliche Liebe “von der Einbildungskraft zum Wesen gemacht” wird, ist sie “Gottheit” (N 376). Die wahre Religion hat diese zum Wesen objektivierte Liebe als Gottheit. Sie bezieht sich durch die obwohl von jedem unfassbare, jedoch praktizierbare Liebe auf die Gottheit. Sie ist schlechterdings “eins mit der Liebe” als mit der erscheinenden Vereinigung (N 377) und wird dadurch eins mit der Gottheit als mit der Vereinigung selbst. Aber wer nicht liebt, ist noch in der Trennung und sein “Bewußtsein der Zerteilung” hat nur “Furcht vor” der Gottheit (N 376). Der Geist des Christentums und sein Schicksal ist in diesem Hinblick auch ein Versuch Hegels, die wunderbare Liebe durch das Leben Jesu zu verstehen. Wenn Jesus im Leben Jesu als Urheber der Vernunftreligion auftritt, wird er hier als Versöhner des Menschenschicksals beschrieben. Außerdem dürfen auch die Einflüsse von Platon und Hölderlin nicht übersehen werden. Hegels Anführungen des Phaidros, die allenthalben in den Fragmenten dieser Zeit zum Vorschein kommen, machen es ersichtlich, dass er die Liebe als das Dasein der göttlichen Idee in dieser Welt erfasst. Die Liebe (ερως) bei Platon ist außer Dialektik (διαλεκτικη) und Erinnerung (αναµνησις) noch ein anderer Weg zur Idee (ιδεα). Der Liebende kann dem Geliebten gegenüber zwei Zustände der Seele haben. Einer davon ist der Zustand der Leidenschaft, die nur die körperliche ‘Lust’ verfolgt, und ein anderer Zustand der des Beschauens, durch das die Seele im Geliebten ‘ein gottähnliches Angesicht erblickt’. Nur die Seele in diesem Zustand kann sich wiederum an die göttliche Schönheit (το καλον) erinnern, die sie früher geschaut 58 hat. Der Liebende will sich daher dem Schönen im Geliebten annähern und opfert sich ‘wie einem heiligen Bilde oder einem Gotte dem Liebling.’111 Auch dem Geliebten geschieht, dass ‘er wie in einem Spiegel in dem Liebenden sich selbst beschaut’.112 Das, was beide durch die Liebe beschauen, ist das Ansehen der Seele von sich als schöner Idee vor dem Verfall. D. h. das Lieben ist das Selbsterkennen der Seele als Idee im Anderen. Diese Idee versteht Hegel aber aristotelisch eben als Leben. Denn beseelt zu sein heißt bei Aristoteles, ein Körper mit gewissen Vermögen zu sein. Nach de Anima ist gerade die Seele ‘Ursache und Grund (αιτια και αρχη)’ ‘des lebenden Körpers (εµψυχου σωµατος)’ mit solchen Vermögen im Sinne von ‘Bewegungsabstoß’, ‘Endzweck’ und ‘Wesen’. Vor allem, wenn das Wesen ‘für alles die Seinsursache (αιτιον του ειναι)’ ist, ist die Seele Prinzip des Lebens, weil das Sein ‘für alle lebenden Dinge das Leben (το ζην)’ ist.113 Also in der Liebe “findet sich das Leben selbst, als eine Verdoppelung seiner Selbst, und Einigkeit desselben” (N 379). Auf der anderen Seite konnte der Frankfurter Hegel, befreit von der Einsamkeit der Berner Zeit, Umgang mit dem ‘Bund der Geister’ pflegen, in dessen Mittelpunkt Hölderlin stand. Hölderlin erhob damals einen ernsten Einwand gegen die Ausgangspunkte des Denkens bei Kant und Fichte, d. i. die Einheit des Bewusstseins des Ich als Subjekt des Denkens und die Ichheit des absoluten Ich, und entwickelte seine eigene Philosophie der Vereinigung. Weil das Subjekt ‘nur in Relation zu einem Gegenstand’ denkbar ist, lässt es sich nicht als ein absoluter Ausgangspunkt aufstellen.114 Einen solchen Ausgangspunkt nennt Hölderlin in Urteil und Sein (1795) eben ‘Sein’, in dem das Subjekt und das Objekt ‘so vereiniget’ sind, ‘daß gar keine Teilung vorgenommen werden kann’. Die ursprüngliche Einheit als das Sein selbst wird durch urteilbegleitende Tätigkeiten geteilt; daher kann das Bewusstsein, das die Subjekt-Objekt-Beziehung des Urteils voraussetzt, beim unendlichen Progress zur ursprünglichen Einheit nur noch in der Trennung verbleiben. Diese Einheit darf aber auch ‘nicht mit der Identität verwechselt werden’, weil selbst die Fichtesche Identität von ‘Ich bin Ich’ die Trennung von Subjekt-Ich und Objekt-Ich zur Voraussetzung hat.115 Für Hölderlin erscheint die ursprüngliche Einheit vielmehr im Schönen als sie 111 Platon: Phaidros, 250a-251a. Platon: Phaidros, 255d. 113 Aristoteles: De Anima, 415b. Ross zufolge ist die Seele bei Aristoteles also Form oder Entelechie des lebenden Dings als εµψυχον σωµα. Ross, David: Aristotle, S. 134. 114 Henrich, Dieter: Hegel und Hölderlin, HSB 11, S. 31. Und: Historische Voraussetzungen von Hegels System in Hegel im Kontext, S. 65. 115 Hölderlin: Urteil und Sein, S. 226-227. Über die Kritik Hölderlins an Fichte und die Differenz beider, Henrich, Dieter: Konstellationen, S. 73-77. S. 87-94. Baum, Manfred: Metaphysischer Monismus bei Hölderlin und Hegel, HS 28, S. 88-92. 112 59 selbst, und wird vor allem durch die Liebe ergriffen.116 Aber wie sich die Vereinigung selbst nicht durch urteilende Tätigkeiten hervorbringen lässt, ist auch sein Begriff der Schönheit ‘ganz unbestimmt’. 117 Die Schönheit ist lediglich die in dieser Welt erscheinende Vereinigung und die Liebe ebenfalls nur die vereinigende Tätigkeit in dieser Welt. Beide als die ursprüngliche Einheit und deren Tätigkeit erlauben eigentlich überhaupt keine Trennung, die begriffliche Bestimmung ermöglicht. Demnach kann das Sein selbst, das nur als die unbestimmbare Schönheit erscheint, ‘niemals zum Erkenntnisgegenstand werden’.118 Dagegen besteht für Hegel die Liebe selbst auch in der Trennung.119 “In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes, als Einiges und das Lebendige fühlt das Lebendige” (N 379). Die Liebe ist eben darum wunderbar, weil sie noch in der Trennung doch die Vereinigung der Trennung selbst sehen lässt. Wenn sie also auch eine Form der Trennung in sich einschließt, lässt sie sich durch die, obzwar in Form der Trennung unvollständig, jedenfalls das Sein selbst zutage bringenden Urteile und ferner Schlüsse verstehen. Die Ur-Teilung, die Trennung selbst im Urteil wird daher bei Hegel anders als bei Hölderlin zur Form eines Seins der Vereinigung selbst, später eben zur Form des Erkennens des Absoluten im Endlichen.120 Darüber hinaus übte die Jacobische Philosophie auch ohne Zweifel einen wichtigen Einfluss auf Hegels Prinzip der Liebe aus. Der junge Hegel will wie immer die freie Wahrheit, und er gibt die Losung aus, “Frieden mit der Satzung, die Meinung und Empfindung regelt, nie nie einzugehen”, sondern sich mit Meinung und Empfindung versöhnen zu können (Br 38). Dieser Ausdruck im an Hölderlin gerichteten Gedicht Eleusis deutet darauf, dass sowohl die Idee Platons als auch die ursprüngliche Einheit Hölderlins eben in der Tätigkeit der Liebe in dieser Welt da sein können und sollen. Für Hegel ist die Liebe die vernünftigste Empfindung, die eine solche Versöhnung ermöglicht. Aber wenn sie selber ohne Trennung entsteht und keine Trennung erlaubt, würde auch sie leicht eine Satzung hinsichtlich der anderen getrennten Meinung und 116 Henrich, Dieter: Historische Voraussetzungen von Hegels System in Hegel im Kontext, S. 66. Henrich, Dieter: Hegel und Hölderlin, HSB 11, S. 45. 118 Henrich, Dieter: Konstellationen, S. 56. 119 Dieter Henrich zufolge ist Hegels Verständnis der Liebe Resultat der Verkürzung von Hölderlins Denken. Die Liebe Hölderlins sei ‘Vereinigung von Strebensrichtungen, deren eine aufs Unendliche, deren andere auf Hingabe ging’. Aber Hegel denke ohne Rücksicht auf diese Doppelung die Liebe ‘gerade als Vereinigung von Subjekt und Objekt’. Henrich, Dieter: Hegel und Hölderlin, HSB 11, S. 43. Diese Einschätzung könnte jedoch aus dem übermäßigen Nachdruck auf den Einfluss Hölderlins entspringen. Dazu muss die durch Jacobi entzündete Problemlage von Glauben und Wissen um Sein vor und nach der vereinigenden Tätigkeit ergänzt werden. Diese vereinigende Tätigkeit in der Welt der Trennung führt über Hölderlins Position ‘in Jena zum Begriff der Subjektivität’, die nicht nur einfach hingabe-, sondern vor allem erkenntnisfähig ist. RH, S. 53. 120 Über den Einfluss Herders auf diese Einsicht Hegels, Bienenstock, Myriam: Zu Hegels erstem Begriff des Geistes (1803/1804): Herdersche Einflüsse oder aristotelisches Erbe?, HS 24, S. 39-42. 117 60 Empfindung bilden. Die Vereinigung ohne Trennung ist für uns Getrennte unmöglich. Sie ist immer in der Trennung, selbst die Vereinigung eben der Getrennten, durch die sich das Vereinigte selbst, die Idee bzw. die ursprüngliche Einheit allmählich darstellt. Die Liebe ist das Göttliche, das die getrennten endlichen Menschen in dieser Welt verwirklichen. Der göttliche Inhalt der Liebe ist Hegel zufolge Leben, das nicht ‘wieder als Objekt entgegengesetzt’, sondern als die objektive Gestalt eben des Subjekts selbst verwirklicht wird.121 Dieses Verständnis spiegelt nicht nur die Aristotelische Lesart von Platon, sondern auch mit großer Präzision die folgende Rede Jacobis in Über die Lehre des Spinoza (1785) wider; ‘Liebe ist Leben; sie ist das Leben selbst’. ‘Nur die Art der Liebe’ ist Jacobi zufolge verschieden, aber ‘der Lebendige’ kann lediglich ‘durch erregte Liebe’ ‘im Lebendigen allein sich darstellen; Lebendigem sich zu erkennen geben’. Und dadurch wird der Mensch ‘einer göttlichen Natur teilhaftig’. 122 Das Göttliche ist für Hegel zwar eigentlich “reines Leben”, aber der Mensch in Gestalt der Unreinheit nimmt durch die Liebe daran teil. Und weil “Reines Leben” “Sein” ist (N 303-304), ist jeder ein Lebendig-Sein. Die Liebe Jacobis ist aber ohne Vermittelung selbst das göttliche Leben und ‘der Mensch wird, durch ein göttliches Leben, Gottes inne’. Wie – wie bereits erwähnt – der unbegreifbare Glaube theoretisch das gewisse Erkennen von äußeren Dingen gewährleistet, so ist die Liebe auch unbegreifbar, allein sie versichert lediglich praktisch ein mit Gott vereinigtes Leben, das ‘spekulativ gewordene – verkommene Vernunft’ durch die Ursprüngliches teilende Demonstration gar nicht verstehen und also auch nicht loben kann.123 Das Novum Hegels besteht bekanntermaßen in der Verstehbarkeit der Liebe und des durch diese vereinigten Lebens. Also tritt Jesus für ihn als Vorbild für den Geist des Christentums und sein Schicksal auf. Das Schicksal Jesu liegt in der durch ein exemplarisches, d. i. das jüdische Volk charakterisierten Trennung des Menschen von der Natur. Das, was an der Stelle der verfeindeten Natur als Objektives gesetzt ist, ist das gedachte Ideal, das seinerseits nun als ein absolutes Subjekt Menschen beherrscht. Demgemäß den Geboten des Ideals zu 121 RH, S. 54. Durch diesen Lebensbegriff als den einheitlichen Inhalt der Liebe kann die Wiederobjektivierung bzw. Positivierung der Darstellung der Einigkeit in der Liebe vermieden werden. 122 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza, S. 117-118. 123 Jacobi: Über die Lehre des Spinoza, S. 117-118. Auf seine berühmte Frage, ‘hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen?’ antwortet Jacobi mit zwei Arten Vernunft. Die demonstrative, instrumentale Vernunft, die der Mensch hat, zerreißt das schon Vereinigte, verbindet wieder die Zerrissenen durch die Vermittlung, und macht sie per Notwendigkeit voneinander abhängig. Die ‘Demonstration’, die die notwendige Beziehung der Abhängigkeit der Urteile ist, führt daher unausbleiblich zum ‘Fatalismus’. Dagegen gewährleistet nur die Vernunft als ‘der Geist’, durch die der Mensch besteht, die unmittelbare Gewissheit des Vereinigten. S. 123, 156, 245, 258-265. Aber Hegel begreift jene Zerrissenen oder ihren Widerspruch selbst eben als ‘die Manifestation absoluter Einheit’ in diesem Vereinigten. Rühle, Volker: Jacobi und Hegel. Zum Darstellungs- und Mitteilungsproblem einer Philosophie des Absoluten, HS 24, S. 172-182. 61 gehorchen wird für den wahren Gottesdienst des Menschen gehalten. In diesem Geiste des Gebotes, der lediglich “eine unmittelbare Knechtschaft” des subjektivitätsverlorenen Menschen verlangt (N 262), herrscht im Grunde genommen nur “odium generis humani” (N 257). Jesus musste sich also nicht nur einem Teil, sondern vielmehr “dem Ganzen” des Schicksals entgegensetzen (N 261). Er musste sich “von seiner Mutter, seinen Brüdern und Verwandten” isolieren, deren Leben gefesselt war, und unter dem “Schicksal seiner Nation” allein leiden (N 328). Dagegen setzte er überhaupt das “Subjekt gegen das Gesetz” (N 387), “einen Trieb, sogar ein Bedürfnis des Menschen” gegen die Gebote. Kurzum versuchte er das Prinzip der Subjektivität zu setzen, mit dem in der Trennung die Trennung selbst überwunden werden kann. Das Prinzip der Subjektivität ist eben die Liebe. Aber trotz dieses Prinzips ist die Problemlage nicht mit einem Schlag aufzulösen, weil das Prinzip des Schicksals, dem Jesus widerspricht, radikale Feindschaft ist. Diese Feindschaft vergilt ihren Widersachern mit Tod. Sie kann daher “nur durch Tapferkeit” bis zum Kampf auf Leben und Tod “überwältigt, nicht durch Liebe versöhnt werden.” Also, “sein erhabener Versuch, das Ganze des Schicksals zu überwinden, mußte darum in seinem Volke fehlschlagen und er selbst ein Opfer desselben werden” (N 261). Dann ist es natürlich fragwürdig, ob das vorbestimmte Misslingen Jesu auf die Ungeeignetheit der Liebe als Prinzip hinweist. Die negative Antwort darauf deutet Hegel aus zwei Gründen an. Erstens ist das, was durch die Liebe zustande gebracht wird, nicht sosehr die Überwindung, als vielmehr eben die Versöhnung des Schicksals und dadurch die Wiederherstellung des verletzten Lebens. Und Jesus selbst war sich des Schicksals seines feindlichen Volkes eben als seines Schicksals, also seines Fehlschlages, sehr wohl bewusst. Um den ersten Grund zu verstehen muss der Geist des Gebotes des jüdischen Volkes im Voraus erfasst werden. Die Gebote sind Befehle des Ideals, das an der Stelle der misstrauischen Natur als Objektives gedacht ist. Insofern sie als sich objektiv und notwendig durchsetzende Gesetze aufgestellt sind, folgt auch die Beachtung der Gebote durch Menschen gleichfalls dem notwendigen Gesetz der Kausalität. D. h. die Gebote befolgenden oder nicht befolgenden Handlungen und ihre Resultate wie Ehre und Strafe bestehen nach dem objektiven Ideal sozusagen im Verhältnis von Ursache und Folge. Daher ist die Strafe gegenüber dem, der dem Gesetz widersteht, “etwas ganz Objektives”, also “nicht ganz notwendig mit der Schuld Zusammenhängendes”, sondern “so weit objektiv, daß sie Folge eines Gesetzes ist”. Dieses Gesetz der Kausalität ist auch Gesetz der Wirkung und Gegenwirkung in dem Sinne, dass Ursache und Folge gemäß dem Ideal genau einander widerspiegeln. Damit setzt sich nämlich das Gesetz durch, indem das Verbrechen unbedingt genau so bestraft 62 wird, wie es begangen wird. Nach dem Gesetz handelt es sich überhaupt nicht um Antrieb oder Situation der Schuld, sondern immer um den gesetzmäßigen Zusammenhang der Schuld oder vielmehr einer Handlung und deren naturnotwendigen Vergeltung. Sünde, die ich beging, ist “nicht ein Äußeres, dem ich entfliehe, das ich überwältigen kann”. Denn “die Tat ist die Strafe in sich selbst”. Niemand kann ein Geschehenes ungeschehen machen. Die verrichtete Handlung kann gar nicht zu einem Ungeschehenen gemacht, sondern nur nach deren objektivem Gesetz verurteilt werden. Wenn das Leben lediglich nach einem solchen Gesetz geführt werden soll, wirkt das durch die Tat verletzte Leben genau auf den Verletzer zurück. Denn “Leben ist als Leben nicht vom Leben verschieden” (N 392). Deshalb ist das verletzte Leben nicht ein bloß fremdes außerhalb des Verletzers, sondern gerade sein eigenes Leben, das auf das Ideal völlig angewiesen ist. Das Leben ist “in der einigen Gottheit” (N 280) und die erscheinende Gestalt der Gottheit bzw. des Seins selbst in der Trennung. Wenn das reine Leben Sein ist, ist ein unreines Sein Leben in dieser getrennten Welt. Das Leben, insofern es in der Trennung ist, ist zwar zugeteiltes Leben jedes Menschen, aber in dem Punkt, dass es trotzdem jeden Einzelnen in der Trennung bestehen lässt, ist es in einem gewissen Sinne das Sein selbst, das als ein einzelnes Leben erscheint. Also ist das Leben auf dem Standpunkt des Seins selbst weder unterschieden, noch verschieden. Wenn aber das Sein selbst bzw. das reine Leben nur als das Gesetz des Lebens gemäß dem als Objektives gedachten Ideal hervortritt, hat der, der ein Leben verletzt, notwendig die Verletzung seines eigenen Lebens zur Folge, weil er nur ein Einzelner ist, der das ungeteilte Leben in Form der Trennung teilt. Das Verbrechen wird zwar in der Trennung in einzelner Weise begangen, aber sein Gegenstand, d. i. das Leben selbst, kann nicht in einzelner Weise verletzt, sondern muss als das Ganze in der Trennung eingeschätzt werden, insofern es das Sein aller ist. Deswegen steht das verletzte Leben, auf das ich wie auf ein getrenntes Gewalt anwende, “mir als Schicksal gegenüber”, vor dessen Strafe ich nur Furcht habe (N 392). Hegel zufolge ist die Strafe, wenn sie nicht als dieses Schicksal, sondern vom Geist des Gebotes nur als das Gesetz verhängt wird, gar nicht zu versöhnen. Denn durch die Strafe als Gesetz der Vergeltung erfolgt letzten Endes lediglich die Verletzung des Lebens von allen beiden Seiten. Ebenso wie einer das Leben des anderen verletzt, muss sein Leben dadurch auch verletzt werden. Hier besteht das Leben nur in der Feindlichkeit. Nach dem Gesetz hat der Verbrecher “es in einen Feind verkehrt”, damit aber nur das Gesetz der Wechselverletzung des Lebens aufgestellt (N 280). Wie die feindlich gewordene Natur durch das Ideal beherrscht werden soll, so muss das durch den Verbrecher zum Feind gemachte Leben dem objektiven Gesetz des Ideals folgen. Zwischen solchen Leben ist die Versöhnung gar 63 nicht möglich. Die Versöhnung ist nur durch die Strafe als Schicksal möglich.124 Wenn das Objektive, das ich durch Handlung einsetze, zugleich als Gesetz mir gegenüber aufgenommen wird, ist mir die Strafe nicht mehr ein fremdes Resultat des Gesetzes der Handlung, sondern Schicksal. Das Gesetz der Verletzung, das ich durch die Tat im Anderen objektiv realisiere, hat also notwendig meine Strafe zur Folge. Das “Schicksal ist Gesetz selbst, das ich in der Handlung” “aufgestellt habe, in seiner Rückwirkung auf mich” (N 392). Das Schicksal ist Gesetz der Rückwirkung dessen auf mich, was durch mich objektiviert ist. Die Strafe als Schicksal ist daher “die gleiche Rückwirkung der Tat des Verbrechers selbst” auf sich. Sie ist nicht das Gesetz, das vom Verbrecher obwohl aufgestellt, jedoch von ihm getrennt, nur als Objektives bleibt, sondern in der Beziehung des Verbrechers auf sich selbst angewandt wird. Allerdings ist das Schicksal auch getrennt vom Subjekt, insofern es selbst zuerst das objektiv aufgestellte Gesetz ist. Als dieses Gesetz kann es ebenfalls vom Subjekt weder vernichtet noch außer Kraft gesetzt werden. Aber weil es des Weiteren ein solches Gesetz ist, das vom Subjekt aufgestellt wird, darum auch eben auf das Subjekt selbst wirkt, d. i. das Gesetz in der Selbstbezüglichkeit des Subjekts ist, kann sich das Subjekt durch die Aufnahme des Schicksals mit dem Schicksal vereinigen. Das mit dem Subjekt vereinigte Schicksal ist versöhntes Schicksal. Was durch die Versöhnung überwunden und vernichtet wird, ist nicht das Gesetz selbst, sondern dessen einseitige Objektivität bzw. dessen fremde Getrenntheit. Als das Schicksal, als das Gesetz in der Selbstbezüglichkeit des Subjekts ist die Strafe keine Notwendigkeit für die vergeltende Verletzung des Lebens des Verbrechers durch fremde Macht, sondern vor allem die Erkenntnis seines ebenbürtigen Lebens, das er im Anderen verletzt hat. Durch das Schicksal wird sein Leben “als nicht-seiend erkannt und gefühlt”, bevor die Strafe als Gesetz exekutiert wird (N 281). Damit bewirkt das Schicksal auch “eine Sehnsucht nach dem verlorenen Leben” (N 282). Es befindet sich “innerhalb des Gebietes des Lebens”, während das strafende Gesetz nur den Verlust des Lebens zur Folge hat (N 281). Das Schicksal, durch das der Verlust des eigenen Lebens miterkannt wird, führt ferner zur Grunderkenntnis, dass das Leben vom Leben nicht verschieden ist. In diesem Sinne ist es “das Bewußtsein seiner selbst (nicht der Handlung), seiner selbst als eines Ganzen” Lebens (N 392). Der Einzelne hat im Schicksal nicht das Bewusstsein seines 124 Die Versöhnung in der Frankfurter Zeit richtet sich genau gesagt de facto “nur an den Geist” des Schicksals in der Strafe, deshalb wird dadurch “an dem Schicksal nichts geändert”. FN, S. 50. Hegel geht höchstwahrscheinlich hier vom Modell der Strafe für den allgemeinen Zustand der religiösen Sündenfälle aus. Die Versöhnung wird aber in der Jenaer Zeit gegenüber dem Schicksal selbst durch die Betrachtung des Verhältnisses des einzelnen Daseins im Kampf versucht, d. i. durch das Bewusstmachen der Lebensgesetze in der Selbstbezüglichkeit der gegeneinander entgegenstehenden einzelnen Subjekte. 64 einen getrennten, sondern des ganzen Lebens, von dem auch sein Leben völlig abhängig ist und mit dem er sich deswegen identifiziert. Daher kann das vom Verbrecher verlorene Leben wieder zu sich zurückkehren. Denn sein Bewusstsein im Gebiet des Lebens kann “wieder Glaube an sich selbst” werden (N 393). Das “Gefühl des Lebens, das sich selbst wiederfindet, ist die Liebe, und in ihr versöhnt sich das Schicksal” (N 283). Die Aufnahme und Versöhnung des Schicksals ist als die Erkenntnis des Lebens eben die Liebe. Die Liebe erkennt “das Verlorene als Leben, als ihr einst Freundliches”. Und “diese Erkenntnis ist schon selbst ein Genuß des Lebens”, “schon eine Besserung” (N 282). Das ganze Leben, das im Schicksal als verloren erkannt wird, kann so “zu seinem reinen Leben durch Liebe wiederkehren” (N 283).125 Eben durch diese Liebe das Schicksal seines ganzen Volkes zu versöhnen, war der Versuch Jesu. Dafür wollte er das Schicksal seines Volkes, das nach dem Gesetz der feindlichen Trennung lediglich den Verlust des Lebens wiederholt, als seines annehmen und selber so “durch Liebe versöhntes Schicksal” sein. Das Schicksal, das das Verhältnis des Lebens durch die Liebe ermöglicht, hat “ein ausgedehnteres Gebiet als die Strafe”. Aber das von Jesus aufgenommene Schicksal ist darüber hinaus “auch von der Schuld ohne Verbrechen” “aufgereizt und ist darum unendlich strenger als die Strafe” selbst (N 283). Doch trotz des Wiedererkennens des Lebens hält Hegel die Bestrafung für notwendig und wirklich. Denn der Charakter der Strafe als Gesetz ist nicht aufzuheben. Keine objektivierte Tat “kann zur Nicht-Tat werden”, und jede Tat als objektiviert kann nicht umhin, dem Gesetz ihres Wesens zu folgen. Die von Jesus betonte “Vergebung der Sünde” bedeutet “daher nicht Aufhebung der Strafe” selbst und auch “nicht Aufhebung des bösen Gewissens”, das das “Bewußtsein einer bösen Handlung, eines Geschehenen, eines Teils eines Ganzen” ist (N 392-393). Bereits begangene Sünde zu verzeihen ist das Verhältnis des in der Strafe als Schicksal wiedererkannten Lebens zu restituieren. Die Erkenntnis des Lebens selbst ist zwar die Liebe, aber die Wiedererkenntnis desselben in der Strafe als Schicksal ist nichts anderes als das Bewusstsein der Sünde. Aufgrund dieses Bewusstseins wird die Strafe freiwillig aufgenommen und in einem gewissen Sinne zur Selbstbestrafung. Gerade mit einem solchen Bewusstsein wird das Verhältnis des Lebens verziehen und wieder geschenkt. Erst wenn dies Bewusstsein verallgemeinert, nämlich die kognitive Struktur des Lebens in der Strafe als Schicksal oder das Gesetz durch die Selbstbezüglichkeit des Subjekts von jedem Einzelnen vor seiner realen Handlung vorausgenommen werden könnte, dann würde die Strafe unnötig 125 Elsigan bemerkt zwar gut die ‘Aufhebung des Schicksals des schuldhaften Getrenntseins durch die Liebe in die Liebe’, aber übersieht die Wiederkehr des Lebens durch die Liebe und als Resultat der Liebe und identifiziert daher die Voraussetzung der ‘sich im Gegenständlichen’ organisierenden Liebe einfach subjektiv mit der ‘Moralität Kants’. Elsigan, Alfred: Sittlichkeit und Liebe, S. 124-125. 65 und in diesem Sinne aufgehoben. Daher wird das Gewicht vor allem auf die kognitive Struktur des Lebens in der Strafe als Schicksal gelegt. Hegel denkt diese Struktur zwar noch nicht als den Grund des Gesetzes selbst, aber er erfasst die Selbstbezüglichkeit des Subjekts im Gesetz hinlänglich. Fühlen, Erkennen und Verlieren seines Lebens im Anderen bedeutet Lieben. Aber die Erkenntnis der Liebe, die in der Strafe als Schicksal entsteht, ist keine Erkenntnis des durch das Verbrechen Verlorenen des einzelnen Lebens, nämlich des Todes, sondern des reinen Lebens im verlorenen einzelnen Leben. Das reine Leben kann hier nicht “ein negatives Einfaches” oder ein negatives Unbestimmtes sein, aus dem alle Mannigfaltigkeit wie vor der Trennung ausgeschlossen ist (N 302). Sondern vielmehr ist es die Wiedervereinigung des Lebens selbst in seiner Reinheit, die in der Welt der Trennung kognitiv erlangt wird. “Dies Reine” des Lebens ist eigentlich “die Quelle aller vereinzelten Leben” (N 303). Darum ist das Leben immer auf das Leben bezogen, auch noch in der Trennung, in der alle einzelnen Handlungen verrichtet werden. Das reine Leben, das durch die Liebe im Schicksal erkannt wird, ist das Leben in der Selbstbezüglichkeit. Aus diesem Grund drückt Hegel zuerst das reine Leben als “Selbstbewußtsein” aus. Das reine Leben ist das Selbstbewusstsein des Subjekts in der Selbstbezüglichkeit seines Lebens. Dieses Selbstbewusstsein begleitet das einzelne Leben des Subjekts, das in der Beziehung auf das ganze Leben seine bestimmten Handlungen will und verrichtet. Das Selbstbewusstsein ist also auch das, was als “das Allgemeine der bestimmten Handlungen” erkannt wird. Für dieses Erkennen ist die Abstraktion von allen Handlungen und Taten notwendig, durch die “der Mensch war oder sein wird” (N 302). Das Selbstbewusstsein als das dadurch erkannte Allgemeine ist schließlich nichts anderes als Sein bzw. das Sein selbst. “Reines Leben ist Sein”, insofern das Leben ein Sein jedes Lebendigen ist (N 303). Ontologisch kommen alle Trennungen vom Sein selbst her und hängen davon ab. Epistemologisch aber ist das Sein selbst durch das Selbstbewusstsein des Menschen in der Trennung erlangbar. Insofern die höchste Gestalt des einen Seins des Menschen als eine Vereinigung in der Welt der Trennung das Leben ist, beinhaltet sein Selbstbewusstsein das sich auf sich selbst beziehende, reine Leben. Dagegen ist in den seienden Naturdingen die Selbstbeziehung des Lebens oder Seins selbst unmöglich, vielmehr die Andersheit desselben herrschend. Aber in dem Maße, wie das Naturding als Anderes des Menschen zum Bewusstsein des Menschen im Verhältnis seines Lebens kommt, wird die Andersheit überwunden und zu einem Relatum der Selbstbeziehung des Lebens oder Seins selbst. Das Sein selbst kann endlich lediglich im Menschen ideell rein bestehen. Das Selbstbewusstsein des Menschen ist das ideale Dasein des reinen Lebens oder vor 66 allem, göttlichen Seins selbst. Hegel drückt auch zuerst das Bewusstsein des reinen Lebens als “reines Selbstbewußtsein” aus. Weil das reine Leben das Selbstbewusstsein ist, ist das Bewusstsein des reinen Lebens oder des Seins selbst Bewusstsein des Selbstbewusstseins. Das Selbstbewusstsein ist das, was der Mensch in der Selbstbezüglichkeit seines Lebens ist oder mit einem Wort, sein Wesen. Das Bewusstsein des Selbstbewusstseins wäre also Bewusstsein des Menschen von seinem Wesen, das in der reinen Selbstbeziehung des Lebens oder Seins in ihm vorhanden ist. Das Selbstbewusstsein in diesem Bewusstsein ist rein, weil nicht sein Inhalt, sondern die Selbstheit oder Selbstbezüglichkeit seines Inhalts fortwährend bis zur Vereinigung zum Bewusstsein kommen würde. Also das reine Selbstbewusstsein bzw. das “Bewußtsein reinen Lebens wäre Bewußtsein dessen, was der Mensch ist” (N 302). Der Irrealis loco citato drückt keine Vermutung eines Unwirklichen aus, sondern stellt die gegenwärtige, durch die Trennung gekennzeichnete Stufe des Bewusstseins dar, das im Futurum erhalten werden soll.126 Die objektive Bedingung für das Sein des Menschen ist in erster Linie die Trennung, in der allein er das Bewusstsein reinen Lebens erlangen kann. Die Trennung ist die gegenwärtige Wirklichkeit in der Geschichte. Sein Bewusstsein dieses geschichtlichen Lebens ist auf der einen Seite also auch geschichtlich, andererseits aber geht es durch das weitere Bewusstsein von der Selbstbeziehung des geschichtlichen Lebens über seine Geschichtlichkeit hinaus.127 Das Bewusstsein des reinen Lebens müsste so durch das wesentliche Erkennen von dem, was er in der Geschichte war oder sein wird, als das Bewusstsein dessen, was der Mensch ist, d. h. vom Wesen des Menschen, das als in ewiger Gegenwärtigkeit seiend gefasst ist, erhalten werden. Das reine Leben oder das Sein selbst kann in dieser Weise im Bewusstsein des Menschen vom Wesen vorhanden sein und als Inhalt seines Selbstbewusstseins begriffen werden. Nun wird das Gesetz vermittels des Schicksals mein Gesetz und das Leben des Anderen 126 Jaeschke zufolge entspringt der Irrealis im Satz aus der Wendung der Einheit, die unumgänglich Trennung und Differenz befestigt. HH, S. 88. Die nur in der Welt der Trennung mögliche Aussprache über das eine Leben als die Einheit kann der Form selbst der Trennung oder Differenz nicht entgehen, daher lässt sich nur andeuten, dass der Irrealis in der Wirklichkeit der Trennung zur Realisation im Futurum der Einheit kommt. Es gibt auch eine andere Formel, die bekanntermaßen ohne Bezug auf das Bewusstsein schlechterdings das bezeichnet, was aller Entgegensetzung vorausliegt, d. i. “reines Leben ist Sein”. N, S. 303. 127 Also ist Hegels Rede vom Selbstbewusstsein, die hier plötzlich aufzutauchen scheint, überhaupt nicht ohne Beziehung mit dem Ausdruck Schellings, ‘die Geschichte des Selbstbewußtseyns’ in der schon unter dem Titel, Allgemeine Uebersicht der neuesten philosophischen Literatur 1797/98 erschienenen Schrift. Schelling: Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre, S. 262 (382). Später auch: System des transzendentalen Idealismus (1800), S. 331. Vgl. auch mit der Darstellungsabsicht der Wissenschaftslehre von Fichte als ‘Historiographen’ ‘des menschlichen Geistes’, Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre, S. 77. 67 vermittels der Liebe mein Leben. Das Schicksal ist das Gesetz in der Selbstbezüglichkeit des Ich, in der das Erkennen meines Lebens im Anderen die Liebe ist. Das Gesetz verliert als Gesetz seine einseitige Objektivität und verträgt sich mit meiner erhabensten Neigung im Verhältnis des Lebens. Auch eine andere Neigung, die auf der erhabensten Liebe basiert, kann “eine Geneigtheit” sein, ohne einen Konflikt zu antizipieren und “so zu handeln”, “wie die Gesetze gebieten würden”. Alle solchen Neigungen sind selbstgesetzgebend. Das Gesetz ist nun das lebendige Allgemeine in den Neigungen des Subjekts. Hier ist wiederum die Sittlichkeit in der Tradition der Hexis ersichtlich. Hegel nennt “diese Übereinstimmung der Neigung” mit dem Gesetz “das πληρωµα des Gesetzes”.128 Die Erfüllung des Gesetzes in den Neigungen ist eine Synthese, in der Subjekt und Objekt vereinigt sind. Hegel drückt demnach das πληρωµα bzw. die Erfüllung als “ein Sein” aus. Weil das Sein selbst in der Welt der Trennung nur als “die Synthesis des Subjekts und Objekts, in der Subjekt und Objekt ihre Entgegensetzung verloren haben”, erreicht werden kann (N268), ist die Erfüllung jeweils als eine Synthese, daher als “ein Sein, eine Modifikation des Lebens” (N 266). Sie ist ein Ausdruck, ein Sein des Seins selbst als ein Leben, in dem erst die Vereinigung des Subjekts und Objekts, des Einzelnen und Allgemeinen, rein erscheint. De Facto ist die Vereinigung in allen Seienden insofern in einem gewissen Maße realisiert, als sie da sind. Es besteht in der Welt weder rein Einzelnes noch rein Allgemeines. Die Einzelheit ohne Allgemeines wäre reine Andersheit und die Allgemeinheit ohne Einzelnes reine unbestimmte Abstraktion. Es gibt nichts, was ohne Selbstheit und ohne Bestimmtheit da sein kann. Aber obwohl alles Endliche ein Zusammengesetztes von beiden ist, erscheint es jedoch nur in Form der Trennung. Die Gestalt des Endlichen, die in der Trennung unmittelbar als eine Vereinigung erscheint, ist gerade das Leben. Im Leben sind einzelne Elemente in eins mit dem Allgemeinen des Seins. Aber das Leben ist noch lediglich eine reale, äußere Einheit des Seins. D. h. die Einheit stellt für das Leben nur seine objektive, nicht aber seine subjektive Form dar. Erst wenn das Leben die Einheit als seine Selbstbezüglichkeit fühlen und erkennen kann, ist das Sein selbst in ihm lebendig vorhanden. Das Sein selbst ist nur als das Selbstbewusstsein des Lebens, daher nur im dazu fähigen Menschen anwesend und ans Licht zu bringen. Der dazu fähige Mensch ist Hegel zufolge vor allem der der Liebe fähige Mensch. Im Selbstbewusstsein des liebenden Menschen bezieht sich das Leben auf das Leben. Also wird das das getrennte Leben beherrschende Gesetz der Neigung meines Lebens immanent. Das πληρωµα ist nicht ein einfaches äußeres Vorhandensein des Lebens oder Seins, sondern ein Sein 128 πληρωµα tritt schon in der Berner Zeit zuerst in Form des Aorist Infinitiv auf, um den Versuch Jesu zu beschreiben, “Sazungen der Juden” mit dem “Geist” “der Tugend” zu πληρωσαι. FS, S. 198. 68 desselben selbst. Wenn sich das Leben nicht durch die Liebe im Verhältnis befindet, also, wenn die Neigungen meines Lebens und das alle Leben beherrschende Gesetz noch als Subjekt und Objekt einander entgegenstehen, dann wird dieses als ein gedachtes Allgemeines jene nur befehligen. D. h. das Gesetz ist für das Subjekt Gebot, als Pflicht erfüllt zu werden. Aber der Befolgung des Gebotes als Pflicht fehlt eben “das Gernetun” (N 267). Das Gebot kündigt nur “die Herrschaft des Begriffs in einem Sollen” an (N 266), die nichts anderes als die Herrschaft ‘eines Allgemeinen und Gedachten im Menschen über die davon getrennten besonderen und wirklichen Neigungen und Triebe in ihm’129 ist. Hegel hat mit dieser Kritik wiederum das Moralgesetz Kants im Sinne. Kant zufolge sind die Neigungen ‘nur Gegner der Grundsätze überhaupt (sie mögen gut oder böse sein)’.130 Sogar die Liebe gilt ihm als ein Gebot. Die Achtung für das Liebe gebietende Gesetz in der Kritik der praktischen Vernunft131 ist für Hegel darum widersprüchlich, weil die Liebe oder das alle Pflichten gerne Ausüben überhaupt “nicht geboten werden” kann. Der Zustand der Moralität, in dem alle Pflichtgebote gerne getan werden, bleibt also für Kant als “das von keinem Geschöpf erreichbare Ideal der Heiligkeit”. In diesem gedachten Ideal konnte Kant den Widerspruch zwischen den Pflichten und dem Gernetun aus der freiwilligen Achtung aushalten, weil die “Pflichten eine Entgegensetzung und das Gernetun keine Entgegensetzung forderten” (N 267). Trotzdem bedeutet diese Kritik Hegels keineswegs Verzicht auf das Prinzip der Moralität. Sondern die Moralität bekommt über die Grenze des Kantischen Vernunftgesetzes hinaus einen neuen Status. Sie muss die “Aufhebung einer Trennung im Leben” sein,132 das gegeneinander gleichgültig oder feindlich geworden ist. Sie muss vor allem “die höchste Trennung” aufheben, die daran liegt, dass das allgemeine Gesetz des Lebens völlig gleichgültig vom einzelnen Leben getrennt ist.133 Sie ist die 129 Baum, Manfred: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik, S. 59. RGV, A63. 131 KpV, A148-149. 132 Fulda zufolge ist das Aufheben insbesondere im Sinne vom Aufdecken der Getrennten oder Entgegengesetzten als Momente der Einheit eine Methode für das πληρωµα. Fulda, Hans Friedrich: Artikel Aufheben HWP1, S. 618-619. Und: Vorbegriff und Begriff von Philosophie bei Hegel HLP, S. 2930. 133 Schon hier ist von Hegel der Inhalt des Bedürfnisses der Philosophie erkannt, obzwar dessen Ausdruck erst in der Differenzschrift 1801 mit der Wiedererscheinung des Lebensbegriffs auftaucht. Wenn “das höchste” “Bedürfnis” “des menschlichen Geistes” in der Frankfurter Zeit “der Trieb nach Religion” ist, d. i. “das Subjektive und Objektive” “durch die Phantasie” “in einem Gotte zu vereinigen” (N 332), beruht “das Bedürfnis der Philosophie” in der Jenaer Zeit auf dem Zustand, in dem “die Macht der Vereinigung” z. B. Glaube, Liebe, oder Moralität “aus dem Leben der Menschen verschwindet”, “die Gegensätze” nicht in der lebendigen Beziehung, sondern in der gleichgültigen Trennung “Selbständigkeit gewinnen” und die Formen der religiösen Phantasie als Vereinigung nicht mehr gelten. JKS, S. 14. Dies Bedürfnis der Philosophie, d. i. der Liebe zum Wissen, entwickelt sich durch noch zwei weitere 130 69 “Angemessenheit, Vereinigung mit dem Gesetz des Lebens”. Aber das, was die Vereinigung in der Trennung ermöglicht, ist Hegel zufolge die Liebe. Das “Prinzip der Moralität ist Liebe; Beziehung in Trennung” (N 387-388). Die Liebe ist die beim getrennten Endlichen mögliche, vereinigende Tätigkeit des Seins selbst, durch die sowohl mein Leben mit dem Leben des Anderen als auch meine Neigung des Lebens mit dem Gesetz des Verhältnisses des Lebens vereinigt wird. Die Übereinstimmung von beiden ist als die Tätigkeit Liebe, als das Vereinigte ein Leben, und als die Modalität des Seins selbst “ein Sein” (N 265). Das πληρωµα des Gesetzes in der Neigung, das die Liebe nach sich zieht, ist daher ein ontologisch erneut interpretierter Zustand der Moralität. Nach dieser ‘Priorität des Metaphysisch-Ontologischen’134 braucht Hegels Moralität nun eine neue Benennung, um sich vom bis auf Kant neuzeitlichen Begriff der Moralität zu unterscheiden. Sie ist gerade die Sittlichkeit, die sich in der Jenaer Zeit weitgehend als ‘institutionelle Wirklichkeit menschlichen Selbstseins’ im Verhältnis des Lebens nach dem Gesetz herauskristallisiert.135 Schließlich ist zur Formulierung des Sittlichkeitsbegriffs nicht zuletzt auf Folgendes zu achten. Die Liebe als “eine Vereinigung des Lebens” setzt “Trennung, eine Entwicklung, Erwähnungen in den Vorlesungen von 1801/02 und 1803 zum ersten Mal in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes 1807 zum Bedürfnis danach, “wirkliches Wissen zu seyn”. SE, S. 260-261, 367. PhG, S. 11. 134 Kondylis, Panajotis: Die Entstehung der Dialektik, Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802, S. 469. Aber Kondylis, der die gedankliche Entwicklung Hegels übermäßig von der Wirkungsgeschichte abhängen lässt, hält die ‘bei Hegel zum ersten Mal’ entfaltete, ontologische Seite dafür, dass sie ohne Hölderlins Ontologie ‘unverständlich’ und ‘undenkbar’ ist. Also übersieht er völlig den Unterscheidungspunkt Hegels von seinen gleichzeitigen Philosophien, d. i. sein Streben danach, gegenüber dem agnostischen Verständnis Hölderlins Sein, Gott, ferner später das Absolute in menschlicher Form zu verstehen. S. 461-463, 468, 473, 476. Ihm zufolge setzt Hegels Einflussnahme daher auch ‘die Ablehnung der Kantischen Moral bzw. Autonomie’ voraus, ferner den Verzicht auf ‘die Moral oder Freiheit’, die nicht ‘zum Höchsten führen’ können. Dass Hegel ‘seine Philosophie in den Dienst der Freiheit stellen möchte – was auch immer das bedeuten mag –’, ändere ‘nichts an dieser Tatsache’. S. 453-454, 469-470. Dann blieben ohne Freiheit als Principium Vergleiche der Philosophien nur als Auseinandersetzungen der Principiata übrig. 135 Ilting zufolge unterscheidet Hegel also schon in seiner Frankfurter Zeit ‘zwei verschiedene Grundbedeutungen im Begriff der Moralität’, nämlich die Moralität im engeren Sinne des ‘grundsätzlich von seinen sozialen Bezügen isoliert gedachten und primär sich selbst verantwortlichen Individuums’ und die Sittlichkeit, die sich aus der Kritik an jener Moralität entwickelt, diese in sich dialektisch aufhebt, und ‘zu der ein Mensch stets nur dadurch fähig wird, daß er einer Gemeinschaft angehört und zu seinem Teil an den Aufgaben der Gemeinschaft mitwirkt’. Ilting, Karl-Heinz: Die Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie MR, S. 59-60. Die konkrete Anwendung dieser Unterscheidung findet sich im Jenaer Naturrechtsaufsatz vor allem im “Verhältnis der Wissenschaften” “der Moral und des Naturrechts”. Demzufolge wird die Ethik als die Wissenschaft der “Sittlichkeit des Individuums” in die Naturrechtslehre nicht im traditionellen Sinne, sondern als die Wissenschaft der “realen absoluten Sittlichkeit” eingeschlossen, die Hegel als ‘das Prinzip der Sittlichkeit überhaupt’ ansieht. JKS, S. 467. Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 54-55. Über die Sittlichkeit als die ‘institutionelle Wirklichkeit menschlichen Selbstseins’ und die Zugehörigkeit der Rechtsphilosophie Hegels als ‘institutionelle Ethik’ zur Tradition der Aristotelischen Politik, Ritter, Joachim: Moralität und Sittlichkeit MR, S. 217-244. 70 gebildete Vielseitigkeit desselben voraus”. Die Trennung voraussetzende Liebe kann die Trennung selbst nicht vernichten. Die Trennung ist unausbleibliche ontologische Tatsache des Endlichen. In je mehr mannigfaltigen Gestalten des Endlichen das Leben vorhanden ist, desto reicher kann es sich vereinigen und “desto inniger die Liebe sein”. Aber die Liebe, die immer inniger wird, wird andererseits “desto ausschließender”, “desto gleichgültiger für andere Lebensformen”. Paradoxerweise ist die Liebe, die nicht der Trennung selbst, sondern nur den darin Getrennten entgegentritt, selbst auch eine andere Trennung.136 In der innigen Liebe verbindet sich das Leben lediglich “beim Gefühl der Individualität” mit dem Leben (N 322). Die Liebe, die nur im Gefühl der Individualität kondensiert ist, kann ihrerseits wiederum Ursprung der Feindschaft sein, weil in ihren inneren Momenten “kein Raum für Objektivität” ist (N 302). Die Lebensform, der gegenüber die Liebe leicht gleichgültig werden kann, ist z. B. vor allem das Gesetz, das objektiv gültig sein soll. Hegel warnt hier vor unmäßiger Subjektivierung der Liebe. Die Liebe Jesu war in einem gewissen Sine auch zu sehr subjektiv. Er musste aber als Mittel gegen das nur als Objektives gedachte Ideal eine solche Liebe aufgreifen, durch die er das dem Objekt überlieferte, im Subjekt abwesende Leben im Ganzen in sich aufnehmen konnte. Dadurch, dass er durch die Liebe das im Objekt verlorene Leben in sich selbst aufnahm, trennte er es vom Objekt und erwies durch seinen Tod, dass das Leben des Subjekts im Objekt tot gewesen war. Im Abtrennen des in allen autoritären Objekten toten Lebens von diesen Objekten und im Emanzipieren vom Schicksal durch die Aufnahme des im Schicksal erkannten toten Lebens besteht eben sein “größtes Schicksal” der Liebe (N 324). Aber wie sein Tod als das wirkliche Ergebnis seiner Liebe am Ende lediglich die “Wiederherstellung des leerausgehenden Lebens in der Idealität” hinterließ (N 328), so wurde für die christliche Gemeinde der Liebe “die Objektivität der größte Feind” und ihr Geist ebenso arm an Objektivität,137 wie es umgekehrt dem jüdischen Geist an Subjektivität mangelte (N 330). Daher kommt Hegel dazu, nur eine solche Liebe, die auch das Leben gemäß seinem Gesetz erkennt, als wahrhaft anzusehen. Für die einseitig innige Liebe ist die Reflexion nötig, die sie in Kenntnis des objektiven Bereichs der Trennung setzt. Hier erlangt die Reflexion zwar noch nicht deutlich, aber allmählich eine Qualifikation als unumgängliches Prinzip der Philosophie Hegels. Wenn das Gesetz mit der Neigung der 136 Dies ist auch lesbar als die der Reformation und Aufklärung immanente Gefahr ‘schlechter Subjektivität’, ‘die, ohne die Objektivität der Wahrheit sich zu eigen zu machen, unwahr und substanzlos wird’, und die endlich das Verfallen der Religion in viele fanatische Sekten und die Schreckensherrschaft des subjektiven Eigensinnes veranlasst. Oeing-Hanhoff, Ludger: Metaphysik und Freiheit, S. 216-223. 137 Eben aus diesem Grund hat die Auferstehung Jesu auf der religiösen Seite wichtige Bedeutung für die Restitution des Lebens in der “gestalteten Liebe”. N, S. 334. 71 Liebe ausgefüllt werden soll, muss die Liebe über das Gesetz reflektieren können. Dies “πληρωµα der Liebe” in der Reflexion und diese Vereinung der Liebe und der Reflexion hält Hegel für “Religiöses” (N 302). Dieser Religionsbegriff enthält das reflexive Erkennen des Gesetzes als ein notwendiges Moment im Vergleich zum Fichteschen Religionsbegriff, der nur praktische Wirkungskraft zur Verpflichtung akzentuiert.138 Die Anschauung der Liebe wird vom endlichen Subjekt durchgeführt, das nur Beschränktes aufnehmen kann, aber die anzuschauende Welt des Objekts ist unendlich. Die Reflexion lässt die Welt mit dem Allgemeinen gesetzmäßig erkennen und die Liebe das Gesetz der Welt im Subjekt lebendig da sein. Diese Religion der Liebe und der Reflexion ist als eine weitere Entwicklung der subjektiven Religion zu bewerten. Während die subjektive Religion früher das der objektiven Religion immanente Moralgesetz und die Pflicht zum Gegenstand der Liebe und der Achtung in den Empfindungen des Subjekts bildet, läßt die Religion der Liebe und der Reflexion nun umgekehrt das durch die Liebe im Inneren des Subjekts vereinigte Leben nicht auf sich selber, sondern reflexiv auf dem objektiven Gesetz des Lebens beruhen. Außerdem drückt Hegel ein durch die Liebe vereinigtes Leben ontologisch als ein Sein aus. Wenn das eine Leben in der Selbstbezüglichkeit zum Bewusstsein des Subjekts kommt, d. i. als Selbstbewusstsein des Subjekts lebendig ist, ist es eine Erscheinung des reinen Lebens oder des Seins selbst. Das Leben ist daher selber “der Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen”, des Seins selbst und des einen Seins. Das reine Leben bzw. das Sein selbst ist göttlich, ein vereinigtes Leben, ein Phänomen des Göttlichen in dieser Welt. Die “Reflexion, die das Leben trennt”, kann nicht das Leben als das Vereinigte selbst erfassen (N 309-310). Nur die Liebe versteht unmittelbar das Leben. Die Liebe kann daher eigentlich in Form der Reflexion nicht ausgesprochen oder geboten werden. Wenn dem so wäre, wäre sie wiederum die Kantische Moralität, die an der Stelle des Objekts gemäß dem Ideal befiehlt. Vielmehr die Liebe, die als ein Sollen geboten wird, ist nicht die Liebe als solche, sondern nur als ihr Name, als ihr Wort. Die Liebe selbst ist weder “eine Einheit des Begriffs” noch ein “einer Besonderheit entgegengesetztes Allgemeines”, das reflexiv erreicht wird, sondern als die vereinigende Tätigkeit selber “Einigkeit des Geistes, Göttlichkeit”, nämlich unmittelbare geistige Einheit des Unendlichen und des Endlichen. “Gott lieben” ist also kein Hingeben an das äußere Ideal, sondern “sich im All des Lebens schrankenlos im Unendlichen fühlen” (N 296). Aber insofern ist das Fühlen oder Erkennen der Liebe offensichtlich nicht wissenschaftlich oder begrifflich erklärbares Verstehen. Daraus ist ersichtlich, dass die Liebe vor allen Dingen als die Form der Vereinigung, zu der das Volk im Ganzen von 138 Siehe S. 11. 72 Natur aus fähig ist, eingeführt ist. Aber wenn die Liebe nun vom Volk gebildet und gelernt werden soll, muss sie sich jedenfalls “zugleich in einer objektiven Form” als “ein göttlicher Geist” darstellen können (N 332). Für diese Darstellung ist die Reflexion ungenügend, die in der Trennung bestehen bleibt. Das, was mittels der begrifflichen Form der Reflexion den Inhalt der Vereinigung der Liebe zum Ausdruck bringen kann, ist eben der Geist, der nun zum ersten Mal als das Hauptprinzip der Hegelschen Philosophie hervorgehoben wird. Die Einigkeit der Liebenden ist nicht zugleich die Darstellung der Einigung. Sie ist aber zugleich die Einigkeit des Geistes. Und “der Geist fasst und schließt den Geist in sich ein” (N 305). D. h. sie ist mit den kognitiven Formen des Geistes darzustellen. Obzwar der Geistesbegriff erst in der Jenaer Zeit gründlich erläutert wird, ist er schon hier als die onto-logische Tätigkeit der Philosophie aufgefasst. Dagegen versucht der natürliche “Trieb nach Religion” meistens durch die “Phantasie in einem Schönen, in einem Gott” den göttlichen Geist darzustellen. Aber im Gott der Phantasie finden Mitglieder der Religion “nur ihre gemeinschaftliche Empfindung”, mit der allein sie sich “in dem Gott der Welt” nicht vereinigen können, sondern in der Ausschließlichkeit der innigen Liebe verbleiben (N 332). Vielmehr erscheint der göttliche Geist als “der unsichtbare Geist”, der “mit Sichtbarem” der Welt vereinigt ist (N 333). Er ist sowohl unsichtbar in der Empfindung der Vereinigung als auch sichtbar im Erkennen der Welt. Auch wenn die Welt und deren Erkennen durch die Trennung bedingt sind, ist er dennoch überhaupt nicht ihnen entgegengesetzt. Sondern vielmehr enthält er das Moment der Trennung in sich und lässt sich eben deshalb vermittels Gegenstandes erkennen und darstellen. Aber damit er ohne seine Einigkeit zu verlieren in Form der Trennung dargestellt wird, müssten sich zuerst seine kognitiven Formen und Inhalte in und zu einem System stufenweise entwickeln. Die erste Form des endlichen Geistes, die in der Entwicklung steht, ist das Bewusstsein, das in der Jenaer Geistesphilosophie die Hauptrolle spielen wird. Demnach wird die Vereinigung selbst oder der göttliche Geist mit Begriffen des Bewusstseins im fortschreitenden Sinne erklärbar und fassbar. Die Vereinigung, die nach der Ordnung des Seins vor dem Erkennen lediglich geglaubt werden kann, geht nun nach der Ordnung des Erkennens den Relata der Trennung nicht voraus, sondern besteht in ihrer Relation selbst, und das Vereinigte im Ganzen lässt sich lediglich als ‘der entwickelte Begriff der Relation selber’ 139 erfassen. Sie wird nicht als solche erhalten, sondern zuerst durch die Nichtverbindung als die Trennung vom Anderen, dann durch die Verbindung als die Beziehung auf das getrennte Andere, endlich durch die Verbindung der Nichtverbindung und der Verbindung als die Beziehung auf sich im bezogenen Anderen. Diese 139 Henrich, Dieter: Hegel und Hölderlin, HSB 11, S. 49. 73 Voraussicht der Entwicklung gibt im Voraus die berühmte Formel der Dialektik bekannt, sozusagen die Einheit der Einheit und der Vielheit oder die Identität der Identität und der Nichtidentität, obwohl Hegels eigentümliche Dialektik erst in seinem Jenaer Naturrechtsaufsatz zum ersten Mal erwähnt wird.140 Das “Herausgehen des Göttlichen” in die Trennung besagt daher nichts anderes als “eine Entwicklung, daß es, indem es das Entgegengesetzte aufhebt, sich selbst in der Vereinigung darstellt”. Ein Leben, in dem das Entgegengesetzte in der Beziehung aufgehoben ist, ist ein “gestalteter Geist” in der Entwicklung (N 338). Wenn das Leben die objektive Form des Göttlichen ist, ist nun anstatt der Liebe der Geist die subjektive Form desselben. Und aus diesem Grund werden die Entwicklungen einerseits vom Unorganischen bis zum Leben, andererseits vom Bewusstsein bis zum Geist ein System der Philosophie der Natur und des Geistes in der Jenaer Zeit zusammensetzen. Nicht zuletzt ist das System des Lebens des Menschen, in dem sich der Geist daseiend entwickelt, wie unten zu betrachten, als das System der Sittlichkeit auszuprägen. 3. Jenaer Systementwürfe 3.1. Systematischer Ansatz Hegels Denken kreist bis zur Frankfurter Zeit zumeist um religiöse Themen,141 die aber nicht als eigentümliche Gegenstände der Religionsphilosophie, sondern als Versuchsmaterialien zur Verifikation für die Realisierbarkeit der geschichtlich von der französischen Revolution und philosophisch von Kant überlieferten Vernunftideen behandelt wurden. Die Idee der Vernunft, die realisiert werden soll, ist in erster Linie die Freiheit. Aber Hegel zufolge reicht die Kantische Vernunft für die Verwirklichung der menschlichen Freiheit noch nicht aus, sondern kann eher selber die Ursache der Positivität anbieten. Wenn die Freiheit, wie bei Kant, ‘Faktum der Vernunft’142 ist, 140 JKS, S. 446. Düsing zufolge behandelt Hegel zwar allerdings noch in der Jenaer Zeit nicht die Dialektik im spekulativen Sinne, sondern nur ‘als Einleitung in die eigentliche Philosophie’; allein nach der Einsicht von Dieter Henrich lässt es sich mindestens sagen, dass Hegel schon in der Frankfurter Zeit die Umformulierung seiner eigenen Dialektik beginnt. Düsing, Klaus: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, HSB 15, S. 76-108. Henrich, Dieter: Hegel und Hölderlin, HSB 11, S. 39-52. HH, S. 97100. 141 Freilich abgesehen von den politischen und naturwissenschaftlichen Forschungen dieser Zeit, die die bis zur frühen Jenaer Zeit niedergeschriebenen, aber nicht veröffentlichten Schriften, die Fragmente über die Verfassung Deutschlands, 1799-1803, und die Dissertatio philosophica de orbitis planetarum, 1801, gut belegen. HLeben, S. 85, 151. HH, S. 100, 106. 142 KpV, A56. Dieser Ausdruck ist auf zwei Weisen verstehbar. Erstens als Genetivus subjectivus der Vernunft, also das, was bei oder an der Vernunft faktisch ist, d. i. die Freiheit, und zweitens als Genetivus objectivus, das, was gegenüber der oder für die Vernunft faktisch ist, d. h. die vernünftige Welt. Wenn 74 müssen ihre Gesetze nicht nur die Stelle des moralischen Gebieters einnehmen, sondern ferner als die faktische Struktur der Vernunft nachgewiesen werden. Wenn sich die Vernunft auch bei ihrer Gesetzgebung subjektiv auf der Achtung für das Gesetz gründet, ist diese Triebfeder selber doch schon moralisch und gültig nur für das Subjekt, in dem die Vernunft bereits gesetzgebend ist. Daher bleibt sie noch lediglich als ein Sollen, nicht als das natürliche “Bedürfnis der Vernunft” (FS 106) in allen Subjekten. Der Grund für diese Herrschaft der noch fremden Vernunft im Sollen liegt vor allem darin, dass die Vernunftideen an der Stelle des Objekts als Ideal aufgestellt und als vom Subjekt der Handlung unabhängiger Gesetzgeber gedacht werden.143 In der Frankfurter Zeit erkennt Hegel die Überwindung dieser Positivität an der Aufgabe, das Bestehen des Endlichen in der Trennung und die vereinigende Tätigkeit dieses Bestehenden als die onto-logische Tatsache zu erfassen. In dem Maße, wie die ontische Vereinigung des Endlichen in der Trennung mit der logischen Struktur der Vernunft identifiziert wird, wird die Vernunft als ein Faktum erwiesen.144 Hegel versteht die subjektive Tätigkeit der Vereinigung als die Liebe und die objektive Gestalt des Vereinigten als das Leben. Die Liebe wäre in Wahrheit das sinnliche Bedürfnis der Vernunft zu nennen, weil sie Kant nur im subjektiven Sinne des ersteren die Freiheit zum Ausdruck bringt, würde diese bei Hegel zur an und für sich freien Vernunft gehören, die die vernünftige Struktur der Welt erkennen und schaffen kann. 143 Diese Diagnose ist zugleich auch ein Leitfaden der Fragmente über die Verfassung Deutschlands. Die Abtrennung zwischen den Vernunftideen und dem Subjekt der Handlung kommt im gesellschaftlichen politischen Bereich wieder als der “immer sich vergrössernde Widerspruch zwischen” den “unbekannten” Ideen, die die gemeinen “Menschen bewußtlos suchen, und dem Leben, das ihnen angeboten und erlaubt wird”. Die souveränen Staaten für jene Ideen moralisch verbindlich zu machen bedeutet, nur die Wesensgleichheit der Macht und der abstrakten Ideen zu übersehen und Gleiches mit Gleichem zu verbinden. So wird “von seynwollenden Philosophen und Menschheitrechtelehrern” und “in ungeheuern politischen Experimenten” eine mechanistische Staatsgewalt, die keinen freien Spielraum für ihre Teile erlaubt, dafür gehalten, im “Gewand von Vernunftgrundsätzen” “alles Detail” von Gesellschaft, Volk und Individuen “zu bestimmen”. Dagegen müssen Hegel zufolge “in einem Staate” das für die Staatsgewalt unmittelbar Notwendige und das für sie Zufällige, aber für die gesellschaftliche “Verbindung eines Volks” Notwendige so unterschieden werden, dass jedem autonomer Spielraum versichert wird. Dies ist nichts anderes als ein Versuch Hegels, die Vereinigung als Verhältnis in der Trennung zu realisieren. SE, S. 16, 172, 174, 178. 144 Dem gründlichen Realismus der Trennung in der Welt verdankt sich auch die erst in der Jenaer Zeit dargestellte Logik um das Verhältnis. Das realistische Verstehen der Welt ist ferner Wurzel seiner Identitätstheorie der Wahrheit, die in sich sowohl die epistemologische, formelle Übereinstimmung eines Gegenstandes mit unserem Urteil als auch die ontologische eines Gegenstandes mit sich selbst, mit seinem Begriff einschließt, aber insofern sie geistig ist, nur als begriffliche, also idealistische, Struktur ans Licht kommt, wie Halbig bezüglich Hegels späterer Philosophie des Geistes analysiert. Halbig, Christoph: Objektives Denken, S. 181-217, auch Das ›Erkennen als solches‹, in Hegels Erbe, S. 138-163. Dagegen entgeht Hegels realistische Seite dem Verständnis Horstmanns von der Hegelschen Vernunft als der ‘Primärstruktur’ der Wirklichkeit ‘in einem teleologischen Prozess’. Horstmann, Rolf-Peter: Die Grenzen der Vernunft, S. 165-187. Findlay versteht die Hegelsche Erkenntnislehre als ‘idealistischen Realismus’ auf der Basis des ‘durchaus’ teleologischen Idealismus, der die Welt mit ‘ihren tiefen Unvernünftigkeiten’ als ‘den unentbehrlichen Rohstoff unseres eigenen vernünftigen Lebens’ ‘vom Geiste abhängig’ mache. Er scheint also Hegels ontologischen Realismus zu verfehlen. Findlay, J. N.: Hegel der Realist, HSB 1, S. 141-149. 75 allen Menschen sinnlich immanent und die durch sie erlangte Vereinigung vernünftig ist. Diese Vereinigung in der Trennung ist Hegel zufolge auch ein Sein als ein einzelnes Subjekt, das je mit seinem allgemeinen Wesen objektiv vereinigt ist. In der Jenaer Zeit zielt Hegels Denken darauf ab, solche Einsicht im eigenen Bereich der Philosophie gründlich zu entfalten. Es richtet sich überhaupt darauf, die FaktumOntologie der Vernunft durch die Tätigkeit des Subjekts zu systematisieren. Für sein Verlangen nach der philosophischen Systematisierung spricht schon sein am Ende der Frankfurter Zeit geschriebener Brief an Schelling; “In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordnetern Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln” (2. Nov. 1800. Br 59). Das, was diesem Wandel entsprechend nun allmählich als ein Hauptprinzip auftritt, ist eben der Geistesbegriff, von dem schon in den letzten Seiten der Schrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal die Rede war. “Der Geist erkennt nur den Geist” (N 312), und “nur der Geist faßt und schließt den Geist in sich ein” (N 305). Diese Sätze müssen überhaupt nicht spiritualistisch, sondern subjektivitätsontologisch gelesen werden. Das, was Hegel unter diesem Begriff zuerst verstehen will, ist die gleiche Natur von Mensch und Gott, nämlich, dass “zwischen Mensch und Gott, zwischen Geist und Geist” die “Kluft der Objektivität nicht” besteht.145 Der erkennende Geist ist vom zu erkennenden Geist nicht verschieden, wie im Verhältnis zwischen dem sehenden Auge als Subjekt und dem gesehenen Berg als Objekt. Jener Geist ist diesem “nur einer und ein anderer darin, daß er ihn erkennt” (N 312). Der Geist, der die Liebe Jesu antrieb, ist “ein göttlicher Geist” im Menschen, der die Vereinigung des Lebens ermöglicht (N 332). Der Geistesbegriff macht daher die Einheit 145 Oeing-Hanhoff zufolge ist der Geist Hegels ‘nicht als eigene relationale und personale Seinsweise Gottes’, sondern nur ‘als die bleibende Wesensidentität von Vater und Sohn’ keineswegs der Heilige Geist in der christlichen Trinität, der nicht aus dem Gott als Logos, sondern als Person der Liebe hervorgeht. Daher reduziere ‘Hegel also die Dreipersönlichkeit Gottes auf eine Zweieinigkeit’. Oeing-Hanhoff, Ludger: Metaphysik und Freiheit, S. 91-120. Auch für Pannenberg ist Hegels geistiger Gott nicht der göttliche Geist ‘im Sinne des trinitarischen Geistesbegriffs als ekstatisches Sein beim andern’, also als Liebe im Sinne des von seiner Stelle selbstwegrückendes Hingeben des Geistes ans andere. Pannenberg, Wolfhart: Der Geist und sein Anderes HLP, S. 151-159. Dagegen sieht Jaeschke die Zweieinigkeit Hegels nicht als einen ‘unbewußten Fehltritt’ bei der Auffassung des christlichen Trinitätsgedankens, sondern als ‘Ausdruck einer bewußten Korrektur der kirchlichen Tradition’ an. Der Geist, der ‘als etwas Drittes von Vater und Sohn’ ausgehe und eigene Persönlichkeit habe, sei bei Hegel Resultat des ‘Verstandesdenkens’, das drei Personen vorstellen, aber deren göttliche Einheit nicht erklären könne. Damit nicht drei Götter entstehen, müsse die Persönlichkeit ‘als bloßes Moment’ der göttlichen Einheit gedacht werden, und diese Einheit eben als der ‘sich in seiner Gemeinde wissende’ Geist. RH, S. 79-110. Die erste Rede Hegels von der eigenen Trinität als Einheit der Zweiheit ist im Fragment einer Naturrechtsvorlesung, 1802 aufzufinden. FN, S. 53. Über die in der Logik sich erfassende Persönlichkeit des Geistes als Moment, Redlich, Anneliese: Die Hegelsche Logik als Selbsterfassung der Persönlichkeit. 76 des Unendlichen und des Endlichen möglich. Die Liebe ist auch ein Erkennen im platonischen Sinne des Sich-Findens im geliebten Anderen. Wenn ein Glaube von der Liebe ausgehen will, ist das “Glauben an Göttliches” also “nur dadurch möglich, daß im Glaubenden selbst Göttliches ist, welches in dem, woran es glaubt, sich selbst, seine eigene Natur wiederfindet” (N 313). D. h. der Glaube ist nur möglich, wenn der Glaubende mit dem Geglaubten Gleiches, Göttliches, obzwar beschränkterweise, in sich hat. Diese gleiche Natur von beiden ist vor allen Dingen eben der Geist.146 Aber für die Vereinigung von beiden sind noch zwei Probleme aufzulösen. Erstens ist die Liebe zuvörderst Erkennen des Liebenden, nicht des Geliebten. Damit sie auch Erkennen des Geliebten sein kann, müssen sie und ihre Einigkeit zugleich ihm gegenüber darstellbar und prüfbar sein. Freilich könnte für den geliebten Gott keine solche Darstellung nötig sein. Aber zur wahrhaften Tätigkeit der Vereinigung des Endlichen mit dem Unendlichen ist auch die kognitive Prüfung des Vereinigten erforderlich. Darüber hinaus ist der Geist Gottes, der im Glauben durch die Liebe erkannt wird, zuerst unsichtbarer Gegenstand. Wenn die Liebe nur als unmittelbare Erkenntnis des unsichtbaren Gegenstandes dargestellt würde, würde sie leicht in die Gefahr der subjektiven Transzendenz oder des Spiritualismus laufen, welches sie immer mehr ausschließlich macht. Nicht zuletzt ist also zu überlegen, wie der unsichtbare Geist des Unendlichen ein Gegenstand des Erkennens des Endlichen sein kann. Die Antwort des Frankfurter Hegels ist kurz und klar onto-logisch. “Daß das Göttliche erscheine, muß der unsichtbare Geist mit Sichtbarem vereinigt sein” (N 333). Der unsichtbare Geist des Unendlichen müsste sich für seine Erscheinung mit Sichtbarem vereinigt haben, das für den endlichen Geist erkennbar ist. Seine Erscheinung ist sowohl Erscheinung im sichtbaren Endlichen als auch im Erkennen des endlichen Geistes. Was dies erweist, ist gerade nichts anderes als das Endliche selbst. Denn das Endliche heißt das, was nur durch sich selbst nicht sein kann und zu seiner Existenz Höheres als sich benötigt. Dieses Höhere wird durch das Erkennen des Endlichen selbst als Geistiges und Allgemeines in ihm enthüllt. Insofern das Endliche ein sichtbarer Gegenstand des Geistiges erkennenden Geistes ist, ist es kein bloß zufälliges Naturding. Sondern es ist ein Faktum der Vernunft, in dem der Geist Gottes erscheint. Dadurch kann das von Kant nur rein subjektiv deklarierte Faktum der Vernunft erst als objektiv bewiesen und bestätigt werden. Und der Glaubende kann erst durch dieses Erkennen und Darstellen der göttlichen Natur im Endlichen seinen Glauben zur Wahrheit erheben und seine 146 Diese Bestimmung der Identität bzw. Einheit zwischen Vater und Sohn, Gott und Mensch als Geist führt im Jenaer Naturrechtsaufsatz zur ersten Versicherung, dass das Absolute der Geist ist. JKS, S. 464. HLeben, S. 177-178. 77 wahre Vereinigung ausweisen.147 Hierin ist das Thema der Liebe im Glauben schon als ein Thema der Erkenntnis zwischen Subjekt und Objekt im Wissen aufgestellt, und der ontologische Geistesbegriff ermöglicht die epistemologische Einheit von beiden in der Form der Reflexion. Der endliche Geist erkennt jedoch de facto nicht unmittelbar die göttliche Natur in ihrer Vollständigkeit. Das, was er erkennt, ist zuerst nur “der Stoff in der Form des Logos” (N 307). Der Logos in der Welt ist entzweit in Stoff und Form. Und die logische Form des gegebenen Stoffs zu erkennen, ist die göttliche Natur zu erkennen. Aber insofern Gott in seiner Erscheinung als die logische Form des Stoffs in einem Gegenstand betrachtet wird, sind Gott selbst und der Logos verschieden. Diese Verschiedenheit entspringt der Endlichkeit des erkennenden Geistes und des erkannten Gegenstandes und ist daher nur für diesen Geist. Den Satz “Gott war der Logos” hält Hegel also für kein Urteil. Denn das Prädikat im Satz drückt weder Begriff noch Allgemeines eines Seienden aus, sondern ist “selbst wieder Seiendes, Lebendiges”. Der Satz besagt nur, dass beide eigentlich eins sind. Er deutet auch an, dass insofern Gott kein Gegenstand der unmittelbaren Erkenntnis des endlichen Geistes ist, seine Natur nur vermittelst der Erkenntnis seines Logos in der Welt erkennbar ist. Der Logos ist objektiv “als ein Wirkliches, ein Individuum” und subjektiv “als Vernunft zu nehmen” (N 306). Sowohl ein Individuum oder ein einzelner Gegenstand als auch die Vernunft haben alle die Zweifachheit des Logos von Stoff oder Inhalt und Form (ύλη und ειδος). Diese Zweifachheit tritt in der Existenz und im Urteil als die Entgegensetzung zwischen Sein und Nichtsein, Einzelnem und Allgemeinem u. a. auf. 148 Daher verrät die Übereinstimmung der vernünftigen Erkenntnis mit einem Gegenstand nur den Grad der Wiedervereinigung des entzweiten Logos, also der Erkenntnis des unendlichen Geistes. Diesen Grad bezeichnet Hegel auch durch “die Gleichheit oder Ungleichheit des Lebens” als eines gestalteten Geistes mit dem unendlichen Geist, da das Leben auch das objektive Wiedervereinigte des Logos ist (N 307). Vor allem macht Hegel darauf aufmerksam, dass der Grad der Erkenntnis in einem fortschreitenden System nur erhöht werden kann, wenn der gestaltete Geist in der Ordnung des Logos besteht. Der 147 Dies ist nichts anderes als der Gottesbeweis dadurch, dass ‘mit dem Gedanken der Endlichkeit die Endlichkeit selbst im Gedanken überwunden’ wird. De Vos, Lu: Unmittelbares Wissen und begriffenes Selbstbewußtsein des Geistes. Jacobi in Hegels Philosophie der Religion Jc, S. 346. Höchstwahrscheinlich eben deshalb gibt es bei Hegel keinen eigenen, für sich bestehenden Gottesbeweis, weil sein ganzes System des Denkens über die Endlichkeit der Beweis ist. Z. B. über die Wissenschaft der Logik als den ontologischen Beweis Gottes, RH, S. 120-132. Dazu, Wagner, Falk: Theo-Logik, S. 195-220. 148 Diese negative Seite des Erkennens des Absoluten wird zwar erst in der Differenzschrift formuliert, aber das Motiv lässt sich aus diesem Verhältnis des den Geist erkennenden Geistes ersehen. Hier erfolgt auch die erste Erwähnung des späteren Begriff des Logos nicht nur im christlichen, sondern im antiken Sinne des ‘Harmonischentgegengesetzten’. Riedel, Manfred: Dialektik des Logos? Hegels Zugang zum „ältesten Alten“ der Philosophie HaD, S. 33-41. 78 unendliche Geist kann nur als System der Erkenntnis des endlichen Geistes völlig erkannt werden. Das System ist allerdings der Ort der Selbstaufhebung des Endlichen und zugleich der Selbsterhebung zum Unendlichen. Nur insofern ist die Erkenntnis des Liebenden auch die des Geliebten und des Weiteren die Selbsterkenntnis des Geistes als die Einheit von beiden. Demnach müsste sich der Geistesbegriff, wie im erwähnten Brief, auch auf das System der Erkenntnis übertragen lassen. 3.2. Konzept des philosophischen Systems Die Philosophie als System verkörpert sich in der Jenaer Zeit jedoch erst nach der kritischen Propädeutik gegenüber vorhandenen Philosophien, weil die polemische und negative Haltung, wie später in der Einleitung der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, (1820/21) retrospektiv ausgesagt, leichter als etwas Belehrendes und Positives in einer Philosophie anzuerkennen ist. Insoweit ist das letztere “immer das Schwerste und Wichtigste” (VGP 55). In diesem Sinne sind Hegels zahlreiche kritische Schriften dieser Zeit nicht einfach negativ, sondern ein Streben, zur Systematisierung des Schwersten und Wichtigsten zu gelangen. Vertretend für die Suche nach dem System im Durchgang durch die Kritik ist in erster Linie die Differenzschrift, wo seine Philosophie zum ersten Mal als das System des Absoluten begriffen wird. Aber hier wird meistens nur über die Form des Systems nachgedacht, in der das Absolute “fürs Bewußtseyn konstruirt” wird (JKS 16); die Ausführung des Systems selbst steht noch im kritischen Kontext. Die reine Form des Absoluten in seiner Erscheinung ist Widerspruch. Denn selbst der Satz der Identität als Ausdruck seines absoluten Selbstseins ist unmöglich ohne Moment des Widerspruchs. A=A bringt zwar die Identität des A zum Ausdruck, aber zugleich in der entzweiten Form des Subjekts und des Prädikats oder Objekts. Das entzweite A ist nicht mehr A selbst. A ist nun identisch mit A, das nicht mehr A selbst ist, oder mit B. A=B. A ist identisch mit B, das jedoch das entzweite A selbst ist. A ist endlich A nur als B, das zugleich nicht A selbst und das entzweite A selbst ist. Alle Begriffe und Dinge, die nur als identisch mit sich selbst sein können, können diesem Prozess nicht entrinnen, sei es in der Satzform des Subjekts und des Prädikats, sei es in der Bestandsform des Subjekts und des Objekts bzw. des Anderen. Die Reflexion setzt die Identität und die Nichtidentität jedes Seienden eben als Widerspruch oder Gegensatz, kann daher mit der “Erscheinung des Absoluten” (JKS 32) selbst umgehen. Und die transzendentale Anschauung149 fasst den Widerspruch in 149 Die einzige Quelle dieser Wendung ‘transzendentale Anschauung‘, die bei Kant und anderen nicht vorkommt, ist Zimmerli zufolge ein Druckfehler von ‘intellectuelle’ in der Schellingschen Schrift, System 79 der “Beziehung aufs Absolute” (JKS 27), d. i. die Identität und die Nichtidentität im Verhältnis der Identität. Hegel beabsichtigt hier das System des Absoluten, das “im transcendentalen” oder “philosophischen Wissen” durch die Reflexion und die transzendentale Anschauung rekonstruiert wird (JKS 28). Das so konzipierte System der Philosophie wird erst 1803/04 zum ersten Mal in Form eines Vorlesungsmanuskriptes, aber mit neuen begrifflichen Mitteln entworfen; ferner sind – im Blick auf den Systementwurf – Manuskripte für die Vorlesungen von 1804/05 und 1805/06 überliefert. Wichtige Ansätze für diese drei Entwürfe enthalten aber schon zwei Fragmente aus dem Winter 1801/02 und drei Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten vermutlich vom Sommer 1803.150 Vor allem das Fragment die Idee des absoluten Wesens (1801/02) lässt Hegels früheste Skizze für das System der Philosophie erkennen, abgesehen von den vorher angefertigten Schriften, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796/97), dessen Verfasserschaft noch im Dunkeln bleibt,151 und der zwei Systemfragmente (1800), die nur mit Schwierigkeit als Vorstufen des Systems angesehen werden können, aber von H. Nohl dafür gehalten und so betitelt wurden, und System der Sittlichkeit (1802/03), das in der Form und Methode Schellings152 geschrieben wurde. Das Fragment die Idee des absoluten Wesens hat die Absicht, das absolute Wesen für die Erkenntnis als Bewegung zu entfalten und darzustellen, in der es selbst “in der Idee sein Bild gleichsam entwirft, sich in der Natur realisirt, oder in ihr sich seinen entfalteten Leib erschafft, und dann als Geist sich resumirt, in sich zurückkehrt und sich selbst erkennt” (SE 262). Das System der Philosophie bilden demnach vier Teile, “der Idealismus oder die Logik”, die nämlich “als Wissenschaft der Idee selbst Metaphysik” ist, “die Philosophie der Natur” als “die Wissenschaft der Realität der Idee”, “die Philosophie des Geistes”, in der sich die Idee “als absolute Sittlichkeit” organisiert, und die “Philosophie der Religion und der Kunst”, in der die reale Idee “als freyes Volk” “zur reinen Idee zurükkehrt, und die Anschauung Gottes organisirt” (SE 263-264). Insbesondere der selbstständige Status dieses vierten Teils erinnert noch an den Einfluss der Schellingschen Einteilung im System des transzendentalen Idealismus (1800) und in der Schrift Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art, ihre Probleme aufzulösen (1801).153 Aber das des transzendentalen Idealismus. Hegel aber verwende ihn bewusst als eigenen prinzipiellen Terminus nicht mehr im Sinne von intellectueller, sondern transzendentaler Anschauung, die er aber später nicht mehr benutze. Zimmerli, Walter Christoph: Die Frage nach der Philosophie, HSB 12, S. 186-187 Anm. 195 Anm. 207-208. 150 HH, S. 150, 157, 160. 151 HH, S.76-80. 152 HH, S. 152. HZeit, S. 159, 171, 174. 153 Schelling klassifiziert in der Vorrede und Einleitung zum System des transzendentalen Idealismus das 80 System der Philosophie im ersten ausführlichen Entwurf von 1803/04 erhält mit Ausschluss des vierten schon die bekannte Struktur der Triplizität, die sich bis zur letzten Enzyklopädie Hegels(1830) durchsetzt. Und im dritten Systementwurf (1805/06) schließt die Geistesphilosophie suggestiv Kunst, Religion, Wissenschaft in sich ein, die die Unterteilung des absoluten Geistes in den späteren Enzyklopädien gestalten. Deshalb sind Hegels spätere Systeme schließlich ‘als modifizierende, konkretisierende, aber bruchlose Entfaltung dieser ersten Systemskizze’154 anzusehen. In Bezug auf den Systementwurf ist ein anderes wichtiges Fragment das Wesen des Geistes (1803). Dies bietet die erste ausführliche Darstellung des Verhältnisses von Natur und Geist an, aus der auch schon die Beziehung zwischen Natur- und Geistesphilosophie zu erblicken ist. Die Natur ist hiernach “das andersseyn des Geistes”. Diese Definition hat zweifache Bedeutung. Zum ersten ist die Natur für den Geist “ein anderes überhaupt”. Dinge, die überhaupt gegeneinander nur als anderes sind, sind die, die zuerst nichts Gemeinsames oder Allgemeines unter sich haben. In diesem Sinne tritt die Natur dem Geist nur als irgendein bloßes Einzelnes auf und ist als “die Einheit” oder “das wahrhaffte Ganze” unerkennbar. Sie kann höchstens nur jeweilige empirische Notwendigkeit der zufälligen Einzelnen sein, deren Gesetze aber auch nicht in Form der Einheit, sondern der Vielheit der Einzelnen, also nur als Resultat der empirischen Verallgemeinerung erscheinen. Das Erkennen des Geistes von dieser Vielheit der unverbundenen Einzelnen nennt Hegel “das gemeine Erkennen”. In der Philosophie handelt es sich nicht um dies Erkennen, sondern um das Begreifen des Geistes von der lebendigen Allgemeinheit durch und über ein solches Erkennen hinaus. Allerdings lässt sich durch die poetische Anschauung “ein absolutes Ganzes, ein lebendiges” in der Natur erkennen. Aber das poetische Erkennen kann auch nicht zur wahren Allgemeinheit gelangen. Denn es heißt, nicht im ganzen Reichtum der Natur, sondern in ihrem jeden Einzelnen, d. i. “im Busche, in der Lufft und im Wasser” ihre Lebendigkeit anzuschauen, die deswegen noch durch “eine absolute Aüsserlichkeit des Seyns” beherrscht wird (SE 372). Zweitens ist die Natur als das Anderssein des Geistes aber dem Wesen nach nichts anderes “als er selbst, gesetzt als ein entgegengesetztes” (SE ganze System der transzendentalen Philosophie in zwei Grundwissenschaften, d. i. Naturphilosophie und transzendentalen Idealismus, und redet ferner vom absoluten durchgreifenden Skeptizismus, der quasi die Rolle der Logik spielen würde. Ferner wird der transzendentale Idealismus in theoretische, praktische Philosophie, Teleologie und Philosophie der Kunst unterteilt. Schelling: System des transzendentalen Idealismus, S. 329 –352. Diese zweifache Haupteinteilung ändert sich in der Schrift Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art, ihre Probleme aufzulösen in eine dreifache: von der rein theoretischen realistischen Naturphilosophie über die praktische idealistische Philosophie zur Philosophie der Kunst oder zum Real-Idealismus bzw. objektiv gewordenen Idealrealismus. Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art, ihre Probleme aufzulösen, S. 637-659. 154 HH, S. 151. 81 370). Nur in diesem Sinne kann die Natur Gegenstand der Philosophie sein und “zu einem absoluten Ganzen” erhoben werden. Diese Bedeutung der Natur basiert auf der spezifischen Eigenschaft des Geistes. Denn nur der Geist kann den Gegensatz als seinen Gegensatz erkennen, dadurch dessen Äußerlichkeit aufheben und sogar auch im Gegensatz zu sich zurückkehren. Das, was er in der Natur als seinem Anderssein im Grunde findet, ist gerade er selbst als Wesentliches und Geistiges der Natur, und durch diese Selbstbeziehung des Geistes in seinem äußeren Verhältnis zur Natur wird die Natur eben als der “Geist in seinem Andersseyn”, also “als ein Ganzes” erkannt. Die Natur, deren Einzelne gegeneinander nur als anderes überhaupt sind, ist im Wesentlichen der Geist in seinem Anderssein, dessen Einzelne nach dem geistigen Wesen in ein Ganzes vereint werden. Das, in dem seine Einzelnen nach ihrem wesentlichen Verhältnis in einem Ganzen vereint sind, ist nichts anderes als Leben. Die Natur ist durch die eigentliche Erkenntnis des Geistes erst das “Leben in ihrem ganzen Reichtum”, dessen allgemeine Einheit auf den Geist in der Selbstbezüglichkeit angewiesen ist (SE 373). Hier ist die Struktur des Erkennens als Sich-im-AnderenFindens im Frankfurter Thema von Liebe und Leben bis zum Erkennen des Seins überhaupt von Natur und Geist ausgedehnt. Dies Erkennen ist darum möglich, weil die Natur ontologisch der Geist selbst als das Anderssein seiner selbst, mit anderen Worten, das Faktum der Vernunft in ihrer Äußerlichkeit ist. Der Prozess des Selbsterkennens des Geistes in der Natur ist eben die Naturphilosophie. “Der Geist hebt die Natur, oder sein Andersseyn auf, indem er erkennt, daß diß sein Andersseyn er selbst ist” (SE 370). Dagegen ließe sich nicht sagen, dass für die Natur selbst der Geist als ihr Anderes wäre. Denn das Andere für sie ist nicht anderes ihrer selbst, sondern lediglich als anderes. Sie hat, schlicht gesagt, kein geistiges Vermögen dieser Reflexion, im Anderen auch für sich zu sein. Aber das, was nur durch die Andersheit in der Unverbundenheit bestehen würde, d. i. das rein absolute Andere wäre andererseits auch gleich dem Nichtseienden, Nichts, oder absolut tot. Es gibt in dieser Welt überhaupt kein solches Anderes, wie kein absolutes Selbst, und die Natur besteht de facto nicht in der Weise solcher Andersheit. Sondern solange sie vorhanden ist, ist sie, obzwar in beschränkter Weise, des Prinzips des Lebens teilhaftig, aber in der Bezogenheit auf dasselbe. Sie kann zwar weder Anderssein ihrer selbst noch Fürsichsein im Anderen haben, aber selbst Anderes für Anderes sein. Das höchste von den Dingen, für die die Natur anderes ist, ist der Geist, der sich im Verhältnis zu anderem auch auf sich selbst beziehen kann. Er ist schlechthin ‘Selbstbeziehung in der Beziehung zum Anderen’. Diese Einsicht wird im Metaphysikkapitel des zweiten Jenaer Systementwurfs noch einmal analysiert und zum konstanten Grundgedanken der 82 späteren Geistesphilosophie.155 Vom Geist wird die Natur dagegen in die Beziehung gebracht, und in dieser Bezogenheit durch ihr Anderes auf ihr Anderes besteht sie immer nur als Bestimmtheit, durch die sie an der Einheit des Lebens teilhat. Die Einheit des Lebens ist ein vernünftiges Faktum des Geistes, der in der Natur entäußert ist. Der Geist in der Bezüglichkeit auf die Natur als sein Anderssein findet sich selbst als objektiv realisiert. Die Natur ist also der sich selbst anders gewordene Geist bzw. sein “ausser sich gekommenseyn”. Eben hierin kehrt der Geist durch das Selbsterkennen zu sich zurück, befreit sich von der äußeren Andersheit. Als “das leere” von der Andersheit “gegen die ganze Natur” ist er frei. Die Leerheit der Andersheit ist die Fülle der Selbstheit. Insofern er durch das Erkennen die ganze Natur “als ihm selbst gleich setzt”, ist er in seiner Wahrheit lebend (SE 371). Dadurch wird die empirische Notwendigkeit des gemeinen Erkennens zur “absoluten” “freyen Nothwendigkeit” des Geistes, nach der er sich selbst nun frei realisieren kann und soll. Die Selbsterkenntnis des Geistes ist strictu sensu aber noch Halbwahrheit, bis er sie wiederum zur objektiven Entelechie macht und dadurch bestätigt. Erst durch diese Bildung und Bestätigung des Selbst ist er in seiner völligen Wahrheit objektiv lebend. In diesem Hinblick ist er auch selber “ein gewordenseyn” oder ein Gemachtsein durch sich selbst (SE 370). Das System dieses seines Gewordenseins ist im Wesentlichen die Wirklichkeit des Lebens, die als Lebensvorgänge der geistigen Einzelnen erscheint.156 Das System macht gerade den Inhalt der Sittlichkeit aus und seine Darstellung den Gehalt der Geistesphilosophen in den Jenaer Systementwürfen. Die drei relativ gut erhaltenen Jenaer Systementwürfe sind Vorlesungsmanuskripte, die zugleich mit der Absicht der späteren Veröffentlichung niedergeschrieben wurden. Diese Vorlesungen wurden jede für das Wintersemester 1803/04 als “philosophiae speculativae systema, complectens a) Logicam et Metaphysicam, sive Idealismum transscendentalem b) philosophiam naturae et c) mentis”, für das Wintersemester 1804/05 und das Sommersemester 1805 als “totam philosophiae scientiam, i. e. philosophiam speculativam, (logicam et metaphysicam) naturae et mentis, ex dictatis”, und für das Wintersemester 1805/06 und das Sommersemester 1806 als “Philosophiam realem, i. e. naturae et mentis ex dictatis” angekündigt. Hegel gab vom Sommer 1803 bis zum Sommer 1805 für jedes Semester fünf sich auf sein ganzes System der 155 HH, S. 158, 167. J II., S. 165-178. Über die logische Struktur des absoluten Geistes als Andersseins seiner selbst seit 1802, Henrich, Dieter: Absoluter Geist und Logik des Endlichen, HSB 20, S. 103-118. 156 Manfred Baum und Kurt Meist kommen durch die Analyse der Fragmente Hegels inklusive des Fragments Das Wesen des Geistes in der frühen und mittleren Jenaer Zeit auch zum Schluss, dass ‘die Betonung der praktischen Relevanz spekulativer Erkenntnis für das Leben’ die Eigentümlichkeit seiner philosophischen Konzeption bildet. Baum, Manfred u. Meist, Kurt: Durch Philosophie leben lernen. Hegels Konzeption der Philosophie nach den neu aufgefundenen Jenaer Manuskripten, HS 12, S. 43-81. 83 Philosophie beziehende Ankündigungen, aber nur für die Vorlesungen 1803/04 und 1804/05 gibt es Belege, daß sie auch wirklich stattgefunden haben. Besonders im Sommer 1805 wurde statt seines Systems nur die Logik gelesen, daher muss der zweite Jenaer Systementwurf als Manuskript nur für das Wintersemester 1804/05 angesehen werden. Auch strictu sensu kommt seine spekulative Philosophie als System nur in der Ankündigung 1803/04 unter dem Ausdruck “philosophiae speculativae systema” zur Sprache, während die Ankündigung 1804/05 lediglich die ganze Wissenschaft der Philosophie d. i. “totam philosophiae scientiam” nennt. In Bezug auf den ersten Teil des Systems, nämlich Logik und Metaphysik, kündigt Hegel außerdem sechs getrennte Vorlesungen für die Semester 1801/02, 1802, 1802/03, 1806, 1806/07 und 1807 an; von ihnen sind nur die Vorlesungen von 1801/02 und 1806 belegt, doch sind nur aus der ersten Vorlesung Fragmente erhalten. Werden die innerhalb oder anstatt der SystemVorlesung gehaltenen zusammengerechnet, wurde aber tatsächlich insgesamt fünfmal über Logik und Metaphysik gelesen. Schließlich kündigte Hegel über die Philosophiam naturae et mentis viermal vom Winter 1805/06 bis zum Sommer 1807 Vorlesungen an. Für die Vorlesung 1805/06 besteht kein Beleg, aber dafür schrieb Hegel sicherlich das Manuskript des dritten Jenaer Systementwurfs und las es in überarbeiteter Form im Sommer 1806. Auch für die zwei letzten Vorlesungen fehlen Belege.157 Alle diese Ankündigungen lassen erkennen, dass Hegel in dieser Zeit ein System der Philosophie aus Logik, Metaphysik, Natur- und Geistesphilosophie beabsichtigte. Die Logik und Metaphysik in der Ankündigung des ersten Systementwurfs sind mit dem transzendentalen Idealismus und in der Ankündigung des zweiten mit der spekulativen Philosophie identifiziert. Dies deutet an, dass Hegel vom Kantischen Konzept der kritischen transzendentalen Logik als Einleitung in die Metaphysik zum Konzept seiner eigenen spekulativen Logik, aber mit der gleichen propädeutischen Funktion überging. Diese Funktion der Logik verschwindet, als Hegel im Sommersemester 1805 statt des Systems der Philosophie eine Logik liest, die in sich die Metaphysik enthält. Bereits in der Ankündigung für den Sommer 1806 ist die Logik selbst als die spekulative Philosophie (Philosophiam speculativam s. logicam) erwähnt, in dem Sinne, dass sie das Absolute durch die Verbindung der entgegengesetzten Bestimmungen der ‘Reflexion’ ‘mit nichtsinnlicher Intuition der absoluten Einheit’, d. i. durch die ‘Synthesis von Reflexion und intellektueller Anschauung’ darstellt. 158 Andererseits 157 SE, Anhang, S. 658-660. J I., Anhang, S. 351-354. J II., 360-362. J III., Anhang, S. 317-319. HH, S. 151-152, 160-161, 164-165, 169. Düsing, Klaus: Hegels Vorlesungen an der Universität Jena. Manuskripte, Nachrichten, Zeugnisse, HS 26, S. 15-24. 158 Diese Bedeutung von der Spekulation ist schon in der Differenzschrift erhalten, in der der Begriff des Absoluten in die Hegelsche Philosophie eingeführt wird. Fulda, Hans Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich 84 werden die Natur- und Geistesphilosophie in der Ankündigung des dritten Systementwurfs als Realphilosophie angesehen. Am interessantesten ist hier, dass der Terminus Idealismus zur Benennung seines Systems und der Systemteile nicht benutzt wird. Auch aus den zwei letzten Ankündigungen der Jenaer Systementwürfe, dass die Vorlesungen “ex dictatis” gehalten werden, ist gut zu folgern, dass er während der Vorlesungen die bereits abgefassten Manuskripte las und später wieder überarbeitete. Deshalb liegen mehrere Unterschiede unter den Manuskripten vor. Der Text vom ersten Systementwurf, der im Band aus 22 unterbrochenen Fragmenten konserviert ist, enthält nur unvollständige Systemteile der Natur- und Geistesphilosophie. Der abwesende Teil der Logik und Metaphysik wird höchstwahrscheinlich durch die spätere Überarbeitung in die nächsten Fassungen einbezogen. Die unvollständige Skizze der Systemteile kommt ab dem zweiten Entwurfsmanuskript nicht in Form der Fragmente sondern mit relativ inhaltlicher Konsequenz eines Textes zum Vorschein. Aber der zweite Entwurf scheint zunächst nur bis zur Logik, Metaphysik und Naturphilosophie dargestellt zu werden. Sogar die Logik, die spätere Verbesserung erkennen lässt, und die Naturphilosophie, die die systematische Erweiterung der ersten Fassung zu sein scheint, sind noch unvollständig. Dagegen beruht die relativ vollständige Erhaltung der Metaphysik auf ihrer Sonderstellung: Weil die Metaphysik als der einzig in dieser Zeit getrennte Systemteil später in die Logik absorbiert ist, erfährt sie keine besondere Überarbeitung. Im dritten Systementwurf sind lediglich die Natur- und Geistesphilosophie mit einer auffallenden Differenz gegenüber den vorigen Fassungen in einem neuen Umriss aufbewahrt. Besonders die letztere hat, abgesehen vom fehlenden Übergang von der Natur zum Geist, die einzig vollständige Gestalt in den Jenaer Systementwürfen. Die erheblichen Lücken im Manuskript dürften dadurch entstanden sein, dass Hegel Teile von ihm später als Materialien für die weitere Ausarbeitung benutzt hat. Die Jenaer Systemteile, die in Bezug auf die Sittlichkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt werden können, sind endlich die beiden Geistesphilosophien des ersten und dritten Entwurfs. Hierin mangelnde Inhalte können zum Glück durch andere, in denselben Jahren geschriebene, praktisch-philosophische Aufsätze und Vorlesungsberichte ergänzt werden. Aber zwischen beiden Geistesphilosophien besteht ein großer Unterschied sowohl in Hinsicht auf Vollständigkeit als auch auf die Konstruktion. Im ersten Entwurf, in dem Hegel der Geistesphilosophie zum ersten Mal Hegel, S. 68-73. Über den Charakter der Jenaer Logik siehe dort S. 75-81 sowie Düsing, Klaus: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, HSB 15, S. 75-108. 85 Ausdruck verleiht, wird diese erste Geistesphilosophie, wie die Naturphilosophie, noch abhängig von der identitätsphilosophischen Terminologie Schellings aufgebaut. Insbesondere, weil sie die Bewusstseinslehre unter verschiedenen Überschriften der Potenz entfaltet, scheint sie einschlägige Teile des Systems der Sittlichkeit ausführlicher zu systematisieren, was im Gegensatz zu Fichte in stark Schellingscher Weise dargestellt wurde. Sie wäre daher für einen Beitrag Hegels in seinem eigenen Bereich der Geistesphilosophie zur Potenzenlehre zu halten, die Schelling in der Schrift, Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses oder der Kategorie der Physik (1800) nur bezüglich der Naturphilosophie entwickelte, aber im System des transzendentalen Idealismus nicht zur Anwendung brachte. Aber diese Einschätzung übergeht, dass sie sich de facto gar nicht an die im System der Sittlichkeit benutzte Methode der Potenzkonstruktion durch die wechselseitige Subsumtion der Begriffspaare anlehnt, und auch, dass sie eben das, was in Schellings System des transzendentalen Idealismus selbst mangelt, praktische Philosophie, ‘nicht mehr nur als transzendentale Philosophie der subjektiven und formalen Bedingungen der Möglichkeit des Sittlichen’, ‘sondern als eine objektive und inhaltliche Philosophie des Sittlichen’ thematisiert.159 Daher, obwohl die Rede von Potenzen im ersten Systementwurf, insbesondere in seiner Naturphilosophie noch den Einfluss Schellings zeigt, muss sie, mindestens in seiner Geistesphilosophie, nur im terminologischen Horizont als explikative Bequemlichkeit, um seinen eigenen Inhalt unter verschiedenen Phasen zu präsentieren, angesehen werden. Kurz nach dem ersten Entwurf nimmt Hegels Gliederungsnotiz, I. Intelligenz., die höchstwahrscheinlich in die Zeit zwischen dem ersten und dem dritten Systementwurf gehört (J I.329),160 also bereits die Struktur des ersten Abschnitts, “[a. Intelligenz]” der Geistesphilosophie im dritten Entwurf vorweg. D. h. diese zweite Geistesphilosophie konkretisiert die Unterscheidung der Intelligenz in Anschauung, Verstand, und Vernunft inhaltlich und verrät auch aus terminologischer und 159 Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 140-141. – Zimmerli vertritt im Gegensatz zu Kimmerle, der die Ungültigkeit der Potenzenmethodik auch für die Stufe der absoluten Sittlichkeit im System der Sittlichkeit annimmt, die These, dass sich diese Methodik in der Systemkonzeption Hegels von 1801/02 bis 1803/04 inklusive des ersten Systementwurfs durchsetzte. Dagegen ist Siep zufolge Hegels eigene Methode der doppelten Negation für seine Systemkonzeption bereits in der frühen Jenaer Zeit erreicht, und findet auch im System der Sittlichkeit Anwendung. Daher seien die Potenzen Mittel, ‘die absolute Einheit unter verschiedenen Aspekten’ ‘klarer, begreiflicher’ zu zeigen. Kimmerle, Heinz: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens, HSB 8, S. 236-240. Auch über seine Unterscheidung des Systems der Sittlichkeit von den anderen Jenaer Systemkonzepten, Hegels Naturrecht 1802-1805/06, HS 11, S. 219-228. Zimmerli, Walter Christoph: Schelling in Hegel. Zur Potenzenmethodik in Hegels „System der Sittlichkeit“, in Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte, S. 269-275. Siep, Ludwig: Hegels und Schellings praktische Philosophie in Jena (bis 1803), ebd. S. 279-287. 160 J I., Anhang, S. 350. 86 konstruktiver Perspektive eine völlige Distanzierung von Schelling, was auch teilweise im zweiten Entwurf erkennbar ist.161 Der dritte Entwurf, der im Ganzen im Hinblick auf die Konstruktion sich beträchtlich von den vorigen Entwürfen unterscheidet, steht daher der Enzyklopädie näher. Besonders seine Naturphilosophie, die mit der Mechanik beginnt, anders als die ersten beiden mit der himmlischen Bewegung, zeigt fast völlige Übereinstimmung mit der Naturphilosophie der Enzyklopädie, und seine Geistesphilosophie, die aus drei Kapiteln, “[I. Der Geist nach seinem Begriffe]”, “II.. Wirklicher Geist”, und “III. Constitution” besteht, lässt viele inhaltliche Ähnlichkeit erkennen. Die Differenz der Jenaer Geistesphilosophien erschwert es, sie unter dem Aspekt der Sittlichkeit nebeneinander vergleichend zu betrachten. Dennoch lassen sie sich unter zwei Aspekten in Betracht ziehen, wenn die erst in dieser Zeit herauskristallisierte ‚Sittlichkeit’ Hegels hier kurz und vorläufig als Beziehung des zum sittlichen Bewusstsein gelangten Subjekts auf das objektiv zu verwirklichende oder verwirklichte Allgemeine definiert wird. Beide implizieren nämlich auf der subjektiven Seite die Bewusstseinslehre und auf der objektivierenden und objektivierten Seite die Lehren von Anerkennung, Gesellschaft und Staat. Die Bewusstseinslehre der ersten Geistesphilosophie ist keine Erkenntnistheorie von der Erfahrung des Bewusstseins im Sinne der Phänomenologie des Geistes, sondern sozusagen eine Theorie von der Struktur des Bewusstseins bis zu seiner Totalität,162 d. h. von der logischen Struktur des sich nach seinem Begriffe ontisch entwickelnden, enzyklopädisch gesagt, subjektiven Geistes. Deshalb deckt sie sich am meisten inhaltlich mit dem einschlägigen Teil der zweiten Jenaer Geistesphilosophie, die den Geist eben nach seinem Begriffe entfaltet. Sogar dieser Teil schließt bereits elementar die drei Teile des subjektiven Geistes der Enzyklopädie in sich ein, also Anthropologie, Phänomenologie des Geistes und Psychologie. Hieraus ist ersichtlich, dass dieser Teil der Jenaer Geistesphilosophien später, nach der Erkenntnistheorie der Phänomenologie des Geistes, wiederum im 161 Jaeschke zufolge taucht im Begriff des absoluten Geistes im zweiten Entwurf ein inhaltlicher Gegensatz gegen Schelling und in der Naturphilosophie eine fast vollständige Ablösung von der identitätsphilosophischen Terminologie auf. HH, S. 167-168. Aber die Behauptung Riedels, dass dieser Wandel zwischen der früheren Jenaer Zeit bis 1803/04 und der späteren seit 1805/06 eine erneute interpretatorische Rückkehr von Aristoteles, Spinoza und Schelling zu Rousseau, Kant und Fichte, daher ‘eine Umkehr der Grundlagen von Hegels bisherigen Naturrechtskonzeption’ bedeute, muss etwas gemildert werden. Weil die Begriffe der ersteren Philosophen und die Kritik an den letzteren auch im dritten Entwurf, wie umgekehrt im ersten Entwurf, spürbar sind, außer dass der Anerkennungsbegriff Fichtescher Provenienz im dritten Entwurf hervortritt, muss der Wandel als Hegels allmähliche Aneignung verschiedener Philosopheme verstanden werden. Riedel, Manfred: Hegels Kritik des Naturrechts, HS 4, S. 188-196. 162 HH, S. 162. 87 Kapitel des subjektiven Geistes der Enzyklopädie konstruktiv erweitert wird. Andererseits sind die Lehren von Anerkennung, Gesellschaft und Staat eine Theorie von der Selbstrealisierung des totalen Bewusstseins bzw. des subjektiven Geistes. Genau gesagt, vermittelt die Anerkennungslehre das Bewusstsein bzw. den Geist nach seinem Begriffe und die objektiven Bereiche von Gesellschaft und Staat. Sie handelt in den Jenaer Geistesphilosophien nämlich vom sich gesellschaftlich objektivierenden Bewusstsein oder Geist. Und sein Anerkanntsein bildet eben den realisierten Geist in der Gesellschaft und im Staat. Demnach ist das totale Bewusstsein bzw. der subjektive Geist auch unter dem Aspekt der Anerkennung verdoppelt. Es als Subjekt der anerkennenden Bewegung gehört zwar noch zur subjektiven Entwicklung des Geistes, hat aber als Anerkanntsein eine eigene gesellschaftliche Wirklichkeit. In diesem Moment ist es nämlich Person oder Individuum als die ganze Familie selbst. Daraus versteht sich der Grund dafür, dass die Familie mit anderen Tätigkeiten des Geistes, wie Sprache, Arbeit, Tausch u. a. zweimal im subjektiven und objektiven Teil der Jenaer Geistesphilosophien auftritt. Und deswegen tritt das Thema der Anerkennung auch später zweimal, d. i. entwicklungsgeschichtlich in der Phänomenologie des Geistes und in der Rechtsphilosophie, und gleichfalls vorlesungsprogrammatisch im Kapitel des subjektiven und im Kapitel des objektiven Geistes der Enzyklopädie auf, wie es bereits in der ersten Jenaer Geistesphilosophie potenziell, in der zweiten deutlich verdoppelt, behandelt wird. Der objektive Teil von Familie, Gesellschaft und Staat als Anerkanntsein in den Jenaer Geistesphilosophien kommt durch die Rechtsphilosophie im Kapitel des objektiven Geistes der Enzyklopädie zur endgültigen Gestaltung. Aber Acht ist freilich darauf zu geben, dass der Jenaer Hegel noch nicht die bürgerliche Gesellschaft differenziert, daher in der ersten Geistesphilosophie die Einheit der Gesellschaft für das Volk hält und erst in der zweiten die Gesellschaft eines Volks vom Staat abgrenzt. In der ersten Geistesphilosophie, die keine Staatslehre enthält, ist das Volk auch in dessen letzter Phase der Ort, wo sich der absolute Geist offenbart. Dieser Status wird in der zweiten dem Staat zugeschrieben. Der absolute Geist wird später durch die Selbstrevision Hegels vom Volk und Staat getrennt und bildet mit den auch in der zweiten Geistesphilosophie erwähnten Elementen von Kunst, Religion und Philosophie ein selbstständiges Kapitel in der Enzyklopädie. Außerdem bestehen aber auch Schwierigkeiten, bezüglich der Sittlichkeit die Jenaer Geistesphilosophien mit Hegels späteren Schriften vom systematischen Standpunkt aus zu vergleichen, denn die Jenaer Systementwürfe für die Vorlesungen werden weder später in concreto als ein systematisches Werk der Wissenschaft geschrieben, noch entsteht aus ihnen ein selbstständiger Systemteil außer der Phänomenologie des Geistes 88 und der Wissenschaft der Logik. Die wichtigen Schriften für die Sittlichkeit sind bekanntermaßen die Phänomenologie des Geistes, die Rechtsphilosophie, und die Enzyklopädie. Die mit dem dritten Systementwurf gleichzeitig abgefasste Phänomenologie des Geistes gehört zwar zum System, aber nur als einleitender Teil ins System der Wissenschaft. Sogar das, was Hegel beim Schreiben dieser Schrift im Sinne hatte, waren keine phänomeno-logischen Formen, keine logischen Erscheinungsformen des Geistes, sondern eine wissenschaftliche Eignungsprüfung der Erfahrungsformen des Bewusstseins, weil er ihren ursprünglichen Titel “Wissenschafft der Erfahrung des Bewußtseyns” (PhG 61) erst nach ihrem völligen Druck zuletzt durch den Titel, Phänomenologie des Geistes ersetzte und hinzufügte. Freilich bestand keine konzeptionelle Änderung zwischen den beiden Titeln.163 Aber eben deswegen ist es schwer, einen Vergleich dieser Schrift mit der Bewusstseinslehre der Jenaer Geistesphilosophien anzustellen, in der es sich umgekehrt nicht um die empirischen Formen des Bewusstseins als Subjekts der Erfahrung, sondern vielmehr um die logischen Formen des Geistes als Subjekts der Erscheinung handelt, oder auch einen Vergleich mit dem phänomenologischen Teil der Enzyklopädie, der einen der Jenaer Bewusstseinslehre ähnlichen Charakter hat. Aber die Enzyklopädie in ihren drei Fassungen lässt sich trotz ihrer scheinbaren Systematik nicht einmal als Hegels endgültiges System der Wissenschaft ansehen. Denn sie wurde als ‘Kompendium’ oder ‘Lehrbuch’ zur Benutzung ‘für seine Vorlesungen’ angefertigt. Aus dem gleichen Grunde darf die Rechtsphilosophie auch nicht für einen selbstständigen Systemteil in wissenschaftlicher Form gehalten werden.164 Hegel gab nach der Veröffentlichung der Phänomenologie des Geistes erst im November 1807 einen Hinweis auf den endgültigen Rahmen seines Systems durch die Anzeige des zweiten Bandes des Systems in der Bamberger Zeitung, der sich aus Logik, Natur- und Geistesphilosophie zusammensetzen soll. Danach müsste sein ganzes System der Wissenschaft in der Reihe von der Phänomenologie des Geistes, Wissenschaft der Logik, Natur- und Geistesphilosophie bestehen. Aber es gibt kein selbstständiges Werk, das diese Reihenfolge genau beachtet und alle Teile enthält. Übrig bleibt daher nur die Vergleichbarkeit der Textteile nach der inhaltlichen Ähnlichkeit. Wegen dieses Vergleichs könnte sein ganzes System zwar auf einen Blick rekonstruiert werden, allein er wird manchmal auch wegen der inneren Nichtübereinstimmung der Schriften gehemmt. Repräsentativ im Bereich der Sittlichkeit ist die oft infrage gestellte 163 HH, S. 176-179. HH, S. 260, 272, 319. Über die Vorlesungsberichte der Rechtsphilosophie, Weisser-Lohmann, Elisabeth: Hegels rechtsphilosophische Vorlesungen. Zeugnisse, Manuskripte und Nachschriften, HS 26, S. 63-73. 164 89 Umgekehrtheit und Ungleichmäßigkeit der Anordnung von Moralität und Sittlichkeit in der Phänomenologie des Geistes und in der Rechtsphilosophie. Die Stufe der Moralität ist bekanntlich im Geisteskapitel der Phänomenologie des Geistes nach der Stufe der Sittlichkeit gelegen, und auch im, enzyklopädisch gesagt, zum objektiven Geist gehörenden Teil der zweiten Jenaer Geistesphilosophie sind beide in gleicher Ordnung erwähnt (J III.265), aber im geistphänomenologischen Abschnitt des subjektiven Geistes in der Enzyklopädie ist von ihr keine Rede. Vielmehr tritt in dem Kapitel über den objektiven Geist die Ordnung umgekehrt auf, wie auch in der Reihe der Kapitel der Rechtsphilosophie. Hilfreich zur Auflösung dieser Aporie ist, ein Auge auf Hegels Methode der Systematisierung zu richten, die die genetische Ordnung und die logische des Seins (ordinem generis et logicae) vereinheitlicht. Seine Methode lässt sich vor allem durch Typisierung kennzeichnen.165 Der erste Schritt der Typisierung ist, das, was geworden ist, zu erforschen. Dann muss dessen logische Struktur mit einer anderen, besonders von dem, was demnächst geworden ist, verglichen werden. Aus diesem Vergleich kann eine allgemeine Logik des Seienden induziert werden. Aber damit die induzierte Logik die echte allgemeine Ordnung des Seienden sein kann, muss mit ihr wiederum umgekehrt entdeckt und geprüft werden, welches Seiende für ihre Ordnung geeignet und ob es aus ihr deduzierbar ist. Dadurch wird ein Seiendes in der Ordnung des Werdens ausgewählt und typisiert, und sein Seins-Typ zugleich in der Ordnung der Logik kategorisiert.166 Das, was kategorisiert ist, ist das, was schon geworden ist, und dessen logische Beziehung auf ein anderes ist die Logik des Werdens des Seienden. Zum methodischen Verstehen der Schriften Hegels ist demzufolge zunächst zu identifizieren, was in einer wissenschaftlichen Schrift typisiert wird. Hierdurch unterscheiden sich die Phänomenologie des Geistes und die Rechtsphilosophie erheblich. Denn das, was in der ersteren Schrift zum Thema wird, sind de facto die in wissenschaftlicher Form zu reflektierenden Erfahrungen des Bewusstseins, nicht selbst logische Phänomene des Geistes, was der zuletzt hinzugefügte Titel, Phänomenologie 165 Jaeschke, Walter: Zur Logik der bestimmten Religion HLP, S. 182. Breidbach, Olaf: Hegels Evolutionskritik, HS 22, S. 168. Auch über die Anwendung der genetischen Exposition und der immanenten Deduktion auf die Sittlichkeit der Rechtsphilosophie, Rameil, Udo: Sittliches Sein und Subjektivität. Zur Genese des Begriffs der Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie, HS 16, S. 127-139. 166 Eben deshalb, welches Seiende für einen Seins-Typ in einer wissenschaftlichen Ordnung ausgewählt werden muss, z. B. warum die orientalische Welt in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte der griechischen Welt vorhergehen muss oder warum in der Naturphilosophie einmal die Bewegung, einmal die Materie nach den Kategorien Raum und Zeit bevorzugt wird, ist bei Hegel im Grunde metatheoretisch offen und abhängig vom Bildungsniveau einer in Gedanken gefassten Zeit. Nur unter dieser Bedingung typisiert er Seiende und systematisiert logisch. Daher ist die Angemessenheit der Wahl eines Seienden für einen Typ nur theorieintern und in dem System einer Wissenschaft prüf- und begründbar. Erst wenn und weil diese Begründung auch überzeitliche Allgemeinheit haben kann, ist seine Philosophie noch in der Gegenwart bedeutend. 90 des Geistes, bedeutet. Während die logischen Formen der Phänomene bereits selbst retrospektiv und reflexiv für den Geist sind, müssen jene wissenschaftlichen Formen der Erfahrungen bis zum Geist erst reflektiert werden. Diese Formen stehen am Anfang der Reflexion, jene am Ende der Reflexion. Die Phänomenologie des Geistes als die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins ist eigentlich bewusstseinspädagogische Einleitung ins System der Wissenschaft, nicht von Beginn an selbst phänomenologische Wissenschaft des Geistes, obwohl diese allmählich vom Standpunkt des Philosophen aus erreicht wird. Und lediglich aus diesem Grund musste Hegel den Titel austauschen. Wenn es eine reine phänomeno-logische Wissenschaft des Geistes geben würde, wäre sie eine innere Logik der Phänomenologie des Geistes. Aber vom damaligen Hegel ist keine solche Logik, sogar keine konkrete Konzeption der Wissenschaft der Logik bekannt. Nur die zweite Jenaer Geistesphilosophie des dritten Systementwurfs empfiehlt sich dafür,167 weil ihre Bewusstseinslehre, wie im Weiteren zu sehen, in der logischen Form der Existenz des Geistes und sogar als ein Teil des Systementwurfs ausgeführt wird. Auch die Geistesphänomenologie der zur Vorlesungsvorbereitung niedergeschriebenen Enzyklopädie nimmt zwar Formen der reflektierten Logik auf dem Standpunkt des Lehrers an. Allein sie ist als kein selbstständiger Systemteil der Wissenschaft geschrieben, sondern nur als ein dazugehöriger Teil der Vorlesungsreihenfolge, daher ist sie schwerlich für geistesphänomenologische Logik zu halten. Strictu sensu gibt es bei Hegel schließlich zwei systemlogisch oder methodisch schwer miteinander zu vergleichende Arten der Geistesphänomenologie, einmal einleitend ins System der Wissenschaft und zugleich selbst als erster Teil desselben, einmal vorlesungskonstruktiv reflektiert und verkürzt. Und deren Logik ist in der zweiten Jenaer Geistesphilosophie zu erwarten, die, obzwar auch für die Vorlesung, doch die Bewusstseinslehre selbst in der systematischen Form der wissenschaftlichen Reflexion entfaltet. Diese Form ist des Weiteren auch eben die Form, in der die Rechtsphilosophie dargestellt wird. Die Rechtsphilosophie behandelt wissenschaftlich reflektierte Formen des Rechts, das nichts anderes als die objektive Existenz des Geistes ist. Sie ist aber, gleich wie die Enzyklopädie, keine Schrift als selbstständiger Teil des Systems. Sie war schon in der ersten Fassung der Enzyklopädie (1817) enthalten, wurde danach mehr oder weniger unabhängig davon weiterentwickelt und endlich erweitert in den späteren zwei Fassungen der Enzyklopädie niedergelegt. Kurz resümiert unterscheidet sich die Phänomenologie des Geistes methodisch durch ihre zu 167 HH, S. 178. Dagegen über die mannigfaltige Versuche des Vergleichs der Phänomenologie des Geistes mit der Jenaer, Nürnberger propädeutischen, großen, oder enzyklopädischen Logik, Heinrichs, Johannes: Die Logik der ‚Phänomenologie des Geistes’, S. 83-103. 91 reflektierenden Erfahrungsformen des Bewusstseins von der Jenaer Geistesphilosophie, der enzyklopädischen Geistesphänomenologie und der Rechtsphilosophie in der bereits selbst wissenschaftlich reflektierten Form. Dadurch wird nun das Verhältnis zwischen der Moralität und der Sittlichkeit in jeder Schrift deutlich. Betreffs der Phänomenologie des Geistes muss etwas im Voraus gegeben sein, um erfahren zu werden. Vom ungebildeten, angeblich natürlichen Bewusstsein wird zuerst etwas Unmittelbares erfahren, von dem es sich in immer mehr vermittelte Gegenstände übergehend bis zum absoluten Wissen bildet. Daher ist die Sittlichkeit in ihrem Geisteskapitel unmittelbarer als die Moralität. Die unmittelbar gegebene Sittlichkeit, die der Moralität vorgezogen wird, ist der altertümlichen Sittlichkeit am ähnlichsten. Dies ist außerdem daraus ersichtlich, dass hier altertümliche Kategorien, wie Mensch und Gott, Mann und Weib, Schuld und Schicksal, erläutert werden. Die Sittlichkeit im Geisteskapitel ist aber nicht sowohl einfache Rehabilitation als vielmehr bewusstseinsempirische Typisierung der altertümlichen Sittlichkeit. Auf diese altertümliche Sittlichkeit wird in der gleichzeitigen, zweiten Jenaer Geistesphilosophie verzichtet. Die Jenaer Geistesphilosophien sind der Ort, wo sich Hegels eigene Sittlichkeit - in der ersten etwas ambivalent, in der zweiten Geistesphilosophie deutlich - von der altertümlichen verabschiedet. Deshalb muss die Sittlichkeit in den Jenaer Geistesphilosophien auch von der bewusstseinsempirisch typisierten Sittlichkeit in der Phänomenologie des Geistes unterschieden werden. Sie ist gerade Sittlichkeit, die auch in der Rechtsphilosophie und im Kapitel des objektiven Geistes der Enzyklopädie in der wissenschaftlich reflektierten Form typisiert wird. Sie geht nicht nur über die altertümliche und die bewusstseinsempirische Sittlichkeit, sondern auch über die neuzeitliche Moralität hinaus.168 Dagegen ist die Sittlichkeit, die für die Erkenntnis- und Bildungstheorie des erfahrenden Bewusstseins nicht als eine vollendete, sondern als “sich vollbringende” Wissenschaft desselben (PhG 56) gegeben, 168 Auf die Unterscheidung zwischen der unmittelbaren und der reflektierten Sittlichkeit gibt es einen entscheidenden Hinweis in der Nachschrift Homeyers 1818/19. “Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, welche in der subjektiven Gesinnung und durch das Handeln des Willens ihre Wirklichkeit hat und fortdauernd als das Werk der Individuen hervorgebracht wird”. Sie ist “objektive, reale Freiheit”. Aber: “In der Existenz ist die sittliche Substanz zuerst vorhanden und erst das Zerfallen derselben führt die unterschiedenen Momente der Moralität und des Rechts herbey”. In dieser Sittlichkeit als Moment der Moralität geht es um die Bildung und Reflexion der Individuen, die auch in der Phänomenologie des Geistes als die Bildung des Bewusstseins betrachtet wird. VR I.270. Dies begründet die geschichtlich fortschreitende Reihenfolge von der unmittelbaren Sittlichkeit über die Moralität zur reflektierten Sittlichkeit. Aus dem gleichen Grunde sieht Siep die Stufe der Moralität in der Rechtsphilosophie als in der bürgerlichen Gesellschaft der reflektierten Sittlichkeitsstufe wirksam. Siep, Ludwig: Was heißt: „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ in Hegels Rechtphilosophie?, HS 17, S. 87-89. Dagegen ist Hegels Sittlichkeit für Elsigan, der sie gemäß der Reflexion nicht im Kreisverhältnis unterscheidet, die Stufe, wo ‘individuelle sittliche Selbstbestimmung’ auf dem Standpunkt des Allgemeinen ‘eigentlich unsittlich und – unfrei’ ist. Elsigan, Alfred: Sittlichkeit und Liebe, S. 169-180. 92 erfahren und reflektiert wird, unmittelbare und äußerliche Sittlichkeit, die vorher als eine Lebenswelt vor und zugunsten der moralischen Handlung erkannt und verstanden werden muss. Und die zweite Jenaer Geistesphilosophie, der es einerseits ebenfalls um die Bildung des Volks geht, stellt trotz der methodischen Differenz im Blick auf die Phänomenologie des Geistes und unter deren Einfluss die Stufe der Sittlichkeit einfach vor diejenige der Moralität. Ihre Anordnung von Sittlichkeit, Moralität, und Religion (J III.265) unterscheidet sich nicht so sehr von der Anordnung von Sittlichkeit, Bildung, Moralität, und Religion in der Phänomenologie des Geistes. Aber ihre Sittlichkeit ist different von der Sittlichkeit in dieser Schrift und ähnelt eher der Sittlichkeit in der Rechtsphilosophie und in der Enzyklopädie. Wenn also die Nichtübereinstimmung der Anordnung in diesen Schriften aufgelöst werden sollte, wäre entweder eine erneute Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins erforderlich, wo im Geisteskapitel auf die antike Sittlichkeit, die mittelalterliche169 Bildung und die neuzeitliche Moralität noch eine quasi modernisierte Sittlichkeit folgte, oder eine neue Phänomenologie des Rechts,170 in der den Kapiteln über das römische, abstrakte Recht, die neuzeitliche Moralität und die neuere, für Hegel spezifische Sittlichkeit noch eine quasi altgriechische Sittlichkeit vorausginge. Aber de facto erfolgt der Verlust des bewusstseinsempirischen Charakters der Phänomenologie des Geistes, als sie später in die Enzyklopädie als deren interner Teil einbezogen wird. Hier ist sie nur für die logische Präsentation der Bewusstseinsstruktur als Erscheinungsform des Geistes eingeführt. Die erste Analyse und systeminterne Darstellung einer solchen Struktur war aber eigentlich eben die Bewusstseinslehre der Jenaer Geistesphilosophien, die unten zu betrachten ist. 3.3. Exkurs : Von der Natur- zur Geistesphilosophie Die erste Geistesphilosophie beginnt im fünfzehnten Fragment des ersten Jenaer Systementwurfs, das zunächst vom letzten Teil der Naturphilosophie, d. i. vom Organismus handelt. Dies Fragment bietet ohne Zäsur der Darstellung den Übergang von der Natur- zur Geistesphilosophie. Der Übergang ist in concreto auch Übergang von der Empfindung des animalischen Organismus zum Bewusstsein. Hier werden das Verhältnis zwischen Natur und Geist und die eigentümliche Struktur des Geistes zum ersten Mal systemintern erläutert. Bezüglich dieses Verhältnisses ist vor allem der letzte 169 Im Sinne der Bildung des sich entfremdeten Geistes. Über den Versuch, die Rechtsphilosophie als eine besondere Phänomenologie zu bezeichnen, Ilting, Karl-Heinz: Rechtsphilosophie als Phänomenologie des Bewußtseins der Freiheit, HPR, S. 225-254. 170 93 Satz der Naturphilosophie beachtenswert: “Im Geiste existirt die Natur, als das was ihr Wesen ist” (J I.265). Dieser Satz beschreibt das Verhältnis beider im Hinblick auf Existenz und Wesen. Umgekehrt gesagt, heißt er, ‘daß die Natur (noch) nicht als das existiert, was ihr Wesen ist’.171 Ihre Existenz und ihr Wesen fallen in ihr auseinander. Die Natur kann nicht selbst als ein Ganzes, sondern lediglich als viele Einzelne existieren. Jedes Einzelne existiert zwar nach seinem Wesen. Allein sein Wesen gehört nicht nur ihm selbst. Der Wesensbegriff, den Hegel ohne besondere Definition in Gebrauch nimmt, lässt sich hier ans Verstehen der traditionellen Metaphysik anschließen, weil es sich in der neuzeitlichen Philosophie nicht um Substanz und deren wesentliche Bestimmung, sondern zumeist lediglich um Substanz und deren notwendige oder akzidentielle Attribute handelt. Insbesondere der Einfluss des Aristoteles, den Hegel damals für seine Lehren vom Organismus in der Naturphilosophie oder vom Staat in der Geistesphilosophie – auch abgesehen von Platon – konzentriert untersuchte, ist in seinem Begriff des Wesens ausgeprägt.172 Für diese Koppelung sprechen auch viele Angaben in seinen Berliner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, die aber bereits in das Jahr 1805/06 zurückreichen und seit der Heidelberger Zeit regelmäßig gehalten wurden.173 Demnach philosophiert Aristoteles im Mittelpunkt von Substanz und Wesen. Die Substanz (ουσια) erscheint ihm zufolge nicht zuletzt als Einzelnes, in dem Sinne, dass sie endgültiges Substrat (το θ’ ύποκειµενον εσχατον), das über nichts Anderes prädiziert wird, und als Dieses seiend Abtrennbares (ό αν τοδε τι ον και χωριστον) ist. Auch weil sie das ist, wodurch etwas Dieses ist, hat sie die Bedeutung eben vom Wesen (το τι ην ειναι), das er mit Gestalt oder Form eines solchen Einzelnen (τοιουτον δε έκαστου ή µορφη και το ειδος) identifiziert.174 Das Einzelne ist da auf Grund von und gemäß seinem Wesen. Also in Hegels Sicht versteht Aristoteles “unter dem, was ist”, “wesentlich die Substanz, Idee” (VGP II.153). D. h. er bemüht sich, “das Wesen der einzelnen Seiten des Geistes und der Natur” “in Begriffsform aufzufassen” (VGP II.145-146). Also ist der Begriff von einer aufgefassten Sache zugleich “die 171 Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 146. Über Hegels Studium des Aristoteles, Bienenstock, Myriam: Zu Hegels erstem Begriff des Geistes (1803/04): Herdersche Einflüsse oder aristotelisches Erbe?, HS 24, S. 30-31, 47-54. Riedel, Manfred: Hegels Kritik des Naturrechts, HS 4, S. 183, 191. Düsing, Klaus: Ontologie bei Aristoteles und Hegel, HS 32, S. 76-77. Hegel erwähnt Aristoteles freilich schon in den Frühen Schriften (FS, S. 78), allein kein Beleg unterstützt eine genaue Datierung seiner Lektüre der Aristotelischen Werke, wie der Bericht Schweglers, dass Hegel seit ‘seinen Stiftjahren vorzugsweise Aristoteles’ in ‘der einzigen damals lesbaren’ ‘Basler Ausgabe’ studiere. Nicolin, Günther Hg.: Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, S. 13, 566. Henrich, Dieter: Leutwein über Hegel, HS 3, S. 74. Aus diesem Grunde wird der Vergleich beider auch häufig nach ihrer inhaltlichen oder begrifflichen Ähnlichkeit angestellt. Über das Verhältnis zwischen Hegel und Platon siehe Düsing, Klaus: Politische Ethik bei Plato und Hegel, HS 19, S. 95-145. 173 HH, S. 169, 477. HLeben, S. 161. 174 Aristoteles: Metaphysica, 1017b. 172 94 Substanz der Sache” im Sinne ihres Wesens und frei gegenüber der Sache. “In der Natur” aber “existiert der Begriff nicht als Gedanke in dieser Freiheit, sondern hat Fleisch und Blut” (VGP II.164-165). Die Ähnlichkeit dieses Satzes mit dem oben zitierten der Naturphilosophie ist gar nicht zufällig. In der Natur existiert das Einzelne zwar gemäß seinem Wesen, aber nicht als sein Wesen selbst, weil das Wesen in ihr nicht als freier Begriff, sondern lediglich als Fleisch und Blut existieren kann. Das Wesen des Einzelnen ist Aristoteles zufolge das, was (worüber) gesagt wird, dass es an sich ist (ό λεγεται καθ’ αυτο). Das Ansichsein des und im Einzelnen ist sein Wassein, das im zeitlichen Wandel unwandelbar ist (το τι εστι, das, was ist). Das Wesen als Wassein gehört nicht ausschließlich Diesem (τοδε) im Wandel, sondern ist konstantes Was (τι) aller diesen von gleicher Art, d. i. zeitloses Sein (το ειναι) davon, was in der Zeit war (τι ην).175 Das Wesen gehört daher nicht der zeitlichen Existenz des Einzelnen, sondern bestimmt umgekehrt dieses Einzelne eben als ein solches, was je dieses ist (όπερ τοδε τι εστι), obwohl dieses sich in der Zeit ändert.176 Bei jedem Einzelnen, das in und nach der Natur ist, fallen also seine einzelne Existenz als je bestimmt und sein allgemeines Wesen als an sich bestimmend auseinander. Dies entfalten die Jenaer Naturphilosophien als Trennung zwischen der Einzelheit der Existenz und der Allgemeinheit des Wesens. Der Grund dafür, dass diese Trennung in der Natur nur weiter besteht, ist nun selbstverständlich, dass das Wesen beim Einzelnen in der Natur gar nicht als solches existieren kann. Sogar weil jedes Einzelne füreinander nur als Anderes ist, kann es in der Beziehung auf das Andere keine Gemeinsamkeit, keine Selbstbeziehung erlangen, daher auch überhaupt nicht selbst bestimmend mit seinem Allgemeinen sein. Für das Einzelne kann das Allgemeine oder Wesen nicht in seiner Selbstbeziehung sein, sondern das Einzelne als anderes wird durch das Wesen nur bestimmt. Deshalb erscheint das Wesen fürs Einzelne auch nicht als solches, sondern lediglich als Vielheit der anderen bestimmten Einzelnen. Es fragt sich dann, in welcher Weise das Wesen als solches ohne Fleisch und Blut existiert. Hegel erklärt hier über die traditionelle Metaphysik hinaus das Wesen gerade als geistiges. Während das Wesen in Fleisch und Blut oder im einzelnen Ding realisiert wird, wird es nur in Begriffsform, also als ideelles, als geistiges ans Licht gebracht. Das, in dem Geistiges als Geistiges ist, ist nichts anderes 175 Das Wesen in der späteren Wesenslehre von der Wissenschaft der Logik als das “zeitlos vergangene Seyn” dessen, was in seiner vergangenen Zeit gewesen ist, ist die präzise Übersetzung dieses Aristotelischen Termins, το τι ην ειναι. WL I. 241. 176 Aristoteles: Metaphysica, 1029b-1030a. De Anima, 412a-413a. Über das Aristotelische Wesen und dessen Bestimmung, Bröcker, Walter: Aristoteles, S. 118-122, 185-200. Düsing, Klaus: Ontologie bei Aristoteles und Hegel, HS 32, S. 64-76. Vgl. mit Zimmerlis etwas irreführenden Erläuterung der als Wesen wiedergegebenen ουσια, obzwar Hegel zumeist in seinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen diese als Substanz liest. Zimmerli, Walter Christoph: Die Frage nach der Philosophie, HSB 12, S. 43-48. 95 als der Geist. Der Geist ist nicht neben der Natur noch eine andere selbständige Wirklichkeit, sondern das Wesen der Natur und seiner selbst. Er stammt auch vom Aristotelischen Nous,177 aber ist nicht allein Vermögen, Wesen zu erkennen, sondern auch das realisierte oder erkannte Wesen selbst. Denn für den Geist existiert das Wesen als solches. Der Geist erkennt anderes als sein Anderes, bezieht sich auf sich selbst im Anderen bzw. auf das geistige Wesen des Anderen. Sein Erkennen des Wesens des Anderen ist Erkennen des Selbst im Anderen, oder seines Wesens in seiner Selbstbeziehung darin. Während in der Natur ihr Wesen bzw. der Geist nicht in ihrer Selbstbeziehung, sondern nur “als verborgen, nur als ein andres seiner selbst” existiert (J I.275), existiert im Geiste das Wesen bzw. der Geist als solcher. In ihm sind Wesen und Existenz eins. Diese Einheit darf man aber nicht als unmittelbare Einheit des ideellen Wesens und der reellen Existenz im Geiste des Menschen missdeuten. Wie ein äußerer Stein nicht im Kopf da sein kann, ist eine solche Einheit Unsinn. Das Wesen hat einerseits reelle Existenz in einem äußeren Ding und andererseits ideelle Existenz als geistiges. Ob ein Ding seinem Wesen angemessen realiter existiert oder wahre Einheit seines Wesens und seiner Existenz ist, ist die Frage nach der ontologischen Wahrheit dieses Dinges. Die Einheit von Wesen und Existenz im Geiste heißt zunächst nur ideelle Einheit, d. i. dass das Wesen einfach idealiter als das existiert, was es ist. Ob diese ideelle Existenz des Wesens gleich der realen Existenz des Dings ist, ist die Frage nach der epistemologischen Wahrheit des Dinges. Kurz und bündig ist es die Frage, ob der im Geiste vorhandene Begriff des Dings mit dem Ding selbst übereinstimmt. Und schließlich, wenn das Wesen des Dings, das nach seinem Wesen realiter existiert, auch im Geiste idealiter als das existiert, was es ist, oder wenn nach dem Wesen, das im Geiste idealiter existiert, das Ding selbst realiter existieren gemacht wird, ist die Wahrheit in Hegels eigentümlichen Sinne erst adäquat. Jener Prozess lässt sich theoretisch, dieser praktisch nennen. Aber zu achten ist darauf, dass diese Prozesse zwar im Geiste des Menschen erkennbar und durchführbar sind, aber über den Geist des Menschen hinausgehen, zumindest insofern der Mensch nur Adressat und Nutzer des Wesens ist. Die Einheit des Wesens und der Existenz im Geiste, der das Wesen der Natur und seiner selbst ist, impliziert also, wie bereits mehrmals erklärt, auch die Verhältnisweise des Absoluten zum Endlichen. Weil das Wesen vom Absoluten her geistig und ideell als solches existieren kann und weil die ideelle Existenz des wesentlichen Begriffs im Geiste Erkenntnis ist, ist es vom endlichen Geiste erkennbar, und diese Erkenntnis ist eben Selbsterkenntnis des absoluten Geistes im Endlichen. Das fünfzehnte Fragment des ersten Systementwurfs führt den Übergang von der Natur 177 Fulda, Hans Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, S. 173-175. 96 zum Geist als Übergang von der animalischen Empfindung zum Bewusstsein aus. Das Kernmoment des Übergangs ist die Krankheit des Tiers. Die Krankheit ist der Zustand, in dem die Flüssigkeit der unendlichen Elemente im tierischen Individuum Selbstständigkeit gewinnt und sich der Individualität bemächtigt. Die unendlichen Elemente in der Jenaer Naturphilosophie sind eine Art Erscheinungsgestalt des Wesens in der Natur, und deren Flüssigkeit ist eine natürliche Eigenschaft, durch die die Allgemeinheit des Wesens verwirklicht wird.178 Auch hier existiert das Wesen in der Natur nur als Einzelnes und setzt sich lediglich als deren Wassein oder als deren Eigenschaft durch. Die Flüssigkeit als Träger der wesentlichen Allgemeinheit verbreitet sich bei der Krankheit ins ganze Individuum, dadurch fängt die “Befreyung von der Einzelnheit” an (J I.261). Diese Befreiung ist sowohl die Befreiung von der Einzelheit des Tiers als auch von der Einzelheit der Empfindung desselben. Das animalische Empfinden ist in erster Linie die jeweilige Empfindung des Magens, Tastsinnes, Augens u. s. w. nach der Begierde. Aber das Tier, das in der Krankheit seine Einzelheit verliert, nimmt nicht eine vom Organ abhängige, einzelne Empfindung auf, sondern fühlt seine ganze kranke Individualität selbst und wird “ganz zur Empfindung” (J I.241). D. h. das Tier als vergehendes empfindet sich als ganzes, durch diese Empfindung unterscheidet es sich ferner von der es gänzlich überwältigenden Flüssigkeit. Die Einzelheit seines Empfindens geht in die “Krankheit, als das fürsichseyn des flüssigen” (J I.262) verloren, und seine Empfindung bezieht sich über die Einzelheit hinaus auf das Flüssige selbst. Diese Beziehung selbst der verlorengehenden Einzelheit des Empfindens auf die Allgemeinheit des Flüssigen ist schon die Struktur des Geistes, der in seiner ideellen Einzelheit Allgemeines existieren lassen kann. Denn das Tier als Einzelnes existiert nun lediglich in der Beziehung auf die wesentliche Allgemeinheit des Flüssigen. Aber diese Existenz des Tiers besagt nur “das Werden des Geistes”, nicht die erlangte Stufe des Geistes. Mit “der Krankheit überschreitet das Thier die Gräntze seiner Natur” als reelle Einzelheit seiner Existenz zur allgemeinen Flüssigkeit, die sich aber ihrerseits durch die Überwältigung der Einzelheit isoliert, also “absolut nur als Eins nicht ihre Allgemeinheit und Leben” behalten kann (J I.259). Die Allgemeinheit als absolutes Eins, das von der Einzelheit isoliert ist, ist nicht mehr allgemein und lebend, weil es nichts gibt, was ohne Moment der Einzelheit existieren kann. Ebenso kann das Tier, das nur durch die gegensätzliche Einheit des Flüssigen in seiner Einzelheit als Eins existiert, 178 Dieser Flüssigkeitsbegriff entspricht Jacob zufolge ‘einer allgemeinen Vorstellung der sich durchsetzenden und den leiblichen Organismus im „Flüssigen“ haltenden Lebenskraft der Medizin’ der damaligen Zeit. Jacob, Wolfgang: Der Krankheitsbegriff in der Dialektik von Natur und Geist bei Hegel, HSB 11, S. 169. D. h. die Flüssigkeit ist Wesen als Lebenskraft, die sich im Individuum verkörpert und dieses organisch belebt. 97 “die fixirte Allgemeinheit der Krankheit” in seiner ganzen Existenz nicht aushalten (J I.262). Daher ist “das Werden des Geistes” de facto letztlich das, was “nur mit dem Tode enden kann” (J I.259). Der Tod des Tiers ergibt sich im Grunde genommen daraus, dass es lediglich im unendlichen reellen Gegensatz gegen das Flüssige besteht und den Gegensatz aber nicht als seine ideelle Beziehung bei ihm haben kann, weil es “vollkommene” “Individualisierung” und Organisierung seiner selbst und aller seiner Glieder zum Prinzip hat (J I.204-205). Der reelle Gegensatz lässt sich nur durch die Vernichtung eines Relatums beenden. Die Einverleibung des Flüssigen in die tierische Einzelheit im vernichtenden Gegensatz ermöglicht das Leben des Tiers, und die Beherrschung seiner Einzelheit durch die Flüssigkeit bringt nur seinen Tod mit sich, der ihm überhaupt nicht anders als zwangsläufig gegeben wird. Dagegen ist der Geist so allgemein, dass er die Flüssigkeit und die Einzelheit als ideelle Relata bei ihm bestehen lassen kann. Das geistige Individuum hat diese “Allgemeinheit des Geistes” (J I.262263), in der der reelle Gegensatz als die Beziehung der “Idealitäten” aufgehoben ist und zur “Einheit der Allgemeinheit und der Unendlichkeit” getrieben wird (J I.265). D. h. die Allgemeinheit des Wesens, die auf dieser Stufe der Natur als die Flüssigkeit erscheint, und die Unendlichkeit desselben, die sich als unendliche einzelne Elemente verkörpert, werden im Geiste durch die theoretische und praktische Aufhebung der Einzelheit in die Allgemeinheit zur wahren Einheit beider gelangen. Weil das Tier die ideelle Beziehung nur durch die Empfindung bei der Krankheit vorläufig erreicht, ist seine Krankheit als der Geburtsort des Geistes zu typisieren, wo es aber nicht umhin kann zu sterben. Dagegen beschreibt Hegel bereits im Naturrechtsaufsatz, wie später zu beleuchten,179 den Tod des geistigen Seienden bzw. des Menschen als eine “Fähigkeit”, die in allen geistigen Handlungen des Setzens seiner Einzelheit in die aufhebende Beziehung auf die Allgemeinheit auftritt (JKS 448). Der erste Systementwurf scheint für das Werden des Geistes eine Vorstufe vorauszusetzen, auf der die Empfindung des Tiers bereits “in Bewußtseyn übergegangen” ist (J I.262). Wegen der Eigenschaft der Empfindung als Bewusstsein sei im Zustand der Krankheit die ideelle Beziehung des Einzelnen auf die Allgemeinheit des Flüssigen möglich, und diese Beziehung bedeute gerade das Werden des Geistes. Aber der dritte Entwurf erklärt anscheinend ohne solche Vorstufe den Tod des Tiers wegen der Krankheit als das “werden des Bewußtseyns”, nicht des Geistes (J III.172). Und während das vierzehnte Fragment des ersten Entwurfs in der Notiz am Rand erwähnt, dass die Krankheit “den Übergang zur Vernunft” macht (J I.241), kommt die Vernunft im dritten Entwurf erst im ersten Abschnitt der Geistesphilosophie zum 179 Siehe S. 196. 98 Vorschein. Zum konsequenten Verstehen ist aufzumerken auf zwei Punkte. Zunächst stellt Hegel jede Stufe der Naturphilosophie immer unter Unterscheidung zwischen idealem und realem Prozess dar. Weil für die Natur oder deren Einzelne das Wesen nicht idealiter vorhanden ist, gehört jener ideale Prozess von den wesentlichen Verhältnissen zur Reflexion von uns, oder dem Philosophen bzw. Hegel. Dagegen ist der reale Prozess in der Naturphilosophie für jeden Gegenstand und von jedem Gegenstand durchführbar. Auf dieser Seite kann allerdings auch oder muss es ab und zu unterschieden werden, ob das, was ein Gegenstand an sich ist, auch für ihn ist, z. B. ob das Grüne am Baum auch für ihn selbst nötig ist. Diese Unterscheidung von Gesichtspunkten für uns und für den Gegenstand ist in Hegels ganzer Philosophie von großer Bedeutung,180 weil sie eben das begriffliche Erkennen auf der Basis des Realismus ermöglicht. Sie entspricht weiterhin im zweiten Entwurf der Unterscheidung zwischen dem Geist “für uns” und “für ihn” [sic. den Geist] bzw. “für sich” in der Metaphysik der Subjektivität (J II.172, 177), die den absoluten Geist thematisiert, und zwischen “Natur für uns” und “für sich selbst” am Anfang der Naturphilosophie (J II.179, 181), und in der Geistesphilosophie des dritten Entwurfs zwischen “für uns” und “für ihn [sic. den Geist] als Bewußtseyn” (J III.186). 181 Sie lässt sich auch durch die folgende Erwähnung in der Geistesphilosophie des ersten Entwurfs bestätigen; “Bisher in der Natur, worin der Geist nicht als solcher existirt, sind wir in unserem Erkennen der existirende Geist” (J I.275). Die Unterscheidung wird weiterhin so konsequent beachtet, dass sie als Prinzip der Hegelschen Philosophie aufgestellt werden kann. Sie ist notwendig vor allem aufgrund von Hegels eigentümlichem Standpunkt der Wahrheit. Das, was von und für uns erkannt 180 Die Unterscheidung entspricht auch Jaeschkes Unterscheidung zwischen ‘äußerlicher’ und ‘immanenter Reflexion’. Ihm zufolge kommt die logische Notwendigkeit der Entwicklung der Bestimmungen bei Hegel zuerst zwar bis in die ersten zwei Jenaer Systementwürfe noch jener dem System äußerlicher und mentaler Reflexion von uns zu, jedoch gewinne dieser immanente und logische ‘Reflexionsbegriff bereits’ im ersten Entwurf ‘eine theoretische Bestimmtheit’, und schon im zweiten Entwurf sei die Dualität der Reflexion ‘erstmals’ von Hegel bewusst als das ‘Methodenproblem’ aufgeworfen worden. Daher sei die vorige ‘Funktion des Bestimmens’ durch unsere Reflexion nun hier ‘zur eigenen Reflexion der Kategorien geworden’. Demnach werde unsere äußerliche Reflexion immer mehr eingeschränkt nur auf die Funktion der ‘rückblickenden Erläuterung’, der antizipierenden Vermittlung zwischen ‘der immanenten Explikation der Denkbestimmungen’ und dem dieser Entwicklung zusehenden, ‘subjektiven Bewußtsein’, daher zu einem systemäußerlichen und ‘wissenschaftlich gleichgültigen’ und insbesondere in der Wissenschaft der Logik nicht mehr gültigen Explikativ abgewertet, indem sich die von Hegel angesetzte ‘eigene Negativität des Begriffs’ als die immanente Reflexion desselben entfalten könne. Aus dieser Betrachtung des dualen Reflexionsbegriffs Hegels, die einen raffinierten Ausblick auf seine Systemmethode gibt, lässt sich auch erkennen, dass die endgültige Reflexion bei Hegel als die immanente ein ontologischer Entwicklungsbegriff des wissenschaftlich untersuchten Gegenstandes selbst, d. i. des Seienden selbst ist. Jaeschke, Walter: Äußerliche Reflexion und immanente Reflexion, HS 13, S. 85-117. 181 Dagegen fehlt Fichte und Schelling in früher Zeit der Standpunkt des, besonders äußeren, Gegenstandes der Betrachtung für sich. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, S. 454-456. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur 1797, S. 353-354 (29-30). 99 ist, ist noch lediglich Halbwahrheit, bis seine reale Existenz am und für den Gegenstand bestätigt wird. Dass die animalische Empfindung als “der ideale Proceß” (J I.241) für uns bereits Bewusstsein ist, ist eine ganz andere Sache als die Frage, ob das Bewusstsein für das Tier realiter vorhanden bzw. das Tier also realiter ein bewusstes Seiendes sei. Alle Begriffe mit Einschluss des Wortes, “Empfindung”, mit denen die Natur in Erwägung gezogen wird, gehören de facto uns, und die Empfindung ist als der reale Prozess einfach nur jede einzelne Handlung des Tiers, wie Tasten, Kosten, Riechen u. a. Diese Empfindung wird durch unsere Reflexion auf die animalische Organisation “als System der Sinne” betrachtet, die einzelnes Empfinden möglich machen (J I.208, 246). Und weil jedes Empfundene selbst in einem gewissen Maße allgemein ist, ist das System der Sinne “das allgemein werden des Individuums als eines solchen” (J I.246). Um als ein Beispiel das Gesicht im ersten Entwurf anzuführen, hört “das empfundene Blau” auf, “diß Blau zu seyn”, das einem Ding angehört, und wird “unmittelbar Farbe” als das Blau selbst, d. i. “an ihm [sic. dem Tier] selbst ein allgemeines” (J I.262). Denn das “Gesicht hat es mit nichts körperlichem als solchem, mit seiner reinen Idealität d. i. als aüsserer Gestalt” zu tun (J I.236); deshalb ist dies empfundene Blau nicht mehr dies blaue Ding, sondern die ideale Form (ειδος) des Dings als Farbe.182 Also können auch alle anderen blauen Dinge vom Gesicht als blau empfunden werden. Das Blau als Farbe wird ferner anderen Farben entgegengesetzt und bildet die Einheit der entgegengesetzten Farben gemäß jedem empfundenen Ding, das vielfältige Farben hat. Im Gesicht sind alle Dinge also als ihre idealen Formen der Farben vorhanden, d. h. wie sie beschaffen sind. In diesem Hinblick ist der Sinn selbst identisch mit dem Gegenstand der Empfindung. Der dritte Entwurf nennt aus diesem Grunde das Gesicht schlechthin den “Sinn der Wirklichkeit” (J III.168). Es ist nicht anders beim Gehör. Nach dem dritten Entwurf hört auch der Gegenstand des Sinnes sogar auf, “ein Ding zu seyn”, und “das reine, ideelle Selbst” wird vernommen (J III.169). Denn das Gehör setzt nicht immer die Anwesenheit des tönenden Dings voraus, und was hier gehört wird, ist das Selbst, das den ideellen Ton empfängt. In diesen Empfindungen ist ein einzelnes 182 Diese Betrachtung des Farbenphänomens stünde nicht ohne Bezug auf die Farbenlehre Goethes, der die ästhetischen Regeln und Gesetze der Malerei auf die vom künstlerischen Subjekt erkannten, naturphilosophischen Gesetze der Farben gründen wollte. J I., Anhang, S. 351. HH, S. 41, 47, 285-286. Auch bei Hegel, aber in eigentümlicher Weise, werden Phänomene von Gesicht und auch Gehör als den abstrakt ideellen Sinnen später in den Vorlesungen über die Ästhetik zum Grundstein der ersten zwei Formen der modernen romantischen Künste, d. i. der Malerei und der Musik, vor der begriffliche und sprachliche Medien benötigenden Poesie. Insbesondere über den selbstständigen Status der Farbe in der Malerei und über das realistische Konzept der Kunst als ‘Darstellung des sittlichen Weltzustandes selbst’ und historisches ‘Selbstverständnis einer Nation’ bei Hegel gegenüber Goethe und anderen, Collenberg, Bernadette: Hegels Konzeption des Kolorits in den Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, HS 34, S. 91-164. 100 Ding durch seine ideale Form als allgemeines auf das Subjekt bezogen. Das einzelne Subjekt bezieht idealiter sich auf die allgemeine Beschaffenheit, die die eidetische Gestalt jedes einzelnen Gegenstandes konstruiert. Diese Beziehung zwischen der Einzelheit und Allgemeinheit in der Empfindung ist bereits die Struktur des Bewusstseins, in dem Sinne, dass sie im Wesentlichen die ideale Beziehung des Subjekts in der Bezüglichkeit auf den realen Gegenstand ist. Unsere Reflexion auf die animalische Empfindung ist schon zum Bewusstsein gelangt. Die Empfindung ist deshalb Hegel zufolge “in Bewußtseyn übergegangen, und das Thier wird vernünftig” (J I.262), weil sie nach ihrem Wesen die Struktur des Bewusstseins hat. Dies aber besagt freilich weder, dass die Empfindung nichts anderes als das Bewusstsein, noch, dass das Tier realiter bewusstes, vernünftiges Seiendes ist. Denn das Empfinden des Tiers selbst kann nicht der Einzelheit oder Einmaligkeit entweichen, wiederholt sich nur in der empirischen Unendlichkeit. Auch das Empfundene als ideales Allgemeines bleibt streng genommen nicht im Selbst des Subjekts, sondern im Sinn bzw. Organ der Empfindung bestehen. Die Empfindung als Bewusstsein wird lediglich durch unsere Reflexion als bereits übergegangen enthüllt.183 Dann steht das Tier im Werden zur Vernunft. Dies alles ist der ideale Prozess. Und als das reale Phänomen des Übergehens von der Empfindung zum Bewusstsein am besten zu typisieren ist in Hegels Augen eben die Krankheit des Tiers, weil hier die ideale Beziehung der sogar sich selbst zum Gegenstand habenden Empfindung, aber bis zum völligen Aufheben des einzelnen Selbst fortwährt. Bei der Krankheit hat das Tier die Möglichkeit des bewussten Seienden. Aber diese Möglichkeit kommt zu Ende lediglich mit dem Tod des Tiers, das nur durch die organische Einheit in seiner Individualität bestehen, daher die es überwältigende Flüssigkeit nicht aushalten kann. Die Krankheit ist schließlich idealiter das Werden des Bewusstseins, realiter der Übergang zum Tod. Zweitens ist darauf Acht zu geben, dass das Werden des Geistes im ersten Entwurf nichts anderes als das Werden des Bewusstseins im dritten ist, wie der Anfang einer Blume nicht anderes als der Anfang ihres Keims ist. Besonders die erste Geistesphilosophie in jenem Entwurf verdeutlicht die Identität beider. “Die erste Form der Existenz des Geistes, ist das Bewußtseyn überhaupt” (J I.280). Die Einzelheit des Tiers, die durch die Krankheit realiter vernichtet wird, ist auch zugleich Gegenstand seiner Empfindung, der in die ideale Beziehung auf die Allgemeinheit der unendlichen flüssigen Elemente als Erscheinung des Wesens kommt. Die Empfindung als diese 183 Hegels ‘Komposita von „gehen“’, wie hervor-, heraus-, übergehen u. dergl. sind Scheiber zufolge ‘keine Kategorie’, sondern werden als bildliche Ausdrücke ‘nur im Sinne einer didaktischen Verständnishilfe gebraucht’, um die wesentliche Beziehung der Kategorien zu vergegenwärtigen. Scheiber, Wolfgang: „Habitus“ als Schlüssel zu Hegels Daseinslogik, HS 20, S. 130-131. 101 ideale Beziehung zwischen der Einzelheit und der Allgemeinheit ist schon Bewusstsein. Aber dies Bewusstsein ist de facto nicht einmal für das Tier vorhanden, sondern zuerst lediglich für uns als Begriff. Hegel charakterisiert also das Bewusstsein als den “Begriff des Einsseyns des Einfachen und der Unendlichkeit”. Das Einfache heißt hier “das numerische Eins der Einzelnheit”, die das Tier als Individuum realiter besaß und die nun als ein Glied der idealen Beziehung aufgehoben ist. Und die Unendlichkeit besagt hier die Allgemeinheit des Wesens, die in der Natur als unendliche Elemente erschien und nun als ideales Allgemeines existiert. Das Einssein dieser beiden wäre tätiges Bewusstsein. Das absolute Einssein beider ist nichts anderes als der Geist. Denn der Geist bezieht sich immer auf sich selbst, auch in der Beziehung zum unendlichen Anderen, und besteht als Eins, Selbstidentisches weiter. Er ist “absolute Einfachheit beyder selbst”. Er ist immer ein-fach im mannig-fachen Verhältnis zwischen Einzelheit und Allgemeinheit. Aber er ist nicht von Beginn an für uns auf die absolute Weise als Eins. Er ist zuerst auch für uns als Begriff des so gedachten Einsseins. Der “so bestimmte Begriff des Geistes ist Bewußtseyn” (J I.266). Das Bewusstsein ist die erste Form, in der er als der Begriff des Einsseins existiert. Der Geist kann nur im Geistigen unmittelbar existieren. Das Bewusstsein ist die geistige Entität, bei der das Einssein des Geistes zum ersten Mal als Begriff erreicht ist. Im Bewusstsein fängt der Geist zum ersten Mal an zu existieren. Wenn die Krankheit des Tiers daher sowohl das Werden des Geistes als auch des Bewusstseins ist, dann handelt es sich nun darum, wie sich das Bewusstsein, das anfangs für uns als Begriff ist, für sich bis zur absoluten Einheit des Geistes entwickelt. Dies ist nichts anderes als die ‘Rekonstruktion’184 des Absoluten als Geistes durch das Bewusstsein, die bereits die Differenzschrift als Aufgabe der Philosophie aufstellte. 3.4. Einführung in die Bewusstseinslehre Damit ist über den Eingang zur Geistesphilosophie hinaus nun die Bewusstseinslehre betreten. In den Jenaer Systementwürfen hat sie mehrere wichtige Spezifika. Zum ersten wird sie nur in der Geistesphilosophie des ersten Entwurfs als Thema namentlich behandelt. Hier entwickelt sich das Bewusstsein durch drei Potenzen je zum theoretischen, praktischen und totalen Bewusstsein. Dagegen beginnt die zweite Geistesphilosophie des dritten Entwurfs nicht mit der Analyse des Bewusstseins, sondern scheint das analysierte Bewusstsein vorauszusetzen. Diese Geistesphilosophie behandelt nicht Stufen des Bewusstseins als der ersten Existenzform des Geistes, 184 HH, S. 112. 102 sondern Stufen des Geistes nach seinem Begriff. Aber weil der Begriff des Geistes die Form seiner Existenz ist, sind seine Stufen nach dieser Form subjektive Gestalten, in denen er existiert. Deshalb haben seine Gestalten auch Formen vom Bewusstsein bis zum Selbstbewusstsein. Die Gestalten des Geistes entwickeln sich im Abschnitt “Intelligenz” der zweiten Geistesphilosophie theoretisch als Anschauung, Verstand und Vernunft, im Abschnitt, “Wille” praktisch als Trieb, Arbeit, Liebe und Anerkennung. Jene theoretischen Gestalten entsprechen dem theoretischen Bewusstsein in der ersten Geistesphilosophie, und diese praktischen umfassen in sich das praktische und totale Bewusstsein in der ersten Geistesphilosophie. Aber in der zweiten Geistesphilosophie wird das Bewusstsein nicht unmittelbar hervorgehoben, sondern nur als formelles Relatum der Gestalten des Geistes erwähnt. Darüber hinaus ist die Bewusstseinslehre in den Jenaer Geistesphilosophien, wie schon gesagt, überhaupt keine Erkenntnistheorie im geistesphänomenologischen Sinne. Die Epistemologie des Bewusstseins muss die Erfahrung desselben zum Gegenstand der Darstellung haben. Aber die erste Geistesphilosophie verweist nur auf die Schranke des empirischen Bewusstseins, entfaltet nicht dessen Erfahrung. Demnach setzt das empirische Bewusstsein “dasjenige dessen es sich bewußt ist” “nicht als sichgleiches”, deshalb hebt es zwar seinen Gegenstand auf, aber es muss “an die Stelle des andern ein andres, ihm ungleiches treten lassen”, insofern es nur in Entgegensetzung gegen anderes ein Bewusstsein sein kann. Aus “dieser empirischen aüsserlichen Unendlichkeit, welche das Anders ihrer selbst immer ausser sich hat”, muss es sich herausziehen und als “absolutes Bewußtseyn” “die positive Gleichheit” mit seinem Anderssein erlangen (J I.274). Dieses Bewusstsein, das durch die Reflexion auf seine Erfahrung Gleichheit oder Identität mit seinem Anderssein erreicht, ist hier gerade Fokus der Darstellung. Es ist, in der geistesphänomenologischen Terminologie gesagt, Bewusstsein, das bereits auf seine Erfahrung als des natürlichen Bewusstseins reflektiert hat. “Sein Seyn ist zuerst, wie es in sich selbst die Reflexion setzt, die bisher die unsrige war, daß es die Idealität der Natur ist”. Die Phänomenologie des Geistes stellt zum einen das dar, was das Bewusstsein erfährt, und zum anderen, welches und wie das Wesen seiner Erfahrung nicht allein für uns, sondern auch für es erlangt wird. Unter diesem letzteren Aspekt ist das Bewusstsein auch Vermögen wie unsere Reflexion, für sich selbst zu reflektieren. Nur mit dem Bewusstsein unter diesem Aspekt haben die Jenaer Geistesphilosophien zu tun. Hier zu überlegen ist also, ob das, was unsere Reflexion auf das Bewusstsein ist, auch von ihm selbst errungen wird und für es selbst existiert. Für es wird die Idealität der Natur als seines Andersseins eben als seine Idealität erfasst, dadurch die Identität beider gewonnen. Allerdings die Beziehung des Bewusstseins an sich auf die Natur ist 103 am Anfang negativ, weil die Natur lediglich als Einzelne existiert, während die Existenzweise des Bewusstseins “ein allgemeines der Natur” ist (J I.276). Die negative Beziehung, in der das Bewusstsein der Natur als seinem Ungleichen nur entgegensteht, nennt die zweite Geistesphilosophie eben die “Erfahrung des Bewußtseyns”. Diese Redewendung, die bei der Erklärung des Verhältnisses zwischen Ding und Verstand zum ersten Mal auftaucht, ist aber ebenfalls hier keine Hauptsache. Vielmehr ist darauf Nachdruck gelegt, dass ein einfaches Verstehen und Einsehen eines Dings, das nur in der negativen Beziehung vollzogen wird, “der Unterschied, nicht im Dinge, sondern des Dinges gegen den Verstand” ist und dass der Unterschied in diesem Gegensatz also lediglich der Erfahrung des Bewusstseins gehört, die Identität beider jedoch nicht erreicht (J III.196). D. h. das Ding, das erfahren wird, ist nur im Gegensatz zum Verstand, daher nur für den entgegenstehenden Verstand unterschiedlich. Der Unterschied des Dings ist nicht für es und in ihm, sondern völlig abhängig vom entgegenstehenden Verstand. Aus diesem Grunde muss ein einzelnes Ding, das dem allgemeinen Begriff des Verstandes nicht angemessen ist, durch ein anderes ins Unendliche ersetzt werden. Aber das Bewusstsein als ein Allgemeines der Natur existiert zugleich immer lediglich “als bezogen auf die Natur selbst innerhalb” der negativen Beziehung auf dieselbe (J I.276). Sein Allgemeines als des sich Bewusstseienden geht immer das einzelne Ding an, dessen es sich bewusst ist. Das einzelne Ding kommt immer innerhalb des Bewusstseins lediglich im Zusammenhang mit seinem Allgemeinen ans Licht, und das Allgemeine des Bewusstseins setzt die Dinglichkeit des einzelnen Dings zusammen. Das Bewusstsein ist daher immer die Beziehung zwischen Allgemeinheit und Einzelheit. Diese Beziehung ist zweifach. Einerseits, insofern das Allgemeine dem sich Bewusstseienden als dem einzelnen Subjekt gehört, ist sie die Beziehung des Bewusstseins selbst. Insofern das Allgemeine auf der anderen Seite als die Dinglichkeit dem einzelnen Ding gehört, ist sie die Beziehung des einzelnen Dings selbst. Diese zwei Beziehungen entsprechen sich einander je nach der Reflexion. Eben deshalb erklärt die zweite Geistesphilosophie in Bezug auf das Verhältnis zwischen Ding und Verstand, dass die negative Beziehung beider selbst für jedes die “an sich selbst negative Beziehung”, und der Unterschied zwischen Allgemeinem und Einzelnem zugleich “Unterschied im Dinge” und “im Selbst” ist (J III.196). Auch deshalb stellt die zweite Geistesphilosophie begriffliche Verhältnisse des Geistes selbst, nicht des Bewusstseins in den Mittelpunkt der Darstellung, um nicht das ‘Verhältnis zu Anderem’, sondern ein bereits durch Reflexion erlangtes ‘Selbstverhältnis’ hervorzuheben.185 Die Jenaer Bewusstseinslehre, die auf 185 HH, S. 170. 104 diese Weise in einem fort die Identität des Bewusstseins und des Gegenstandes oder des Selbst und des Dings u. a. erlangt, ist nicht phänomenologisch, sondern als Logik der Phänomenologie zu benennen. Drittens und nicht zuletzt ist zu unterstreichen, dass das Bewusstsein in den Jenaer Geistesphilosophien, das in sich die Reflexion setzt, auf seiner Spitze das Subjekt der Sittlichkeit ist. Die Jenaer Bewusstseinslehre ist ‘eine bewußtseinstheoretische Ableitung’ des Gegenstandes der praktischen Philosophie, die sich als ‘Philosophie des Sittlichen’ versteht, während die in der Jenaer Frühzeit geschriebenen Schriften, das System der Sittlichkeit und der Naturrechtsaufsatz, ‘die absolute Sittlichkeit als philosophischen Gegenstand einfach’ voraussetzen. 186 Sie ist zwar nicht schon unmittelbarer Systemteil der Sittlichkeit, aber sie spielt die Rolle des theoretischen Grundsteins des Systems. In diesem Sinn gehört sie als ins System einleitende dem System selbst. Ohne sie wären sittliche Kategorien wie Familie, Recht als anerkennende Beziehung der Person, u. a. grundlos. Das Bewusstsein als die erste Existenzform des Geistes wird zuerst nach seinem Begriffe betrachtet, wie es sich bis zum wirklichen Geist, d. i. zum absoluten Bewusstsein organisiert. Seine Selbstorganisation ist also keine Entfaltung des empirischen Bewusstseins, “wie es im Gegensatze erscheint, als subjectives und objectives” (J I.290). Sondern, indem das Bewusstsein überhaupt, wie der Geist, “seinem Begriffe nach als absolutes Einsseyn der Einzelnheit und des bestimmten Begriffs” in seiner Gegenstandsbezogenheit ist, wird es betrachtet, “wie es absolut für sich ist, und sich für sich organisirt”. Und auch “seine organisirenden Momente” werden gleichfalls betrachtet, “wie sie für sich als Momente des absoluten Bewußtseyns sind” (J I.271-272). Dafür hat es drei Momente seiner Existenz. D. h. als Beziehung zwischen Allgemeinheit und Einzelheit existiert es in drei Hinsichten. Zum ersten existiert es “als ideales”, weil es die Idealität oder der bestimmte Begriff davon ist, dessen es sich bewusst ist, d. i. von seinem Gegenstand. Dementsprechend ist ein anderes Moment seine einzelne Existenz als das sich Bewusstseiende, als Subjekt des Bewusstseins, als Selbst. Dies ergibt sich daraus, dass es sich im Gegensatz zu seinem Gegenstand in “einer Einzelnheit” “versenkt, sich hierin befestigt”. Zuletzt hat es eine vereinzelte Existenz, die selbst “als eine allgemeine” Existenz von seinem Gegenstand gesetzt ist. Es ist in der Hinsicht dieser Totalität die Einheit der Einzelheit und des bestimmten Begriffs und “absolut frey für sich” (J I.277). Aber diese Einheit selbst ist bekanntermaßen zu Beginn noch nur der oben genannte, bestimmte Begriff des Geistes, daher noch nur für uns vorhanden. Wenn sie lediglich in unsere Reflexion fiele, würde 186 Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 139. S. Horstmann, Rolf-Peter: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie MR, S. 290-291. 105 der Geist, wie in der Natur, noch immer verborgen bleiben. Aber im Bereich des Geistes muss unser Erkennen auch “als ein Erkennen des Geistes selbst erkannt werden” (J I.275). Sonst könnte der Geist nicht für sich sein, sondern er wäre abhängig vom Anderen. Ebenso muss die Einheit für das Bewusstsein als die erste Existenz des Geistes vorhanden sein. Das Bewusstsein selbst muss reflektierend sein, um dadurch die Einheit als sich selbst zu setzen. Es hat bereits Vermögen dafür, kann sich daher zur absoluten Einheit organisieren. Auf jeder Stufe existiert es als eine jeweilige Einheit, in dem Maße, dass es den bestimmten Begriff jedes seiner Gegenstände als sich gleiches reflektiert. Seine Existenz als eine jeweilige Einheit bezeichnet Hegel als “eine Mitte”, in der es in der vereinzelten Existenz eins mit der Allgemeinheit des bestimmten Begriffs ist. Die Mitte ist nicht nur eine theoretische Beziehung, in der die Einheit ideell im Bewusstsein gesetzt wird, sondern auch eine praktische, “in welcher die entgegengesetzten des Bewußtseyns als reelle [sich] beziehen” (J I.277). Damit wird die Einheit im Hegelschen Sinne der Wahrheit als wahr erwiesen. Das Bewusstsein erkennt in der Mitte theoretisch die Einheit seiner Einzelheit mit der Allgemeinheit des gegenständlichen Begriffs und bestätigt praktisch durch Prüfung oder Realisierung seines Begriffs im Gegenstand, ob diese Einheit auch als die Einheit der Einzelheit des Gegenstandes mit dessen begrifflicher Allgemeinheit, also für ihn vorhanden ist. D. h. es bezieht praktisch seinen theoretisch erhaltenen Begriff von dem, dessen es sich bewusst ist, auf diesen Gegenstand selbst. Die dadurch bestätigte, reale Einheit erlangt es als gleiches mit seiner Einzelheit, die mit dem Gegenstand idealiter, d. i. mit dessen Begriff vereint ist. In diesem Hinblick existiert es zweifach, d. i. zuerst als Einzelnes, das sich des Gegenstandes bewusst ist, dann als absolut Einzelnes, das der realen Einheit des Gegenstandes adäquat ist. Es als Einzelnes wird sich auf diese Weise durch seine Mitten “zur absoluten Einzelnheit erheben, diese als solche zur Totalität erheben”. Die Totalität des Bewusstseins ist die Stufe, auf der seine Einzelheit in seiner ganzen Existenz absolut eins mit der Allgemeinheit ist. Das Bewusstsein, das zu dieser Totalität gelangt ist, ist nichts anderes als die Realisierung des Begriffs des Geistes. Das totale Bewusstsein ist eben der wirkliche Geist, d. i. der Geist, der wirklich erkennt und handelt. Es existiert nach seiner Totalität realiter zuerst als Individuum, später als “ein grosses allgemeines Individuum” bzw. “als der Geist eines Volkes” (J I.270), der in ‘der sittlichen Totalität aufgeht’.187 Das Bewusstsein auf dieser Spitze ist daher vor allem als das sittliche Subjekt zu verstehen. Weil es als Einzelnes immer allgemein erkennt und handelt, weil seiner einzelnen Tätigkeit immer das Moment der Realisierung des Allgemeinen in der Wirklichkeit immanent ist, ist es sittlich. Hegel stellt in der ersten 187 Bobbio, Norberto: Hegel und die Naturrechtslehre MR, S. 85. 106 Geistesphilosophie gerade die Entwicklung zu diesem Bewusstsein stufenweise als theoretisches, praktisches und totales dar. Das Bewusstsein tritt jeweils hier als Mitte der Potenzen von Sprache, Werkzeug und Familiengut auf, die jeweils seinem Einssein als Gedächtnis, Arbeit und Familie entsprechen. Aber insofern es als die potenzielle Mitte, daher nach seinem wesentlichen Vermögen, seine realen Tätigkeiten und Produkte zu ermöglichen, dargestellt wird, ist es noch nicht wirkliches, sondern elementar analysiertes Bewusstsein. Die Bewusstseinslehre ist daher mit einem Wort die Elementarlehre des sittlichen Subjekts zu nennen. Das Bewusstsein geht auf der Stufe der Familie, wo es “zur Totalität der Einzelnheit geworden” ist, “zu seiner absoluten Existenz”, “zur Sittlichkeit” über und wird erst wirkliches Subjekt der Sittlichkeit (J I.281). Die zweite Geistesphilosophie drückt dies Subjekt deutlich als “die Person” aus, deren logische Elemente als Intelligenz und Willen analysiert worden sind. “Der Wille des Einzelnen” als Person ist “der allgemeine, und der Allgemeine ist [der] einzelne”, und dies ist “Sittlichkeit überhaupt”. Die Person ist der wirkliche Geist, in dem die Einzelheit und Allgemeinheit sowohl theoretisch als auch praktisch, also seine Intelligenz und sein Wille vereint sind. Also taucht die Beziehung der Person unmittelbar als die allgemeine Selbstbestimmung des einzelnen Willens, als “Recht” auf (J III.222). Schließlich ist nun das Wesen des Bewusstseins selbst darzulegen, auf dem das Bewusstsein als die Mitte beruht. Das Bewusstsein ist nach seinem Wesen unmittelbar “absolute Einheit des Gegensatzes”. Dies besagt, dass das Bewusstsein zuerst im Gegensatz besteht, und dann, dass es lediglich unter der Bedingung dieses Gegensatzes die absolute Einheit ist. Der Gegensatz ist in erster Linie Gegensatz zwischen Bewusstsein und Gegenstand. Er bedeutet daher als Bedingung der Einheit des Bewusstseins die Gegenstandsbezogenheit desselben. Sehr charakteristisch für das Bewusstsein ist des Weiteren, dass es den Gegensatz wiederum in sich selbst widerspiegelt. Das Bewusst-Sein 188 selbst ist der Gegensatz, in dem “das sich bewußtseyende” und “das, dessen es sich bewußt ist”, bestehen. Aber diese beiden Glieder in dem Gegensatz sind “wesentlich dasselbe”. Denn das Bewusstsein ist immer das sich etwas Bewusstseiende und zugleich das in sich Sein von etwas, dessen es sich bewusst ist. Seine beiden Glieder sind “es selbst”, und “an ihnen” “unmittelbar das Gegentheil ihrer selbst”. D. h. das sich etwas Bewusstseiende ist das in sich Sein von etwas, dessen es sich bewusst ist, und umgekehrt. Beide Entgegengesetzte sind im 188 Dieser Ausdruck wolffscher Provenienz kommt von conscientia, Mitwissen her. Hoffmeister, Johannes Hg.: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 120-121. Mit-Gegenstand-Wissen ist daher Bewusstsein, Mit-sich-Wissen Gewissen. 107 Bewusstsein schlechthin als aufgehoben vereint. Das Bewusstsein ist “seinem Wesen nach ebenso das Aufgehobenseyn beyder”, daher unmittelbar “absolute Einheit des Gegensatzes”. Dies besagt darüber hinaus, dass das Bewusstsein das Anderssein seiner selbst ist. Das Andere bzw. der Gegenstand für das Bewusstsein ist kein anderes als “das, dessen es sich im Gegensatz bewusst ist”. Der Gegenstand an sich außerhalb der Beziehung auf das entgegenstehende Bewusstsein wäre blind. Das Bewusstsein ohne Bezug auf den Gegenstand wäre leer. Das Andere, dessen es sich bewusst ist, ist das im Bewusstsein – freilich idealiter – Seiende, in eins mit dem sich Bewusstseienden, daher das Bewusstsein selbst. Das Bewusstsein ist das Insichsein des Anderen seiner selbst. Sehr bezeichnend für das Bewusstsein ist auch, dass es als das Anderssein seiner selbst die Struktur des Anderen selbst in sich widerspiegelt. Jedes Seiende in der Natur ist Einzelnes, das nach seinem allgemeinen Wesen existiert. Jedes Andere des Bewusstseins ist daher “eine unmittelbare Einheit der Einzelnheit und der Allgemeinheit”. Das im Bewusstsein Sein des Anderen ist das ideale Sein desselben nach seinem allgemeinen Wesen und in eins mit dem sich Bewusstseienden als dem Einzelnen, daher mit dem Subjekt des Bewusstseins. Das sich des Anderen Bewusstseiende als Einzelnes ist das in sich allgemein Sein des Anderen, dessen es sich bewusst ist. Das Bewusstsein selbst ist daher eine unmittelbare Einheit der Einzelheit und der Allgemeinheit. Das sich Bewusstseiende und das, dessen es sich bewusst ist, einfach gesagt: das Bewusstsein und der Gegenstand, sind beide diese Einheit. Deswegen bezieht sich das Bewusstsein in seiner Gegenstandsbezogenheit auf sich selbst, oder dieser Gegenstandsbezogenheit ist seine Selbstbeziehung immer bereits logisch immanent. D. h. es kann nicht nur einfach das Allgemeine des Gegenstandes als diesem einzelnen Gegenstand gehörig erkennen, sondern auch als seiner Einzelheit, seinem Selbst gehörig, als das Seinige setzen. Dieser Selbstbezüglichkeit halber ist es nicht nur das Anderssein seiner selbst, d. i. identisch mit seinem Anderen, sondern ferner mit sich selbst in seinem Anderen. In diesem Sinne ist es frei. Es kann sich frei auf sein ideales Wesen in allen Anderen beziehen. Das allgemeine Wesen ist als realisiert in der Einzelheit des natürlichen Dings nicht frei, während es in der Einzelheit des Bewusstseins idealiter frei ist. Das Bewusstsein kann daher auch praktisch sein Wesen auf anderes Einzelnes beziehen, wenn sein Wesen als Zweck gesetzt, oder falls es in der Einzelheit eines natürlichen Dings unvollkommen realisiert ist. Aber die Einheit oder die Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins nach seinem Wesen ist insofern nicht für es vorhanden, als es, wie das empirische, nur im Gegensatz befangen ist. Dies Bewusstsein ist immer gespalten in das sich Bewusstseiende und in das, dessen es bewusst ist. In dieser Spaltung erscheint es “nur auf einer Seite” “als thätiges”. Für 108 das einseitig tätige Bewusstsein ist das, dessen es bewusst ist, immer nur ein anderes, das es bloß aufhebt oder ersetzt. Daher ist die Einheit des Gegensatzes nicht für die beiden Entgegengesetzten des Bewusstseins, sondern “nur für einen dritten” (J I.273). Dieser Dritte kann zwar anfangs unsere Reflexion sein, die den Gegensatz als eine Einheit erkennt, er kann aber auch dem Bewusstsein selbst gehören, insofern es in sich die Reflexion setzt. Das ganze Bewusstsein als die Einheit selbst wird am Anfang vom einseitigen Bewusstsein als dem nur sich Bewusstseienden im Gegensatz nicht mit sich identifiziert. Es muss dennoch eben dies tätige Bewusstsein im Gegensatz sein, das dann die Einheit des ganzen Bewusstseins erreichen kann. Es bleibt nichts anderes, als mit dem Gegensatz zu beginnen, insofern ihn die Einheit des Bewusstseins zur Bedingung hat. Das Bewusstsein steht vor allem realiter im Gegensatz und ist das Vermögen des Gegensatzes. Des Weiteren muss mit dem tätigen Bewusstsein im Gegensatz angefangen werden, weil seine Einheit lediglich durch die Tätigkeit verwirklicht werden kann. Das tätige Bewusstsein erkennt das Aufgehobensein bzw. das ideale Sein seines Anderen als sich selbst, hebt damit auch seine entgegengesetzte Einzelheit auf. Ein solches Selbsterkennen ist gerade darum möglich, weil es nicht allein in die empirisch unendliche Negation des Anderen gerät, sondern ferner sich diese Negation selbst entgegensetzen kann. Es wird dadurch von ihm selbst als allgemeines Relatum der Negation und der negierten Anderen erkannt. Dies bedeutet die Tätigkeit seiner Reflexion. Das tätige Bewusstsein in dieser Hinsicht nennt Hegel “subjectives Bewußtseyn”. Eben dies subjektive Bewusstsein bzw. das Bewusstsein als Subjekt hat die oben erwähnte zweifache Existenz. Es ist nämlich einerseits tätiges Einzelnes im Gegensatz und wird andererseits zum absolut Einzelnen, das die adäquate Einheit des Gegensatzes hat. Von der logischen Entwicklung des subjektiven Bewusstseins bis zur Totalität seiner absoluten Einzelheit handelt die erste Jenaer Geistesphilosophie. Das Bewusstsein als ein bloßes Glied des Gegensatzes ist tätig und, insofern es die Tätigkeit in seine Einzelheit reflektiert, subjektiv. Die Reflexion des subjektiven Bewusstseins, die in den beiden Geistesphilosophien nur erwähnt, nicht genügend erschöpft ist, basiert in erster Linie auf seinem Vermögen der Entgegensetzung. “Das Bewußtseyn ist die Idealität der Allgemeinheit und Unendlichkeit des Einfachen in Form der Entgegensetzung”. Diese andere Definition Hegels erklärt nicht das Wesen des Bewusstseins als die absolute Einheit, sondern lässt die subjektive Seite desselben auf dem Weg zu seiner Einheit hervortreten. Daher lässt sich hier auch die Struktur seiner Reflexion ablesen. Das Bewusstsein ist zunächst das Ein-fache. In seiner Einfachheit ist keine Unterscheidung, keine Entgegensetzung für es da. Das einfache Bewusstsein hat aber zwei Seiten. Erstens ist es unterschiedsloses “allgemeines” als 109 ideales. Es hat für sich seinen Inhalt in der idealen Allgemeinheit, aber ohne Unterschied von dem, dessen es bewusst ist. Zweitens ist es für sich unendlich als einfaches. Die “Unendlichkeit” seiner Einfachheit ist auch “Idealität”, in dem Sinn, dass seine Einfachheit realiter nur um seinetwillen unendlich gewollt wird, daher in ihm lediglich idealiter als unendliches da ist. Das Bewusstsein ohne die ideale Unendlichkeit seiner Einfachheit könnte nicht weiterhin als ein-faches, als eins bestehen bleiben. Aber in dieser Idealität, die besagt, dass es für sich als einfaches unendlich sein will und muss, liegt bereits “seine Entgegensetzung”. D. h. seine ideale Unendlichkeit ist seiner idealen Allgemeinheit entgegengesetzt. Denn die Allgemeinheit heißt in ihrem ersten Sinne ideale Gemeinschaft der Mannigfachen, gehört deshalb nicht nur einem Einfachen. Auch die Unendlichkeit der Einfachheit heißt nur unendliches Einerlei der Einzelheit, schließt daher die Allgemeinheit aus, die sich auch in Anderen findet. Das Bewusstsein ist also “die Idealität der Allgemeinheit und Unendlichkeit des Einfachen in Form der Entgegensetzung”. Die Entgegensetzung seiner beiden Seiten entsteht durch das ideale Unterscheiden des Bewusstseins von sich selbst in sich. Das Bewusstsein unterscheidet sich als das unendlich Einfache von sich als dem Allgemeinen, und “die beyden im Bewußtseyn unterschiedenen” “scheiden sich ab”, stehen einander entgegen. Es ist nicht mehr das Einfache, sondern sich selbst entgegengesetzt. D. h. es als Einzelnes, als das sich Bewusstseiende, steht in der Entgegensetzung zu sich als Allgemeinem, das in der Beziehung auf das Andere besteht, dessen es bewusst ist. Die Einheit beider nach dem Wesen des Bewusstseins erscheint ihnen in der Entgegensetzung “als eine Mitte zwischen ihnen, als das Werk beyder, als das dritte”, das aber kein anderes als die Realisierung bzw. die Entelechie des Bewusstseins selbst als Einheit ist. Das sich Bewusstseiende nun als das tätige Glied seines Gegensatzes unterscheidet ferner die “Mitte ebenso von sich, als es sich” von sich als “von dem im Bewußtseyn unterschiednen unterscheidet”.189 Das sich Bewusstseiende macht nämlich nicht nur die Mitte, sondern auch sich selbst als tätiges im Gegensatz wiederum zu seinem 189 Von Fichte, der lediglich den Grund der Tätigkeit des Bewusstseins sucht, aber den Grund des einheitlichen Inhalts desselben und des Gegenstandes vernachlässigt, wird nur die Unterscheidung des Bewusstseins von sich selbst als Entgegengesetztem, d. i. zuerst dem ‘Bewussten’, dann dem ‘Bewusstseyenden’, aber nicht von sich als Einheit bzw. Mitte in Erwägung gezogen; deshalb wird als Bedingung des Bewusstseins des Objekts nur ‘das Selbstbewusstsein’ behauptet, in dem ‘Subjektives und Objektives unzertrennlich vereinigt und absolut eins’ sind. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, S. 525-530. Deswegen findet sich beim Fichteschen Bewusstsein lediglich seine Selbstbezüglichkeit, nicht einmal seine Gegenstandesbezogenheit, die vielmehr sogar in der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, 1801, auf die Selbstreferenzialität des absoluten Wissens angewiesen ist, in dem absolut Differente, Subjektives und Objektives, absolut vereinigt sind, und was als das absolute Gefühl im Dienste der Notwendigkeit des freien (menschlichen) Wissens für sich vorausgesetzt werden soll. Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre, S. 60-68. 110 Gegenstand. Es setzt sich selbst mit einem Wort seine Tätigkeit in der Mitte des Gegensatzes entgegen und wird zu einem weiteren Relatum des ganzen Gegensatzes seiner selbst und zur Mitte seiner Entgegengesetzten. Es bezieht seine beiden Entgegengesetzten auf die Mitte und fasst diese als Ergebnis der Beziehung der ersteren auf. Die Mitte ist nach unserer Reflexion absolut Allgemeines, das zugleich das sich Bewusstseiende im Gegensatz als Begriff hat und in dem, dessen es bewusst ist, als Ding realisiert ist. Nur “in dem Subjecte”, das diesen Gegensatz von sich isoliert und in sich reflektiert, wird “die absolute Allgemeinheit” selbst “zur Mitte”. Und insofern das sich Bewusstseiende nicht nur im Gegensatz steht, sondern auch seinen Gegensatz wiederum für sich vergegenständlicht, ist es eben das Subjekt, das die Einheit seiner Entgegengesetzten nicht als das Dritte, sondern als Produkt seines Entgegensetzens selbst, seiner Tätigkeit selbst im Gegensatz reflektiert. Für es ist ihre Einheit nicht mehr die erscheinende Mitte, sondern seine absolute Allgemeinheit. Es hebt damit seine Einzelheit in einem Extrem des Gegensatzes auf und erhebt sie zur absoluten Einzelheit. In dieser Phase stimmt die Reflexion des subjektiven Bewusstseins mit unserer überein. Weil sich die Jenaer Bewusstseinslehre auf den Standpunkt dieser Reflexion stellt, beginnt die erste Geistesphilosophie mit der Erläuterung des Wesens des Bewusstseins, die zweite noch direkter mit der Analyse der intellektuellen Struktur des reflektierten Bewusstseins. Aber als die Mitte der absoluten Allgemeinheit ist es wiederum “selbst ein entgegensetztes” gegenüber dem subjektiven Bewusstsein (J I.275). Es existiert lediglich in der Form der sich erneuernden Entgegensetzung, bis die Allgemeinheit und die Einzelheit in seiner ganzen Existenz absolut vereint werden. Daher folgt die Gliederung der Bewusstseinslehre zuerst unserem Erkennen seiner Totalität, nach dem es in seine Momente eingeteilt wird. Demzufolge wird dargestellt, wie es sich als absolut Allgemeines an der Realität seiner Momente bis zur Totalität für sich organisiert. Seine Organisation “an der Realität seiner Momente” ist daher “eine Organisation seiner Formen als Mitten”, die als Elemente des sittlichen Subjekts zu beschreiben sind (J I.276). 111 III. Von der Bewusstseinslehre bis zum sittlichen Subjekt 1. Theoretisches Bewusstsein 1.1. Anschauung, und Raum und Zeit Die erste Stufe der Bewusstseinslehre in der ersten Geistesphilosophie ist das theoretische Bewusstsein, dessen Organisation unter der Potenz der Sprache der Betrachtung unterzogen wird. Während Potenzen bei Schelling – ontologisch – ‘die Gestalten’ sind, die das Absolute als die Einheit des Endlichen und Unendlichen oder als Indifferenz von Idealität und Realität auf den jeweiligen Stufen seiner Realisierung, nämlich zumeist der Naturphilosophie, ‘annimmt’, und zugleich – kognitiv – ‘Gedankenformen, in denen jene ontischen Gestalten allein angemessen erfaßt werden können’,1 sind sie hier – geistesphilosophisch angewendet - Mitten des Bewusstseins, in denen seine Einheit jeweilig erscheint. Daher enthalten sie trotz der Wortwahl Hegels nicht eine Anlehnung an die Schellingsche Methode, sondern sie sind Mittel, die Einheit des Bewusstseins durch die jeweilig ihm erscheinende Mitte zu zeigen. Die Mitten sind reelle Phänomene seiner Einheit als Sprache, Werkzeug und Besitz bzw. Familiengut; dementsprechend entfaltet sich sein ideelles Einssein als Gedächtnis, Arbeit und Familie. Aber weil die Mitten noch nicht wirklich praktizierte Entitäten, sondern Realisierungsformen sind, die das Bewusstsein gemäß seinem Wesen als Einheit des Gegensatzes ermöglichen kann, werden sie zuerst von Seiten der Potenzen in Rechnung gezogen. Denn die Sprache, wie andere, existiert, pointiert gesagt, nie als Sprache des Individuums, sondern lediglich als Sprache desselben im Volk, also als Sprache des Volkes. Deshalb tritt diese Kategorie zusammen mit anderen wiederum in der Lehre der Volksgemeinschaft als wirkliche Tätigkeit auf. Darüber hinaus ist das hier betrachtete Bewusstsein gar nicht verschieden und getrennt vom praktischen, sondern ein Bewusstsein, das eigentlich zugleich theoretisch und praktisch ist, wird zunächst von der ersteren Seite in Betracht gezogen. Diese einmal theoretische, danach praktische Betrachtung des Bewusstseins könnte den Charakter einer transzendentalen Theorie für das wirklich sittliche Bewusstsein haben. Aber weil nicht die formalen Bedingungen der Möglichkeit seiner Tätigkeiten, sondern die Tätigkeiten selbst des sittlichen Bewusstseins als Realisierungen seiner Einheit logisch betrachtet werden, ist die Bewusstseinslehre hier als die onto-logische Theorie von der tätigen Struktur des sittlichen Bewusstseins zu werten. 1 Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 74. 112 Der Grund der Priorität der theoretischen Betrachtung besteht darin, dass das Bewusstsein “als Begriff” “sich unmittelbar aus der Empfindung erhoben” hat. Die reale Empfindung in der Naturphilosophie wurde durch unser Theorein als bereits die ideelle Struktur des Bewusstseins habend enthüllt. Das Bewusstsein hat die ideelle Beziehung der Empfindung eben zu seiner theoretischen Beziehung erhoben, in der es als Begriff besteht. Diese ins Perfekt gesetzte Hegelsche Wendung beschreibt einen logischen Zustand, überhaupt kein evolutionistisches Ereignis. Das Bewusstsein ist die erste Stufe, auf der die Beziehung auf das Andere als Anderes im realen Prozess der Natur durch die Empfindung zur Beziehung auf das Andere seiner selbst geworden ist. Diese Beziehung wird zuerst als ideelle Beziehung des Erkennens erlangt, weil durch das Erkennen der ideellen Eigenschaft des Anderen dieses als dem Subjekt der Beziehung angehörig gesetzt wird. Das Bewusstsein hat in der kognitiven Beziehung auf das Andere dies Anderssein idealiter anhaltend an ihm, erkennt deshalb das Andere als Anderes seiner selbst. Dagegen bleibt die ideelle Empfindung des Tiers von einem Ding nur als “eine Einzelnheit”, der auch eine andere Empfindung desselben Dinges folgt. D. h. das Empfundene gehört zwar ebenfalls idealiter dem Empfindenden, allein diese Beziehung ist immer nur einmalig und einzeln; daher ist das Anderssein, das jeweilig verschieden empfunden ist, nur “ein anderes ausser” jeder einzelnen Empfindung. Die Empfindung der Augen ist different von der Empfindung des Geschmacks. Die Identität eines Dings ist völlig im Ding, das dem Empfindenden ein jeweils anderes ist, und die Identifikation desselben ist abhängig von jedem Sinnesorgan. Hegel erblickte, dies wurde schon erklärt, in der tierischen Krankheit den Zustand, in dem die ideelle Beziehung der einzelnen Empfindung dauert, und typisierte ihn als “Werden zum Bewußtseyn”. Dies Werden wäre allerdings für die animalische Empfindung selbst als einzelne ein unendliches Sollen. Doch im bereits gewordenen Bewusstsein ist die Empfindung geworden “zu einem in sich entgegengesetzten”, “das sein andersseyn an ihm selbst” hat. D. h. im Bewusstsein besteht die ideelle Beziehung zwischen dem Empfindenden und dem Empfundenen als die unmittelbare Einheit des Gegensatzes fortwährend. Das Empfindende im Bewusstsein hat sein Anderssein als das Empfundene an ihm selbst, als Bestimmtheit, d. i. als “ein allgemeines”, des Weiteren als “Begriff”, der hier noch nicht sprachliche Bestimmtheit, sondern ideelles Sein des Anderen im Bewusstsein bedeutet. Auch das bewusst Empfindende, das dies ideelle Sein an ihm hat, ist gleichfalls “ein allgemeines”, das vereint mit seiner Einzelheit ist. Die einzelne Beziehung der Empfindung zwischen einzelnem Subjekt und einzelnem Ding ist im Bewusstsein die dauerhafte Beziehung zwischen den Einzelnen geworden, die selbst als eine allgemeine Bestimmtheit sind. Die Empfindung selbst, die im realen Prozess unendlich einzeln ist, 113 bleibt im Bewusstsein “ganz in ihrer Bestimmtheit”. Interessanterweise leitet Hegel daraus seine eigene Definition von Raum und Zeit her. Ihm zufolge ist die Unendlichkeit der einzelnen Empfindung insofern Raum und Zeit, als die Empfindung “ganz in ihrer Bestimmtheit” bleibt. Oder insofern die Unendlichkeit der einzelnen Empfindung getrennt vom realen Prozess und gesetzt in der unmittelbaren Existenz der Empfindung als Begriffs im Bewusstsein ist, ist diese “getrennte Unendlichkeit” Raum und Zeit. Diese sind, bündig gesagt, das ideelle Getrenntsein der Unendlichkeit der realen Einzelnen im Bewusstsein durch die kognitive Tätigkeit, hier durch die Empfindung oder die Anschauung. Dies ist sicherlich keine physikalische Definition als unendliche Formen der realen Existenz der Einzelnen in der Natur. Bei alledem sind sie auch nicht Kantische Formen der Anschauung. Sondern sie sind eingeführt als für das Bewusstsein bestehend, das immer in der Gegenstandsbezüglichkeit liegt. Insofern sind sie Formen des Gegenstandes und zugleich des Bewusstseins. Das Bewusstsein, genauer gesagt, zunächst das empirische, “schaut nicht Raum und Zeit als solche an”, sondern einzelne Gegenstände darin. Zugleich damit setzt es Raum und Zeit “als einzelne besonderte”, insofern diese erfüllt sind mit Gegenständen, deren es sich bewusst ist. Ohne das Setzen des Bewusstseins sind sie für sich lediglich “allgemeine leere, an sich höhere Idealitäten Begriffe”, deren Realität nicht erwiesen ist. Die Anschauung des Bewusstseins besagt des Näheren Folgendes. Erstens schaut es “im Raume das Einzelne als ein bestehendes” neben und außer einem anderen an und setzt es “zugleich in der Zeit”. Aber das, was in der Zeit ist, ist de facto “ein vergängliches”, ein “nicht mehr seyendes”, indem und sobald es ist. Das Bestehen im Raum widerspricht dem Vergehen in der Zeit. Aber das, was als bestehend im Raum angeschaut ist, ist Ideelles, weil die Anschauung ganz und gar keine materielle Rezeption des Einzelnen ist. Es ist zusammen mit dem Setzen in der Zeit gesetzt als bestehend im räumlichen Neben- und Außereinander. Ebenso ist auch das, was in der Zeit gesetzt ist, Ideelles, weil es realiter in der Zeit nur vergänglich ist. Es ist realiter nicht in der Zeit, sondern “mit der Reflexion” idealiter gesetzt “als in der Zeit seyend” (J I.283). Daher können Raum und Zeit für den anschauenden Einzelnen weder einfach physikalisch noch gar apriorisch subjektiv sein. Zweitens sind sie zum einen unendliche Allgemeinheit, in der alle Einzelne als bestehend angeschaut werden können. In diesem Sinne sind sie positive Allgemeinheit, die Anschauung und deren Gegenstand unendlich zu ermöglichen. Sie könnten apriorische Formen der Anschauung genannt werden. Aber sie existieren nicht als diese Allgemeinheit selbst. Sie sind für sich zwar allgemein, aber leer und irreal. Zum anderen ist das Setzen des Bewusstseins beim Anschauen nicht nur Setzen des Einzelnen als in Raum und Zeit bestehend, sondern 114 auch von Raum und Zeit selbst als erfüllt mit dem Einzelnen. In diesem Moment sind sie nicht mehr unendlich allgemein, aber sowohl ideal als auch real, in dem Sinne, dass sie als Formen von und erfüllt mit dem angeschauten Einzelnen existieren. Sie erlangen zusammen mit dem ideellen Setzen des Bewusstseins auch Realität. Das Anschauen des Bewusstseins heißt nicht lediglich ideelle und passive Rezeption des Einzelnen in der positiven Allgemeinheit von Raum und Zeit, sondern es fällt zugleich mit der Tätigkeit zusammen, diese positive Allgemeinheit “unmittelbar formal zum Gegentheil ihrer selbst”, zur negativen, besonderten Allgemeinheit zu machen, die nicht mehr unendliche Bedingung für den Bestand der Einzelnen, sondern nun getrennte Unendlichkeit gesetzt in der begrifflichen Existenz der Einzelnen ist. Das Bewusstsein ist in jener “Form der positiven Allgemeinheit” “theoretisch” und zugleich in dieser Form der “negativen Allgemeinheit” bereits “praktisch”. Diese Form der negativen Allgemeinheit, die es gemäß seinem Setzen des angeschauten Einzelnen besondert, erfüllt und vereinzelt, ist Hegel zufolge eben die “empirische Einbildungskrafft” (J I.284). Denn nun nach und ohne Präsenz des Einzelnen in der sinnlichen Anschauung stellt das Bewusstsein durch das Setzen desselben in der Form der negativen Allgemeinheit diesen Gegenstand vor und steht in Beziehung darauf. Raum und Zeit existieren für das empirische Bewusstsein nur als diese negative Allgemeinheit. Insofern die Anschauung hier Tätigkeit des Bewusstseins ist, ist sie schon befreit von der bloß sinnlichen Passivität in der positiven Allgemeinheit, die erst später durch die wissenschaftliche Reflexion des höheren Bewusstseins als höhere Idealität gedacht werden könnte. Des Weiteren, insofern das Bewusstsein immer die Beziehung auf den Gegenstand ist, ist die negative Allgemeinheit von Raum und Zeit sowohl Form des Gegenstandes als auch des Bewusstseins. Die zweite Geistesphilosophie, die die begriffliche Struktur des Geistes behandelt, erläutert im Abschnitt ‚Intelligenz’ gleichfalls, aber bezüglich des Raums etwas ausführlicher, “das Wesen der Anschauung”. Die Intelligenz bedeutet hier den Inbegriff des subjektiven Geistes, der in der theoretischen Beziehung auf den Gegenstand steht,2 und die Anschauung die erste Tätigkeit der Intelligenz. Die Besonderheit dieses Abschnitts, die schon auf den ersten Blick deutlich ist, ist, dass Hegel, wie in der bereits erwähnten, kurz vor dem dritten Entwurf niedergeschriebenen Gliederungsnotiz,I. 2 Halbig erklärt die Intelligenz der Enzyklopädie (1827) etwas vereinfacht als den ‘Prozeß der Realisierung der Vernunft als Begriff des Geistes’. Halbig, Christoph; Objektives Denken, S. 79-81. Die hier definierte Intelligenz oder das Wissen ist die höchststufige Realität des Geistes, dessen Begriff genauer zitiert “die schlechthin unendliche, objektive Vernunft” ist. Deshalb ist nach der Enzyklopädie (1830) die umgekehrte Definition möglich, also die Intelligenz oder das Wissen als der Begriff des Geistes und die Vernunft als die Realität desselben. E II., E III., § 441. 115 Intelligenz., auch hier die Intelligenz in Anschauung, Verstand und Vernunft einteilt, obwohl die Anschauung als Tätigkeit heterogen von Verstand und Vernunft als Gestalten bzw. Formen der Intelligenz ist. An die Stelle der ersteren würde Kant die Sinnlichkeit setzen. Aber die Empfindung als eine sinnliche Tätigkeit ist schon bei Hegel, wie soeben erklärt, zum Moment im Bewusstsein geworden. Die Sinnlichkeit des Menschen ist im Grunde genommen bereits bewusst und geistig, daher kann sie nicht von der Seite der bloßen Passivität behandelt werden. Der Mangel der Termini, die diese menschliche Sinnlichkeit bezeichnen, veranlasste vermutlich solche Einteilung Hegels. Darüber hinaus, weil die hier dem Wesen nach erwogene Anschauung also nicht nur der Sinnlichkeit zuzuschreiben ist, ist diese Erörterung als Polemik gegen die Kantische Ästhetik einzuschätzen. Demzufolge ist die Anschauung selbst im Wesentlichen bereits “Wissen eines Seyenden” (J III.185). Eben deswegen ist auch nachvollziehbar, dass die Anschauung in der lediglich erkenntnistheoretischen Phänomenologie des Geistes nicht einmal als solche auftritt, sondern dass stattdessen zuerst die im Bewusstsein gesetzte Gewissheit des sinnlich Aufgenommenen, d. i. die “sinnliche Gewißheit”, und dann die sinnliche, aber aktive und bestimmende Rezeption des Ich gemäß der Notwendigkeit der Entsprechung mit dem gegenständlichen Wesen, d. i. die “Wahrnehmung oder das Ding”, dargelegt wird (PhG 63-81). Die Anschauung als unmittelbare gehört dem ungebildeten Geist und lässt sich also, wie in den Nürnberger Schriften, nur pädagogisch behandeln.3 Dagegen ist die wissenschaftlich erwägenswerte Anschauung eben die intellektuelle, die später in der Psychologie der - der Jenaer Geistesphilosophie nahen - Enzyklopädie wieder als theoretischer Geist auftaucht (besonders E III. §§ 446450) und unten zu betrachten ist. Die Anschauung impliziert einerseits, dass der angeschaute Gegenstand nicht nur im Sein des Anschauenden ist, sondern ein selbstständiges Sein hat. Aber obwohl sie Anschauung des in der Außenwelt realiter seienden Gegenstandes ist, ist dieser auf der anderen Seite in jenem Sein des Anschauenden idealiter als ein Sein. Der Gegenstand in der Außenwelt besteht in der Unendlichkeit des Raums. Sein Bestehen, “sein Raum” ist Hegel zufolge “im Geiste Seyn”. Hegel benutzt hier das Wort “Seyn” im ideellen Sinne, weil das Sein als solches nicht realiter äußerlich existiert. Auch die Bestimmung des Raumes geht über die Kantische Definition als die subjektive Form des äußeren Sinnes4 3 “Indem der Mensch über das, was er unmittelbar weiß und erfährt, hinausgeht, so lernt er, daß es auch andere und bessere Weisen des Verhaltens und Tuns gibt und die seinige nicht die einzig notwendige ist”. Aber der “ungebildete Mensch bleibt bei der unmittelbaren Anschauung stehen”. NH, S. 259. 4 Raum und Zeit sind Kant zufolge ‘beide nur in uns anzutreffen’. KrV, A373. Hegel zufolge aber sind sie nicht nur die subjektiven Formen der Anschauung, sondern auch die objektiven des Gegenstandes, und jene Formen sind als ideelle doch auch anders als diese. 116 hinaus. Der Raum ist eher zuerst die objektive Form der Außenwelt, in der der Gegenstand besteht. Aber es ist darauf zu achten, dass der Raum selbst, seine Unendlichkeit, weder angeschaut noch bei alledem transzendental hergeleitet wird. Der bestehende Gegenstand ist als einzelner vom Raum selbst getrennt, mit einem Wort hat er seinen Raum. Durch diesen seinen Raum, insofern der Gegenstand als in seinem Raum bestehend angeschaut wird, wird auch der Raum selbst gewusst, und sogar als die getrennte Unendlichkeit, der der Gegenstand angehört. Der Raum ist dann die unendliche Form des Bestehens des Gegenstandes, die in der Beziehung auf den Geist als ein Bestehen desselben angeschaut wird. Hier lässt sich von der Tätigkeit des Bewusstseins in der ersten Geistesphilosophie sagen, dass sie beim Anschauen die positive Allgemeinheit des Raums zur negativen macht. Die getrennte Unendlichkeit, den Raum des Gegenstandes in der Beziehung auf das Bewusstsein drückt Hegel hier eben als “ein Seyn” im Geist aus. Der Raum des angeschauten Gegenstandes ist realiter die Form des bestehenden Gegenstandes selbst und zugleich idealiter des diesen anschauenden Geistes selbst. Die Form in der letzteren Hinsicht ist hier lediglich mit dem anderen Terminus, “im Geiste Seyn”, aber nicht ohne Absicht bezeichnet. Denn in dieser Wendung hebt sich die geistige Tätigkeit des nicht einfach passiven Anschauens ab. Der Raum als das äußere Bestehen des Gegenstandes ist das Sein des Geistes als das innere, ideelle Bestehen desselben. Denn die Struktur des Bestehens des Gegenstandes im Raum hat auch der Geist gleichfalls im Sein. Das Sein des Geistes ist “der abstracte reine Begriff des Bestehens”, der eben dem äußeren Bestehen objektiv entspricht (J III.185). Der Raum und das Sein sind de facto nur zwei Modi essendi eines Gegenstandes. Der Raum des Bestehens ist das Sein des Geistes, und ein Raum des bestehenden Gegenstandes ein Sein desselben im Geist. Dies besagt allerdings nicht, dass ein Gegenstand nicht nur in der Außenwelt, sondern auch im Sein des Geistes, wie ein Stein im Kopf, unmittelbar ist. Aber das Sein des Geistes ist bei alledem auch nicht vom Geist erdichtet. Der Geist ist. Insofern er ist, ist sein Sein so allgemein wie der Raum, in dem der Gegenstand unendlich bestehen kann. Der Raum selbst wird nicht angeschaut, sondern dadurch, dass der darin befindliche Gegenstand durch die Anschauung als im Geist idealiter seiend gesetzt wird, wird der Raum als die objektive Bedingung des Gegenstandes gewusst. Das Sein des Geistes, in dem der äußere Gegenstand auch unendlich idealiter sein kann, hat daher objektive Realität, obzwar diese nicht die äußere Realität, wie der Raum, bedeutet. Das Seiende im Geist ist nichts anderes als der angeschaute äußere Gegenstand. Dessen objektive Realität ist keine Realität eines solchen Gegenstandes, der wie bei Kant in der empirischen Realität des Raums nur als ‘der subjektiven Bedingung’ ‘der Sinnlichkeit’ 117 gegeben, und dessen Objektivität vom ‘transzendentalen Gegenstande’ ‘= X’ versichert wird.5 Sondern vielmehr das Sein im Geist liegt begrifflich näher an der essentiae objectivae, mit der Spinoza in der Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes ‘die wahre Idee (idea vera)’ erklärt. Die ‘essentia objectiva’, die sich verbaliter als „objektives Wesen“ wiedergeben lässt, heißt aber bei Spinoza ‘das objektive Sein’ des äußeren Gegenstandes im Geist, was durch die Empfindung oder Anschauung des ‘formalen Seins (essentiae formalis)’ desselben entgegengeworfen und vorgesetzt (obiectum) im Geist ist.6 Seine Realität ist nichts anderes als die realitas objectiva, die der Geist bezüglich des Gegenstandes idealiter hat, daher gehört sie dem Geist, obwohl sie den Gegenstand angeht. Die realitas objectiva des äußeren Gegenstandes im Geist wird nämlich durch die Existenz der essentiae formalis desselben im Geist ausgedrückt und versichert, die eben den äußeren Gegenstand selbst objektiv konstituiert. Der äußere Gegenstand besteht aus einer Vielfalt von eidetischen Formen. Er existiert sowohl realiter als auch insofern idealiter ‘formaliter’, als er empfunden und gedacht wird. Die reale Existenz seiner essentiae formalis entspringt nach der Ethik Spinozas ‘aus der unendlichen Natur Gottes’ und ist auch zugleich ‘in Gott’ idealiter ‘in der selben Ordnung und Verknüpfung objektiv’. Der Geist des Menschen erhält auch die essentiam formalem idealiter durch die Empfindung, insofern diese ordnungsgemäß durchgeführt und nach der vernünftigen Notwendigkeit erkannt wird.7 Diese essentia formalis im Geist des Menschen ist selbst Idee, die mit anderen formalen Ideen das objektive Sein des Gegenstandes selbst im Geist konstituiert. Diese Idee drückt nicht nur die essentiam formalem des Gegenstandes aus. Insofern kann sie einen anderen Gegenstand prädizieren. Sondern sie ist auch gerade das objektive Sein des Gegenstandes, insofern sie die wahre Idee vom Gegenstand ist. ‘Die wahre Idee von Peter’ ist eben ‘das objektive Sein (essentia objectiva) des Peter und an sich etwas Wirkliches’, obwohl die Idee völlig verschieden von Peter selbst als dem äußeren Gegenstand ist.8 Z. B. die wahre Idee ‚groß’ vom realiter großen Peter ist zugleich sein formales und objektives Sein. Sie ist in der letzteren Hinsicht an sich etwas Wirkliches, ‘das sein eigentümliches Sein’ im Geist hat. Dies Sein besagt nichts anderes als das ideelle und selbstständige 5 KrV, B42, A109. Spinoza: Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, S. 15. 7 Spinoza: Die Ethik, S. 53-56, 80-97. 8 In der englischen Übersetzung von Elwes ist essentia objectiva als ‘subjective essence’ und objectum als ‘Subject’ wiedergegeben, höchstwahrscheinlich aus dem Grunde, dass das objectum das im Geist Entgegengeworfene und Vorgesetzte des Gegenstandes ist. Diese Wiedergabe verdeutlicht zwar, dass die Objektivität der Idee dem Geist gehört, allein verdunkelt, dass die Objektivität realistisch bezüglich des Gegenstandes ist. Spinoza: Ethics Including the Improvement of the Understanding, Übers. Elwes, R. H. M., S. 10-11. Spinoza: Tractatus de Intellectus Emendatione, S.11-12. 6 118 Sein im Geist, das als solches erkennbar ist, und dessen Wirklichkeit die geistige Wirklichkeit ist. Deswegen kann sich die Idee als solche auf eine andere Idee beziehen, die eine andere essentiam formalem des Peter objektiv ausdrückt, und diese andere auf eine weitere andere ins Unendliche. Also entsteht z. B. der Satz, „der bärtige Peter ist groß“. Aber um die Wahrheit der Idee „groß“ von Peter zu bestätigen, ist es nicht nötig, Spinoza zufolge, die Idee selbst und auch andere Ideen zu erkennen, weil die richtige Art der Empfindung seiner essentiae formalis sie versichert. Die ‘Art, wie wir die essentia formalis empfinden, ist die Gewißheit selbst’ der wahren Idee, die nichts anderes als das objektive Sein ist.9 Nämlich die richtige Empfindung der verschiedenen essentiae formalis des äußeren Gegenstandes versichert sein objektives Sein als die wahre Idee im Geist. In Hegels Sprache ist das Sein des Geistes ein Sein, in dem der äußere Gegenstand unendlich idealiter sein kann, und das insofern reell ist, als es das reale Sein des empfundenen äußeren Gegenstandes widerspiegelt. Ein Seiendes im Geist ist also obzwar ideelles, jedoch reelles Seiendes, das einem äußeren Gegenstand entspricht, und auf das der Geist, wie unten zu betrachten, mannigfaltige formae bzw. Bilder bezieht. In dieser Hinsicht steht der Geist freilich nicht, wie bei Spinoza, in der passiven Abhängigkeit von der notwendigen und unendlichen Idee Gottes, die seiner Natur unendlich entspricht. Die Empfindung oder Anschauung ist nicht nur passive Rezeption der essentiae formalis, deren Idee bei Spinoza endgültig Deo sive Naturae Notwendigkeit und Wahrheit verdankt, sondern auch der Geist setzt zugleich dabei das ideelle Sein des Gegenstandes aktiv in sich und bezieht es auf den äußeren Gegenstand selbst; dadurch ist er als selbstständiges Subjekt der Wahrheit tätig. In diesem Sinne ist das Sein des Geistes darüber hinaus inhaltlich, also “wahrhafft allgemein”, während die Allgemeinheit des Raums “nur formal”10 im Gegensinn von „inhaltlich“ ist. Der Raum ist vom ihn erfüllenden Gegenstand getrennt, daher “nicht das Wesen seiner Erfüllung selbst”, sondern lediglich die nichtinhaltlich formale, selbst leere Allgemeinheit, in der die Erfüllung unendlich möglich ist. Das allgemeine Sein des Geistes enthält dagegen 9 Spinoza: Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, S. 15-16. Das Wort ‘formal’ beim Ausdruck ‘essentia formalis’, was ‘eidetisch’ im Gegensinn von ‘materiell, hyletisch’ bedeutet, muss vom gleichen Wort Hegels ‘formal’, das er nur als Antonym von ‘inhaltlich’ benutzt, terminologisch sorgfältig unterschieden werden. Die Form bzw. Eidos im ersteren Sinne ist von Hegel eher als der Begriff ‘Bild’ wiedergegeben. Hegels Rede hiervon und vom Sein des äußeren Gegenstandes im Geist lässt sich über den Spinozistischen Ursprung hinaus auch auf den kartesianischen, ferner den scholastischen, zurückzuführen. Courtine zufolge wird der Begriff ‚realitas’ im Hinweis auf ‚res’ im weitesten Sinne vor allem von Johannes Duns Scotus in den Kontext der Lehre von den ‚formalitates’ in der Unabhängigkeit vom diese erkennenden Intellekt einbezogen und von Descartes ‘stets mit einem Adjektiv’ von ‚subjektiv’, ‚objektiv’ oder ‚formell’ verbunden benutzt. Courtine, JeanFrançois: Artikel Realitas HWP8, S. 178-185. Hegels Begriff vom Bild lässt sich außerdem an den Aristotelischen Begriff von ‘Vorstellungsbild (φαντασµα)’ als aufgenommenen Eidos ‘ohne Materie (ύλη)’ durch ‘Wahrnehmung (αισθησις)’ anschließen. Aristoteles: De Anima, 424a, 427b-428a, 431b-432a. 10 119 sein besonderes Seiendes, bezieht dies auf sich und bildet dessen allgemeines Wesen. Das Sein des Geistes ist negative Allgemeinheit, insofern er sich auf sein Besonderes bezieht. Diese ideelle Beziehung des Geistes als Allgemeinen auf das Besondere des Gegenstandes ist ein Wissen. Dies “Wissen eines Seyenden” ist “unmittelbar das Wesen der Anschauung”. Die Anschauung des Geistes impliziert das Setzen seines Besonderen als Allgemeines, hat daher selbst die Form des Wissens. Für die endgültige Wahrheit dieses Wissens wird allerdings weitere geistige Tätigkeit nötig sein, um zu bestätigen, dass das Allgemeine, das über den besonderen Gegenstand idealiter gewusst ist, auch für diesen selbst realiter ist.11 Aber das erste Thema der Geistesphilosophie ist zuerst die Bewegung, wie das Seiende des Geistes “zum Allgemeinen für ihn wird” (J III.185). Die negative Allgemeinheit des Geistes entsteht gleichfalls im Zusammenhang mit der Zeit. Ich und der äußere Gegenstand sind zuerst eben so unmittelbar in der Zeit wie im Raum. Dieser Gegenstand wird beim Anschauen unmittelbar ein Seiendes für den Geist, oder in der Anschauung Seins eines Gegenstandes ist der Geist gleichfalls unmittelbar. Aber er bleibt auch nicht bei dieser Unmittelbarkeit in der Zeit, sondern setzt sich frei davon, indem er das Angeschaute hat. Er ist zum einen als anschauend selbst “wie das Thier, die Zeit, die für sich ist”, und in der ein Anschauen entsteht und dann vergeht. Sein Anschauen ist wie beim Tier jeweils verschiedene Wiederholung, daher ist der anschauende Geist “ebenso Freyheit der Zeit” vom jeweiligen Anschauen. In dieser Hinsicht ist er auch frei von der Unmittelbarkeit des Anschauens, von seinem angeschauten Inhalt, mit einem Wort das “reine Subject” (J III.186). Aber die Freiheit der Zeit heißt nur physikalische Ungebundenheit, die natürliche Unselbstständigkeit des Anschauens. Das Tier ist beim Anschauen nur an diese Freiheit gebunden. Es ist nach der ersten Jenaer Naturphilosophie “die Zeit, die daran vorbeygeht, und in der seine Empfindungen selbst als einzelne vorübergehen” (J I.261). Es ist kein reines Subjekt, das sich als Selbst auf die jeweiligen Empfindungen bezieht, sondern passives Subjekt als physikalisches Korrelat der Empfindungen, ja sogar vielmehr Objekt derselben, in dem sie so vorübergehen wie immer in der Zeit. Dagegen ist im von seinem unmittelbaren Inhalt freien Geist dieser Inhalt nicht vergänglich. Diesen setzt der Geist zugleich in sich idealiter, daher ist er zum anderen “Herr” darüber. Und zwar die Zeit wird nicht selbst als freie Unendlichkeit angeschaut, sondern ist die Zeit des 11 Deshalb ist Hegel nicht einfach Erkenntnistheoretiker der Entsprechung der Wahrheit. Er vertritt aber auch überhaupt nicht die Kohärenztheorie des Systems der Wahrheit ohne Rücksicht auf die Entsprechung mit dem äußeren Gegenstand, wie Gilead behauptet. Nach seiner Behauptung würde Hegel ein teleologischer Prokrustes sein, der zwecks des Begriffs des absoluten Geistes nicht nur ‘every immediacy’, sondern auch alle endlichen Gestalten abschneidet. Gilead, Amihud; The Problem of immediate evidence: the case of Spinoza and Hegel, HS 20, S. 145-162. 120 Anschauens, insofern der Geist den äußeren Gegenstand anschaut, und die getrennte Unendlichkeit, die als die äußere Form des Beziehens gewusst wird, insofern er sich beim Anschauen auf den Gegenstand bezieht. Insofern Ich aus meiner Freiheit anschaue, ist sie Zeit meines Anschauens, die sogleich mit dem jetzigen Gegenstand vergeht. Bei meinem Anschauen sind “Raum und Zeit nicht” als “das selbstlose”. Der Geist setzt dieses Sein des Gegenstandes, der nicht mehr Dieses jetzt hier ist, in sich ebenfalls “als ein nichtseyendes, als ein aufgehobnes überhaupt”. In dieser Hinsicht ist der Gegenstand das, was als realiter nichtseiend im Geist idealiter ist. Während die Zeit selbst die positive und formale Allgemeinheit ist, in der Seiende zwar unendlich entstehen, sich wandeln und schwinden können, aber die getrennt von ihrem Seienden und beziehungslos mit dessen Wesen ist, ist der Geist Zeit als die Allgemeinheit, die durch sein Setzen negativ gemacht ist und selbst das Nichtseiende in seiner Zeit unendlich sein oder nicht sein lassen kann. Er ist in diesem Moment “vorstellende Einbildungskrafft überhaupt”, die oben die empirische genannt worden ist. Ohne das simultane Anschauen stellt der Geist ferner das Angeschaute als ein Nichtseiendes vor und sich entgegen. Dadurch setzt er sich zugleich sein Selbst12 entgegen. Etwas vor sich zu stellen, ist, es zum Gegenstand seiner selbst zu machen. Das Setzen des Geistes, indem es nicht mehr Stellen des äußeren Gegenstandes vor sich, sondern ideelles Setzen des in sich Angeschauten ist, ist zugleich die Vergegenständlichung seiner selbst.13 Das, was er sich entgegensetzt, ist nicht mehr der 12 Der ‘Begriff des Selbst’ ist Kimmerle zufolge der ‘Leitbegriff’ für die dritten Jenaer Systementwürfe, aber als uneigentlich gebraucht für die Natur-, und als angemessen nur für die Geistesphilosophie. Kimmerle, Heinz: Die Begründung der Spekulation als eine Form des patriarchalischen Denkens. Ein Beitrag zur Interpretation von Hegels Religionsphilosophie in den Jahren 1801-1807 HLP, S. 201-202. Im ersteren Fall müsste das Selbst in der Form des Andersseins des Geistes gelesen werden. 13 Spinozas und Fichtes Erklärungen dieses Momentes bilden einen guten Kontrast. Spinoza zufolge, weil die wahre Idee des Peter eben das „objektive Sein“ des Peter ist, ist es, ‘um das Wesen des Peter zu erkennen, nicht nötig’, ‘die Idee des Peter selbst zu erkennen und noch viel weniger die Idee von der Idee des Peter’. Dies Erkennen der Idee von der Idee des Peter ist eine für jeden mögliche, aber nur unnötige Bemerkung davon, ‘daß er weiß, was Peter ist, und daß er weiß es zu wissen, und wiederum weiß, daß er weiß es zu wissen u. s. w.’. Spinoza: Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, S. 16. Die Ethik, S. 91. Hingegen ist dieser unendliche Prozess Fichte zufolge unvermeidlich bei der gemeinen Begründung des Bewusstseins. Damit ein Bewusstsein der Wand möglich ist, musst du dir des Bewusstseins der Wand bewusst sein. ‘Du bist deiner, als des Bewussten, bewusst, lediglich inwiefern du dir deiner als des Bewusstseyenden bewusst bist; aber dann ist das Bewusstseynde wieder das Bewusste, und du musst wieder des Bewusstseynden dieses Bewussten dir bewusst werden, und so ins unendliche fort’. Deswegen muss nicht vom gemeinen Standpunkt, sondern vom Standpunkt der Wissenschaftslehre ausgegangen werden, dass es ‘das Selbstbewusstseyn’ unmittelbar gibt, in dem ‘Subjektives und Objektives’ ‘absolut Eins’ ist. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre S. 526-528. In der Mitte dieser Extreme liegt Hegels Selbstvergegenständlichungsmoment, das freilich auch Kantischer Herkunft von der ursprünglichen und synthetischen Einheit der Apperzeption, aber nun nicht als ursprüngliches, sondern als tätige Selbstbeziehung entwickelnd verstanden ist. Z. B. der Name „Peter“ ist entwickeltere Idee von seiner Bild-Idee, und damit entwickelt sich auch das Selbstbewusstsein. 121 äußere Gegenstand. Dieser äußerliche Gegensatz ist bereits beim Anschauen geschehen und vorbei, weil das Anschauen selbst Tätigkeit dieses Gegensatzes ist. Sich entgegen setzt der Geist eben sein Selbst, das bereits den Gegenstand angeschaut und in sich das Angeschaute hat. Ja sogar “sein Anschauen” selbst ist “ihm Gegenstand”, und er “schaut sein Anschauen an”. Diese Beziehung ist doppelt. Es besteht einerseits die Beziehung, in der er in seiner eigenen Zeit sein physikalisch vorübergehendes Anschauen anschaut. Das Subjekt dieser Beziehung ist das reine Selbst des Geistes. Es ist aber darauf zu achten, dass das das Selbst oder Subjekt modifizierende Wort „rein“ überhaupt nichts Vorausgesetztes ist, sondern das reine Selbst als Glied einer neuen Beziehung hergeleitet und durch die Tätigkeit in der neuen Beziehung zu erfüllen ist. Die neue Beziehung entspringt hier aus der Selbstvergegenständlichung des Geistes. Insofern der Geist durch die Selbstvergegenständlichung sich Gegenstand wird, hat er als Glied einer neu beginnenden Beziehung Reinheit, die aber zuerst nichts anderes als Leerheit ist. Also ist der Geist, der sein Anschauen anschaut, sein reines Selbst. Andererseits steht er aber auch innerhalb der Beziehung des angeschauten, ersten Anschauens. Hierin ist er als anschauend, als das Angeschaute habend gesetzt, und sein Relatum ist der äußere Gegenstand, der aber nun im Geist als ein Nichtseiendes, als ein Aufgehobenes ist, daher beim Anschauen des Anschauens nicht als solcher berücksichtigt, sondern als das Angeschaute des Geistes seiend angesehen wird. D. h. diesen Gegenstand hat der Geist nun als sein Angeschautes, als sein “Bild”. Oder durch das erste Anschauen ist er vielmehr selbst das Bild. Der Grund dafür, dass diese Einheit von Geist und Bild entstehen kann, ist nichts anderes als die Selbstvergegenständlichung des Geistes, die sein Setzen begleitet. Das erste Anschauen ließe sich als die Beziehung des empirischen Bewusstseins betrachten, für das der Geist als Bewusstsein, als Ich, und der Gegenstand als ein Sein abgetrennt sind. Aber nach unserer Reflexion ist der Gegenstand nicht länger äußerlich seiend, sondern nichtseiend, also das, was stattdessen als das Angeschaute des Geistes, als sein Bild seiend ist. Insofern ist der Geist selbst der Gegenstand als sein Bild. Diese Einheit “für uns” entsteht auch “für den Geist selbst”, insofern er durch die Selbstvergegenständlichung dies sein Anschauen anschaut, d. i. sich reflektierend darauf bezieht (J III.186). 14 Dadurch wird die doppelte Beziehung eine Beziehung seines reinen Selbst auf sein Selbst als Bild aus dem ersten Anschauen. Mit dieser Betrachtung lassen sich in der ersten Geistesphilosophie zwei Resümees verbinden. Zunächst bleibt das angeschaute Einzelne nun nicht mehr in der Einzelheit 14 In dieser Fähigkeit der Selbstvergegenständlichung ließe sich der Grund finden, dass das Bewusstsein in der Phänomenologie des Geistes einerseits natürliches und auch andererseits reflektierend sein kann. 122 der äußeren Existenz, sondern gehört “nur der Allgemeinheit des Bewußtseyns” an (J I.284). Es ist von der räumlichen Äußerlichkeit und der zeitlichen Vergänglichkeit befreit und im Bewusstsein als ein Ideelles, also Verallgemeinerbares gesetzt. Dann, wenn die erfüllte Realität von Raum und Zeit gleichzeitig mit dem Setzen des Bewusstseins ist, sind Raum und Zeit nichts anderes als “das allgemeine Element des Bewußtseyns”. Das Bewusstsein selbst ist die “leere Unendlichkeit als Zeit und Raum” und “das allgemeine, das besondert” beim Anschauen wird. Dies Allgemeine des Bewusstseins heißt seine ideelle Unendlichkeit, die alles in sich idealiter sein lässt, sich negativ darauf beziehen und dessen allgemeine Bestimmtheit sein kann. Im Fall des Anschauens wird das Allgemeine von seiner Unendlichkeit getrennt und mit dem angeschauten Einzelnen erfüllt, das seinerseits nun auch befreit von der Bestimmtheit der Zeit und des Raums als Diesem und als Ideelles gesetzt ist. Das Anschauen des Bewusstseins ist also de facto zweifache Tätigkeit. Es ist sinnlich und zugleich ideelles Setzen des Sinnlichen, d. i. “Hervorruffen” des Bewusstseins des bereits angeschauten Einzelnen in der bereits vergangenen jetzigen Zeit und im bereits verlassenen hiesigen Raum, oder nach der zweiten Geistesphilosophie das Anschauen des Anschauens. Nun ist die empirische Einmaligkeit der Anschauung aufgehoben und die sinnliche Bestimmtheit als Dieses getilgt, die als Bestimmtheit eher eigentlich dem Bewusstsein gehört. Dies besagt, dass das Einzelne in der Hinsicht auf seine Bestimmtheit und zeiträumliche Ordnung nun im Bewusstsein als ein freies erscheint, je nachdem das Bewusstsein es in sich hervorruft. Dies freie Hervorrufen ist “ein thätiges reproduciren” der empirischen Einbildungskraft, die nicht mehr rein empirisch, sondern vorstellend und konstruktiv für die Erkenntnis ist. Aber wenn das angeschaute Einzelne gleichgültig gegen seine eigene äußere Existenz nur idealiter im Bewusstsein ist, hat dieses “formale Seyn des Bewußtseyns” “keine wahrhaffte Realität”. D. h. ob das frei hervorgerufene Einzelne realiter so in der Außenwelt existiert, ist ganz und gar nicht bestätigt. Darin, dass das ideelle Sein des Einzelnen im Bewusstsein noch “nicht aüsserlich” existiert, liegt die Wahrheitslosigkeit der Einbildungskraft. Das subjektive Bewusstsein, das ohne Bezug auf den äußeren Gegenstand dessen Bild in sich einbildet, ist, sei es wachend, sei es schlafend, bloß ein “Traümen”, obwohl es auf dem Standpunkt der Einbildung empirisch ist. Oder es ist gleichsam verrückt oder zurückgefallen in den Zustand der tierischen Krankheit, in dem Sinne, dass es Dauer des gegenstandlosen Selbstempfindens ist. Es hat vor allem “stumme” Eigenschaft, in dem Sinne, dass es die Erfüllung lediglich mit den ideellen Bildern ohne Realitätsnachweis ist (J I.285). Das träumende Bewusstsein ist in der zweiten Geistesphilosophie metaphorisch als die 123 “Nacht” des Menschen ausgedrückt. Der träumende Mensch ist Nacht, wo Bilder unerwartet erscheinen. Das Angeschaute ist nicht mehr äußerlich seiend, sondern als aufgehoben und Ideelles, was daher dem Geist gehört. Es ist das Selbst des Geistes als Bild, “das Seyn als meines”. Diese Einheit des anschauenden Geistes und der Bildlichkeit des äußeren Gegenstandes ist de facto asymmetrisch und irreal, weil sie keine Einheit des Geistes und des Gegenstandes selbst - dies ist unmittelbar unmöglich –, sondern lediglich Resultat des ideellen Setzens des Bildlichen des letzteren als des Meinen ist. Der Geist steht im Anschauen des Anschauens nun sich als Besitzer und “Herr” seiner Bilder gegenüber (J III.186). Der Geist, der seine Bilder konfrontiert, behandelt diese nur als seinen Besitz und bezieht sie nicht mehr auf den äußeren Gegenstand. Dann sind sie gegenstandslos und bewusstlos im Geist aufbewahrt und schießen danach plötzlich in dieser und jener Gestalt hervor. Er ist also “reines Selbst”, in dem seine mannigfaltigen Bilder, wie in der Nacht, auftauchen und verschwinden. Diese Metapher ist überhaupt nicht romantisch. Wie die Welt der Gegenstände, deren Realität optisch verschwunden ist, die Nacht des Nichtseins ist, so ist das, was der Geist als Vorrat der Bilder ohne externe Gegenständlichkeit ansieht, höchstens “die Nacht der Welt”, obwohl er seine eigene bildliche Bestimmtheit hat. Aber wie die Nacht nicht absolutes Nichts ist, so ist der Geist als die Bestimmtheit “nicht nur als einfaches Selbst”, das seinem reinen Selbst entgegengesetzt ist, sondern auch “als Bewegung”, die nicht einfach Ideenassoziation im passiven Sinne ist, sondern seine Bilder und deren Teile nach seiner Bestimmtheit aufeinander aktiv bezieht (J III.187). Hume zufolge bedeutet „Ideenassoziation“, dass eine Idee, die eigentlich nur vom sinnlichen Eindruck herkommt, nach ihren natürlichen Eigenschaften von Ähnlichkeit, zeiträumlicher Nachbarschaft und Kausalität andere herbeiführt.15 Daher beruhe die Konnexion der Ideen auf ihren Eigenschaften, die sinnlich zu empfinden die Natur anbiete. Für Hegel ist der Geist dagegen nicht lediglich passiver Adressat der Ideen, insofern die Empfindung immer mit seinem ideellen Setzen zusammengeht. Die ideellen Bilder sind diejenigen, die er selbst zuerst gegenüber dem physikalisch vergänglichen Gegenstand als dessen Dauerhaftes und Allgemeines setzt, dann frei davon als seinen Besitz nach seiner Bestimmtheit aufeinander bezieht. Ich ist nicht nur das einfache Selbst, das unter der Herrschaft der Ideenassoziation von einem hervorspringenden Bild zu einem anderen in der Nacht gezogen wird, sondern zugleich das reine Selbst, das Bilder als meine in meiner Nacht hervorruft und anordnet. Diese Bilder müssen nun als meine an den Tag gebracht und in die äußere Existenz verlegt werden, damit Ich nicht lediglich als ideelle, sondern auch realitätsfähige Einheit wirkliches Subjekt sein kann. 15 Hume, David: A Treatise Concerning Human Natur, S. 300, 305-306. 124 1.2. Erinnerung und Zeichen Der Fall ist nicht anders beim stummen Bewusstsein in der ersten Geistesphilosophie. Sein ideelles Sein “muß eine Existenz erhalten, aüsserlich werden”. D. h. das Angeschaute, das im Bewusstsein nur idealiter als Bildliches reproduziert ist, muss “als ein aüsserliches” gesetzt werden, damit das Bewusstsein wirklich als wahre Einheit mit seinem Gegenstand sein kann. Das ideelle Sein des Bewusstseins drückt Hegel als “Begriff” desselben aus. Sein Begriff ist hier ebenfalls kein festgelegter mit sprachlicher Referenz, sondern das, was das Bewusstsein dem Angeschauten gegenüber bildlich in sich begreift und erfasst hat. Dieser Begriff ist zum einen ideelle Einheit des anschauenden Bewusstseins und des Angeschauten, zum anderen aber fehlt dieser Einheit Realität. Die erste äußere Existenz, die das ideelle Sein bzw. der Begriff des Bewusstseins erhält, ist eben “Zeichen überhaupt”. Das Zeichen ist das Produkt der Selbstentäußerung des Bewusstseins als seines Begriffs, daher die “existirende Mitte seines Begriffs”. Aber insofern sein Begriff noch bildlich, vorsprachlich, also unselbstständig ist, ist das Zeichen als die Mitte auch noch ungeeignet als Ausdruck der Wahrheit. Das Bewusstsein hat Wahrheit hier als seinen bildlichen Begriff. Dieser ist aber de facto das, was vom Bewusstsein frei hervorgerufen, als das Angeschaute reproduziert ist. Er ist daher sehr abhängig von dem Raum und der Zeit als allgemeinen Elementen des Bewusstseins. D. h. wie sich der zunächst angeschaute äußere Gegenstand dem Raum und der Zeit nach physikalisch immer ändert, so ändert sich das Angeschaute nach dem Hervorrufen und Setzen des Bewusstseins in dessen zeiträumlicher Ordnung, obwohl es befreit von seiner äußerlichen Veränderlichkeit ist. Darüber hinaus wird es vom Bewusstsein nicht als dessen unmittelbares Anderssein, sondern “nur als ein andersseyn sollen gesetzt”, d. i. so, dass es nicht als dem zuerst angeschauten Gegenstand gehörig angesehen wird – dieser ist bereits in der ideellen Beziehung des Bewusstseins aufgehoben –, sondern als einem Gegenstand gehörig angesehen werden soll, insofern es nicht das Bewusstsein selbst ist. Der bildliche Begriff vom Angeschauten ist daher “zu unmächtig, den Gegensatz des Subjects und Objects vollkommen aufzuheben”, indem dies entgegengesetzte Objekt nicht der zuerst angeschaute, unmittelbare Gegenstand, sondern so gesetzt ist, dass es ein Anderssein des Bewusstseins sein soll. Aus diesem Grunde lässt sich auch mit dem Zeichen als Entäußerung des Begriffs schwerlich “das wirkliche Einsseyn” des Subjekts und Objekts vorstellen, “mehr als ein Sollen”. Das Zeichen besagt nur, dass der bildliche Begriff des Subjekts Begriff von einem Gegenstand sein soll. Die Beziehung dieser 125 Referenz ist zwar inhaltlich allgemein, aber formell zufällig. Insofern das Angeschaute ein Anderssein sein soll, d. i. insofern es nicht bloß Ideelles im Bewusstsein ist, sondern auf einen Gegenstand verweisen soll, ist das, was das Bewusstsein mit einem Zeichen bedeutet, nicht der vorher angeschaute unmittelbare Gegenstand, sondern kann jeder sein, der seinem bildlichen Begriff entspricht. Ein Angeschautes ist als ein unmittelbarer Gegenstand bereits idealiter aufgehoben und als ein ideelles Sein im Bewusstsein allgemein. Daher kann ein Gegenstand, den das Bewusstsein gegenüber einem angeschauten äußeren Baum z. B. mit dem Zeichen Ω bezeichnet, realiter ein jeder Baum sein, der dem ideellen Sein entspricht. Weil das Anschauen des Bewusstseins bereits Verallgemeinerung in sich enthält, hat auch seine Bezeichnung Allgemeinheit der Referenz. Im Zeichen ist das Aufgehobensein der einzelnen Beziehung zwischen dem Angeschauten und dessen Gegenstand im Bewusstsein einerseits realisiert. Aber diese Realisierung ist andererseits lediglich als Sollen formell vollzogen und kein wirkliches Setzen des Aufgehobenseins selbst. Weil das Bewusstsein mit dem Ω „Baum“ bezeichnet, nur darum soll dies Zeichen „Baum“ sein. Das Zeichen kann nun vor allem in zwei Hinsichten keine wirkliche Einheit des Bewusstseins und des Gegenstandes sein. Es hat erstens für sich eine eigene Realität, die nicht frei von der Einzelheit ist. Es existiert selbst als “ein bestehendes” “Ding”, sei es mit einer Schnur gebunden, sei es sonst wie gekennzeichnet (J I.286). Dennoch hat es als Ding keine Bedeutung. Seine Realität als Ding darf nichts bedeuten, um den Gegenstand des Bewusstseins zu bedeuten. Aber die Bedeutung des Bewusstseins ist abhängig von der Existenz des Dings. Insofern dies existiert, kann das Bewusstsein damit etwas bezeichnen. Doch seine Bezeichnung und sein Mittel stehen in keinem notwendigen Zusammenhang. Eher existiert das Zeichen für die Negation seiner Realität, für eine andere Bedeutung als das Ding hat. Das so widersprüchliche Zeichen kann nicht das wirkliche Einssein vom Bewusstsein und Gegenstand sein. Außerdem ist im Zeichen weder das Aufgehobensein des Angeschauten noch des Subjekts gesetzt. Das Zeichen ist das Entäußerte des bildlichen Begriffs des Angeschauten. Aber darin wird das Angeschaute nicht als Aufgehobenes selbst, als Ideelles, als sein bildlicher Begriff vorgestellt, sondern durch die Dinglichkeit vertreten. Die Bezeichnung ist nicht Entäußerung des Aufgehobenseins selbst des Angeschauten, sondern nur einseitige Übertragung des Angeschauten auf das Ding, das Aufgehobenes desselben sein soll. Ebenso wenig ist das Subjekt darin aufgehoben. Das Zeichen müsste objektiver Ausdruck der ideellen Allgemeinheit sein, die das Bewusstsein durch den äußeren Gegenstand bekommt. Aber es kann lediglich deshalb etwas bedeuten, weil das Subjekt des Bewusstseins es so bezeichnet. Diese Bezeichnung ist im Grunde willkürlich und 126 unfrei von der Einzelheit des Subjekts. Das Zeichen hat daher “nicht seine absolute Bedeutung in ihm selbst” und ist “nur durch das Subject selbst begreiflich was dieses sich dabey denkt” (J I.287). Das Zeichen, das weder unmittelbarer Ausdruck des ideellen Aufgehobenseins des Angeschauten noch unabhängig von der willkürlichen Sinngebung des Subjekts ist, kann keine wirkliche Existenz der ideellen Einheit von Subjekt und Objekt sein. Die Zeichenlehre findet in der zweiten Geistesphilosophie eine raffiniertere Darstellung. Hier erhält das Zeichen durch die Einführung des Erinnerungsmoments geistige Notwendigkeit und gilt als eine Art Idealismus, der aber “sich Gegenstand wird” (J III.189). Zunächst, wenn durch das erste unmittelbare Anschauen bekanntlich der äußere Gegenstand aufgehoben und dessen Aufgehobensein als Bild im Geist idealiter gesetzt wird, besagt das Anschauen des Anschauens, dass der Geist sein Bild als sein Selbst anschaut und sich Gegenstand wird. Das Bild bzw. dessen Sein gehört nicht mehr dem äußeren Gegenstand, sondern ist nur in mir, als meines. Der Geist, der sich als Gegenstand hat, bezieht sich nun als reines Selbst auf sein Selbst als Bild. Im ersten unmittelbaren Anschauen dagegen ist diese Beziehung unmöglich, weil das Bewusstsein hierin als ein empirisches Bewusstsein des äußeren Gegenstandes besteht, der aber sogleich aufgehoben und nicht mehr ist. Im Anschauen des Anschauens habe ich “unmittelbar das Bewußtseyn Meiner”. Insofern meine Bilder einerseits ohne Bezugnahme auf den äußeren Gegenstand lediglich in mir erscheinen, ist mein Geist die Nacht, obzwar er bildliche Bestimmtheit besitzt. D. h. der Geist ist reines Selbst, dem die einmal in sich eingeflossenen Bilder plötzlich als sein Sein, als sein Selbst, Gegenstand werden. Insofern ihm seine Bilder andererseits entgegenstehen, kann er sie beliebig zerlegen und auch teilweise wieder binden, daher in der Bewegung stehen. Allein sein reines Selbst, dem noch die äußere Gegenstandsbezüglichkeit fehlt, bleibt noch als “die leere Freyheit”, ohne Realität nur auf die Form der Bilder einzugehen. Ich füge meinen Bildern nur “die Bestimmung meiner” hinzu. Zweitens restituiert die Erinnerung eben die Gegenstandsbezüglichkeit der Bilder. Er-innerung ist Heraussetzen dessen, was schon als Ideelles verinnerlicht ist, mit dessen Quelle, d. h. des Inneren mit dem Äußeren vor dem Ich. Sie ist eine Art Anschauen des Anschauens, was aber nicht fast gleichzeitig mit dem unmittelbaren Anschauen erfolgt, sondern das vergangene Anschauen vergegenwärtigt. Sie ist daher weder platonische αναµνησις noch cartesianische angeborene Idee. Meine Bilder, die ich jetzt beliebig behandle und bestimme, habe ich “schon einmal gesehen, oder gehört”. Ich erinnere mich des angeschauten Bildes des äußeren Gegenstandes. Die Erinnerung bringt die gegenständliche Quelle meines Bildes ans Licht. Sie führt mich vom jetzigen 127 Anschauen meines Bildes in mir auf das vorige unmittelbare Anschauen zurück, und bringt dadurch mit sich “das Moment des Fürsichseyns”. Insofern ich zwar Herr, aber kein erster Schöpfer meines Bildes bin, ist mein Bild mir bereits vermittels des Gegenstandsanschauens bekannt, und ich erinnere mich an dieses zwangsläufig. Dadurch vergegenwärtige ich mir, dass mein Bild eigentlich unabhängig von mir für sich im äußeren Gegenstand ist. Nicht der Gegenstand selbst, sondern bloß sein Bild ist in mich gebracht worden, und dieses ist eigentlich für sich darin. Deshalb nehme ich mich aus meinem Bild heraus und “setze mich besonders zum Gegenstande”. Dies heißt wiederum nichts anderes als die Selbstvergegenständlichung. Ich bin natürlich für mich. Wegen dieses Fürmichseins kommt das Bild in mir dazu, mir zu gehören. Aber mein Bild ist nicht von mir abgeleitet, sondern eigentlich “die Synthese” meiner und des Bildes. Diese Synthese ist jedoch asymmetrisch. Denn in meinem Bild besteht zwar das Fürmichsein, aber nicht das Fürsichsein des Bilds im äußeren Gegenstand, weil dieser bereits aufgehoben ist. Das Fürmichsein aber wird mir nun äußerlich zu setzender Gegenstand. Wenn das Fürmichsein des Bildes von mir äußerlich als das Fürsichsein desselben gesetzt wird, dann ist es drittens eben Zeichen. Das Zeichen ist die äußere Realisierung der asymmetrischen Synthese. Darin ist der äußere Gegenstand zwar noch gänzlich aufgehoben, doch sein Aufgehobensein selbst nicht gesetzt, sondern sein Bild besteht nur äußerlich als das, was es für mich ist. Dies ist nun nicht einfach das angeschaute Bild, sondern der Inhalt des äußeren Gegenstandes für mich. Der Inhalt ist “einfaches Wesen überhaupt” des äußeren Gegenstandes, das aber nicht im Gegenstand, sondern in meinem Selbst ist. Der Gegenstand des Zeichens ist nicht das Fürsichsein des äußeren Gegenstandes selbst, sondern “das Fürsichseyn als Wesen des Gegenstandes” (J III.188). D. h. im Zeichen ist für sich nicht der äußere Gegenstand selbst, sondern sein Wesen, dessen Sein selbst von mir, also vom Geist als Bewusstsein, herkommt. Das Zeichen ist also Hegel zufolge Idealismus, in dem der äußere Gegenstand nicht ist, was er ist, sondern sein Wesen völlig abhängig von mir für sich ist. Aber wegen des Elements dieses Fürsichseins, d. i. weil das Wesen bei alledem darin als für sich vergegenständlicht ist, ist es kein Idealismus, der völlig unrealistisch ist, sondern “sich Gegenstand wird”. Der Idealismus, der seine Idee, sein Wesen zum Gegenstand macht und objektiv betrachtet, ist zugleich beim Überwinden des Idealismus, bis er endgültig Adäquatheit mit dem äußeren Gegenstand erlangt.16 Das Zeichen hat nun, wie oben erwähnt, zwei widersprüchliche Seiten. Es ist Idealismus, 16 Auch bei Hegel ist also kein ungegenständliches Wesen, das als abstrakt freies gegen ‘Natürlichkeit, also Gegenständlichkeit’, kämpft. Mit dem missdeutenden Vorwurf von Marx gegen die Ungegenständlichkeit des Hegelschen Wesens wird daher ‘Hegel ein Idealismus unterstellt, den es bei ihm nicht gibt’. Liebrucks, Bruno: Recht, Moralität und Sittlichkeit bei Hegel MR, S. 35-41. 128 dessen Sein seinem entäußerten Gegenstand nicht entspricht. Es ist selbst zum einen ein Ding, das aber als Ding selbst nichts bedeuten soll. Eher ist die Bedeutung bzw. das Wesen des Dings das Fürmichsein meines angeschauten Gegenstandes. Das Sein des Zeichens als Dings hat keine Allgemeinheit, die immer etwas bedeutet, sondern “getrennt von seinem Seyn” bedeutet das Zeichen das Wesen meines Gegenstandes, insofern ich in der Erinnerung das Wesen mit dem Gegenstand verknüpfe. Ohne Erinnerung ist das Zeichen bedeutungslos, und die Erinnerung Verweis des Inhalts für mich auf dessen äußeren Gegenstand. Das Zeichen ist daher das äußere Bestehen, das Fürsichsein dessen, was in der Erinnerung Inneres ist. Aber dies Bestehen ist nicht das Sein des Zeichens als Dings. Das Sein als die Entäußerung des Wesens widerspricht dem Sein als Ding. Das Zeichen ist kein Ding, das selbst als Ding etwas anderes bedeutet, sondern in das seine Bedeutung von mir äußerlich einzwängt ist. Ich schaue nun also das Ding nicht als solches, sondern “nur als Zeichen”, sein Wesen nicht als Wesen des Dings, sondern nur als meine Bedeutung an. Aber des Weiteren schaue ich wiederum dieses Anschauen selbst an. Beim Anschauen des Dings als Zeichens schaue ich zugleich die Innerlichkeit des Dings an. Diese Innerlichkeit ist mir nun “ebenso selbst Gegenstand”, indem das Zeichen unvollkommene Einheit von seinem Sein und seiner Bedeutung ist. Sie ist es gerade, welche “aüsserlich seyn” muss. Sie muss nicht äußerlich ein anderes Ding zu ihrem Vertreter ernennen, sondern selber zum Sein zurückkehren, wie sie durch das Anschauen vom äußeren Gegenstand herkam. Das Sein des Innerlichen selbst bzw. das Sein als Bedeutung ist eben “die Sprache”, die zuerst durch “die Nahmengebende Krafft”, d. i. das “Gedächtniß”, als Name gebildet ist (J III.189). 1.3. Gedächtnis und Sprache Auch nach der ersten Geistesphilosophie ist, was für sich sein muss, gleichfalls die Bedeutung selbst, die das ideelle Sein des Angeschauten im Bewusstsein oder der Begriff des Bewusstseins ist. Die Bezeichnung des Bewusstseins, das Zeichen und dessen Bedeutung als ideale Glieder willkürlich zu verbinden, macht das Ding stumm gegenüber der Bedeutung und diese zwingend gegenüber jenem. Die Bedeutung als der Inhalt des Bewusstseins des angeschauten Gegenstandes muss entgegengesetzt sowohl dem bedeutenden Subjekt als auch dem bedeuteten äußeren Gegenstand selbstständig die Existenz selbst des Bewusstseins werden. “Die Idee dieser Existenz des Bewußtseyns ist das Gedächtniß, und seine Existenz selbst die Sprache”. Das Bewusstsein existiert immer als ideelle Einheit seiner und des Gegenstandes. Die Idee 129 bzw. Konzeption von seiner Existenz als dieser Einheit ist nicht einfach Erinnerung, sondern Gedächtnis. Und durch dies Gedächtnis wird die Namengebung möglich, was die erste Stufe der Sprachbildung ist. Zunächst versteht Hegel hier unter Gedächtnis weder Erinnerung im platonischen Sinne noch im oben stehenden Sinne der Vergegenwärtigung des vergangenen Anschauens, sondern das altgriechische Wort, µνηµοσυνη. Die Mnemosyne ist nicht die Anamnesis, die häufig als Synonym dafür und platonisch als Ursprung aller Ideen gehalten wird. Das Gedächtnis ist auch in der zweiten Geistesphilosophie im Unterschied von der Erinnerung als Moment der Bezeichnung erwähnt. Diese ist nämlich die jeweilige Vergegenwärtigung des vergangenen Ereignisses, dagegen macht jenes das Ereignis “zu einem gedachten” und bewahrt es als “GedächtnißSache”.17 Das Ge-dächtnis heißt daher hier fortwährende Bewahrung der sinnlich Angeschauten als Idealen im Bewusstsein. Es ist die Idee, in der das Bewusstsein für sich als die durch die Anschauung erhaltene ideelle Einheit selbst existiert. Des Weiteren, in dem Sinne, dass die ideelle Einheit selbst existiert, erhält das Bewusstsein für sich “erst eine Realität”, die aber nicht auf die Realität des äußeren Gegenstandes, sondern des Begriffs selbst des äußeren Gegenstandes hinweist (J I.287). Sowohl in der Anschauung als auch in der Bezeichnung hatte das Bewusstsein seinem Begriff gegenüber den äußeren Gegenstand als sein Anderssein nur außer sich. Es hat nun in seinem Gedächtnis sein Anderssein als “für sich selbst ideell gesetzt”, indem sein Begriff, seine Bedeutung selbst darin selbstständig existiert. Sein Anderssein im Gedächtnis ist eben seine Bedeutung, die als ideelle Einheit selbst für sich existiert. Sein Anderssein wird also als diese für sich existierende Bedeutung “zu einem Nahmen”. Hegel erklärt aber damit nicht, wie ein äußerer Gegenstand mit einem Namen genannt und vertreten wird oder wie ein Name eines Gegenstandes aus dem Gedächtnis entsteht. Erklärt ist vielmehr, dass auf dem Standpunkt des Bewusstseins oder des subjektiven Geistes überhaupt das Bewusstsein des Gegenstandes unabhängig vom willkürlichen Subjekt und ohne Hilfe des dritten Zeichendings zuerst im Gedächtnis selbstständig existiert und diese Existenz zuerst im Namen ihren Niederschlag findet. Im Gedächtnis ist die selbstständige Existenz des Bewusstseins von einem Gegenstand als ein Name aufbewahrt. Der Name ist das, was ein Gegenstand des Bewusstseins als sein Anderssein nicht außer, sondern in ihm idealiter verselbständigt ist. Denn der Name 17 Hegels Begriffe ‚Erinnerung’ und ‚Gedächtnis’ haben auch viel Ähnlichkeit mit den Aristotelischen ‘memory’ als ‘being aware of an image’ ‘of something past’ und ‘recollection’ als ‘the actualising’ ‘of memory which has become merely potential’. Ross, David: Aristotle, S. 142-145. Außerdem ist auch die Mnemosyne bzw. das Gedächtnis, das hier auf dem Standpunkt des einzelnen Bewusstseins erläutert wird, nach dem Jenaer Fragment seiner Form (1803) im Wesentlichen “das allgemeine sprechende Bewußtseyn des Volkes” (SE 376), ebenso wie die Sprache auch de facto als “die Sprache eines Volks” existiert (J I.318). 130 ist kein Ding mehr, wie ein Zeichen, und hat daher weder Bedeutung noch Realität als Ding selbst, sondern er ist ein schlechthin ideelles, das an sich in einem fort keine andere Bedeutung als den Gegenstand des Bewusstseins hat. Er ist für sich existierende Idealität, für die es nicht nötig ist, jeweils auf den äußeren realen Gegenstand zu verweisen. In diesem Sinne erhält das Bewusstsein die erste Realität als die selbständige Idealität des Namens. Das Bewusstsein hat aber nicht nur solche ideale Realität. Denn der “Nahmen existirt als Sprache”, und diese hat außer der selbständigen Idealität auch selber Realität. Sie ist nämlich phonetisch reale Idealität. Zunächst verdient Beachtung, dass die von Hegel hier intensiv entwickelte 18 Sprachlehre weder Genetik der Sprache noch reine Linguistik ist. Die Sprache kommt vielmehr als das Relatum der ideellen Einheit des Bewusstseins, also bekanntermaßen als seine Mitte, in Betracht.19 Wenn das Gedächtnis die für sich seiende ideelle Einheit des Bewusstseins des Gegenstandes ist, ist die Sprache die als die Einheit erscheinende Mitte zwischen dem Bewusstsein und dem Gegenstand. Diese Sprache ist auf der einen Seite die Existenzform des Namens. Unter „Sprache“ ist hier nicht der ideelle Inhalt angesprochen, sondern das reale Sprechen. Die sprachliche Existenz des Namens ist nichts anderes als das phonetische Dasein desselben. Der Ton existiert “im Elemente der Lufft”. Die Luft ist Hegel zufolge “so absolut ausser sich”, “als sie ist”. Weil sie die formlose freie Flüssigkeit ist, hat sie keine selbstständige Existenz. Sie existiert lediglich in einer Form außer sich, z. B. des Tones, des bestimmten Raums u. a. Sie ist freilich da. Aber dass sie ist, besagt, dass sie nicht in einer eigenen, sondern in jeder anderen Form außer sich ist und sein kann. Sie ist also nur als außer sich seiende. Ihre Existenz ist daher gerade die Form anderer Existenz außer sich. Die tönende Luft ist die Existenzform des Tones. Die eingeatmete Luft ist die Existenzform des Atems u. a. Die Luft hat keine eigene, sondern eine solche, immer in der Form anderer Existenz, diese allgemein mitteilende Existenz. Ihr im-AnderenSein ist ihr Sein, das nichts anderes als die Form des Anderen ist. Dies ist eben die Bedingung für das allgemeine Medium, die das Ding als Zeichen nicht erfüllen konnte. Um Zeichen zu sein, musste zwar die eigene Realität des Dings vernichtet werden, die dennoch als Träger der Bedeutung weiterhin bestehen musste. Die eigene Realität des 18 Hier findet sich Hegels einzig intensive Beschäftigung mit dem Problem der Sprache. HH, S. 162. Seine Lehre von Zeichen und Sprache tritt später in der Psychologie der Enzyklopädie im losen Zusammenhang mit Erinnerung, Einbildungskraft und Gedächtnis auf. 19 Obzwar Schnädelbach Hegels Sprachlehre richtig als ‘eine sprachtheoretische Rekonstruktion des individuellen Einzelbewusstseins’ bemerkt, versteht er sie jedoch falsch als intersubjektiv. Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 123-125. Sie liegt nicht im intersubjektiven, sondern noch subjektiven Kontext der Verselbständigung des einzelnen Bewusstseins bis zu seiner absoluten Einheit als dem praktischen Individuum. 131 Dings widersprach seiner Idealität als Zeichen. Dagegen ist die Realität der Luft die Form des Anderen. Nun ist nur die bedeutende Form des Anderen nötig, hier nämlich des Tones. Wenn der Ton Bedeutung bekommt, wird die tönende Bedeutung selber vermittels der Luft realiter existieren. In der völlig formlosen Luft kann sich der Ton unendlich bilden. Der bedeutende Ton ist Stimme; die Stimme des Tiers hat aber lediglich “eine unendlich in sich bestimmte Bedeutung”, die also nicht auf einen Gegenstand verweist, sondern nur Ausdruck seiner Stimmung gegenüber dem Gegenstand ist (J I.288). Die Stimme als die selbständige Bedeutung entsteht durch die Artikulation.20 Diese wird Hegel zufolge realisiert, indem sich die Gliederung des Stimmorgans im Unterschied der Stimme zeigt. Im Unterschied gegeneinander hat jeder Ton “für sich eine Bedeutung” und bildet die phonetisch artikulierte Sprache als Sprechen. Das Sprechende ist das bewusste Subjekt und die Sprache die “Stimme des Bewußtseyns”, darin, dass in jedem bedeutenden Ton ein Name für sich als die Idealität eines existierenden Gegenstandes trotz des unmittelbaren Nichtexistierens desselben existiert (J I.289). Die Sprache ist also “der existirende Begriff des Bewußtseyns” oder der phonetische Realismus seines Begriffs als “die erste einfache Existenz der” tönenden “Vernünftigkeit” im “Element der L[ufft]” (J I.288). Die Sprache hat auf der anderen Seite die selbständige Idealität, indem sie die Existenzform des Namens ist. Sie ist ferner die höhere Idealität als die Beziehung der in sich existierenden Namen selbst. Sie bedeutet auf dieser Seite den ideellen Inhalt der Sprache als den eigentlichen Begriff des Bewusstseins. “In dem Nahmen realisirt sich das ideellsetzen der empirischen Anschauung” (J I.290). Insofern besagt der Name hier nicht bloß Nomen, sondern alles, was für sich als Ideelles des Angeschauten zu setzen und zu nennen ist. Doch er ist als solcher zuerst “nur der Nahmen des einzelnen Dings” (J I.289), also “selbst noch eine einzelne Idealität”. Es bestehen so viele Namen als einzelne im Gedächtnis neben und außer einander oder als einzelne Dinge in der Welt da sind. Das Gedächtnis aber lässt nicht nur Namen bestehen, wie sie sind, sondern bezieht sie auch aufeinander durch seine “negative Einheit”.21 Weil es die Idee ist, in der das Bewusstsein selbst existiert, ist es, wie das Bewusstsein, die negative Einheit, die durch die Negation der Vielheit eins mit der negierten Vielheit wird. Z. B. das Blau eines Angeschauten ist im Gedächtnis für sich als ein Name, gleich wie das Blau eines 20 Über den Zusammenhang mit der auf Böhmes ‘Natursprache’ basierenden Konzeption Herders über den Ursprung der Sprache als ‘das Bedürfnis, sich in Tönen und Lauten zu artikulieren’, Bienenstock, Myriam: Zu Hegels erstem Begriff des Geistes (1803/1804): Herdersche Einflüsse oder aristotelische Erbe?, HS 24, S. 40-43. 21 Das Gedächtnis in der Enzyklopädie ist daher Fulda zufolge, wie die Einbildungskraft, ‘ein Reproduktionsprozeß’, ‘nun aber einer, in welchem sich die Intelligenz selbst reproduziert’. Fulda, Hans Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, S. 190-193. 132 anderen. Das Gedächtnis bezieht jenes Blau auf dieses, setzt das Blau selbst als ein “Bezogenseyn” auf alle als blau angeschauten Gegenstände. Nun ist das Blau nicht mehr nur einfach ein Name des einen oder anderen Angeschauten, sondern vielmehr der Beziehungsbegriff selbst der gleichen Namen. Es ist “an sich allgemeines”, das von verschiedenen blauen Farben abstrahiert ist, oder Ideales der Vielheit der Namen, das der Name aller blauen Gegenstände sein kann (J I.290). Dieses Ideale ist nichts anderes als der Begriff des Bewusstseins im eigentlichen Sinne der sprachlichen Bestimmtheit, mit dem das Bewusstsein den Gegenstand nicht nur erkennen, sondern auch denken kann. Es ist, mit einem Wort, Verstandesbegriff als Beziehungsbegriff der Namen. Während die Sprache als die phonetische Realität die Existenzform des Namens ist, ist sie nun als selbständige Idealität eben “die Beziehung der Nahmen oder wieder die Idealität ihrer Vielheit” (J I.289). In ihr ist der Name nicht nur der Name des einzelnen Dings, sondern auch allgemein bestimmter Begriff, in dem die Einzelheit des Namens in einem gewissen Maße aufgehoben ist. Die Sprache ist daher auf der Seite des ideellen Inhalts “das gewordene Allgemeine” aus dem Beziehen der Namen durch das diese im Gedächtnis haltende Bewusstsein. Mit dieser Sprache erreicht das anschauende Bewusstsein den Verstand. 1.4. Verstand und Vernunft Der Verstand ist auch in der zweiten Geistesphilosophie die zweite Form der Intelligenz. Er wird ebenfalls durch das Gedächtnis als Vermögen für die Beziehung der Namen erreicht. Hier ist bemerkenswert, dass Hegel zur Kraft der Namengebung außer dem Gedächtnis auch die “Schöpferkraft” zählt. Dies wird die Entstehung des Namens konsequenter erläutern als in der ersten Geistesphilosophie, in der das Gedächtnis nur als die Bewahrung des Namens und die phonetische Sprache nur als die Existenzform desselben erklärt sind. Das Gedächtnis bewahrt beständig das Innerliche des Dings als Zeichen, während die Erinnerung jeweils das Innerliche mit dessen gegenständlicher Quelle zusammenfassen lässt. D. h. im Gedächtnis besteht das Innerliche selbstständig, während es in der Erinnerung oder im Zeichen eben des Erinnerns an den angeschauten äußeren Gegenstand bedürftig ist. Es wird als Selbstständiges im Gedächtnis wiederum dem Ich Gegenstand, um nun als solches äußerliches zu werden. Ich setze es durch die Sprache “als seyendes”. Die Sprache in diesem Moment ist noch nicht ein Inbegriff der gebildeten Namen und Begriffe, sondern Aussprache als Namengebung. Die phonetische Sprache ist hier nicht strukturell dargestellt wie in der ersten Geistesphilosophie, aber dennoch als die Realisierung des Inhalts des Gedächtnisses 133 eingeführt, deren Resultat als Seiendes eben der Name ist. Diese Sprache als die Aussprache ist in drei Hinsichten zu bewerten. Sie ermöglicht zunächst den Namen als “ein Daseyn, das seinem Begriffe gemäß ist”. Der Name ist das Entäußerte des Innerlichen selbst. Dies Innerliche ist zum einen eigentlich der Begriff des angeschauten äußeren Gegenstandes. Es ist zum anderen aber auch der Begriff des Entäußerten, des Namens selbst, weil sein unmittelbar entäußertes Sein der Name ist. Als das Dasein des Begriffs selbst ist der Name “das wahre Seyn des Geistes als Geistes überhaupt”. Im Namen existiert der Geist unmittelbar als Ideelles, Begriff, oder Geistiges, d. i. als er selbst, daher ist sein Sein seinem Begriff adäquat. Zweitens ist die Namengebung der Sprache eine ergreifende Schöpfung. Nicht der äußere Gegenstand, sondern der Name als das Dasein des Begriffs selbst ist nun dem Ich Gegenstand; zum Verstehen des Namens brauche ich außer diesem als Seienden nicht mehr notwendig den äußeren Gegenstand. Das Dasein des Namens lässt selber den Begriff desselben verstehen, daher ist der Name zum einen “die Einheit zweyer freyer Selbst”. D. h. sobald er phonetisch da ist, verhallt er zwar unmittelbar, allein er ist bereits vernommen, als Begriff verstanden, weil nur sein Dasein allein seinen Begriff bedeuten kann. Der Name ist ein Geschöpf, mit dessen Dasein zwei Selbst sich begrifflich miteinander vereinigen. Sein Dasein ist zum anderen etwas ganz anderes als der äußere Gegenstand der Anschauung. Es ist de facto lediglich “ein Ton meiner Stimme” (J III.189). Damit nenne ich dies oder jenes z. B. einen Löwen oder einen Esel. Der Ton „Esel“ ist durchaus etwas anderes als dessen sinnlicher Gegenstand. Aber gleichgültig, ob dieser präsent ist oder nicht, ist nun der Name sein Sein. Der Gegenstand ist nämlich als mein Name “aus dem Ich heraus gebohren”. Ich spreche ihn nur als meinen Namen, also als den meinigen aus. Die Namengebung ist daher “das Schaffen” “der ganzen Natur” aus dem Ich zu meinem Besitz. Durch den Namen beziehe ich mich nicht auf den bloß äußeren Gegenstand, sondern auf meinen Besitz, als der der Gegenstand ist. D. h. der “Geist verhält sich zu sich selbst” im Namen. Schließlich ist das Reich dieser Namen die Welt für das Ich. Die Welt ist nun kein solches Reich mehr, das durch dessen Bilder erkannt, also als Nichtseiendes gesetzt wird. Sie ist “das Reich der Nahmen”, die für den Geist als seiende ausgebildet sind (J III.190). Der Geist ist aus dem Träumen der auftauchenden Bilder erwacht und bezieht sich auf seine genannten Seienden. Dies ist aber andererseits zugleich nichts anderes als die Trennung des Geistes von der Welt an sich. Diese Trennung ist ursprünglich, insofern der Geist nur mit seinem Namen die Welt konfrontiert. Hegel beschreibt diese Trennung mit dem Mythos der Namengebung Adams. 22 Diese ist in der ersten Geistesphilosophie dargestellt als erster Akt der 22 Bienenstock zufolge ist dieses Beispiel von Hegel nicht allein originell gewählt, sondern es enthält 134 Herrschaft Adams, Tiere als seiende zu vernichten und zu für sich ideellen zu machen (J I.288). Er verschaffte sich nach der zweiten Geistesphilosophie “das Majestätsrecht und erste Besitzergreifung der ganzen Natur” durch seinen Schöpfungsakt, allen Dingen Namen zu geben. Der Mensch begegnet nun nicht mehr unmittelbar der Welt als solcher, sondern immer durch seine seiende Bedeutung. Er verhält sich in der ursprünglichen Trennung zum von ihm geschaffenen Namen bzw. zum Begriff des Getrennten. Und eben deswegen trennt er von sich das Seiende als Name. Der Geist als diese Beziehung der beiden Getrennten ist im eigentlichen Sinne “Bewußtseyn” (J III.190). Der Geist ist nicht mehr einfach das Bewusstsein des ideellen Bildes des Angeschauten, sondern des Begriffs, dessen Bedeutung gegenständlich als Seiendes ist. Das, was angeschaut wird, ist nun Name bzw. Begriff als Seiendes, bei dem das vergängliche Anschauen im Raum und in der Zeit völlig überwunden ist. Die Anschauung ist eigentlich gleichzeitig mit dem Begriff, wie Kant zwar einsah, doch nur getrennt erwog. Die Bedeutung des Namens aber ist in einer Hinsicht auch anders als er selbst. Seine phonetische Existenz ist vergleichbar mit der dinghaften Gestalt des Zeichens. Hegel hebt hier nicht das Spezifikum der Stimme als Medium, sondern die semantische Differenz beider hervor. Während die Bedeutung des Zeichens nur “das innre” ist, das das Subjekt denken will, ist die Bedeutung des Namens eben “das sinnlich seyende” selbst. Das Zeichen Ω bedeutet das innere Bild des Baum-Gegenstandes. Dagegen ist die Bedeutung des Namens „Baum“, der Gegenstand selbst als Baum, der das Bildhafte hat. Es fragt sich nun natürlich, ob der Name seiner Bedeutung, oder sein geistiges Sein seinem äußeren Baum-Gegenstand gleich ist. Der Begriff des Baumes muss dem BaumGegenstand gleich werden, damit er der wahre Name sein kann. Dadurch wird der Name selbst nun dem Ich Gegenstand. Sein “Benahmen ist ihm Gegenstand”. Während das Bild in der Einbildungskraft oder als das Innere des Zeichens die äußere Beziehung und bildliche Ordnung des Gegenstandes in dem Raum und in der Zeit widerspiegelt, wie sie ist, verweist der Name nur auf den Gegenstand. Ein Baum wird bildlich mit seinem Grün vorgestellt. Aber der Name „Baum“ bedeutet dagegen nur den BaumGegenstand ohne Bezug auf dessen bildliche Mannigfaltigkeit und nächsten Umgebungen und ist daher etwas ganz anderes als der Name „Grün“, weil er Resultat der Verselbständigung der Bedeutung selbst des Ich ist. Der Name hat an sich keine Beziehung, sondern ist lediglich “eine sich nicht selbst tragende Reihe” (J III.191). Der seine indirekte Antwort auf die damals kursierende These Jakob Böhmes von der ‘adamitischen’ ‘Natursprache’, welche der Natur als dem ‘von Gott selbst gewährten Wesen entspricht’. Seine Antwort heißt nämlich, dass ‘die Sprache vom Menschen frei gefunden’ und ‘weit entfernt’ von der Natursprache ist. Bienenstock, Myriam: Zu Hegels erstem Begriff des Geistes (1803/1804): Herdersche Einflüsse oder aristotelische Erbe?, HS 24, S. 44-45. 135 Träger der Namensreihe kann nichts anderes als das Subjekt der Benennung, das Ich, sein. Nur durch das Ich wird der Name „Baum“ mit dem Namen „Grün“ verknüpft. Das “Ich muß sich nun anschauen, als dieses ordnende”, oder Namen “als geordnet, und diese Ordnung festhaltend”. Das Vermögen des Ich für diese Ordnung ist erst das Gedächtnis im eigentlichen Sinne. Das Gedächtnis, das bisher betrachtet wurde, lässt sich insgesamt in drei Phasen unterscheiden. Es ist zunächst das Vermögen, das Ideelle des Angeschauten als Seiendes zu bewahren, woraus der Name als dies Seiende möglich wird. Es ist zweitens das Gedächtnis des Namens selbst, der auf alle gleichen begrifflichen Inhalt habenden Gegenstände gleichsam bezogen ist, wie in der ersten Geistesphilosophie der Name „Blau“ auf alle blauen Gegenstände. Der Name als das Bezogensein ist des Weiteren drittens im Gedächtnis auf einen anderen Namen bezogen. Das Gedächtnis in dieser Phase ist das eigentliche Gedächtnis, das den Namen „Baum“ als bezogen auf den Namen „Grün“ und auch auf andere in der äußeren Ordnung der Gegenstände aufbewahrt. Das Ich als das Subjekt des Gedächtnisses ist daher gerade die “ansich seyende Beziehung” der Namen. Ich beziehe, wie ich sinnlich anschaute, den Namen „Baum“ auf den Namen „Grün“. Also, der Baum, oder genauer gesagt, dieser Baum ist grün. Diese Beziehung hat aber zuerst nicht die Notwendigkeit der Namen selbst, sondern nur ihrer festen Ordnung im Ich. Es fragt sich dann natürlich nach jener Notwendigkeit. Das Ich erfasst nun sich selbst als die ordnende Kraft. Es hat “in seinem Gegenstand” als seinem Namen noch wiederum sich selbst “als Gegenstand”. Es ist Hegel zufolge eben der “Verstand” (J III.192). Der Verstand ist “das erste sich selbst als Krafft” der “freyen” “Ordnung” “erfassende Ich”. Für ihn ist der Name nun “eine allgemeine” “Beziehung”, die nach der ersten Geistesphilosophie erst Verstandesbegriff ist. Die Beziehung der Namen hat zuerst nur subjektive Notwendigkeit, die im ordnenden Ich lediglich unbezogen auf den äußeren Gegenstand, daher noch nicht befreit von der Willkürlichkeit und Zufälligkeit ist. Das Beziehen oder Ordnen der Namen als “Übung des Gedächtnisses” ist “die erste Arbeit, des erwachten Geistes, als Geistes” ohne Stoff (J III.193). Diese Arbeit ist ganz unsinnlich,23 weil sie keine Beschäftigung mit dem Angeschauten, sondern mit dessen Namen ist. Sie wird weiterhin durch das Prüfen und Einsehen der Ordnung als Form des Seins des äußeren Gegenstandes die objektive Notwendigkeit erhalten. 23 Dieser eigentümliche Arbeitsbegriff Hegels, der hier außerhalb des politisch ökonomischen Kontextes der gesellschaftlichen Arbeit erwähnt ist, hebt das Moment der Selbstvergegenständlichung des Subjekts hervor. Die gesellschaftliche Arbeit wird deshalb nicht nur die Arbeit des marxistisch vom gesellschaftlichen Sein bestimmten Bewusstseins, sondern auch des Bewusstseins sein, das sich gesellschaftlich vergegenständlicht. Der gesellschaftliche Widerspruch müsste daher auch als der Selbstwiderspruch des gesellschaftlichen Bewusstseins erkannt werden können. 136 In dieser Hinsicht ist die Sprachlehre des Bewusstseins de facto mehr von epistemologischem als von linguistischem Gewicht. Die erste Geistesphilosophie diagnostiziert und überwindet damit den damaligen Gegensatz zwischen Realismus und Idealismus.24 Beide sind demzufolge gleichermaßen einseitig. Z. B. das empfundene Blau als Bestimmtheit ist bekanntlich zuerst eine einzelne Bestimmtheit des angeschauten äußeren Gegenstandes im Bewusstsein, dann ein Name oder ein bestimmter Begriff, der als Seiendes im Gedächtnis des Bewusstseins bewahrt und als bezogen auf andere gesetzt ist, und schließlich ein allgemeiner Begriff, der sich als Farbe selbst durch das Subjekt auf andere Begriffe im eigentlichen Gedächtnis bezieht. Der Realismus, der vor allem von Jacobi vertreten worden ist, behauptet, dass die drei Potenzen der Bestimmtheit jede für sich sind. Die Bestimmtheit des Blau sei für sich im äußeren Gegenstand ohne Bezug auf das anschauende Bewusstsein und als ein bestimmter Begriff auch für sich bezogen auf andere Begriffe, ferner sei die Allgemeinheit des Begriffs als Farbe auch für sich als “versenkt” “in die Differenz der Farben”. Demgegenüber sei dem Subjekt “nur eine Seite der dritten Potenz” zugeschrieben, d. i. abgesehen vom Vermögen, immer mehr allgemeinen Begriff durch das Beziehen zu bilden, nur das Vermögen, “das in der Differenz schon seyende” “Allgemeine herauszunehmen, zu isoliren, zu abstrahiren”, nur durch “die formale Thätigkeit der Vergleichung der seyenden Ähnlichkeit” (J I.292). Das Subjekt hat also de facto lediglich die Tätigkeit der passiven Rezeption. Es kann daher nicht wahrhaft frei sein, weil ihm sowohl sein selbstständiger Begriff als auch dessen gegenständliche Realisierung verweigert ist. Obwohl der Realismus betont, “daß die Bestimmtheit, als für sich seyende der Natur angehört”, übergeht er andererseits vor allem, dass die Bestimmtheit zugleich “nur in Beziehung auf ihr aufgehobenseyn, oder auf den Geist” ist. In jenem Punkt hat er Recht, aber in diesem ist er dogmatisch. Die Bestimmtheit in der Natur ist immer “als einzelne Empfindung”, nicht selbst als Begriff. Sie wird als Begriff nur geistig ans Licht gebracht, existiert nur in geistiger Weise als solche. Nur im Geistigen ist Geistiges als solches. Der Realismus, der die “Existenz des Subjects” außer Acht lässt, ist de facto “ein vollkommen lächerlicher” Realismus von Ideen ohne Substrat. Und zwar, weil die Allgemeinheit des Begriffs endgültig nicht vom endlichen Naturding umfasst werden kann, hat sie häufig ihre Adresse im Absoluten, dessen Offenbarung Natur ist. 25 Es besteht dagegen auch “ein vollkommen lächerlicher 24 Über den Zusammenhang des hier von Hegel kritisierten Realismus mit den Jacobischen Schriften, Über die Lehre des Spinoza und David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus, und des Realismus mit der Fichteschen Schrift, Die Bestimmung des Menschen, J I., Anhang, S. 383-384. 25 In Glauben und Wissen heißt es, die “Jacobische Philosophie hat mit der Kantischen Philosophie das Gemeinschaftliche der absoluten Endlichkeit, derselben in ideeller Form, als formalen Wissens, in reeller, 137 Idealismus”, der Fichte an der Spitze haben müsste (J I.293). Er erstattet zwar dem Subjekt die letzten zwei Potenzen zurück, aber behauptet daüber hinaus, dass “auch die erste” Potenz “der Bestimmtheit des Blau” dem Subjekt gehört (J I.292). Demnach sei selbst die einzelne Bestimmtheit nur dem Subjekt immanent, das vom Gegenstand lediglich gebunden, behindert, also bestimmt sei. Daher werde auch die Aufgabe gestellt, das Subjekt “als Bestimmtheit seyend” eben von dieser Bestimmtheit als “von einer Aüsserlichkeit” zu befreien. Aber dann wird das Subjekt Hegel zufolge selbst aufhören, “Subject, diß Eine Glied des Gegensatzes zu seyn” (J I.293). Es wird de facto nur mit seinen freien, aber realitätslosen Ideen spielen. Und weil die Natur keine wahrhafte Wirklichkeit der Ideen ist, hat die Verwirklichung der Freiheit in der Natur sogar das Element des Zwangs.26 Dieser Streit zwischen dem Realismus und dem Idealismus wird in Hegels Augen im Grunde genommen nicht lediglich durch eine Voreingenommenheit, sondern auch durch die streitige Eigenschaft der Bestimmtheit selbst veranlasst. Die Bestimmtheit in jeder Form ist zugleich als solche und bezogen auf das Subjekt. Sie erscheint dem reflektierenden Bewusstsein bekanntermaßen als seine Mitte, aber als “die in sich streitende” Mitte, deren eine Seite jede Partei des Streits einnimmt (J I.292). Hegel zufolge ist sie für sich im Gegenstand wegen ihrer geistigen Allgemeinheit, die in der Natur als Anderssein des Geistes vereinzelt ist. Sie kann auch als Selbst des von der Andersheit befreiten Geistes eben im geistigen Einzelnen für sich sein. Und nur hierin verrät sie sich als freies Wesen. Nach dieser ontologischen Einsicht lässt sie sich dann epistemologisch als solche lediglich in der Beziehung auf das geistige Einzelne beleuchten.27 Dies Einzelne, das Hegel als Ort des Selbsts des Geistes einführt, ist gerade das Bewusstsein, das in der Mitte zwischen seiner Einzelheit und dem einzelnen als eines absoluten Empirismus, – und des Integrirens beyder durch den ein absolutes Jenseits setzenden Glauben”, zugleich darin mit der Differenz der Jacobischen Subjektivität als ganz subjektiver Individualität von der Kantischen als objektiver Form des Begriffs. JKS, S. 346-347. 26 Glauben und Wissen lautet, das Fichtesche Ich “kann zu seinem wahren Wesen nur gelangen, daß es dieses Seyn” als die objektive Welt “vernichtet; und die Natur ist somit bestimmt als bloße Sinnenwelt als ein zu vernichtendes, und muß als ein solches erkannt werden”. Auch dem von Natur aus lebendigen Volk “tritt das Allgemeine für sich fixirt, als ein Gesetz schlechthin gegenüber”, das geschehen soll, “aber nicht als innere, sondern als äußere Freyheit der Individuen, die ein Subsumirtwerden derselben unter den ihnen fremden Begriff ist”. JKS, S. 403, 409. Fichtes Naturbegriff wurde von Hegel bald richtig als realistischer Begriff im Sinne der unaufhebbaren Bedingung des Selbstbewusstseins verstanden und als dennoch nihilistischer kritisiert, bald ohne Rücksicht auf Fichtes Absicht als rein deterministischer falsch kritisiert. HH, S. 118, 142-143. 27 Der ‘epistemologische Realismus’ Hegels setzt also ‘notwendig einen ontologischen Realismus’ ‘einer vom Bewusstsein unabhängigen Existenz der Welt’ voraus. Jaeschke sieht Hegels ideale Erkenntnis der Realität der äußeren Welt, daher die Hegelsche Einheit von Idealität und Realität als eben durch seine ‘angemessene Thematisierung des Bewusstseins’ ermöglicht. Jaeschke, Walter: Zum Begriff des Idealismus, Hegels Erbe, S. 164-183. 138 Gegenstand die Bestimmtheit als die selbständige Allgemeinheit haben kann. Diese Allgemeinheit hat das Bewusstsein nun durch den Namen als allgemein bestimmten Begriff. Insofern das Bewusstsein ferner Begriffe in deren Beziehung als Sprache besitzt, ist es “die Totalität der Bestimmtheiten”, die es mit seiner Einzelheit vereinigt und die auch ebenfalls in der Natur mannigfaltig vereinzelt ist. Es ist schlechthin “nur das Einsseyn” von Subjekt und Gegenstand (J I.293). Aber im Verstandesbegriff erreicht das Bewusstsein noch nicht sein absolutes Einssein. Insofern der Verstandesbegriff von den bezogenen einzelnen Namen abstrahiert ist, ist er doch noch in der Beziehung auf ihre Einzelheit, daher nur allgemein bestimmt. Er ist noch lediglich solche Einheit des Bewusstseins, das sich als Selbst auf einzelne Namen bezieht, d. i. “nur die aus dem Nahmen zurückkehrende Einheit des Bewußtseyns” (J I.294-295). Insofern ist er “ein bestimmter Begriff”, “nicht die absolute Einheit”, wo die Allgemeinheit des Begriffs absolut eins mit der Einzelheit des Bewusstseins ist (J I.295). Im Verstandesbegriff ist die Einzelheit des Namens noch nicht vollkommen aufgehoben, weil der Verstandesbegriff von dieser Einzelheit nur abstrahiert, insofern abhängig ist. Z. B. der Verstandesbegriff der Farbe ist nur insofern allgemein, als er ein Name jedes farbigen Gegenstands sein kann. Er ist nur als die Beziehung der Farben der Gegenstände allgemein, aber bezieht sich nicht als ein absolut unbestimmter auf einen anderen Begriff, z. B. von der Gestalt. Mit dem Verstandesbegriff ist zwar dieses Urteil möglich, „dieser Baum oder jener Wald ist grün“, aber kein solches Urteil wie z. B. „Alles, was gestaltet ist, ist farbig“. Doch das Bewusstsein, das mit der Sprache als Beziehung der Namen den Verstand erreicht, kann darüber hinaus seinen Verstandesbegriff nicht jeweils als den auf den Gegenstand bezogenen einzelnen Namen, sondern schlechthin nur als die Beziehung selbst setzen. Dafür muss der Begriff “sich absolut in sich reflectiren” (J I.294), d. i. er muss sich von der Bestimmtheit seiner Beziehung absolut befreien und zum für sich seienden Begriff des Bewusstseins selbst zurückkehren. Vom Verstandesbegriff bis zu diesem vernünftigen, aber zuerst formalen Begriff ist nur ein Schritt nötig. Das Bewusstsein braucht nur, ohne Rücksicht auf den Gegenstand, seinen Begriff als absolut für sich Seiendes zu setzen. Der Begriff von der Farbe ist nun kein solcher Begriff, der sich bestimmt auf den farbigen Gegenstand beziehen soll, sondern eine “reine Beziehung”, die als Beziehung unbestimmt ist, daher Beziehung auf alles sein kann. Es gibt Nichts, worauf der Begriff als solcher sich nicht beziehen kann, wie sogar beim Beispiel „Chimära“. Dies heißt dennoch nicht, dass der absolut unbestimmte Begriff ungegenständlich ist, sondern er ist absolut für sich seiende Idealität im Bewusstsein, daher absolut real für das Bewusstsein. Der Begriff „Farbe“ ist nämlich die reale Existenz der Idealität der Farbe im Bewusstsein. Denn er braucht nun 139 keine phonetische Aussprache nach außen, sondern lediglich sein Verhallen im Bewusstsein reicht aus für sein Fürsichsein im Bewusstsein. 28 Die Sprache dieser Begriffe wäre die reine Sprache des Bewusstseins, eine Art Metasprache, in der sich der Begriff als Begriff zu sich selbst verhält. Aber das, was durch den Begriff als die reine Beziehung erschaffen wird, ist weder das Erkennen noch die Realisierung der Wahrheit, sondern zuerst lediglich die absolute Einheit des Bewusstseins, das gegenständliche Begriffe absolut besitzt. Der wahre Begriff muss vor allem auch freier Begriff sein. Das Bewusstsein hat nun diese Freiheit des Begriffs. Sein Begriff ist reine Beziehung, die von ihren Relata unabhängig ist. Er ist nun schon die absolute Form des Unendlichen, in dem Sinne, dass er nur noch “die einfache, absolute Abstraction der Einheit” des Unendlichen im Bewusstsein ist. Er ist mit einem Wort “die absolute Leerheit des Unendlichen”. Er ist nicht mehr Verstandesbegriff, sondern “das formale der Vernünftigkeit”, das nicht um des Erkennens willen, sondern nur durch das Denken mit anderen Begriffen vereinigt werden kann. Den Begriff nennt Hegel auch “die Reflexion als Punkt”.29 Ein gesetzter Punkt lässt sich auf alle anderen Punkte beziehen, durch diese Beziehung bestimmen, bleibt aber als solcher ein unbestimmtes Eins, mit dem alle bezogenen Punkte und deren Beziehungen konvergieren. Ein absolut gesetzter Begriff des Bewusstseins ist ebenfalls absoluter Mittelpunkt, in den sich alle Beziehungen und deren Glieder reflektieren. Diese mathematische Metapher besagt daher, das der begrifflichen Reflexion fähige Bewusstsein sei “das Eins der formalen Vernünftigkeit” (J I.295) oder das “absolute Eins der Reflexion” (J I.298). Während die Vernunft in der ersten Geistesphilosophie zunächst nur von der formalen 28 Dies kann ein gutes Spezimen vom Phonozentrismus sein, den Derrida auch bezüglich der Enzyklopädie als Typus des westlichen Denkens analysiert. Ihm zufolge ist Hegel der letzte Philosoph des phonetisch geschriebenen Buches und der erste Denker der Schrift (écriture). Derrida, Jacques: Of Grammatology, S. 1-26, Margins of Philosophy, S. 69-108. 29 Diese geometrische Metapher hat aber Ziche zufolge auch naturphilosophische Gründe. Dadurch, dass Hegel in der frühen Jenaer Zeit einem Punkt die Unendlichkeit zuschreibt, verbildlicht er ‘die positive Unendlichkeit’. ‘Der unendliche Punkt wird von Hegel als bildliche Darstellung der Rolle der Spekulation in der Differenzschrift eingeführt’ und zusammen mit dem Momentbegriff auf die mathematischen Bereiche in den Jenaer Systementwürfen II. angewendet. Z. B. in der Deutung von Fokus und Radius bezeichnet Fichte die vom Fokus auslaufenden Strahlen als unendlich, und die Erlangung der Unendlichkeit durch das Ich als Fokus gerät daher in den unendlichen Progress oder wird unerreichbar im absoluten Gegensatz zwischen dem Fokus und allen anderen Punkten. Hegel charakterisiert dagegen den Mittelpunkt selbst als unendlich und als jeweils Richtung habend, daher erhält der Punkt durch seine jeweilige Beziehung auf einen anderen die Einheit mit demselben, aber ‘in neuer Form’. Seine Beziehung wird durch Gleichung oder Funktion u. a. ausgedrückt, die die neue Form bzw. Bestimmtheit der Einheit ist. Ziche, Paul: Mathematische und naturwissenschaftliche Modelle in der Philosophie Schellings und Hegels, S. 71-106, 261-271. Aus diesem Grunde weist hier die Rede von der “Reflexion als Punkt” auf die philosophische Reflexion bzw. spekulative Erkenntnis hin, die von Trennungen und Gegensätzen der reinen Reflexion wiederum in sich reflektiert ist und zurückkehrt. 140 Seite ihres Begriffs eingeführt wird, tritt sie in der zweiten Geistesphilosophie als der sich auf sich beziehende Verstand auf. Der Verstand im Urteilen ist das sich selbst als ordnende Kraft erfassende Ich. Wenn er ferner dies ordnende Selbst als seinen Gegenstand hat, ist er die “Vernunft, die sich selbst Gegenstand ist” (J III.200). Diese Selbstvergegenständlichung wird möglich, wenn die stofflose Arbeit des Geistes mehr abstrakt wird und nicht beim Beziehen des Namens nach dessen Gegenstandsbezüglichkeit bleibt. Die Benennung durch das Ich war das Beziehen der Ungleichartigen als Namen und Bild des angeschauten Gegenstandes aufeinander. Sein Urteilen war also ebenfalls das Beziehen der Ungleichartigen, in dem Sinne, dass es Beziehen der Namen nach der bildlichen Konstruktion des Angeschauten im Gedächtnis war. Das Ich, das nun sich selbst als die Kraft der Beziehung vergegenständlicht, bringt mit sich “die Befreyung der Beziehung von diesem Ungleichartigen”. Es ist für sich “der freye Träger” oder “die freye ungegenständliche Ordnung” der Namen, wo “sich Nahmen nur auf Nahmen bezieht” (J III.193). Zu beachten ist ebenfalls, dass die Ungegenständlichkeit der befreiten Ordnung überhaupt weder Gegenstandlosigkeit noch Ignoranz des Ungleichartigen bedeutet. Die selbstständige Kraft des Ich bedeutet nur, dass sein Beziehen nicht unbedingt abhängig von dessen Gliedern ist. Das Ich behandelt seinen Namen nicht nur als zu einem besonderen Bild gehörig, sondern kann ihn auch als den selbständigen Begriff im eigentlichen Sinne auf andere beziehen. Der Name war zu Beginn das für sich Seiende, zu dem das Ich das innere Bild des Angeschauten im Gedächtnis machte. Das Ordnen der Namen durch das Ich im Erkennen folgt daher der bildlichen Konstruktion des angeschauten Dings im Gedächtnis. Die Ordnung der Namen bzw. der Name in der Ordnung ist also ebenso “ein Ding”, das aber nicht das angeschaute Ding selbst ist, sondern dieses ersetzt und vertritt. Z. B. der Name „Baum“ als bezogen auf den anderen Namen „grün“ ist selbst eben ein Baum-Ding, das nicht der äußere Baum-Gegenstand selbst ist. Fraglich ist nun natürlich, ob jenes Ding diesem äußeren adäquat ist. Obwohl das Ich seinen geordneten Namen als ein seiendes Ding ansieht, ist dies Ding jedoch noch nicht wirklich. Denn die Ordnung der Namen entspringt nur, wie erwähnt, dem Ich als der an sich seienden Beziehung der Namen, die ihrerseits nicht das äußere Ding selbst, sondern lediglich das Ding als behalten durch die Anschauung im Ich zusammenstellen. Die Notwendigkeit der Ordnung ist also sogar nicht Notwendigkeit der Namen selbst, sondern nur des Ich, in dem Namen aufbewahrt sind. Insofern das Ich diese Ordnung in sich fixiert, ist seine Ordnung nur der “Schein der Ordnung” und sein Ding nicht mehr als ein Imaginatum. Als Ergebnis lassen sich nun zwei Aufgaben stellen, die innere Notwendigkeit der Namen selbst zu erlangen und die Entsprechung derselben mit dem äußeren Ding selbst 141 zu bestätigen. Die erste Aufgabe kann gerade durch den sich auf sich beziehenden Verstand gelöst werden. Z. B. im Urteil „dieser Baum ist grün“ ist die Ordnung der Namen zunächst noch gedankenlos, insofern die Namen „dieser Baum“ und „(dies) grün“ hier nur auf die Ordnung des Ich bezogen sind, das seine durch Anschauung erhaltenen Bilder als Namen im Gedächtnis bewahrt, und weil die Namen als Begriffe selbst noch “rein gleichgültige” sind und keine gegenseitige Implikation oder Subsumtion, sondern nur das Selbst des Ich als ihre Notwendigkeit haben. Die Beziehung der Namen ist de facto lediglich vom Erfahrenen des Ich abhängig. Das Urteil ist schlechthin Urteil der Erfahrung, das im Ich als feste Ordnung induktiv fixiert ist. Die Wahrheit des Urteils ist ganz und gar vom “präcis sehen” abhängig. Diese Aufmerksamkeit ist zwar “die erste nothwendige Thätigkeit” des Geistes, zieht aber nicht mehr nach sich als die empirische Exaktheit und Allgemeinheit. Damit sich das Urteil auf die begriffliche Notwendigkeit gründen kann, müssen daher beide Seiten des Urteils in einer begrifflichen Beziehung aufeinander betrachtet werden. Dem Ich muss sein eigener Inhalt selbst Gegenstand werden und sein Urteil auf der Notwendigkeit des Inhalts selbst basieren. “Diese Arbeit ist daher das erste innre wirken auf sich selbst – eine ganz unsinnliche Beschäfftigung und der Anfang der freyen Erhebung des Geistes” (J III.194). Das Urteil, dessen Seiten als solche, also als selbstständige Begriffe gesetzt sind, lautet nun: „Der Baum ist grün“. Dies ist Urteil des Denkens. Hierin sind das empirisch tätige Ich und sein Gegenstand aufgehoben. Das für sich seiende Ich, das Namen im Gedächtnis des Erfahrenen ordnet, ist mit seinem empirischen Gegenstand aufgehoben und sich selbst Gegenstand geworden. Denn hier zu betrachten ist nicht die Ordnung der Namen durch das Ich in der Gegenstandsbezüglichkeit, sondern schlechthin die notwendige Beziehung der Namen als Begriffe selbst. Das, was gesetzt ist, ist der Name selbst, dessen Einzelheit aufgehoben ist, also der Begriff selbst, schlechterdings “die Allgemeinheit”. Das “zum Gegenstande gewordne Ich” ist nichts anderes als das Ding, zu dem das Ich in der Namengebung sich selbst machte. Das Ich, das das Ding seiner selbst als Gegenstand hat, ist eben die Vernunft. Dieser ist nun das Ding als das Allgemeine entgegengesetzt. Das Allgemeine ist die Einheit selbst der Seiten des Urteils, d. i. der grüne Baum oder das Grüne des Baums. Das Ich als ein neues Subjekt des vergegenständlichten Selbst ist also nun “auf das Ding oder das Allgemeine als solches thätig”. Der grüne Baum als das vergegenständlichte Ich, als das Ding seines selbständigen Begriffs oder als das eine Allgemeine, ist begrifflich wahr und hat innere Notwendigkeit, weil der Baum dem Inhalt des Begriffs nach das Grüne als seine Eigenschaft unter einer bestimmten Bedingung hat. Für diesen Grund wäre allerdings auch weiterer Beweis im Prozess des Wissens nötig, aber wenn er momentan 142 hier als bewiesen angenommen wird, tritt das wahre Allgemeine beim Urteilen in die weitere Bewegung ein. Zunächst ist das Urteil „der Baum ist grün“, wie angenommen, begrifflich wahr und notwendig. Aber in diesem Urteil ist das Allgemeine unterschieden, einerseits als das Subjekt, „der Baum“, andererseits als das Prädikat, „grün“. Dieser Unterschied hat zwei wichtige Bedeutungen. Er ist in erster Linie Unterschied im Allgemeinen selbst, “im Dinge”, ferner “im Selbst” des vergegenständlichten Ich. Das Ding, das als das Allgemeine gedacht wird, hat “die Nothwendigkeit an ihm, denn es hat das Selbst des Ich an ihm”, indem das Allgemeine auch das zum Gegenstand gewordene Ich ist. Es könnte das ideale Ding oder der Idealtypus von äußeren Dingen genannt werden. Dies beinhaltet im Urteil, dass jeder Baum dem Wesen nach grün ist. Jedes Urteil über ein äußeres Ding kann außer der empirischen Notwendigkeit auch durch das Denken des Dings als Allgemeinen die begriffliche und wesentliche Notwendigkeit erlangen. Dagegen besteht im Urteil der Erfahrung nur der Unterschied “des Dinges gegen den Verstand”. Dieser Baum ist gegen den Verstand als grün erfahren und unterschieden. Das Grün ist nicht unterschiedenes Wesen von und in diesem Baum selbst, sondern es wird geurteilt durch den Verstand gegenüber dem angeschauten Ding. Dieses Urteil gehört nur der “Erfahrung des Bewußtseyns” an. Zweitens ist der Unterschied des Allgemeinen Selbstunterschied und insofern “an sich selbst negative Beziehung” (J III.196). Diese Negativität des Allgemeinen ist hier nichts anderes als Negativität des Ich, derentwegen das Allgemeine im Urteil unterschieden ist. Insofern das Allgemeine geistigerweise ist, ist es immer negativ in sich. Dass das Ich sich selbst vergegenständlicht, heißt logisch, dass es zuerst sich als das prädizierbare Subjekt darstellt und zu diesem sich als Prädikat verhält. Das Allgemeine, „der grüne Baum“, ist das zum Gegenstand gewordene Ich, zu dem das Ich wiederum sich als Prädikat verhält und dessen begriffliche Notwendigkeit es bestätigt. Daher steht im Hintergrund des begrifflich bestätigten Urteils das Urteil des Ich, das dann heißt; „Der (grüne) Baum ist grün(er Baum)“. Das Allgemeine ist das allgemeine. Ich bin Ich. Dies ist auch für Hegel das spekulative Prinzip, aber gar nicht im Fichteschen Sinne vorausgesetzt, sondern verrät zugleich die negative Tätigkeit des Allgemeinen selbst, das geistigerweise als es selbst bestätigt wird. 30 Selbst der in sich notwendige Begriff muss um seiner Bestätigung willen sich ur-teilen, Urteil werden. Und das Urteil, in dem der Begriff 30 Nach der Differenzschrift ist das Prinzip Fichtes Ich = Ich “das kühn ausgesprochne ächte Prinzip der Spekulation”, die das “reine Denken seiner selbst, die Identität des Subjekts und des Objekts” mit sich bringt. Aber weil das Prinzip bei Fichte nur als die absolute Identität, nicht als die Negativität des Selbst eingesehen ist, wird im System das Ich nur zum das Nicht-Ich bestimmenden oder durch das Nicht-Ich bestimmten, und das Prinzip daher zur unendlichen Forderung “Ich soll gleich Ich seyn”, umgebildet. JKS, S. 6-7. 143 selbst, das Allgemeine selbst von sich geteilt und unterschieden ist, ist eben: „Der Baum ist grün“. Hierin ist das Allgemeine aber nicht nur unterschieden, sondern ferner sich selbst entgegengesetzt. Dem vergegenständlichten grünen Baum ist sein Grün entgegengesetzt. Jedoch sind beide in der Form des allgemeinen Urteils aufeinander bezogen. Wenn nun diese Negativität selbst des Allgemeinen “in der Form der Allgemeinheit” auftritt, ist sie “die Einzelnheit” (J III.197). Das Einzelne ist das Negative des Allgemeinen. Im Urteil tritt nun nicht „der Baum“, sondern „dieser Baum“ auf. Also: „Dieser Baum ist grün“.31 Das Einzelne ist das Allgemeine. Dies ist nun gar nicht mehr das bloße Urteil der Erfahrung, sondern der begrifflich begründeten Erfahrung. Weil im Urteil das Einzelne gegenüber dem Allgemeinen negativ ist, ist auch das Allgemeine negativ, das sich zum Einzelnen verhält. Trotzdem ist nur eins von beiden, d. i. das Einzelne, negativ. Weil das Einzelne auf das Allgemeine bezogen ist, ist es auch allgemein. Dennoch ist nur eins davon, das Allgemeine, allgemein. Des Weiteren ist das Allgemeine, auf das das Einzelne bezogen wird, allgemein als das Wesen des Einzelnen, als das Wassein, d. i. das Baum-Sein dieses Baums; daher ist das Einzelne “nach innen” in dieser Beziehung auf sich selbst allgemein und nur als sein einzelnes Sein “nach aussen” gegenüber dem Allgemeinen negativ (J III.198). Diese Negativität ist de facto auch die innerliche Negativität des Allgemeinen gegen sich selbst, seine eigene Negativität, die gegen sich aufgenommen wird, um selbst bestätigt zu werden, und nur nach außen ist es als das, was einzelnes subsumiert, allgemein. Das Urteil zeigt daher die Identität von beiden Seiten als die negative Allgemeinheit. Das innere Wesen des Einzelnen ist das Allgemeine, gegen das das Einzelne äußerlich negativ ist, und das äußere Dasein des Allgemeinen das Einzelne, das das innerlich Negative des Allgemeinen ist. Das Urteil „dieser Baum ist grün“ heißt also: Das GrünAllgemeine des grünen Baums ist seiend in diesem Baum. Oder: Dieser Baum ist mit seinem Grün seiend als das Allgemeine des Baums selbst. Dadurch ist das Urteil bereits Urteil der Sache mit der begrifflichen Notwendigkeit, d. i. Urteil der Vernunft. Es ist im Grunde genommen der Schluss: „Dieses ist Baum. Der Baum ist grün. Daher: dieser Baum ist grün“. Durch diesen Schluss erringt das formell gleiche, aber inhaltlich einfache und zufällige Urteil der Erfahrung nun erst die begriffliche Notwendigkeit. Dieser Baum ist darum empirisch grün, weil der Baum selbst dem Wesen nach grün ist. Die Kopula, die im Urteil „Dieser Baum ist grün“ das Einzelne und das Allgemeine zusammenschließt, ist also nichts anderes als das Ich, das sich zum Gegenstand hat, als 31 Umgekehrt ist es ebenso. D. h. wenn der Baum seinem Grün entgegengesetzt ist, heißt das Urteil: „Der Baum ist so beschaffen grün“. Umgekehrt; „Etwas so Grünes ist der Baum“. Das Einzelne ist das Allgemeine. 144 das ideale Ding denkt und als das Urteil der Vernunft im Schluss fungiert. Dies Ich ist gerade die “Vernunft, die sich selbst der Gegenstand ist” (J III.200). Das sich selbst vergegenständlichende Ich kommt nun zu drei wichtigen Erträgen. Erstens überwindet seine Ordnung die Willkürlichkeit und Zufälligkeit, die das Ich lediglich vom Gedächtnis der Namen des Erfahrenen abhängig - als eine feste Ordnung ansah. Die Erfahrung verrät selbst weder Allgemeines, noch wird sie selbst verallgemeinert. Der Beginn und das Ende des Urteils ist freilich das Erfahrene. Aber der Grund liegt im Allgemeinen selbst, das im Ich geistig existiert, vom Ich durch die Selbstvergegenständlichung gedacht wird. Bis zu diesem Denken entwickelt aber die erste Geistesphilosophie das Bewusstsein nicht, sondern sie stellt sein Vermögen dafür als die absolute Einheit dar, die absoluter Besitz des Begriffs unabhängig von dessen Relatum ist. Solche Entwicklung findet sich in der zweiten Geistesphilosophie. Die Erkenntnis des Ich erhält die innere Notwendigkeit durch das Denken des wahren Allgemeinen. Das Urteil bekommt nur durch den Schluss vom Allgemeinen die begriffliche Notwendigkeit. In dieser Hinsicht ließe sich nun vorläufig auch von der ersten Bedingung des sittlichen Bewusstseins reden. Das sittliche Bewusstsein ist weder passiv gegenüber dem Vorhandenen, noch rechtfertigt es unmittelbar seine Erfahrung, sondern es macht sich fortwährend zum Gegenstand, bis es die begriffliche Notwendigkeit vom Allgemeinen her erlangt. Dies ist nicht nur die Bedingung für das Erkennen, sondern auch für die Sittlichkeit, insofern die Praxis des Willens Realisierung der eigenen Erkenntnis ist. Aber andererseits ist von großer Bedeutung, dass auch das wahre Allgemeine und die begriffliche Notwendigkeit allein nichts mehr als die Kohärenz und Konsequenz des Begriffs sind. Deshalb ist auch eine Chimära möglich, die logisch konsequent gedacht wird. Und auch der Schluss, „Alle Krähen sterben. Sokrates ist eine Krähe. Also stirbt Sokrates“, ist formallogisch wahr. Selbst die falsche Erfahrung oder Bestimmung des Sokrates als Krähe lässt sich mit dem notwendig gedachten Allgemeinen bestätigen. Das Allgemeine, dessen Wahrheit im oben stehenden Beispiel nur angenommen wurde, ermöglicht nur die innere Notwendigkeit des Begriffs, ist aber nicht selbst bewiesen. Es ist nur die erste Bedingung für die Sittlichkeit. Es muss selbst als Seiendes bewiesen werden. Die Allgemeinheit oder die “Dingheit als seyn [!] vorgestellt” muss auch “aus dem Urtheil in den Schluß” übergehen. Das Allgemeine ist nicht als es selbst, sondern immer als einzelnes da. Es ist “die reine Negativität”, die “sich entzweyt in seyende, die es sind”. Sein Schluss nimmt daher die umgekehrte Richtung: „Dieser und jener Baum u. a. ist grün. Daher: der Baum ist grün“. Das Allgemeine hat seinen Realgrund im Urteil der Sache, dem es die ideale Notwendigkeit gibt. Dieses Urteil ist daher das Urteil der Realisierung des Begriffs. 145 Nun ist noch die bisher nicht aufgelöste, zweite Aufgabe des Ich zu lösen, die reale Entsprechung des Urteils mit dem äußeren Ding selbst zu bestätigen. Sie lässt sich nur praktisch bestätigen. Epistemologisch ist zu klären, ob das Grün wirklich das Wesen des Baums für diesen und jenen Baum ist, und sittlich, ob das Allgemeine des eigenen Willens Wirklichkeit oder wirkliche Möglichkeit als dieses oder jenes Institut hat. Jede Wahrheit muss also zweimal erfahren werden. Demnach vergegenständlicht das Ich sich zweimal. Es vergegenständlicht zuerst die Erfahrung seines Verstandes begrifflich, bestätigt dann seinen vernünftigen Gedanken empirisch und praktisch. Es ist das Allgemeine als die Mitte des Einzelnen und des Allgemeinen, also “das sich in sich selbst bewegende Allgemeine” (J III.199). Drittens ist es nämlich die freie Vernunft als die dritte Form der Intelligenz. Die Freiheit der Vernunft ist zum einen wirklich “ohne Inhalt”, in dem Sinne, dass das Ich unabhängig vom Angeschauten nur einen Begriff auf den anderen Begriff bezieht. Das Ich als die Vernunft ist die freie Kraft des Allgemeinen, das aber nun zu erfüllen und zu bestätigen nötig ist. Seine Freiheit ist also zum anderen praktisch, in dem Sinne, dass es sein freies Allgemeines oder “sich zum Inhalte” macht (J III.201). Der subjektive Geist geht damit in seine praktische Tätigkeit. Die erste Geistesphilosophie stellt eben wegen der negativen Inhaltslosigkeit der Freiheit vor der Praxis das Bewusstsein nur als “das Eins der formalen Vernünftigkeit” dar (J I.295). Das Bewusstsein ist das “absolute Eins der Reflexion”, das die Bestimmtheit seiner Beziehung vertilgt und in dem sich daher seine Begriffe aufeinander frei beziehen (J I.298). Es als das Eins ist ferner freies Individuum. Die Gestalt des Bewusstseins als des absoluten Eins ist nichts anderes als das In-dividuum. Es hat in sich für sich seiende Begriffe, die für es absolut real sind. Aber der Ursprung dieser Begriffe ist der äußere einzelne Gegenstand. Weil die Idealität des Gegenstandes nun von der Einzelheit desselben getrennt und nur als der unbestimmte Begriff für das Bewusstsein gesetzt ist, ist der Gegenstand auch absolut real. Ja sogar, “die Totalität des Seyn” außer dem Bewusstsein steht dem bewussten Individuum absolut realiter gegenüber. Weil das theoretische Bewusstsein nicht absolute, sondern nur ideelle Einheit mit dem Gegenstand erlangt, eben deswegen hat es vielmehr nicht die Aufhebung, sondern das Setzen des Gegensatzes “als Absolutes” zur Folge (J I.295). In diesem absoluten Gegensatz ist es aber als Individuum erst frei, weil es in sich als Punkt der Reflexion alle Begriffe aufeinander beziehen und subsumieren kann. Aber seine Freiheit ist zunächst nur “die Freyheit seines Eigensinns”, indem sie Freiheit mit den ungegenständlichen Begriffen ist. In der Hinsicht der Ungegenständlichkeit ist das Urteil: „Alles, was gestaltet ist, ist farbig“, ebenso leer und inhaltslos, wie das Urteil: „Alles, was farbig ist, ist gestaltet“. Dies zeigt gut, wie die freie Zusammenschließung 146 nur der Begriffe zum Eigensinn werden kann. Das Individuum kann für die absolute Einheit seines Bewusstseins sogar “von allem absolut” abstrahieren. Diese negative Freiheit kann nur “im Tode” Niederschlag finden. Aber das Individuum allein radikalisiert de facto seine Einheit nicht bis dahin, sondern verhält sich davor zuerst eben im absoluten Gegensatz praktisch zur “Totalität der Bestimmtheiten” seiner Beziehung in der Welt. Dennoch ist die Rede vom Tode, die zum ersten Male in der Geistesphilosophie auftritt, von großer Bedeutung. Denn der Tod heißt hier nicht natürlicher, sondern freiwilliger Tod, gerade Tod um eigener Freiheit willen. Er verkörpert gut das extreme Vermögen bzw. Maximum der Freiheit. Die Freiheit kann zu ihren eigenen Gunsten sich selbst in den Tod drängen. Dieser Tod ist Ausdruck eines “Widerspruchs gegen das Leben”, das eigene Freiheit bestimmt und beschränkt. Und eben deshalb kann die Freiheit nicht umhin, in der Kulmination ihrer Durchführung als Kampf auf Leben und Tod aufzutreten. Der absolute Gegensatz des Bewusstseins ist nun das praktische Verhältnis seiner Freiheit, die das Moment des Todes in sich enthält. Das Bewusstsein des Individuums setzt sich dem Bewusstsein der anderen, es bestimmenden und beschränkenden Individuen entgegen, oder sein selbstrealisiertes Ding gleichfalls den anderen Dingen. Es ist “praktisches Bewußtseyn” des Individuums (J I.296). 2. Praktisches Bewusstsein 2.1. Begierde bzw. Trieb und Befriedigung Das theoretische Bewusstsein hat zur Folge den absoluten Gegensatz zwischen seinem reinen selbständigen Begriff und dem äußeren Gegenstand. Obzwar es die kognitive Einheit mit dem Gegenstand beabsichtigte, ist nur sein absolut gesetzter Begriff für es absolut real. Sein Begriff war zu Beginn über den einzelnen Gegenstand gesetzt. Weil der Begriff nun von der Einzelheit des Gegenstandes befreit, rein allgemein gesetzt ist, ist dem Gegenstand die Idealität als Quelle des Begriffs des Bewusstseins genommen. Der Gegenstand ist daher ebenso absolut real, aber in dem Sinne, dass ihm seine Idealität völlig geraubt ist. Also besteht auf der einen Seite das Bewusstsein, das die für sich absolut realen Begriffe besitzt, und andererseits die Totalität des Seins, das wegen seiner vertilgten Idealität absolut real ist. Beide sind sich “absolut entgegengesetzt ohne Beziehung”. Außerdem erreichte das theoretische Bewusstsein durch seinen Begriff als die reine Beziehung bzw. Negativität zwar seine absolute Einheit, doch als dies Eins wurde es “das absolute Gegentheil ihrer selbst, zur absoluten Einzelnheit” (J I.298). 147 Seine Freiheit in dieser Einzelheit ist im beziehungslosen Gegensatz gegen den einzelnen Gegenstand soweit blind und eigensinnig. Das “Bewußtseyn als Sprache” ist “aus der Mitte getreten”, und seine Sprache erscheint nicht mehr als die Mitte, in der sich die Einzelheit und die Allgemeinheit, die Realität und die Idealität treffen und abscheiden (J I.297). Das Bewusstsein, das im Eins seiner Individualität nur seine Begriffe absolut vereinigt, ist lediglich “die absolute Leerheit des Unendlichen”, das von der Wirklichkeit des Seins isoliert ist (J I.295). Ihm ist die reiche Außenwelt der begrifflosen Einzelnen entgegengesetzt. Aber Hegel hält diese Stufe des Bewusstseins nicht für das Verschwinden der Mitte, sondern fasst “die unsichtbare Mitte” oder den verborgenen Geist ins Auge (J I.297). Denn das Bewusstsein, das die “Totalität des idealen” errang, bleibt als die absolute Einzelheit nicht nur im Gegensatz gegen andere Einzelne bestehen, sondern will des Weiteren diese praktisch aufheben; auf diese bezieht es sich daher wiederum.32 Diese Beziehung ist als die Beziehung des Bewusstseins wiederum die erscheinende Mitte. Aber weil sie zuerst für es keine Beziehung der Einheit, sondern der Aufhebung ist, ist sie als die Mitte unsichtbar für es. Die kognitive Einheit des theoretischen Bewusstseins führte umgekehrt zur idealen Aufhebung des äußeren Gegenstandes in den absoluten Begriff. Die praktische Aufhebung des Bewusstseins wird nun die Einheit als die existierende Mitte zum Resultat haben. Im Beziehen des Bewusstseins für die Aufhebung wirkt der Geist zunächst verborgen. Dies besagt nicht, dass das Bewusstsein, wie in der Naturphilosophie, lediglich natürlicherweise handelt. Sondern es heißt, wegen des geistigen Elements seines Begriffs für sich zieht die Durchsetzung seines Begriffs durch die Aufhebung der anderen Einzelheiten auch die Aufhebung seiner Einzelheit selbst nach sich. Dass sich in dieser Hinsicht das Bewusstsein und der Gegenstand vereinigen, wird auch stufenweise vom Bewusstsein reflektiert. Der Grund für das praktische Bewusstsein liegt nicht allein in seiner äußeren Entgegensetzung. Das Bewusstsein hat auch den Grund für seine Praxis in sich. Es ist 32 Dass diese Beziehung des absoluten Begriffs auf sein Anderssein im absoluten Gegensatz zuerst die Beziehung der Aufhebung ist, erhellt aus dem bereits erwähnten Satz der Frankfurter Zeit, “Begreifen ist beherrschen”. N, S. 376. Sie besteht darin, das Anderssein dem Begriff anzupassen. Aber wenn der Begriff auch noch so notwendig ist, führt er in der Beziehung immer etwas Zufälliges, also “mistrauisches gegen sich mit, daß er durch die Gewalt gerechtfertigt werden muß, dann unterwirft sich ihm der Mensch” oder das Ding. Also ist der Begriff, nach der Einsicht Hegels in der Schrift über die Verfassung Deutschlands, “viel zu schwach”, um sich durch die Praxis zu realisieren. SE, S. 158. Wenn er sich dennoch dafür einsetzt, ist das Moment der Gewalt unvermeidlich. Falls er sich auf das Ding bezieht, erscheint die Beziehung als Arbeit, falls auf die andere Person, als Vertrag. Demnach wird deutlich, dass Hegels praktische Philosophie die Gewalt nicht idealistisch und moralisch zügelt, sondern realistisch durch die einander aufhebende Anerkennung als die gerechtfertigte institutionelle Gewalt interpretiert und aufrichtet. 148 als theoretisches das “absolute Eins der Reflexion”, d. i. das Eins, das nur durch die Negation anderer absolut in sich reflektiert ist. Es ist zwar Negatives, aber nur durch die Beziehung auf zu negierendes Entgegengesetztes. Es ist daher “wesentlich darauf bezogen”. Obwohl es “in seiner absoluten Reflexion” “sich von der Beziehung auf ein anderes befreyt” hat, hat seine Befreiung vielmehr die Beziehung zur Bedingung. Die “absolute Reflexion ist selbst nur als diese Beziehung auf ein anderes”. Seine Befreiung ist de facto nur Änderung der Form seiner Entgegensetzung und Beziehung. Das Bewusstsein bezieht sich nun praktisch auf den Gegenstand. In dieser Beziehung ist es das Individuum, das zuerst begehrt, aber nicht einfach animalisch, sondern bewusst und geistig, wie das theoretische Bewusstsein zunächst eben so Empfindendes war. Es ist als theoretisches gegenüber allen anderen Einzelnen allgemein und indifferent, weil es als der absolut einfache Punkt negativ gegen alle anderen ist. Aber durch die praktische Beziehung tritt sein Absolutsein aus der Leerheit des Unendlichen heraus in die gegenständliche Realisierung desselben ein. Das Bewusstsein wird nicht mehr kognitiv bestimmt, sondern mit der absoluten Einheit seines Begriffs praktisch bestimmend. Es differenziert sich absolut von allen anderen und benimmt sich als allgemeines “in der Abstraction der absolut differenten absolut entgegengesetzten Beziehung” (J I.298). Die praktische Beziehung hat daher drei Bedeutungen. Sie ist vor allem der Realisierungsprozess der idealen Allgemeinheit des Bewusstseins im einzelnen Gegenstand, der nun für es nur absolut real ist. Sie ist zum einen die Erfüllung der absoluten Einzelheit des Bewusstseins, das seine Allgemeinheiten absolut in sich vereinigte. Sie ist zum anderen der reale Erweis des Unendlichen, das das theoretische Bewusstsein nur formal durch die Abstraktion erlangte. Diese Erlangung des theoretischen Bewusstseins als Eins garantiert bekanntlich den Einheitspunkt der äußerlich unendlichen Einzelnen und spielt daher eine präventive Rolle gegen den schlecht unendlichen Progress,33 in dem die Unendlichkeit nur in der unendlichen Vielheit der Anderen gesucht wird. Die praktische Beziehung des Bewusstseins ist also zugleich die reale Erfüllung der formalen Einheit des Unendlichen. In der Beziehung bezieht sich das Bewusstsein als allgemeines in seiner absoluten Einzelheit auf den einzelnen Gegenstand. Diese Beziehung erscheint daher zweitens wiederum als die Mitte zwischen Allgemeinheit und Einzelheit. Diese Mitte ist, wie schon erwähnt, zunächst für das Bewusstsein unsichtbar, insofern es sich zwecks der Aufhebung der Einzelheit des Gegenstandes auf diesen bezieht. Aber das Produkt der Beziehung, nämlich der Gegenstand, der durch die Aufhebung seiner Einzelheit mit der 33 Der bereits mehrere Male berührte Terminus “die schlechte Unendlichkeit” tritt de facto zum ersten Mal in der Logik der zweiten Jenaer Systementwürfe auf. J II.29. 149 Allgemeinheit des Bewusstseins vereinigt wird, genauer gesagt, nun ein neuer Gegenstand, ist die sichtbare, objektiv existierende, zudem im Unterschied zur idealen der Sprache, reale Mitte. In dieser Mitte ist zugleich die einseitige Einzelheit des Bewusstseins aufgehoben und verifiziert. Schließlich hat die praktische Beziehung ferner die epistemologische Bedeutung, die unaufgelöste Frage des theoretischen Bewusstseins zu lösen. Die Allgemeinheit seines Begriffs, der vom Gegenstand abstrahiert und verselbständigt wurde, wird in seiner praktischen Beziehung auf den Gegenstand endgültig bestätigt und bewiesen. In diesem Moment ist die Allgemeinheit keine Allgemeinheit mehr, die der angeschaute Gegenstand idealiter enthielt, sondern die Allgemeinheit des selbstständigen Begriffs mit der Notwendigkeit. D. h. ob das Grün-Wesen des grünen Baumes zuerst nur als Begriff des Bewusstseins, aber dann realiter für diesen Baum existiert, lässt sich nur praktisch bestätigen, dies heißt, den Begriff auf diesen Baum anzuwenden oder in diesem Baum den Begriff als realisiert wiederzufinden. Die letzte Instanz der Wahrheit ist daher die Praxis. In dieser praktischen Erkenntnis wird der Gegenstand zweimal geboren, einmal als bereits geschehen und bestehend, einmal als konkreter Träger meines allgemeinen Begriffs. Hegels Erkenntnistheorie ist bedeutsam nur in der Darstellung bis hierhin, daher bis zur Totalität der Theorie und Praxis, die zuletzt nichts anderes als der Rahmen der Sittlichkeit ist. Das praktische Bewusstsein in den Jenaer Geistesphilosophien geht allerdings über die praktische Bestätigung der Erkenntnis hinaus. Es ist in der ersten Geistesphilosophie vor allem begehrendes Bewusstsein. Die Begierde entsteht aus seinem Gefühl, dass seiner Idealität Realität mangelt. Das Begehrende füllt sich daher durch die Aufhebung des Begehrten mit dessen Realität aus. In der animalischen Begierde sind diese “Glieder des Gegensatzes nur als aufzuhebende gesetzt”, die aber letztlich nicht aufgehoben werden (J I.299). Z. B. der Hunger soll als Begierde des Magens durch das Einnehmen, d. i. Aufheben der Nahrung selbst aufgehoben werden. Aber sowohl der Hunger als auch die Nahrung können nach der ersten Jenaer Naturphilosophie nicht endgültig vernichtet werden. Die Erfüllung bzw. Aufhebung der Begierde ist abhängig von der Einnahme bzw. Aufhebung der Nahrung. Aber das Organische besteht in der Unvollendung der Erfüllung, und die Vollendung ist für es lediglich der neue Beginn der Begierde. Es besteht “in dem Vernichten” seiner Nahrung, “in seiner Spannung” der Erfüllung. Es ist “als diese Spannung zugleich organisch unorganisch”, oder “das zu vernichtende” ist “als ein noch bestehendes in ihm” (J I.241). Dies ist eben die Erfüllung der animalischen Begierde. Diese beruht auf der unvollendeten Dauer der Erfüllung, deren Vollendung nur die Neuentstehung derselben Begierde ist. Daher wird 150 selbst eine gleiche Begierde im Tier nicht endgültig aufgehoben, sondern bleibt nur “ein sollendes Vernichtetwerden”, d. h. nicht Verwirklichung, sondern nur Sollen der Vernichtung (J I.299). Auch die begehrte Nahrung wird zwar realiter verdaut, vernichtet, aber nicht idealiter, daher nicht völlig aufgehoben. Denn bei der Erfüllung tritt “die Empfindung als Mitte” zwischen dem Begehrenden und dem Begehrten auf. Die Empfindung als “der ideale Prozeß” bewahrt die Idealität des Begehrten in sich, und hemmt das “aufgehobenwerden” desselben (J I.241). D. h. das Begehrte muss als die begierdenerfüllende Idealität empfunden und daher nicht völlig vernichtet werden. Die Erfüllung der Begierde ist trotz der Empfindung der Idealität des Begehrten, das daher nicht vernichtet werden soll, die reale Vernichtung desselben. Für die Erfüllung ist das Begehrte zwar das, was aufgehoben werden soll, aber nicht für die Empfindung. Seine empfundene Idealität wirkt also als Hemmung. Es muss für die Erfüllung zum Organischen werden und zugleich für die Empfindung unorganisch bleiben.34 Es muss zum Organischen vernichtet werden, trotzdem im Vernichtetwerden bleiben, also als begierdenerfüllendes Unorganisches empfunden werden. Es muss lediglich als das Sollen des Vernichtetwerdens, als das Aufzuhebende gesetzt sein. Die animalische Begierde ist daher als solche Empfindung bereits “ein thierisches Bewußtseyn in welchem sich das Vernichten hemmt” und beide Glieder “nur als aufzuhebende gesetzt sind”. Aber die Erfüllung der Begierde beim Tier ist realiter von seinem Bewusstsein getrennt, insofern es potenziell die Bewusstheit nur als Empfindung hat, deshalb keine bewusste Tätigkeit. Weil die Erfüllung und die Empfindung, d. i. “das wirkliche aufgehobenwerden selbst” und die “Idealität” des Begehrten, die das Aufgehobenwerden hemmt, “in der Zeit auseinander gerückt”, ohne bewusste Beziehung nacheinander sind, wird das Begehrte schlechthin unmittelbar “ohne alle Idealität, ohne Bewußtseyn” eingenommen und aufgehoben. Das, was unmittelbar eingenommen wird, ist als Gegenstand bereits wirklich aufgehoben. Dem Vernichten des Gegenstandes folgt die empfundene Idealität desselben als die Hemmung des Aufgehobenwerdens, und die Vollendung der Vernichtung verursacht wegen seiner schon völlig aufgehobenen Realität wiederum das Gefühl des Mangels an dieser Realität, was der neue Beginn der Begierde ist. Aus dieser Zirkulation kann das Tier nicht heraustreten. Die Begierde des Menschen ist dagegen vor allem bewusste, also menschliche Begierde. Damit sie menschlich wird, muss sie im realen “Aufheben selbst ideell, aufgehoben seyn”. Dies heißt nichts anderes als die Bewusstheit der Begierde. Die Begierde des Tiers kann sich wegen der Beziehungslosigkeit zwischen der realen Vernichtung und der 34 Einfach gesagt ist dies eben die animalische Verdauung. 151 idealen Bewahrung nicht aus der unendlichen Wiederholung herausziehen. Die menschliche Begierde hat wegen der Bewusstheit solche Beziehung. Der Hunger ist nicht bloß Begierde des Magens, sondern ferner des Ich, des Bewusstseins. Er ist meine Idealität, deren mangelnde Realität Ich fühle. Die Füllung mit der Realität besagt eben die Erfüllung der Begierde bzw. Aufhebung des Begehrten. In dieser Tätigkeit bezieht sich das Bewusstsein auf die Begierde als bereits erfüllt, d. i. aufgehoben. Weil, wenn ich diese Speise esse, der Hunger gestillt wird, darum esse ich sie. Dagegen, weil das Tier hungert, isst es Nahrung bewusstlos. Das Erfüllen der menschlichen Begierde ist das reale Aufheben oder Realisieren der bereits bewusst aufgehobenen Begierde. Und diese bewusst aufgehobene Begierde ist Begierde, auf die als Allgemeines sich das Bewusstsein beziehen kann. Das Begehrende ist das bewusste Individuum. Und seine Begierde ist seine allgemeine Idealität. Diese ist nichts anderes als die Allgemeinheit der absoluten Einzelheit des praktischen Bewusstseins, also die absolute Leerheit. Ebenso bleibt der begehrte Gegenstand als die Idealität, während er realiter aufgehoben wird. Die Idealität des Gegenstandes besteht bereits vor dem realen und wirklichen Aufheben als das Aufgehobensein seiner einzelnen Realität. Weil er im Voraus als Aufgehobenes, Ideelles auf die Begierde bezogen werden kann, wird er aufgenommen und realiter aufgehoben. Weil diese Speise den Hunger stillt, darum esse ich sie. Dagegen, weil das Tier die Nahrung gegessen hat, empfindet es sie als hungerstillend. In diesem Fall wirkt die empfundene Idealität als Hemmung, aber in jenem nicht, weil der begehrte Gegenstand als bereits ideell Aufgehobenes nun realiter aufgehoben wird. Die Erfüllung der Begierde ist die reale Aufhebung oder Realisierung des bereits ideell aufgehobenen Gegenstandes. Insofern die menschliche Begierde zugleich animalisch ist, kann der Mensch freilich nicht unmittelbar aus der realen Wiederholung solcher Begierde heraustreten. Aber Nachdruck ist darauf zu legen, dass selbst der Hunger beim Menschen die Struktur des Bewusstseins hat, deswegen zugleich über die animalische Begierde hinausgeht. Bereits im realen Aufheben besteht die Beziehung des idealen Aufhebens. Im einfachen Vernichten stehen die Begierde und der Gegenstand schon als ideell Aufgehobene in der Beziehung. Diese ist “die praktische Beziehung” des Bewusstseins, die im Fall des Hungers zunächst nicht im endlich vernichteten Gegenstand, sondern im Begehrenden besteht. Sie ist die Mitte, in der sich das Bewusstsein praktisch auf seinen Gegenstand bezieht. Sie ist zum einen die Beziehung der ideell Aufgehobenen, daher die ideale Beziehung. Hierin ist die Einfachheit des realen Vernichtens schon “ein in sich gehemmtes und entgegengesetztes”. Das reale Vernichten wird nicht einfach durchgeführt, sondern vorher durch seine ideale Beziehung gehemmt und bestimmt. In 152 der Beziehung sind die Begierde und der Gegenstand einander entgegengesetzt, jene als ideell Aufgehobenes, Allgemeines und dieser als ebenso aufgehobener, aber einzelner. Die Erfüllung der Begierde ist Realisierung beider ideell Aufgehobenen, ihrer idealen Beziehung, daher des Allgemeinen auf das Einzelne. Die praktische Beziehung des Bewusstseins ist zum anderen nämlich die Beziehung der auch realiter Aufzuhebenden, also die reale Beziehung, in der die ideell Entgegengesetzten vereinigt und realisiert werden. Aber weil die reale Beziehung der bloß animalischen Begierde des Menschen das einfache Vernichten ist, werden beide Entgegengesetzte bloß aufgehoben und verschwinden, und ihre Einheit besteht nur idealiter im Begehrenden, und zwar vorläufig. Das, was realisiert wird, ist aber nicht nur die subjektive Befriedigung der Begierde oder die Aufhebung, die nur zum realen Verschwinden führt, sondern auch die Einheit des Allgemeinen des Bewusstseins mit dem Einzelnen des Gegenstandes. Die Menschlichkeit der menschlichen Begierde besteht eben darin, dass diese Einheit selbst als allgemeine objektiv existieren kann. Die allgemeine Einheit ist die Einheit, in der die Entgegengesetzten in ihrem Aufgehobensein selbst vereinigt sind, und auch die existierende “Mitte, in der sie eins sind, und in der sie als ihrem Eins, ihrem aufgehobenseyn sich abscheiden” (J I.299). Die menschliche Begierde, die diese Einheit ermöglicht, ist nach der ersten Geistesphilosophie eben die Arbeit. Der einschlägige Teil der zweiten Geistesphilosophie ist der Abschnitt des Willens als der zweite Teil des Geistes nach seinem Begriffe. Aber der Abschnitt enthält auch die später zu betrachtenden Teile vom totalen Bewusstsein und Kampf um Anerkennung. Diese Gliederung könnte als Betonung der Praxis als der letzten Instanz der theoretischen Wahrheit bewertet werden. Die andere Differenz des Willensabschnitts liegt darin, dass hier der Trieb die Rolle der menschlichen Begierde in der ersten Geistesphilosophie spielt. Der Triebbegriff ist einer von Hegels Begriffen, die einen starken Bedeutungswandel erfahren. Obzwar Hegel schon in der Berner Zeit per Briefwechsel mit Hölderlin und Schelling die Schrift Über die Lehre des Spinoza von Jacobi kannte, liegt sein Triebbegriff in der frühen Phase nicht nah an der SpinozaRenaissance, weil seine Forschung darüber erst in der Jenaer Zeit grundlegend durchgeführt wurde.35 In der Frühzeit wird der Begriff zuerst nur als Normalnomen im neutralen Sinne, dann zum einzigen Mal als der Fichtesche Begriff, schließlich erst in der zweiten Jenaer Geistesphilosophie als Hegels eigener philosophischer Begriff mit der Spinozistischen Implikation benutzt. Die erste Wendung findet sich z. B. in den Ausdrücken der Tübinger Kant-Kritik wie “Trieb nach Glükseeligkeit als höchster Zwek des Lebens” oder “jeden Neigungen, und Trieben” und an einer Stelle über die 35 HH, S. 13, 140. 153 Einrichtung der Volksreligion, wie “thierischer Triebe”, endlich an einer Stelle der Berner Schrift Das Leben Jesu, wie “Triebe nach Vergnügen” und “die Triebe der Natur” (FS 84, 85, 100, 212). Der Begriff ist hier weder insbesondere philosophisch hervorgehoben noch als tierisch herabgesetzt, sondern lediglich im traditionellen Sinne, wie ‘Eifer, Energie, innerer Antrieb’ gebraucht.36 Er tritt aber zum ersten Mal in einer der Studien 1795 über die Schriften Fichtes und Schellings als ein philosophischer Begriff in einer variierten Notiz der Fichteschen Definition auf.37 Hier ist aber noch sein neutraler Sinn betont. D. h. der “Trieb durchs Sittengesetz bestimmt oder eingeschränkt” sei “gesezmässig (moralisch möglich)”, daher müsse der Trieb, z. B. zum “Genuß der Glükseeligkeit” nicht als unbedingt “gegen das Sittengesez” abgelehnt, sondern von der Vernunft als vereinbar mit ihrem Sittengesetz angesehen werden.38 Wenn das Recht des Triebes auf die moralische Möglichkeit verweigert und ein solcher Genuss aufgegeben werde, werde auch das Recht der Vernunft selbst auf ihr Gesetz wegfallen und dies Gesetz stofflos. Die Vernunft sei ferner nicht frei von der Anklage gegen ihre Klugheit, dass der Verzicht nur heiße, dass der jetzige Genuss lediglich für den Genuss “in einem anderen Leben” suspendiert werde (FS 196). Diese moralische Wertneutralität des Triebes ist vermittels der Erwägung von Fichte und Schelling raffiniert als eine Beziehung verstanden, wie sie die Stellung des Triebes als Mitte in der Jenaer zweiten Geistesphilosophie anzudeuten scheint. Nach Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung, auf den sich Hegel hier beruft, ist der Trieb ‘ein Medium’, ‘welches von der einen Seite durch die Vorstellung, gegen welche das Subject sich bloss leidend verhält, von der anderen durch Spontaneität, deren Bewusstseyn der ausschliessende Charakter alles Wollens ist, bestimmbar sey’.39 Hegel versteht jene Seite des Triebes als “Bestimmen durchs Nichtich”, diese Seite als “Materie des Wollen[!], thierisches Begehrungsvermögen durch Vernunft zu ordnen”, und den Trieb selbst als “sinnliches Begehrungsvermögen”, obzwar in der Schrift Fichtes keine unmittelbare Rede vom Verhältnis zwischen Trieb und Begehrungsvermögen ist (FS 36 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 836. Daher ist die Erklärung von F. J. Wetz nicht treffend, dass der Triebbegriff des frühen Hegel nur “eine physische und negative Bedeutung” hat. Wetz, F. J.: Artikel Trieb HWP10, S. 1486-1487. Hingegen kann der eher neutrale Begriff des Triebes beim jungen Hegel als eine natürliche Neigung zur Glückseligkeit oder Sittlichkeit in der Volksreligion oder ein grober und tierischer Hang zur Sinnlichkeit erscheinen. Vielmehr wichtig ist für ihn dies: Die Gottheit “verdammt nicht die Triebe der Natur – aber leitet und veredelt sie”. FS, S. 8485, 100, 212. 37 FS, Anhang, S. 620-621. 38 ‘Nicht die Triebe und nicht die Natürlichkeit, sondern ihre Opposition zur Freiheit des Geistes ist zu vernichten’. Über den Trieb in der Rechtsphilosophie, Peperzak, Adriaan: Zur Hegelschen Ethik, HPR, S. 127-131. 39 Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung, S. 17. 154 195). Das Begehrungsvermögen ist Fichte zufolge eine Art Möglichkeitsbedingung für das Wollen. D. h. jenes ist ‘das Vermögen, sich mit’ dem ‘Bewusstseyn der Selbstthätigkeit zu bestimmen’, dieses heißt sich mit dem Bewusstsein wirklich ‘zur Hervorbringung einer Vorstellung’ zu bestimmen.40 Aber das Wollen bedeutet immer, etwas zu wollen, und hat daher auch die Vorstellung des Gewollten zur Bedingung. Die formale Bedingung des Wollens ist also das Begehrungsvermögen, und die inhaltliche die Vorstellung des Gewollten. Das Medium, das diese doppelte Bedingung zugleich erfüllen kann, definiert Fichte als Trieb. Ferner, damit der Trieb nicht als nur durch die Vorstellung bestimmter, sinnlicher bleibt, muss er vor allem von seinem Subjekt, vom Bewusstsein selbstbestimmt sein. Diese Bestimmung kommt vom oberen Begehrungsvermögen her, ‘die Idee des schlechthin rechten’ zu begehren und den Willen dazu zu treiben. 41 Und wiederum ist die Quelle der Form oder des Bestimmtseins des oberen Begehrungsvermögens die absolute Selbsttätigkeit der praktischen Vernunft. Nach der anderen Schrift Fichtes, Creuzer-Rezension (1793), über die Hegel auch eine Notiz schreibt, gibt sich die praktische Vernunft durch ihre absolute Selbsttätigkeit ein Gesetz, “welches als Form des obern Begehrungsvermögens, als eine Thatsache erscheint” (FS 195).42 Dass das obere Begehrungsvermögen bereits durch das Gesetz der Vernunft bestimmt ist, ist, nach jener Schrift Fichtes, eine Tatsache des begehrenden Bewusstseins, die auf das Kantische Faktum der Vernunft anspielt.43 Die Form des oberen Begehrungsvermögens in dieser Tatsache erscheint wiederum als das Sittengesetz des Wollens,44 das eben nichts anderes als die Bestimmung des Triebes durch die Spontaneität ist. Die ‘Freiheit des Willens’ besteht hierin als eine Wahlfreiheit, durch absolute Selbstthätigkeit sich zum Gehorsam oder Ungehorsam gegen das Sittengesetz, mithin zu contradictorisch entgegengesetzten Handlungen zu bestimmen’. Fichte unterscheidet die ‘in dieser Function des Wählens dem Bewusstseyn empirisch gegebene’ Freiheit als Freiheit der Willkür (libertas arbitrii) von jener absoluten Freiheit der selbsttätig gesetzgebenden Vernunft, die zur ‘Befreiung vom Zwange der Naturnothwendigkeit’ ihr Gesetz mit eigener Notwendigkeit gebietet und mit ihrem Gesetz den Trieb um der positiven Gesetzlichkeit des Triebes willen zuerst negativ bestimmt.45 Dies resümiert Schelling in einer auch von Hegel notierten Anmerkung 40 Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung, S. 16. Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung, S. 24. 42 Fichte: Creuzer-Rezension, S. 412-413. Demnach ist diese Selbsttätigkeit der praktischen Vernunft bloß als Postulat des Sittengesetzes angenommen, daher ‘nicht Gegenstand des Wissens, sondern des Glaubens’. 43 Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung, S. 23. KpV, A56. 44 Fichte: Creuzer-Rezension, S. 413. 45 Fichte: Creuzer-Rezension, S. 412-413. Versuch einer Kritik aller Offenbarung, S. 31, 36. 41 155 seiner Schrift Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (1794): Die ‘Vorstellung in praktischer Bedeutung’ ist ‘unmittelbare Bestimmung des in der Vorstellung enthaltenen Ichs durchs absolute Ich, und Aufhebung des in der Vorstellung enthaltenen Nichtichs, insofern es in derselben unter der Form des Bestimmens vorhanden ist’. Nur unter der Bedingung dieser Aufhebung beziehe sich die oberste, der Form und dem Inhalt nach freie Handlung des absoluten Ich praktisch auf das in der Vorstellung enthaltene Ich.46 Aber diese Darstellungen sind bezüglich des Triebes für Hegel nicht einwandfrei. Zunächst notiert Hegel die Fichtesche Unterscheidung der Freiheit mit einem Fragezeichen. In der ersteren Freiheit wird der Trieb durch die empirische Wahl des Willens bestimmt, und im letzteren Falle heißt er als durch das Gesetz der Vernunft unbedingt bestimmt das ‘Gefühl der Achtung’. 47 Hegel sieht hier wiederum das ungelöste Kantische Problem in dem Versuch einer Kritik aller Offenbarung, was er schon 1792 als ein Werk Kants gelesen hat.48 Denn obwohl der Trieb von Fichte als das Medium richtig erfasst ist, muss er dennoch im Gegensatz endlich vom Sittengesetz reguliert werden, das aber nur im bereits moralischen Subjekt möglich ist. Zudem ist der Trieb, der “durchs Sittengesetz bestimmt oder eingeschränkt” ist, noch nur “gesezmässig (moralisch möglich)”. Hieran also schließt Hegel zweitens seinen Wunschsatz direkt an: “wenn der Trieb der Welt der Erscheinungen” “auch gesezlich (moralisch wirklich) Würdigkeit” “geböte”! Der Trieb hat in Bezug auf das Sittengesetz lediglich die moralische Möglichkeit, und nur beim sinnlichen Treiben zum Wollen in der Erscheinungswelt ist das Gesetz moralisch wirklich, obzwar dies nicht vom Trieb selbst geboten ist. Der Trieb ist also in erster Linie das sinnliche Begehrungsvermögen, das das Sittengesetz verwirklicht. Insofern hat er auch Recht auf das Sittengesetz. Das Sittengesetz, das allen Forderungen des Triebes entsagt, kann weder wirklich sein noch ein Recht auf den Trieb haben, seine Realisierung in Anspruch zu nehmen. Wer auf eine “nur unter der Bedingung eines Ungehorsams gegen das Sittengesez” mögliche “glükliche Ehe” verzichtet, hat auch kein Recht auf eine glückliche Ehe (FS 196). Das, was aufgegeben werden muss, ist die Bedingung des Ungehorsams, nicht die glückliche Ehe. Dadurch nimmt der Trieb oder ferner das eudämonistische Moment des Willens seinen Wert als gleichberechtigt mit dem Sittengesetz zurück.49 Er ist vor allem das 46 Schelling: Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt, S. 16. Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung, S. 27. 48 Nicolin, Friedhelm: Legendenbildung, HS 26, S. 227-228. 49 Jaeschke zufolge konnte auch der reife Jacobi das Recht der Sinnlichkeit im Praktischen nicht retten, obwohl er den aufklärerischen Begriff der herrschenden Vernunft im theoretischen Bereich stark kritisierte. D. h. er legitimiere die Entzweiung und den Kampf des Menschen in ihm selbst, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, und gestehe ‘der praktischen Vernunft die Herrschaft über Sinnlichkeit und 47 156 Medium, in dem die Idee der Vernunft sinnlich realisiert wird. Der Triebbegriff Hegels tritt in der zweiten Jenaer Geistesphilosophie erst als sein eigener philosophischer Begriff auf und wird als die Mitte des Willens analysiert. Hierfür darf die Wirkung der damaligen Spinoza-Forschung nicht übergangen werden. Nach der Ethik Spinozas ist ‘die wirkliche Wesenheit’ jedes Dinges das ‘Streben’, mit dem es ‘in seinem Sein zu beharren strebt (conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur)’. Dieses Streben mit Bezugnahme nur auf den Geist (ad mentem solam) heißt ‘Wille (voluntas)’, dagegen wird es in der Beziehung zugleich auf den Geist und den Körper ‘Trieb (appetitus)’, der ‘nichts anderes als des Menschen Wesenheit selbst’ ist. Aus der Natur dieser Wesenheit folgt notwendig ‘das, was zu ihrer Erhaltung dient’; dadurch hat der Mensch die bestimmte Begierde, es zu tun. Zwischen dem Trieb und der Begierde liegt daher nach dieser mechanischen Definition keine besondere Differenz, außer dass die Begierde zumeist im sich seines Triebes bewussten Menschen befindlich ist. Die “Begierde (cupiditas)” ist “Trieb mit dem Bewußtsein des Triebes (appetitus cum ejusdem conscientia)”.50 Aber eben diese Seite differenziert Hegel weit mehr als Spinoza. Denn, wenn die Begierde des Menschen so selbstbewusster Trieb ist, enthält sie die Struktur des Bewusstseins. Die Begierde und auch der Trieb, insofern er Trieb des Bewusstseins ist, lassen sich daher nicht einfach auf dem mechanischen Standpunkt des Philosophen außerhalb des betrachteten Menschen oder nur durch unsere Reflexion erläutern, sondern sie müssen auch für das Bewusstsein selbst oder als die Struktur des Selbstbewusstseins des Menschen selbst erklärt werden können. Des Weiteren ist der Geist überhaupt kein Ding, das nur als Gegenstand in Betracht kommt. Er hat auch eine Selbstbeziehung, in der er sich selbst seine Struktur vergegenständlicht. Deswegen kann das Streben, insofern es Streben des Geistes bzw. des Bewusstseins ist, nicht nur auf dem quasi naturwissenschaftlichen Standpunkt des Philosophen erwogen werden, wie das Streben des Naturdings. Die erste Jenaer Geistesphilosophie entwickelt die menschliche Begierde eben als die praktische Beziehung des Bewusstseins, und die zweite nimmt stattdessen den Trieb als die Mitte des wollenden Ich, höchstwahrscheinlich, damit die logische Struktur des Geistes selbst mehr ans Licht gebracht wird. Weil der Trieb hier auch als “das Zweyseitige” (J III.202) analysiert wird, hat er noch dazu den Charakter des Fichteschen Mediums. Aber er ist ebenso different vom moralisch von oben her kontrollierten Trieb Fichtes wie vom mechanisch durch die Trägheit der Selbstkonservierung bestimmten Trieb Spinozas. Leidenschaften zu’. Jaeschke, Walter: Eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist. Jacobis Kritik der Aufklärung Jc, S. 213-214. 50 Spinoza: Die Ethik, S. 118-120. Ethica, S. 127-129. In der Übersetzung von Baensch ist „mens“ als „Seele“ wiedergegeben. 157 Eher dadurch, dass Hegel ihn als die Mitte des sich zum Gegenstand machen Wollenden stellt, rettet er von Fichte die Verwirklichungseignung des Triebes, von Spinoza die Verwirklichungsfreiheit desselben. Der Wille in der zweiten Geistesphilosophie heißt Inbegriff des subjektiven Geistes, der sich nicht nur theoretisch, sondern ferner praktisch vergegenständlicht. Hegel versteht hier unter dem Titel vom Willen alle Tätigkeiten des Geistes, der seinen Inhalt objektiv erzeugt. Sie sind nicht theoretische Erfüllung oder Intussusception, Begriffe von äußeren Gegenständen in die allgemeingültige Ordnung des Ich zu vereinigen. Die Intelligenz, die befreit von der Bezüglichkeit auf äußere Gegenstände sich Gegenstand ist, ist zwar die freie Kraft des Allgemeinen, aber “umgekehrt ohne Inhalt”. Das, was nun vergegenständlicht werden muss, ist eben die Selbstvergegenständlichung selbst der Intelligenz. Sie muss “das Thun” ihrer Vergegenständlichung eben als “Selbst” anschauen und “für sich” “thätig” sein. Sie macht das vom Gegenstand her errungene Allgemeine ihres Selbst nun durch die praktische Tätigkeit zu einem solchen objektiven Inhalt, “worin sie das Bewußtseyn ihres Thuns hat”. Die Intelligenz in dieser Tätigkeit ist der Wille. Der Wille ist die Tätigkeit, die Leerheit oder Inhaltslosigkeit seines bereits intelligenterweise oder theoretisch erfüllten Selbst “durch Erzeugung” des seinem Begriff entsprechenden Inhalts zu erfüllen (J III.201). Er bewegt sich von nun ab von sich nach außen. Das, was zunächst in dieser Bewegung zu analysieren ist, ist noch nicht die Struktur der äußeren Handlung durch den Willen, sondern gerade das nach außen Wollen selbst des Willens. Der Wille ist schlechthin Wollen. Er gewinnt nur als sich zum Wollen Entscheidender seine Wirklichkeit.51 Das Wollen ist, sich zu wollen. Dies heißt sich als die wollende Tätigkeit, “als sich zum Gegenstande machen” zu setzen. Hierin liegt schon die Bewegung des Selbst zur Erzeugung des Inhalts. Diese Bewegung des Willens ist dreifach und logisch bereits “der Schluß in sich selbst”. D. h. das Wollende will sein wollendes Selbst oder sich als die wollende Tätigkeit setzen. Zuerst ist das Wollende, das sich will, nämlich das logische Subjekt des Satzes “das Allgemeine”, das durch die Intelligenz begrifflich erreicht und zum Wollen entschieden ist. Es ist auch der Gegenstand bzw. Inhalt, zu dem es sich durch seine von sich gesetzte Tätigkeit, nämlich 51 Diese Anspielung auf das Moment des Beschließens des freien Willens in der Rechtsphilosophie findet sich de facto nicht so deutlich in der zweiten Jenaer Geistesphilosophie. Der Textteil dieser Geistesphilosophie fängt schlechthin mit der Tätigkeit des Wollenden an. Aber das Moment des Selbstentschlusses ist Siep zufolge von großer Bedeutung in der Rechtsphilosophie, weil sich der freie Wille dadurch Realität gebe und die Verwirklichung seines Begriffs angefangen werde. Und sogar hierin liege ‘die Differenz der Hegelschen Freiheitslehre zur griechischen – und der Monarchie zur Polis’. Siep, Ludwig: Intersubjektivität, Recht und Staat in Hegels ,Grundlinien der Philosophie des Rechts‘, HPR, S. 261-264. 158 durch das Prädikat des Satzes macht, d. i. der “Zweck” seiner gesetzten Vergegenständlichung. Zweitens ist das Prädikat des Satzes, d. i. das, was vom Wollenden gewollt wird, seine gesetzte Tätigkeit, in diesem Sinne eben “das Einzelne” als sein Selbst, das wirklich etwas tun will. Dies besagt, dass das sich Wollen des Allgemeinen nur als der Wille des Einzelnen oder Individuums wirklich ist. Das Wollende will zwar als das Allgemeine sich, aber in Wirklichkeit will es als das Einzelne sich als das Allgemeine. Schließlich ist das sich Wollen des Wollenden, nämlich die Kopula des Satzes “die Mitte” vom Wollenden und Gewollten. Es ist die Realisierung des Wollenden als Allgemeinen zur einzeln wollenden Tätigkeit. Hegel definiert dies gerade als den “Trieb”. Der Trieb ist die Mitte des Wollens oder der tätigen Struktur des Willens. Er hat zum einen den allgemeinen Inhalt des Wollenden als den Zweck und ist zum anderen “das thätige Selbst desselben”, das zugleich als das wirklich Wollende einzeln ist. Deswegen ist der Satz Resultat des folgenden Schlusses: Das Wollende als das Allgemeine ist der Trieb. Der Trieb ist die wirklich und einzeln wollende Tätigkeit. Daher ist das Wollende die einzeln wollende Tätigkeit, durch die es sich zum Gegenstand bildet. Und in der Hinsicht dieser Bildung ist die Tätigkeit schon Handlung. Der Trieb ist hier erfasst nicht als die einfach mechanische gleichzeitige Beziehung auf den Geist und den Körper, wie bei Spinoza, sondern als die geistige Beziehung zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen im Willen, die jene Beziehung ermöglicht. Dadurch wird er, wie bei Fichte, als Vermittler zwischen Wollenden und Gewollten, als Moment des Willens gedacht. Er ist die einzelne Verwirklichung des allgemeinen Willens bis zur einzelnen Existenz desselben. Der “Grund” oder die causa efficiens des Triebes als Tätigkeit ist eben der allgemeine Inhalt des Wollenden als Zweck, und “die Form” desselben das einzeln tätige Selbst des Wollenden. Der Trieb ist des Weiteren als diese Beziehung des Allgemeinen und Einzelnen des Selbst eben die Beziehung des Selbstbewusstseins. Alle Momente des Willens sind de facto noch “in dem Selbst” als dem ganz Allgemeinen eingeschlossen, das durch die Intelligenz erlangt ist. Erklärt ist bisher nur die negative Beziehung dieses Allgemeinen auf sich, um als das Allgemeine bestätigt zu werden, daher ist “hier nur erst der Begriff des Willens gesetzt”. Als diese negative Selbstbeziehung ist der Wille bereits selbstbewusster Wille, der sich als Allgemeines weiß und negativ vergegenständlicht. Und diese Beziehung selbst des Selbstbewusstseins spiegelt eben der Trieb wider. D. h. das Selbstbewusstsein, das die Intelligenz sich gegenüber hat und in dem sie sich als begrifflich notwendiges, aber inhaltlich leeres Allgemeines weiß, macht “eben die Krafft seines Schlusses, seines Willens” aus, und die Äußerung dieser Kraft ist der Trieb (J I.202). Der Trieb als die selbstbewusste Beziehung des Willens, 159 also der selbstbewusste Trieb ist nicht anderes als die menschliche Begierde Spinozistischer Provenienz, die in der ersten Geistesphilosophie als die praktische Beziehung des Bewusstseins erläutert wird. Aber in der zweiten Geistesphilosophie kommt der Ausdruck „die menschliche Begierde“ nicht mehr vor, sondern die Begierde wird nur als “thierisch” behandelt und dadurch vom Trieb unterschieden, der hier die Rolle jener Begierde spielt. In dieser Hinsicht folgt der Triebbegriff Hegels treu dem Fichteschen als Medium. Aber dadurch ist lediglich der “in sich gegründete Schluß” des Willens erreicht. Hierdurch gesetzt ist die einzeln wollende Tätigkeit, d. i. die wirkliche Selbstvergegenständlichung des Willens. In dieser Tätigkeit wiederholt sich der gegründete Schluss, und der Trieb fungiert wiederum immer als die Mitte derselben. Der Schluss in dieser gesetzten Tätigkeit ist “zugleich nach aussen gekehrt”, und diesen nennt Hegel “eigentliches Bewußtseyn” (J I.203). Das Bewusstsein als logischer Idealtypus müsste freilich die Struktur der bisherigen Analyse haben, aber das Bewusstsein im eigentlichen Sinne steht immer in der notwendigen Zirkulation zwischen Theorie und Praxis, zwischen seinem bewussten Allgemeinen und dessen gegenständlichem Bestätigen, insofern es immer Selbst-bewusst-Sein von etwas ist. In diesem Bewusstsein ist der Trieb erst inhaltlich bestimmt. Sein Inhalt war in jenem Schluss das Allgemeine des Wollenden. Er ist nun in der gesetzten Tätigkeit bestimmter Inhalt, den das wollende Ich bereits kognitiv als sein eigenes Allgemeines erlangt hat. Er ist der Realismus des auf sich beruhenden Bewusstseins, den Fichte nicht garantieren konnte. “Welche Triebe Ich habe, diß ergibt sich erst aus dem Inhalte seiner Welt” als seines Reichs der Begriffe, die das Ich gegenüber der äußeren Welt kognitiv erreicht (J I.202). Diese seinen bestimmten Trieb befriedigende Tätigkeit des wollenden Ich ist nach der zweiten Geistesphilosophie die Arbeit im praktischen Sinne. 2.2. Arbeit und Werkzeug In der ersten Geistesphilosophie ist die Arbeit die Tätigkeit der menschlichen Begierde, die die allgemeine und existierende Einheit vom Bewusstsein und Gegenstand ermöglicht. Und die hervorgebrachte Einheit ist als die Mitte Werkzeug. Das Arbeiten ist kein vernichtendes Beziehen für die unmittelbare Befriedigung der Begierde, sondern bearbeitendes Beziehen bis zum Errichten der Beziehung selbst der befriedigten Begierde. Die Glieder des Beziehens sind einerseits “das Eins der Individualität”, das “als thätig” erscheint, und andererseits der einzelne Gegenstand, der “als passiv” erscheint. Die Beziehung der einfachen Begierde zwischen den Einzelnen endet nur mit der Vernichtung von beiden, d. i. der Begierde des Begehrenden und des Begehrten. Die 160 völlige Vernichtung der Begierde wäre der Tod. Im Leben der einfachen Begierde setzt bereits das Moment des Todes sich durch. Aber im bearbeitenden Beziehen hat die Begierde nicht ihre unmittelbare Erfüllung zum Zweck, sondern wird idealiter als bereits erfüllt, d. i. aufgehoben gesetzt. Daher bezieht sie sich nicht unmittelbar auf “den zu vernichtenden Gegenstand überhaupt”, sondern separiert ihn von diesem realen Zusammenhang der Vernichtung und setzt ihn in Beziehung auf ihr ideelles Aufgehobensein als bereits erfüllt (J I.299). D. h. der Gegenstand wird nicht unmittelbar vernichtet, sondern gleichfalls idealiter als schon aufgehoben für die Erfüllung der Begierde gesetzt. Diese Beziehung von beiden ideellen Aufgehobensein ist nichts anderes als die Beziehung des Bewusstseins.52 Das Bewusstsein ist auch selbst in dem realen Aufheben der einfachen Begierde bereits die “Idealität des Aufhebens”. Die Beziehung jenes realen Aufhebens ist schon im Bewusstsein als die ideelle Beziehung gesetzt. Diese Beziehung des Bewusstseins ist gerade die Arbeit und das Arbeiten das Vollziehen dieser Beziehung. Sie ist vor allem allgemein. Denn im Bewusstsein beziehen sich die beiden Entgegengesetzten bekanntlich als ideell Aufgehobene, also als Allgemeine aufeinander. Allerdings kann die Beziehung des Bewusstseins in die unmittelbare Erfüllungstätigkeit der Begierde umgesetzt werden. Insofern kann sie nicht Arbeit genannt werden. Lediglich das Bestehen der Beziehung selbst im Arbeiten kann die Arbeit sein. Hierbei ist die Arbeit die allgemeine Beziehung. Z. B. während Äpfel in der Natur zu pflücken und zu essen die unmittelbare und einmalige Äußerung der ideellen Beziehung der menschlichen Begierde im Bewusstsein ist, ist das Anbauen des Apfelbaums Setzen und Verwirklichen der ideellen Beziehung selbst. In diesem Fall beziehen sich die Begierde und das Begehrte nicht unmittelbar, sondern als bereits ideell Aufgehobene auf allgemeine Weise aufeinander. In dieser Beziehung ist die Esslust idealiter als bereits befriedigt, also als Allgemeines gesetzt, wie der Apfel auch nicht als dieser jetzt hier gegessene Apfel, sondern als der Apfel überhaupt, der die Esslust selbst immer erfüllen kann. Die Arbeit ist daher die allgemeine Beziehung der beiden ideellen Aufgehobensein, in der die unmittelbare und reale Erfüllung bzw. Aufhebung der Begierde immer möglich ist. Daher kommt die Begierde durch das Arbeiten “in ihrem Vernichten nicht zu ihrer Befriedigung”, wie der Gegenstand in seinem Vernichten “ebenso bestehen” bleibt, weil das Vernichten hier das vom Bewusstsein vorweggenommene, ideelle Aufheben ist. Durch das Arbeiten werden beide de facto 52 Diese Beziehung bedeutet nichts anderes als die ‘Reflexivität’ innerhalb des ‘rein natürlichen Verhältnisses’, die Andreas Arndt bei der Auseinandersetzung mit der Arbeit als Naturverhältnisses sieht. Er vergrößert ferner die Extension des Hegelschen Arbeitsbegriffs bis zur ‘metaphorischen’ ‘Arbeit des Geistes’, so dass er den Arbeitsbegriff im Kontext der mannigfaltigen philosophischen Konzepte lokalisieren kann. Arndt, Andreas: Die Arbeit der Philosophie, S. 9-69, 93-104. 161 nicht vernichtet, sondern als ideell Aufgehobene vereinigt. Der angebaute Apfelbaum ist das allgemeine Produkt solch einer Vereinigung, in dem sich die reale Befriedigung der Begierde in einem fort wiederholen kann. Das Arbeiten ist das Vereinigen von beiden Gliedern der Begierde als ideellen Allgemeinen selbst auf allgemeine Weise, und die Arbeit als diese allgemeine Beziehung ist eben das “praktische Bewußtseyn als Beziehung Allgemeines Einsseyn beyder”. Bezeichnend für den Arbeitsbegriff ist hier, dass Hegel ihn als den allgemeinen Beziehungsbegriff des Bewusstseins einführt. Insofern wird er von der quantifizierbaren Arbeit im ökonomischen Sinne und auch von der körperlichen und geistigen Tätigkeit überhaupt im physikalischen und psychologischen Sinne unterschieden. Die Arbeit ist die allgemeine Beziehung des praktischen Bewusstseins, in der die Begierde desselben, seinen leeren Begriff zu erfüllen oder zu realisieren, besteht und in der seine Begierde und deren Gegenstand als allgemeines Einssein sind. Insofern ist die Arbeit das ontologische Spezifikum des Menschen, der sich wegen seiner Geistigkeit immer im Horizont der Allgemeinheit verwirklichen will. Den Arbeitsbegriff als Beziehungsbegriff gebraucht Hegel hier immer im Unterschied zum “Arbeiten” als Ausüben der Beziehung, die nach der marxistischen Unterscheidung auch konkrete Arbeit genannt werden kann.53 Aber das Arbeiten ist als die reale Tätigkeit zwar die Realisierung, doch nicht der fortwährende Bestand der allgemeinen Beziehung der Arbeit, also des allgemeinen Einsseins der in ihr Entgegengesetzten, insofern nur in einem bestimmten Zeitraum gearbeitet wird. Auch das Produkt der Arbeit kann nicht ihre allgemeine Beziehung beständig tragen. Es ist freilich allgemein für die zukünftige Begierde überhaupt, aber sobald es Gegenstand der unmittelbaren Begierde wird, schlägt es in ein einzelnes Begehrtes um und beginnt durch Konsum zu verschwinden. Die allgemeine Beziehung der Arbeit muss nicht in einem von ihren beiden realen Gliedern, sondern selbst als die existierende Mitte bestehen, durch die “das Arbeiten als solches” als die Realisierung der Beziehung der Arbeit “seine bleibende Existenz hat”. Das Arbeiten muss selbst als “ein Ding” existieren, das die allgemeine Beziehung trägt. Ein solches Ding ist gerade das Werkzeug. Das Werkzeug ist ein anderes allgemeines Produkt der Arbeit, in dem die verschwindende Beziehung der Begierde als die allgemeine Beziehung des ideellen Aufgehobenseins fortbesteht und diese Beziehung selbst objektiv realisiert ist.54 Es ist die Entelechie des praktischen Bewusstseins als 53 Die abstrakte Arbeit, die als die Arbeit des Einzelnen nur auf der Ebene der Gesellschaft quantifizierbar ist, kann daher hier noch kein Thema sein. 54 Das Wesen der Arbeit liegt, wie bei Marx, nicht in Produkten als Waren, sondern im Werkzeug oder ferner im Produktionsprozess. Das Werkzeug ist die objektivierte Beziehung der einzelnen Arbeit und der Produktionsprozess die objektivierte Beziehung der gesellschaftlichen Arbeit. 162 dieser Beziehung selbst. Es ist nämlich “die existirende vernünftige Mitte” oder die “existirende Allgemeinheit des praktischen Processes”. Als diese existierende allgemeine Mitte spiegelt es auch die Aktivität des Arbeitenden und zugleich die Passivität des Bearbeiteten wider und vermittelt beide. D. h. es ist “selbst passiv nach der Seite des arbeitenden, und thätig gegen das bearbeitete”. Es bewahrt das Arbeiten als die allgemeine Beziehung auf, in der die Zufälligkeit des Arbeitenden, des Bearbeiteten und des Arbeitens als realen Beziehens beider verewigt ist. Es “pflanzt sich in Traditionen fort”, indem die realen Glieder der ununterbrochen entstehenden und verschwindenden Begierde immer wieder Früchte der Arbeit, daher ihre Beziehung, benötigen (J I.300). Die Charakteristika des Arbeitsbegriffs in der zweiten Geistesphilosophie sind erstens, dass er, wie im vorigen Abschnitt analysiert, etwas früher bereits im theoretischen Teil der Intelligenz auftritt, dann, dass die Arbeit im praktischen Teil des Willens, wie oben erläutert, nicht auf der Begierde, sondern auf dem Trieb basiert, und schließlich, dass der Begriff der List zum ersten Mal zusammen mit der Bestimmung des Werkzeugs, wie unten zu erläutern sein wird, verknüpft wird. Wenn die Arbeit vor der unmittelbaren Vernichtung des äußeren Gegenstandes durch die Begierde wie in der ersten Geistesphilosophie als allgemeine Beziehung des Bewusstseins auf seinen Gegenstand betrachtet werden kann, ist sie bereits nichts anderes als das theoretische Ordnen des Ich, das seine Namen bzw. Begriffe zu dem konstituiert, was für es Gegenstand ist. Aus diesem Grunde wurde in der zweiten Geistesphilosophie die Übung des Gedächtnisses, in dem das Ich sich zum Ding macht, als “die erste Arbeit” des Geistes ohne Stoff (J III.193) erwähnt. Daher ist auch zu bemerken, dass die konkrete praktische Arbeit oder das Arbeiten immer schon durch die theoretische Arbeit des Geistes oder die allgemeine Beziehung des Bewusstseins vermittelt und begründet wird. Und diese wird umgekehrt durch jene bestätigt und realisiert. Lediglich in dieser Weise kann die Wahrheit im Hegelschen Sinne etabliert werden. Außerdem ist gemeinsam für diese zwei Arten von Arbeit, dass sie die gegenständliche Realität, sei es als Verstandesbegriff, sei es als Werkzeug, durch die sich das Subjekt objektiviert, zur Folge haben. Die Arbeit ist überhaupt weder wie bei der Namengebung die Ignoranz des äußeren Gegenstandes noch wie bei der Begierde die Vernichtung desselben, nur nach dem Maßstab des Ich. Sondern sie enthält die allgemeine Beziehung von Ich und Gegenstand als ideellen Aufgehobenen, die selbst durch ihre arbeitende Tätigkeit objektiv verwirklicht wird. Die zweite Geistesphilosophie aber gründet diese Tätigkeit nicht auf der Begierde des Bewusstseins, sondern auf dem Trieb, der die Mitte des Willens des eigentlichen Bewusstseins ist. Dadurch wird die Arbeit hier als die entäußernde Tätigkeit der 163 Willensmitte selbst etwas konsequenter erklärt, demnach kommt die Rede der ersten Geistesphilosophie von einem von der Arbeit selbst unterschiedenen Arbeiten hier nicht mehr vor. Die Arbeit bedeutet geradezu die wirkliche Selbstvergegenständlichung des selbstbewussten Willens, der den bestimmten Trieb als seine Mitte hat. Sie wird durch den Trieb hervorgebracht, der als die Mitte des Willens eben die logische Struktur der Arbeit als Beziehungsbegriff in der ersten Geistesphilosophie vertritt. Sie wird daher nun nicht als die “Ursache” des Arbeitens oder ihrer Tätigkeit, sondern als “die Wirkung” des Triebes, d. i. als die arbeitende Tätigkeit selbst, des Weiteren als die “in sich reflectirte” Tätigkeit betrachtet, insofern der Trieb die reflektierende Mitte des Willens ist (J III.205-206). Bei näherer Betrachtung lässt sich dieser zweite Charakter des Arbeitsbegriffs folgendermaßen zusammenfassen. Die Arbeit ist in erster Linie die selbstbewusste Willenstätigkeit. Sie wird von der logischen Struktur des Willens hergeleitet, der den Trieb als Mitte hat. Dagegen beginnt die erste Geistesphilosophie mit der Begierde bis zur Erläuterung der Arbeit. In der zweiten Geistesphilosophie verzichtet Hegel auf diesen Ausgangspunkt. Denn die Begierde muss freilich “immer von vorne anfangen”, aber “sie kommt nicht dazu die Arbeit von sich abzutrennen”. Die Begierde geht im Wesentlichen auf die Vernichtung des Gegenstandes und hat selbst nicht Anlass zur Arbeit in sich. Damit die Arbeit veranlasst wird, müssen die Begierde und deren Gegenstand zuerst idealiter aufgehoben und als die Beziehung des Bewusstseins gesetzt werden. Zur Entstehung der Arbeit ist daher nicht das Moment der Begierde, sondern des Bewusstseins wirksam. Der Mensch kann “die blosse Befriedigung der Begierde”, z. B. des Hungers, wollen, die aber nichts anderes als “reines Vernichten des Gegenstandes”, z. B. des Brotes, ist (J III.205). Aber insofern er wiederholt den Hunger fühlt, kann er sein immer gesättigtes Selbst vergegenständlichen und wollen. Das, was da gewollt wird, ist nicht die einfache Befriedigung der Begierde, sondern das Selbst als das ideelle Allgemeine der befriedigten Begierde. Der Mensch steht nicht als das Begehrende in der Beziehung auf den begehrten Gegenstand, sondern als das wollende einzelne Selbst in der Beziehung auf den Gegenstand als das gewollte allgemeine Selbst. Diese Beziehung ist gerade der bestimmte Trieb in der gesetzten Tätigkeit des Willens. Die befriedigende Tätigkeit dieses Triebes, nicht der Begierde, ist eben die Arbeit. Die Arbeit ist daher die Tätigkeit des selbstbewussten Willens. Die Arbeit ist ferner zweitens die Tätigkeit des freien Willens, der sich als das frei gesetzte Allgemeine will; daher ist sie bereits in sich reflektiert. Äußerlich definiert ist sie Bearbeiten des einzelnen Gegenstandes durch das einzelne Individuum. Aber diese Beziehung zwischen den Einzelnen ist nur “einseitige Form”, die für das “aüssere Bewußtseyn” gilt. Diese 164 äußerliche Tätigkeit ist nur “einzelnes Moment” und kommt im Grunde genommen vom Selbstwillen her, der sie setzt, wie durch den Schluss des Willens in sich erklärt ist (J III.206). Das Wollende ist das Allgemeine, das schon als frei von äußeren Gegenständen kognitiv erlangt ist. Das Wollende als das Allgemeine will sich. Das Wollen des Wollenden ist durch den Trieb als die Mitte des Willens veranlasst. Es ist selbst das Setzen von sich als wollender Tätigkeit. Diese Tätigkeit ist einzeln, weil alles nur als Einzelnes tätig sein kann. Hier steht der Wille in der Beziehung zwischen dem Allgemeinen und Einzelnen vermittels des Triebes. Diese Beziehung besagt auch, dass die Selbstnegativität des Allgemeinen bereits dem Wollen des Menschen immanent ist. Andererseits ist diese Beziehung aber in der gesetzten Tätigkeit umgekehrt. Das Subjekt dieser einzelnen Tätigkeit ist nun das einzelne Selbst, und das Objekt oder der Zweck derselben das allgemeine Selbst. Das Einzelne bezieht sich vermittels des bestimmten Triebes auf das Allgemeine. Diese Beziehung ist in der Arbeit impliziert. Die Arbeit ist die entäußerte Tätigkeit dieser Beziehung und hat daher die Struktur der Reflexion in sich. Nun ist näher einzugehen auf die logische Struktur der gesetzten Tätigkeit. Diese Tätigkeit als durch jenen Schluss gesetzt heißt das Selbst zum Gegenstand zu machen. Hier wirklich tätig ist das einzelne Selbst, und der Zweck seiner Vergegenständlichung ist das allgemeine Selbst. Dies Allgemeine, das das Ich kognitiv errungen hat, ist in der Einzelheit des Ich idealiter vereinigt, aber um den Preis, dass das Ich “allen fremden seyenden Inhalt in sich getilgt hat”. Durch diese ideelle Tilgung des realiter sein Allgemeines tragenden Inhalts gelangt es zum “fürsichseyn”, das aber deshalb “das anderslose, das Inhaltslose” ist. Daher fühlt es seinem Allgemeinen gegenüber den Mangel. Dieser Mangel besagt “das mangelnde Seyn” seines Allgemeinen, daher den “Mangel des Gegensatzes”, weil sein ideell Allgemeines in keinem entgegenstehenden reellen Sein enthalten ist. Aber “das Gefühl des Mangels” ist als Gefühl auch eine Einheit. In diesem Gefühl sind das Allgemeine des Ich und sein einzelnes Sein als mangelnd bereits idealiter vereinigt. Diese Einheit ist eben die in jenem Schluss “gesetzte Einheit beyder im Triebe”. In jenem ersten Schluss war der Trieb die Einheit als die Mitte des Selbstwillens des allgemeinen Ich, also zwischen seinem allgemeinen Selbst und seiner einzelnen Tätigkeit. In dieser gesetzten Tätigkeit erscheint der Trieb nun als das Gefühl des Mangels. Wenn der Trieb in jenem Schluss die logische Struktur des Wollens des allgemeinen Selbst zeigt, ist er in dieser dadurch gesetzten einzelnen Tätigkeit des Willens erst der durch das Mangelhafte bestimmte Trieb, der daher treibt, dies zu erfüllen. Dieser Trieb ist also zweifach bestimmt. Er ist einerseits die leere Form des mangelhaften reellen Gegensatzes und andererseits, als das Gefühl dieses Mangels, 165 die in der leeren Form idealiter gesetzte Einheit, deren Extreme deshalb vereinigt sind, weil sie “die Form des Gleichgültigen Seyns für einander” haben. Weil das ideelle Sein des Allgemeinen im Ich durch die ideelle Tilgung gleichgültig gegen das reale einzelne Sein desselben ist, sind beide idealiter im Ich, in der leeren Form des Ich vereinigt. Ihre Gleichgültigkeit heißt nichts anderes als ihre einerseits reale, andererseits ideale Inhaltslosigkeit. Aber die leere Form ist da für das Ich, dessen Selbstbewusstsein die Kraft seines Schlusses hat. Das Ich ist eben die Form des mangelhaften Seins, und der Trieb als diese leere Form ist nun Ganzes für das Ich, das ihn als das Gefühl des Mangels hat. Deshalb trennt das Ich ihn von sich und macht ihn zum Gegenstand. Dies besagt auch wiederum die Selbstvergegenständlichung des Ich, die in der zweiten Geistesphilosophie den Kern des Fortschreitens bildet. Sie ist hier die Vergegenständlichung der leeren Form des Ich als Triebes. Sie ist eben die durch den ersten Schluss gesetzte Tätigkeit des einzelnen Selbst und die befriedigende Tätigkeit seines Triebes. Diese Tätigkeit wird de facto von Hegel ohne strukturelle Erklärung “der zweyte Schluß” des Willens genannt (J III.203). Hegel erwähnt auch nicht, dass sie eben die Arbeit ist. Dennoch lässt sich aus dem Bisherigen ihre logische Struktur überhaupt herleiten, und auch daraus, dass ihr Ergebnis als Werkzeug erläutert wird, lässt sich erkennen, dass sie die Arbeit ist. Zuerst ist sie die erfüllende Tätigkeit des Mangels des allgemeinen Selbst durch das tätige einzelne Selbst. Das Gefühl des Mangels ist der Trieb, der daher die Mitte zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen ist, während er im ersten Schluss umgekehrt die Mitte zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen war. Die befriedigende Tätigkeit des Triebes ist die praktische Beziehung des Ich als Einzelnen auf sein Allgemeines vermittels seines durch den Mangel bestimmten Triebes. Sie bewahrt daher die Form des Triebes selbst, aber umgekehrt. In der Tätigkeit bekommt die Form des Triebes nun die Form des reellen Gegensatzes zwischen dem ideellen Allgemeinen des Ich und dem einzelnen Gegenstand, zu dem es gemacht werden soll. Die Tätigkeit ist die vereinigende Tätigkeit der reellen Entgegengesetzten. Dadurch verschwinden die Gleichgültigkeit und der Gegensatz der Extreme des Triebes. Ihr Ergebnis ist ein äußerer Gegenstand, in dem beide realiter vereinigt sind. Sie ist daher nichts anderes als die Arbeit. Die Arbeit definiert Hegel als “das disseitige sich zum Dinge machen” (J III.205), d. i. das Allgemeine diesseits des Ich zum einzelnen Ding außerhalb des Ich zu machen. Dadurch wird das mangelnde Sein jenes Allgemeinen mit dem realen Sein dieses Dings erfüllt. Das Ergebnis der Arbeit ist “erfülltes Seyn” des Allgemeinen. Dies wird zum einen vom Ich nicht mit dem einfachen Gefühl des erfüllten Selbst durch die Befriedigung seiner 166 Begierde, sondern mit dem Selbstgefühl seines objektivierten Allgemeinen angeschaut. Das Ich wird aber ferner wiederum “anschauend, durch die Unmittelbarkeit” des erzeugten Gegenstandes, in dem der Gegensatz realiter aufgehoben ist (J III.204). Das Ich schaut das Einzelne als ein Sein des Allgemeinen an. Dies Anschauen des Allgemeinen im unmittelbaren Gegenstand bedeutet den neuen Anfang des theoretischen Prozesses des Geistes. Der theoretische und praktische Prozess des Geistes bestehen so im fortschreitenden Zirkel. Dadurch entwickelt sich auch das wirkliche Ergebnis, das immer besser das Allgemeine konkretisiert. Mit dem erfüllten Sein als diesem Ergebnis meint Hegel zum anderen nicht das einfache Produkt der Arbeit, sondern das Werkzeug. Das, was durch die Arbeit vergegenständlicht wird, ist nicht nur das mangelhafte Allgemeine des Ich, sondern auch die Beziehung selbst des einzelnen Selbst, das seinem Allgemeinen gegenüber tätig ist, daher der Trieb selbst als die Beziehung. Dem mangelhaften Allgemeinen entspricht nur die Vielheit von einzelnen Produkten. Diese aber sind selbst nicht das erfüllte Sein des Allgemeinen, sondern nur bestimmt, das Allgemeine zu erfüllen. Diese Erfüllung entsteht durch die reale Aufnahme und Vernichtung der Produkte ins mangelhafte Allgemeine des Ich. Beide stehen daher nur in der Beziehung der Begierde. Das, was in den Produkten realisiert ist, ist nur “Mittel der Begierde” als “die bestimmte Möglichkeit”, nicht das Sein der befriedigten Begierde. Die Befriedigung der Begierde ist ein solcher Zweck, der unter der Voraussetzung der Vernichtung ihrer Gegenstände nur einzeln erreicht wird. Das allgemeine Produkt der Arbeit, das nicht als Mittel der Begierde, sondern der Gegenstände der Begierde alle diese Einzelheiten umfasst, ist gerade das Werkzeug. Das Werkzeug ist als die Möglichkeit, Gegenstände der Begierde “als einen allgemeinen” Inhalt zu bewahren und zu verschaffen, “vortrefflicher als” der einzelne “Zweck der Begierde” (J III.206). Das, was im Werkzeug realisiert ist, ist keine einseitige Erfüllung des mangelhaften Allgemeinen des Ich, sondern die Beziehung selbst des Triebes, den das Ich als das Tätige seinem Allgemeinen gegenüber hat. Das Ich, das als Trieb ist, trennt auch durch sein Selbstbewusstsein seinen Trieb von sich ab. Die “Entzweyung des Triebseyenden Ich ist ebendiß sich zum Gegenstande machen” (J III.205). Der Trieb, der dadurch fürs Ich Gegenstand geworden ist, ist Tätigkeit bzw. Arbeit. Die Arbeit ist, das Allgemeine des Ich zum Dinge zu machen, d. i. das Allgemeine ins Ding zu vereinzeln. Im erzeugten Ding ist daher weder die Bestimmung des Allgemeinen einseitig realisiert, noch besteht das Einzelne nur als Bestimmtheit. In diesem Fall ist das Erzeugnis lediglich das zu verwendende Produkt. Das Werkzeug ist vielmehr die objektivierte Beziehung beider selbst. Dieser Gedanke des Werkzeugs ist auch im Hinblick auf die 167 Sittlichkeit von großem Belang. Das Allgemeine kann nur in der Beziehung auf das Einzelne verwirklicht werden. Seine Verwirklichung muss Verwirklichung dieser Beziehung selbst sein. Sonst müsste es nur mit der Vernichtung des Einzelnen und daher seiner selbst enden. Es wäre nur Allgemeines als Begierde. Insofern wäre seine Geschichte schlecht unendlich. Dagegen ist das Werkzeug als die Entelechie der Beziehung “Werk des Ich”, das das Ich als sich selbst weiß. Das Werkzeug als der erfüllte Trieb hat allerdings “eine andere Form” als der Trieb des Ich. Während der Trieb des Ich als das Gefühl des Mangels zur Tätigkeit gelangt, ist das Werkzeug “der beruhigte, sich selbst gewordne mit sich erfüllte Trieb” (J III.204). Es ist kein solcher Trieb mehr, der als Mangel gleichgültige Einheit im leeren Ich, sondern “Einheit des Ich als zum Dinge gemachten” ist. “Der befriedigte Trieb” im Werkzeug ist außerdem “die aufgehobne Arbeit des Ich”. Wenn der Trieb befriedigt ist, braucht es nicht mehr zu arbeiten. Das Werkzeug heißt aber nicht nur dies. Es hebt des Weiteren selbst die Arbeit des Ich auf und arbeitet anstatt des Ich. Also ist es als das Ding, in dem der Trieb erfüllt ist, die aufgehobene Arbeit des Ich. Es hat in dieser Hinsicht doppelte Form. Es ist zuerst selbst ein einzelnes Ding, das nur einzeln existiert. In seiner Existenz ist freilich das Allgemeine des Ich vereint. Diesem Allgemeinen des Ich gegenüber ist es als das Einzelne passiv, also “das rein aufnehmende”. Aber es enthält als die Entelechie der Beziehung des Triebes das Allgemeine als realisiert in sich. Als dies Allgemeine ist es andererseits auch tätig gegenüber anderen Gegenständen, insbesondere unmittelbaren Materialien der Arbeit, die Produkte der Begierde erzeugt. Aber es hat selbst keine eigene Tätigkeit in sich. Es ist als das einzelne Ding “todte Allgemeinheit”, untätige “Dingheit”. Seine Tätigkeit kommt eher vom Ich her. Weil es das dem Allgemeinen des Ich gegenüber rein passive Einzelne ist, kann es gegenüber den anderen Einzelnen das tätige Allgemeine sein. Es ist also “die Mittheilung” der Tätigkeit des Ich, und zwar als das Ding, in dem die Struktur dieser Tätigkeit bereits realisiert ist (J III.205). Hegel drückt diese Zweifachheit des Werkzeugs eben als “die List” aus (J III.206). 2.3. Vernünftige List des Ich Der Begriff der List, der zum ersten Mal hier philosophisch erwähnt ist, lässt sich bis zum vorigen Gedanken Hegels zurückverfolgen, wenn auch nicht unter dem unmittelbaren Ausdruck von der „List der Vernunft“.55 Er ist inhaltlich schon spürbar, z. B. im folgenden Satz der Verfassung Deutschlands (1799-1803); “Der ursprüngliche nie gebändigte Charakter der deutschen Nation bestimmte die eiserne Nothwendigkeit ihres 55 Dieser Ausdruck tritt zum ersten Mal in der Begriffslogik der Wissenschaft der Logik auf: WL II.166. 168 Schiksals, innerhalb der von diesem Schiksal gegebenen Sphäre treiben Politik, Religion, Noth, Tugend, Gewalt, Vernunft, List und alle Mächte, welche das menschliche Geschlecht bewegen, auf dem weiten Schlachtfelde, das ihnen erlaubt ist, ihr gewaltiges, scheinbar ordnungsloses Spiel; jede beträgt sich als eine absolutfreye und selbstständige Macht, bewußtlos, daß sie alle Werkzeuge in der Hand höherer Mächte, des uranfänglichen Schiksals und der alles besiegenden Zeit sind, die jener Freyheit und Selbstständigkeit lachen” (SE 95). Loco citato ist der Ausdruck, „List“ freilich noch nicht als spezifischer Begriff der Philosophie benutzt, aber beachtenswert ist, dass diese Macht zusammen mit anderen Mächten eben als Werkzeug höherer Mächte erklärt ist. Das Werkzeug ist lediglich in der zweckmäßigen Tätigkeit darzulegen. Das Subjekt der freien Macht ist tätig nur auf dem Weg zum Zweck, den es selbst setzt. Aber nach der Anführung ragt der Zweck über das Sein des Subjekts hinaus, obwohl er vom Subjekt gesetzt ist und insofern ihm die subjektive Macht als sein Werkzeug dient. Dies besagt, dass das vernünftige Verhältnis des Zwecks auf dem ontologischen Standpunkt über die einzelne Tätigkeit des Subjekts hinausgeht. Deshalb kann der durch die Tätigkeit des Subjekts realisierte Zweck ein solcher sein, dessen es sich unbewusst war und den es nicht unmittelbar beabsichtigte. Er erscheint dem Subjekt vielleicht als ein Schicksal, aber in diesem Zweckverhältnis spielte die Tätigkeit des Subjekts jedenfalls eine instrumentale Rolle. Die erste Stelle, wo der Begriff der List mit diesem Verhältnis von Zweck und Werkzeug direkt verknüpft wird, befindet sich gerade in der zweiten Jenaer Geistesphilosophie.56 Dadurch kommt er im Kontext der teleologischen Tätigkeit der Vernunft mit dem Werkzeug zu stehen. Aus diesem Grunde tritt die List der Vernunft in der Wissenschaft der Logik und in der zweiten und dritten Enzyklopädie unter der Überschrift ‚Teleologie’ auf. Sie heißt demzufolge, dass die Vernunft ihren Zweck nicht unmittelbar, sondern “in die mittelbare Beziehung mit dem Object setzt” und zwischen jenen und dieses “ein anderes Object einschiebt” (WL II.166). Dies andere Objekt als “Mittel” bzw. Werkzeug der zweckmäßigen Tätigkeit steht “in unmittelbarer Beziehung mit” “dem Material” und wird so bewegt durch die Tätigkeit, dem Zweck zu dienen (E II/III. § 209). Obzwar das Werkzeug das Zweckverhältnis selbst als realisiert in sich hat, ist es jedoch als solches einzeln. Diese Seite ermöglicht zwei Momente der Tätigkeit. Zunächst, weil es als Einzelnes auch nicht identisch mit dem Zweck selbst ist, richtet sich die zweckmäßige Tätigkeit noch nach außen. D. h. das Subjekt muss mit Benutzung des Werkzeugs noch arbeiten. Aber 56 Die Stelle lässt sich freilich noch nach dem Kontext in der früheren Schrift verfolgen, obzwar der Begriff der List nicht deutlich genannt ist. Z. B. über die lesbare List der Vernunft im System der Sittlichkeit, SE, S. 291-293. Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 86-88. 169 diese Arbeit ist keine unmittelbare Verarbeitung des Materials, sondern die Tätigkeit wird dem Werkzeug aufgebürdet. Das Werkzeug als Einzelnes führt dann anstatt des Subjekts die unmittelbare Bearbeitung des einzelnen Materials durch. In dieser Beziehung des einen Einzelnen auf das andere Einzelne bleibt der Zweck des Subjekts als solcher und erhält sich. Dies bedeutet ferner, dass das Zweckverhältnis außerhalb der Zufälligkeit der unmittelbaren Beziehung und ihrer einzelnen Glieder bleibt, sich in derselben durchsetzt und dadurch sie überwindet. Auf der geschichtlichen Ebene lässt sich die List der Vernunft ebenfalls nur durch die Struktur des Werkzeugs richtig verstehen. Dann wäre das Werkzeug in den geschichtlich wichtigen Ereignissen die Subjekte der konkreten Handlungen, besonders “die welthistorischen Individuen”, der Zweck “die allgemeine Idee” der Vernunft und das Subjekt des Zwecks selbst der Weltgeist (VPW I.105). Die allein auf der Ebene der Geschichte interpretierte List der Vernunft wird häufig als der Kern des Vorwurfs gegen Hegel erhoben, dass die historischen Subjekte zu unbewussten Handelnden der absoluten Vernunft herabgesetzt werden oder die Geschichte der Helden vorgezogen oder lediglich die vernunftzentrierte Geschichte mit gänzlichem Ausschluss von Zufälligkeiten anerkannt wird. Aber der Begriff der List, der sogar niemals im Manuskript zur Philosophie der Weltgeschichte, sondern nur einmal in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte wörtlich auftaucht,57 muss nicht am Anfang, sondern eher am Ende der Geschichtsphilosophie Hegels gelesen werden. Die geschichtlichen Ereignisse sind über die Ebene der einzelnen Handelnden hinaus. Die Individuen haben die allgemeine Vernunft nur subjektiv in ihrer Einzelheit und objektivieren sie nur durch ihre einzelnen Handlungen. Diese Handlungen können zwar selbstbewusst und zweckmäßig sein, aber ihre Resultate sind immer einzeln und partikulär. Diese einzelne Beziehung zwischen Handlungen und Resultaten gehört ins Reich der Zufälligkeit. Die Geschichte davon wäre nichts anderes als eine einfache Erzählung wie ein Märchen oder eine Fabel. Aber so wie selbst ein Märchen allgemeine Belehrung enthält, gibt es geschichtlich wichtige Ereignisse, deren Subjekte und Resultate also in allgemeiner Weise bewertet werden. Die Geschichte ist keine Demokratie der Tatsachen. Der Maßstab der Wichtigkeit liegt Hegel zufolge nicht im Reich der Zufälligkeit, sondern eben in der Philosophie. Daher wird die ‘Vermittlung zwischen dem Allgemeinen’ der Vernunft und ‘dem Besonderen in der Geschichte’ als 57 HH, S. 411. VPW I.105. VPG, S. 49. Vergleich, VM II, insbesondere S. 165-171. Aber der Ausdruck befindet sich auch in der Vorbereitungsnotiz höchstwahrscheinlich für die letzte Vorlesung 1830/31, dennoch ebenfalls als Hilfsbegriff für unsere Vorstellung der Geschichte. “So müssen wir uns überhaupt vorstellen”, und den geschichtlichen “Zusammenhang nicht begrifflich machen”, weil sonst die ganze Geschichte die Herrschaftsgeschichte der Vernunft würde. VM II.209 und Anhang S. 385-386. 170 Aufgabe der Geschichtsphilosophie Hegels aufgestellt.58 Durch die Vermittlung wird die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse die Geschichte als „historia rerum gestarum“. Die geschichtliche und allgemeine Bedeutung der „rerum gestarum“ entspringt immer aus der Philosophie des späteren Historikers. Die handelnden Individuen hatten also von Anfang an den allgemeinen Zweck selbst nicht in sich, der geschichtlich als durch ihre Handlungen realisiertes Allgemeines bewertet wird. Der philosophische Maßstab dieser geschichtlichen Bewertung ist für Hegel die Realisierung der freien Vernunft. Aber dies besagt überhaupt nicht, dass die Vernunft selbst unmittelbar die Geschichte steuert und sich dadurch realisiert. Die Geschichte “beginnt nicht mit irgend einem bewußten Zwecke”. Sondern nur die Individuen beginnen mit einem bewussten Zweck, der aber zuerst subjektiv bestimmt, daher noch nicht geschichtlich ist. Also lässt sich über die Geschichte lediglich sagen, dass sie “mit ihrem allgemeinen Zwecke” “nur an sich”, “d. h. als Natur”, anfängt (VM II.161). Deshalb gehört die einfache Geschichte als die Summe der Ereignisse manchmal “dem Reiche der Naturgewalt und damit Zufälligkeit” an (VM II.166). Diese wird erst durch die Philosophie, die den darin realisierten allgemeinen Zweck herausfiltert, die allgemeine Geschichte als die historische Erzählung der „rerum gestarum“. Die Geschichte ist nur philosophisch geschichtlich, während die Philosophie nicht nur geschichtlich philosophisch ist. Die Geschichte in diesem Sinne bringt des Weiteren den Individuen den realisierten und zu realisierenden Zweck zum Bewusstsein. Für den Zweck sind Individuen, Handlungen, Willen und Interessen “die Werkzeuge und Mittel des Weltgeistes, seinen Zweck zu vollbringen - ihn zum Bewußtseyn zu erheben und zu verwirklichen” (VM II.162). Der Weltgeist wie die Vernunft in der Geschichte ist gar kein transzendentes und mythologisches Wesen als der Führer der Geschichte. Er ist ‘nicht anders als das einzelne geistige Subjekt’,59 dessen Geist sich als frei weiß und in der Welt vollendet. Die Differenz von Weltgeist und Individuum liegt darin, dass das Selbstbewusstsein des Geistes von seiner Freiheit so allgemein ist, dass es nicht in der Einzelheit des Individuums lokalisiert werden kann. Der allgemeine Zweck des Weltgeistes, der immer der Geist des selbstbewussten Individuums im Horizont der Welt und der Wirklichkeit ist, geht aber immer über die Einzelheit des Individuums, seiner Handlungen und Resultate hinaus. Die Handlung des Individuums ist die Beziehung 58 HH, S. 411. Aus diesem Grunde ist Hegels Geschichte auch nicht die einfach fortschreitende Geschichte. Sondern die “spezielle Geschichte eines welthistorischen Volks enthält teils die Entwicklung seines Prinzips”, “teils auch die Periode des Verfalls und Verderbens”. GPR, § 347. In dieser Zufälligkeit für das Volk die Notwendigkeit des Hervorgehens des höheren Prinzips einzusehen ist auch die philosophische Aufgabe. 59 HH, S. 410. 171 zwischen dem Einzelnen und dem Einzelnen. Und das Allgemeine lässt sich ontologisch nicht direkt im realiter entstehenden und untergehenden Einzelnen verwirklichen. Das, was realisiert werden muss, ist eben die Beziehung selbst zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen, in der dies Einzelne durch jenes Allgemeine veranlasst und bewegt wird und sich dadurch als ein Allgemeines auf andere Einzelne beziehen kann. Diese Beziehung selbst besteht im Individuum eben als sein Selbstbewusstsein, das mit dem freien Bewusstsein zu einzelnen Handlungen vorankommt. Sie ist anderes als die Struktur des Werkzeugs. Und das Werkzeug ist, wie in der zweiten Jenaer Geistesphilosophie, vortrefflicher als der einzelne Zweck und Ertrag der jeweiligen Handlung. Hegels Bestimmung des Individuums in der Geschichte als Werkzeugs ist also überhaupt keine Herabsetzung desselben zum nur passiv ausgenutzten Mittel des mythologischen Subjekts der Geschichte. Wie sich das Werkzeug in Traditionen entwickelt, so schreitet das “Bewußtseyn der Freyheit” fort (VM II.153).60 Und das welthistorische Individuum ist eben ein solches Individuum, das im Fortschritt des freien Bewusstseins die Rolle des Werkzeugs, obzwar unbewusst, durch den Vollzug seines einzelnen Zwecks gut spielte. Die Lehre von den großen Männern als Machern der Geschichte ist Hegel gar nicht eigentümlich. Sondern alle ‘weltgeschichtlichen Taten müssen zweimal getan werden’, d. i. unmittelbar durch solche Individuen und philosophisch durch unsere Reflexion auf ihre objektiven Ergebnisse.61 Die Benutzung des welthistorischen Individuums als geschichtlichen Werkzeugs ließe sich daher lediglich in der Philosophie der reflektierten Geschichte als die List der Vernunft erwähnen. Aber die listige Vernunft muss nicht irgendwo außer, sondern eben in dem Individuum gesucht werden, insofern das Subjekt der Geschichte realistisch nur das Individuum sein kann. Vernünftig handelt de facto nur das einzelne Handelnde. Daher könnte die List der Vernunft in der Geschichte als die nachträglich zum Bewusstsein kommende, vernünftige Bedeutung der Vollziehung des Individuums interpretiert werden. Der Begriff der List ist jedoch de facto im Bereich der Geschichte außer seiner pädagogischen Wendung schwer als ein geschichtsphilosophischer zu behandeln, was auch dadurch belegt wird, dass ihn Hegel nur einmal in den geschichtsphilosophischen Vorlesungen verwendete. Der geeignete Ort des Begriffs liegt vor allem in der Erklärung der bewusst teleologischen Tätigkeit, die zum ersten Mal eben in der zweiten Jenaer Geistesphilosophie auftritt. 60 Dies heißt nicht, derjenige, der das Bewusstsein vom Selbst als geschichtlichem Werkzeug hat, kann aus eigener Kraft ein historisches Individuum sein. Es heißt nur, was immer sein Selbstbewusstsein sein mag, funktioniert es in der Geschichte als Werkzeug, insofern seine Handlung daraus einzeln und endlich ist. 61 Pöggeler, Otto: Der junge Hegel und die Lehre vom weltgeschichtlichen Individuum, HPR, S. 36. 172 Nach der zweiten Geistesphilosophie liegt der Grund dafür, dass der Wille des Ich die List mit dem Werkzeug anwendet, eben in der Beschränktheit des einzelnen Dings, in dem der Zweck als das Allgemeine des Ich nicht unmittelbar realisiert werden kann. “Das Partikuläre ist meistens zu gering gegen das Allgemeine” (VPW I.105). Insbesondere das unmittelbare Produkt der Arbeit ist wiederum der zu vernichtende Gegenstand für die Erfüllung der Begierde. Im unmittelbaren Produkt ist das Allgemeine abhängig von der Einzelheit desselben. Auf der einen Seite kann das Allgemeine für seine Verwirklichung allerdings nicht umhin, das einzelne Ding anzunehmen. Es ist aber andererseits über die Einzelheit des Dings hinaus. Die einzige Möglichkeit, diesen zwei Ansprüchen zu genügen, besteht nicht in der unmittelbaren Vereinzelung des Allgemeinen, sondern in der Realisierung des Zweckverhältnisses des Allgemeinen, d. i. solch ein einzelnes Ding zu schaffen, in dem das Zweckverhältnis selbst verwirklicht ist und das deswegen nach diesem Verhältnis sich als ein allgemeines Relatum auf andere einzelne Gegenstände beziehen kann. Es ist gerade Werkzeug als allgemeines Medium des Willens. Es entspricht im Vorigen dem Zeichen oder der Sprache, die für den theoretischen Geist das allgemeine Medium seines Begriffs sein sollte. Weil das Werkzeug selbst auch Einzelnes ist, bezieht es sich unmittelbar als Einzelnes auf das einzelne Material. Diese Beziehung, die auch die konkrete und unmittelbare Arbeit zu nennen ist, ist durch mannigfaltige Umstände bedingt. Aber diese bedingte Beziehung ist immer auch solche Beziehung, die sich nach dem Zweckverhältnis ereignet. Das Ich, das durch die Abreibung und Abnutzung der beiden Beziehungsglieder sein Allgemeines realisieren lässt, ist listig. Die List ist die instrumentelle Realisierungsweise des Allgemeinen, das sich nicht anders als mit und in dem Einzelnen realisieren kann. Das Werkzeug ist die konkrete Wirklichkeit des Verhältnisses des allgemeinen Willens und die konkrete Möglichkeit der Produkte als der realisierten Gegenstände desselben. Es hat das Verhältnis des allgemeinen Willens in seiner einzelnen Dinglichkeit, deren Tätigkeit vom Ich gegeben wird. Das Ich stellt “die List zwischen mich und die äussere Dingheit” des Werkzeuges, lässt dies unmittelbar einzelne Materialien bearbeiten, erspart dadurch die Mühe zur Arbeit, und bleibt selbst weiterhin als die Beziehung seines allgemeinen Willens bestehen (J III.206). Die List muss freilich auf der anderen Seite auch den Naturgesetzen zwischen Werkzeug und Materialien entsprechen. Sie muss selber vernünftig sein, sonst wird das Werkzeug dem Ich nicht dienen. Sie ist immer die List der Vernunft des Ich, die vernünftige List des Ich. Sie heißt die vernünftige Zusammenstellung des Werkzeugs und seiner Gegenstände nach Naturgesetzen. 62 “Der Natur selbst geschieht nichts”, insofern ihre Gesetze 62 Aber sie kann List des vernünftigen, doch nicht allgemeinen, de facto Allgemeines vorspiegelnden 173 beachtet werden. Es sind jedoch “einzelne Zwecke des natürlichen Seyns” “zu einem Allgemeinen” des Willens zusammengesetzt. Das Ich “regiert nur mit leichter Mühe das Ganze” und “sieht ruhig zu” (J III.207). Je höher die vernünftige Zusammensetzung wird, desto mehr tritt das Ich aus der Arbeit zurück und besteht nur als die Bestimmung der Arbeit. Als diese Bestimmung wird es immer mehr die Wahrheit und der freie Begriff der Arbeit und der arbeitenden Werkzeuge. 3. Totales Bewusstsein 3.1. Genuss und Charaktere Das theoretische Bewusstsein vereint das ideell Allgemeine des äußeren einzelnen Gegenstandes als der selbstständige Begriff absolut in seine Einzelheit und steht dadurch der Totalität des Seins entgegen. Das praktische Bewusstsein realisiert und bestätigt umgekehrt seinen Begriff im einzelnen Gegenstand. Dieses Moment der Realisierung wird benötigt, insofern die Wahrheit des theoretischen Bewusstseins nicht allein in der Entsprechung seines Begriffs mit dem Gegenstand, sondern vor allem in der Wirklichkeit desselben im Gegenstand liegt. Das praktische Bewusstsein in seiner Realisierung ist subjektiv arbeitend und existiert objektiv als das Werkzeug. Das Werkzeug, das die Beziehung der ideell aufgehobenen Begierde oder des Willenszwecks als realisierte allgemeine in sich hat, macht zudem das Bewusstsein immer mehr unabhängig von der konkreten Arbeit und über die einzelne Beziehung der Arbeit hinaus. Anstatt des bewussten Subjekts bezieht sich das Werkzeug zwar als ein Einzelnes auf das zu bearbeitende Einzelne, aber nach seiner Bestimmung, die in sich als die allgemeine Beziehung des Bewusstseins realisiert ist. Vermittels des Werkzeugs besteht das Bewusstsein auch in der Beziehung der Einzelnen als diese Beziehung selbst, als das Allgemeine, weiter. Das Werkzeug ist die zur objektiven Existenz gelangte vernünftige Mitte des Bewusstseins. Das Bewusstsein ist damit erst wirkliches und einzelnen Willens sein. Der allgemeine Wille auf der Ebene des Individuums braucht, wie hier erläutert, nur vernünftig zu sein. Aber die Vernünftigkeit des Willens ist insofern nicht geradezu die Allgemeinheit desselben, als das Individuum zugleich ein gesellschaftliches Wesen ist. Auf der gesellschaftlichen Ebene braucht der allgemeine Wille, wie später zu erläutern ist, noch die Anerkennung durch die Aufhebung seiner Einzelheit. Sonst tritt seine vernünftige Zusammensetzung der gesellschaftlichen Arbeit nicht als die List der Vernunft, sondern als “Betrug” gegen die Natur auf. Auch sein Werkzeug oder seine Maschine kann kein Werk des Volkes, sondern nur das Werk des Ich sein. Diese formale Verallgemeinerung des nicht aufgehobenen einzelnen Willens erkennt Hegel an der Arbeitsteilung in der ersten Geistesphilosophie. Für Hegel ist die Gesellschaft seiner Zeit der Ort, wo der Betrug als Kampf um Anerkennung erscheint und der allgemeine Wille als das Anerkanntsein dadurch institutionell errichtet wird. Siehe S. 251-253. 174 vernünftiges Bewusstsein, das seinen theoretisch erlangten Begriff praktisch realisiert und gegenständlich bestätigt. Es ist bereits an sich totales Bewusstsein. Das totale Bewusstsein besagt das Bewusstsein, das sich nicht mehr nur frei von, sondern auch zu der Totalität des Seins als Entelechie seiner Begriffe verhält. Es ist das vernünftige Subjekt in der Wirklichkeit, das zum wirklichen Objekt in der Vernünftigkeit wird. Aber dies totale Bewusstsein ist zunächst erst nur durch unsere Reflexion auf seine bisherige Struktur erreicht und besteht noch nicht für sich. Wie immer ist für Hegels Wahrheitslehre auch das Bewusstsein selbst keine Ausnahme. Es muss erst auch als für sich totales bestätigt werden. Das totale Bewusstsein “für uns” muss auch “für sich selbst” wirklich totales werden können. Dies ist davon abhängig, ob und wie das Bewusstsein realiter durch irgendwelche wirklichen Momente zu einem totalen wird und besteht. Ein solches wirkliches Moment ist unmittelbar eben nichts anderes als die Bestätigung des gegenständlich realisierten Begriffs des Bewusstseins. Das Werden des totalen Bewusstseins ist das Bestätigen seines realisierten Begriffs im Gegenstand. Der Gegenstand als die Entelechie seines Begriffs ist insofern Gegenstand, in dem der Begriff realisiert ist. Aber in dieser Hinsicht lässt sich die Totalität des Bewusstseins de facto lediglich jeweils durch die Realisierung und Bestätigung seiner unendlich abänderlichen und vielen Begriffe erringen. Dies ist daher das bewusstseinsimmanente Moment seiner Totalität. Das Moment kann aber des Weiteren nicht im Gegenstand als Ding, sondern als einem anderen Bewusstsein bestehen. Das andere Bewusstsein ist nicht das Bewusstsein, das schon allein zu seiner Totalität gelangt ist, sondern als Gegenstand des bereits totalen Bewusstseins durch die Tätigkeit desselben erst zur Totalität gebildet wird. Diese Bildung ist das Werden des Bewusstseins selbst als des einzelnen Ganzen zum totalen, mithin eben das für sich selbst Werden des totalen Bewusstseins. Die Bildung, die als Erziehung des Kindes erscheint, ist das bewusstseinsreziproke Moment der Totalität des Bewusstseins. Im Hinblick auf dies Werden entwickeln die zwei Jenaer Geistesphilosophien die letzte Stufe der Bewusstseinslehre. Deshalb ist das Bewusstsein hier noch nicht wirkliches Subjekt, das sich als Totales zum anderen und zur Welt verhält, sondern in der ersten Geistesphilosophie wird es noch in der Form der Potenz und auch in der zweiten Geistesphilosophie noch nicht als die Form des wirklichen, sondern des noch seinem Begriff gemäßen Geistes dargelegt. Wie das Bewusstsein in der theoretischen Potenz “für sich zu seinem Begriffe” gelangte, der bereits durch unsere Reflexion auf die Krankheit des Tiers erreicht worden war, und in der praktischen Potenz seine “absolute Einzelheit” mit der inhaltlichen Vernünftigkeit für sich erlangte, die in jener theoretischen Potenz bereits für uns, aber deshalb nur “in der formalen Vernünftigkeit” 175 geworden war, so handelt es sich nun auch um das Werden der Totalität des Bewusstseins für sich, das schon für uns in seinem Gegenstand und in einem anderen Bewusstsein sich selbst bestätigt (J I.304). Dann lässt sich das für sich gewordene totale Bewusstsein erst als das sittliche Subjekt in der Wirklichkeit behandeln. Die erste Geistesphilosophie bringt unter der Potenz des Besitzes und der Familie das Werden des totalen Bewusstseins zur Darstellung, aber dennoch nicht deutlich das Moment des Besitzes, das jedoch das nächste Fragment des Kampfes um Anerkennung voraussetzt. Hingegen verdeutlicht die zweite Geistesphilosophie das Moment des Familienbesitzes zwischen dem Moment der Liebe und dem des Kindes; dann wird auch der Anerkennungskampf im späteren Teil des gleichen Willensabschnitts abgehandelt und wiederum im ersten Abschnitt des folgenden Kapitels, “Wirklicher Geist”, wird er als das Anerkanntsein erläutert, das ein rechtliches Verhältnis als Resultat des Kampfes ist. Die erste Geistesphilosophie erklärt auch nicht deutlich den Übergang vom praktischen zum totalen Bewusstsein bzw. inhaltlich von der Arbeit und dem Werkzeug zur Familie. Lediglich der untere Text der Erststufe zeigt, dass das Individuum “gestaltete Totalität” wird, indem “die Begierde in den Genuß übergeht”. Die Begierde ist hier zweifellos durch die Arbeit und das Werkzeug vermittelt. Das Bewusstsein befreit sich durch das Werkzeug von der Notwendigkeit der einzelnen Arbeit, verwaltet und übersieht frei die arbeitende Beziehung des Werkzeugs. Diese “Freyheit des Bewusstseyns” heißt aber freilich nicht Gleichgültigkeit der Naturnotwendigkeit, sondern die Aufhebung der Not, die sich aus der Beachtung der Naturgesetze zwischen dem Werkzeug und dem zu Bearbeitenden ergibt. Das Werkzeug als Einzelnes ermöglicht nach seinem in sich realisierten gesetzlichen Zweckverhältnis die Produktion der vielen einzelnen Gegenstände der Begierdenerfüllung. Das Bewusstsein ist damit absolut freies Individuum, das seinen Begriff anhand der instrumentalen Naturnotwendigkeit frei verwirklicht und eine Vielheit von äußeren Einzelnen mit seinem Begriff vereint. Das, was ihm nun aufgegeben ist, ist nicht erfüllende Tätigkeit gemäß der Notwendigkeit der Begierde, sondern Genuss der Erzeugnisse, in denen die natürliche Not derselben aufgehoben ist. Der Genuss ist überhaupt keine tierische, sondern eine menschliche Vernichtung der Gegenstände der Begierde. Die jeweils benötigte unmittelbare Befriedigung der natürlich entstehenden Begierde kann nicht einmal Genuss sein. Der Genuss besteht erstens in der Aufhebung des Gegensatzes und der Tätigkeit gegen das äußere Einzelne, die die Begierde nötigt. Diese Aufhebung ist bereits möglich durch das instrumentelle Vermögen für die Surplusproduktion, die über den Bedarf der Begierdenerfüllung hinausgeht. Der Genuss ist zweitens nicht nur unmittelbare, sondern ferner reflektierende, also menschliche 176 Vernichtung der unorganischen Natur als Gegenstand der Begierde. Er ist zum einen das unmittelbare Vernichten der unorganischen Natur. Aber diese unorganische Natur ist bearbeitet und geschaffen als Gegenstand der Begierde, in der die Idee des Bewusstseins realisiert ist. Er ist daher zum anderen nicht sowohl einfaches Vernichten als vielmehr in dessen Unmittelbarkeit die seine “realisirte Idee” in sich reflektierende Tätigkeit des Bewusstseins. Die Begierdenerfüllung des Tiers ist die Erhaltung seines natürlichen Lebens. Der Genuss des Bewusstseins ist dagegen die Gestaltung seiner realisierten Idee in sein Leben. Der Körper des Menschen ist selbst geistig gestaltet. Insofern das Bewusstsein im Genuss seine realisierte Idee in sich reflektiert, ist das bewusste Individuum die “gestaltete Totalität” des Bewusstseins (J I.301). Im Genuss ist das Vernichten der unorganischen Natur also trotz seiner Unmittelbarkeit durch die reflektierende Gestaltung der realisierten Idee schon idealiter gehemmt. Die Hemmung des Vernichtens beim Tier entstand erst nach dem unmittelbaren Vernichten bereits spät als die empfundene Idealität der befriedigten Begierde. Der Genuss ist nicht bloß die Vernichtung des Gegenstandes, sondern auch die bewusste Verkörperung des realisierten Selbst oder eben die selbstbewusste Gestaltung. Hier ist das Vernichten selbst idealiter gehemmt. Diese Hemmung wird sich auch realiter vollziehen, wenn der Gegenstand des Genusses nicht das unorganische Naturding, sondern ein anderes Individuum als die gleiche gestaltete Totalität sein wird, nämlich in der Geschlechtsbeziehung. Anders als die erste Geistesphilosophie zeigt die zweite deutlich den Übergang vom Werkzeug zu den Charakteren, die durch die Liebe hin zur Bildung der Familie führen. Durch das Werkzeug kehrt der Trieb als die Mitte des Willens ganz aus der unmittelbaren Beziehung der Arbeit zurück und sieht nur ruhig, dass sich die Natur abarbeitet. Dieses Vermögen, anhand des Werkzeugs “nur mit leichter Mühe” das Ganze zu beherrschen, wird List genannt. Hegel spricht des Weiteren von der “Ehre der List”. Diese besagt verbaliter die vernünftige Seite der List gegen die natürlicherweise bestehende Macht. Die List ist das Vermögen, “die blinde Macht an einer Seite” so anzufassen, “daß sie sich gegen sich selbst richtet”, d. h. sie als Bestimmtheit zu begreifen, nach dieser Bestimmtheit gegen sie tätig zu sein und sie sich aufheben zu machen. Durch die List wird zwar das Werkzeug allmählich abgenützt und das Verhältnis seiner natürlichen Macht aufgehoben, aber der einzelne Gegenstand des Willens wird nach seinem Zweckverhältnis zum Produkt gemacht, und der Wille besteht noch als das Allgemeine weiter. Deshalb ist der Mensch mit seiner vernünftigen List 177 “das Schiksal des einzelnen” Naturdings.63 Denn gleichgültig gegen die Richtung des natürlichen Bestandes des Einzelnen wird es gemäß dem Allgemeinen des Willens bewegt und verzehrt. Der Wille ist Hegel zufolge durch die List eben “zum Weiblichen geworden”. Der Wille, der die List gut plant und anwendet, ist weiblich. Dies ist gar keine negative Einschätzung des listigen Willens der Frau, sondern vielmehr die kontemplative Haltung des weiblichen Willens, dessen Vernunft durch die List selber als Einheit ruhig bleibend das Einzelne der sich wandelnden Außenwelt sich zum Zweck dienen lässt. Insofern die Vernunft listig das Werkzeug erdenkt und verwendet, ist sie feminin. Metaphorisch gesagt, bricht der Tag der Entzweiung und der Arbeit aus der Nacht der Einheit und der Ruhe an. Aber die List ist die Fähigkeit der weiblichen Nacht, die am männlichen Tag wirkt. Die List bedeutet ursprünglich die Geschicklichkeit und ist etymologisch das Verbalabstraktum, das vom Verbalstamm, „lais-“ in dem Sinne von „wissen, erkennen, lernen“ hergeleitet ist.64 Sie ist nicht einfaches Wissen, sondern ein solches Wissen, das das zu Wissende selbst gewusst werden lässt. Nur das Wissen, etwas gemäß dem, was es ist, sich zeigen und bewegen zu machen, ermöglicht die geschickte Arbeit. In dieser Hinsicht vergleicht Hegel also in einer Randbemerkung die List auch mit der Pfiffigkeit. Pfiffe zu verstehen und anzuwenden ist nicht jeder fähig, weil diese Fähigkeit über das bloß sprachliche Verstehen liegt. Die daraus stammende Pfiffigkeit 65 impliziert daher die Verborgenheit bzw. Ausschließlichkeit. Diese hinterhältige Fähigkeit, etwas heimlich zu beabsichtigen und zu vollziehen, ist nahe dem Betrug. Dagegen wird die List durch ihre Offenheit bezeichnet. Je offener ihre Handlung ist, umso größer ist sie. Der Wille lässt nämlich mit der List “durch seine Offenheit” das Andere sich zeigen und sein, wie es an und für sich ist, und sich in seinem Tun verkehren und “eben darin sich selbst vernichten”. Die stumme List wäre freilich gleich wie die Pfiffigkeit, aber die offene List, das Andere durch seine Tätigkeit sich abreiben zu lassen und ruhig zuzusehen, ist “von Grund aus Meister”. Der listige Wille ist der weibliche Wille, der anhand seiner vernünftigen List noch kontemplativ bleibt, obzwar der Trieb als seine Mitte nach außen geht. “Der hinausgehende Trieb, ist als List” des weiblichen Willens “theoretisches Zusehen”. Dies Zusehen ist aber bereits “verschieden vom Triebe” selbst, weil er nun der aus der unmittelbaren Beziehung der Arbeit zurückgekehrte Trieb des Ich ist und das Ich nun “die Nichtigkeit dieses Seyns” 63 Wenn sich das Allgemeine der Vernunft sogar über die Einzelheit des Menschen hinaus z. B. auf der Ebene der Geschichte verwirklicht, ist dies das Schicksal des Menschen. Das Schicksal besteht also darin, dass das vernünftig eingerichtete Einzelne, sei es Mensch, sei es Naturding, durch seinen Gebrauch als Werkzeug über seine Einzelheit hinausgehen muss. 64 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 522. 65 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 625. 178 als Triebs, d. i. die einander aufhebende Beziehung der Einzelnen in der konkreten Arbeit weiß. Das sich Abreibende und das zu Bearbeitende in der Arbeit sind aufzuheben und also nichtig. Das Ich nimmt nicht mehr unmittelbar an dieser Tätigkeit teil, sondern verwaltet und beschaut sie. Aber es besteht andererseits auch noch ein solcher Wille, dessen hinausgehender Trieb nicht in sich zurückkehrt, sondern noch als die sich entäußernde und befriedigende Tätigkeit bleibt. Der Wille ist nicht sowohl listig und kontemplativ, als vielmehr noch praktisch und tätig. Er gelangt eben durch die unmittelbare Teilnahme an der Arbeit zum Wissen vom Bestand des Allgemeinen in der Aufhebung der Einzelnen. Seine Tätigkeit ist “das Nichtwissende Treiben zum Wissen”, nämlich das Treiben, das sein wesentliches Verhältnis zwar nicht weiß, doch zu diesem Wissen führt. Dieser Wille lässt sich männlich nennen. Deshalb redet Hegel anschließend von zwei Mächten, die nicht mehr natürliche, sondern vom Willen vernünftig, aber einerseits theoretisch, andererseits praktisch reguliert sind. Die so gegenläufig entzweiten Mächte des Willens sind gerade “Charaktere”66 (J III.207). Die Charaktere sind Konkreta des gegenläufig verdoppelten Willens. Der Charakter heißt der bestimmte Wille, der überhaupt zu einer seiner entzweiten Seiten gehört. Daher können die Charaktere durch jede extreme Gestalt der entgegenstehenden Richtungen gut unterschieden werden. Der Wille kann zum einen listig und zusehend, zum anderen tätig und treibend sein. Jener Wille bleibt auf dem Standpunkt seines Allgemeinen stehen; dieser hat Teil an der tätigen Beziehung der Einzelnen. Der Charakter, in dem dieser Wille im Extrem der Einzelheit konkretisiert ist, ist mithin die “Spannung, die Macht der Entgegensetzung des seyenden”. Er ist “offen”, treibt gerade zu seiner Erfüllung, ist aber deshalb “blind”, weil er “kein Bewußtseyn” “über die Natur dieses Seyn” in der Entgegensetzung hat. Hingegen sieht der Charakter im Extrem der Allgemeinheit jenes Willens nur zu, wie sich das Tätige “seinen Untergang durch sich selbst” verschafft. Diesen Untergang kennt er zwar vernünftigerweise gut, aber er meint ihn nicht ernsthaft, deshalb ist er “das Böse”. Diese extremen Charaktere aber sind als das logisch Äußerste der möglichen Konkretisierung des Willens betrachtet und heißen nicht realiter der männliche und weibliche Wille. Der charakteristisch bestimmte Wille 66 Hegels Terminus ‚Charakter’, der etwas unerwartet aufzutauchen scheint, hat seinen Ursprung höchstwahrscheinlich im Aristotelischen Begriff έξις (Hexis, habitus), dessen Wissenschaft Aristoteles zufolge eben die Ethik ist. Er spricht niemals über die Ethik als selbstständige Wissenschaft, sondern als einen Teil der Politik, die die Wissenschaft der gesellschaftlich-politischen Verwirklichung des natürlich gemeinschaftlichen Menschseins als πολιτικων ζωον ist. Aristoteles: Ethica Nicomachea, 1094a-1095a, 1097b, 1105b, Hegel behandelt in ähnlicher Weise hier zwar den Charakter in beiden Extremen, aber entwickelt in seiner eigenen Weise die Mitte (µεσοτης) als ihre Einheit bis zum Moment der Liebe, deren Resultat, wiederum wie bei Aristoteles, das sittliche Subjekt der gesellschaftlich-staatlichen Beziehung ist. Auch Fichte redet in der Deduktion der Ehe in der Grundlage des Naturrechts vom sittlichen Charakter, aber weder in dessen Extrem noch im Ausgang der Deduktion. Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 313. 179 würde de facto zwischen die Extreme gehören. Dadurch zu unterstreichen ist lediglich, dass, weil beide extreme Charaktere negativ sind, sie genötigt sind, “sich in Eins zu setzen” und die Einheit des Willens zu restituieren (J III.208). Die zweite Geistesphilosophie klärt also durch die Selbstentzweiung des Willens die Übergangsphase, die in der ersten Geistesphilosophie im Dunkeln bleibt. Der dadurch erreichte Charakter lässt sich als der gestalteten Totalität in der ersten Geistesphilosophie entsprechend ansehen. Aber während die zweite Geistesphilosophie konsequenter noch durch die Struktur des Willens zum Charakter fortschreitet, bringt die erste beim Genuss der Erzeugnisse der Arbeit die gestaltete Totalität als das in sich reflektierende Individuum zur Darstellung. Daher bildet hier die Betrachtung des Genusses als Endpunkt der Begierde den Ausgangspunkt. Der Genuss ist bekanntlich zwar einerseits das unmittelbare Vernichten der Gegenstände der Begierde, aber andererseits als menschliche Begierdenbefriedigung das durch die reflektierende Gestaltung der realisierten Idee bereits idealiter gehemmte Vernichten. Er geht deshalb über den unendlichen Zirkel von der Vollendung der Vernichtung und dem Neubeginn der Begierde hinaus. Sonst wäre er nichts anderes als tierische Erfüllung. Er ist aber das Vernichten, begleitet durch das Bewusstsein von meiner Gestaltung bzw. von der Verkörperung meiner realisierten Idee. Selbst im einfachen Essen ist das, was mich zufrieden stellt, eben mein Selbst, das die Speise als mein Produkt erfüllt. Deshalb zehre ich nicht einfach auf, sondern genieße die Speise. Das Vernichten im Genuss ist also idealiter gehemmt durch das Bewusstsein von der Erfüllung meiner selbst. Es gibt in der Welt kein reines Vernichten. Das Vernichten des einen ist zugleich das Erfüllen des anderen. Allein, weil das Tier Hunger hat, nur deshalb frisst es, und weil es gefressen hat, hat es erst die Empfindung der Befriedigung, die das schon vollzogene Vernichten spät hemmt und es also zur Suche nach dem neuen Gegenstand der Begierde drängt. So dominant ist also die Empfindung im Erfüllen des Tieres. Die Hemmung des Vernichtens, die Hegel bereits in der Naturphilosophie bezüglich der Begierdenerfüllung wiederholt erwähnt,67 ist nicht eingeführt für die Unterbrechung und Beseitigung des Vernichtens selbst. Sie bedeutet, erstens, das, was nur von der Begierde und deren Befriedigung abhängig ist, hat lediglich das bewusstlose Vernichten des Anderen zur Folge. Aber es besteht, zweitens, das Element der Hemmung auch selbst im tierischen Vernichten, obzwar dies die unmittelbare Bedingung des tierischen Lebens ist. Die Empfindung des Tiers ist gerade das ideelle Element der Hemmung. Die empfundene Idealität der befriedigten Begierde hemmt auch realiter, aber zu spät, das Vernichten.68 67 68 J I., S. 241-244. Das Tier überfrisst sich nicht, aber das Vernichten ist schon vollendet. 180 Diese Hemmung bedeutet schließlich, dass die ideale Empfindung und die reale Vernichtung der Befriedigung sich einander entgegenstehen, ja zudem im Widerspruch stehen. Dies bezeichnet die periodische Bewegung des einzelnen Lebens des Tiers im Kreislauf der Begierde. Daraus ist für die Geistesphilosophie zu folgern, dass die das schlechthinnige Vernichten voraussetzende Begierdenerfüllung ganz und gar kein Prinzip des menschlichen Lebens sein kann, dass das Vernichten im Genuss des Menschen bereits zugleich gehemmt ist durch das Bewusstsein von sich, wie die menschliche Begierde auch schon die ideell aufgehobene ist, und endlich, dass das Vernichten so nur als das gehemmte, also das gemäßigte oder insofern menschliche ist, als es bewusst das Erfüllen des anderen, des Höheren, bedingt. Die unmittelbare Hemmung des Vernichtens entsteht auch realiter beim Tier, wenn der Gegenstand seiner Begierde nicht Ding, sondern das andere, ihm gleiche Individuum ist. Die Geschlechtslust ist das reelle Element der Hemmung. In der Geschlechtslust findet das eine Individuum eben sich selbst im anderen und will dies andere also nicht vernichten, sondern sich selbst als gefunden im Anderen erfüllen. Hier ist das durch die bloße Begierdenerfüllung begleitete Vernichten des Anderen bereits gehemmt. Das sich Finden geschieht naturnotwendig durch die Empfindung, für die “die Individualität selbst als allgemeine” ist. Die allgemeine Individualität ist, wie charakteristisch für die tierische Empfindung, 69 die Individualität als ein ideell Allgemeines, das sich unmittelbar aus der ideellen Aufhebung des äußeren Individuums durch die Empfindung ergibt. Sie ist zudem nicht Einzelheit irgendeines Dings, sondern das Aufgehobensein des sich gleichen Individuums, das damit realiter in den Prozess der Gattung gerät. Das tierische Individuum findet in dieser Weise seine Individualität zwar lediglich als empfundene im Anderen, aber erkennt sie weder als auch dem Anderen gehörend noch auch seine eigene Individualität in sich, die vom Anderen gleicherweise empfunden wird, noch also das Andere als das Andere seiner selbst. Die Individualität des einen ist nur empfundene Idealität im und vom anderen her. Das Andere ist der Ort, worin die empfundene Individualität des ersteren besteht. Dies sich Empfinden entsteht aber gegenseitig, und das Individuum will sich damit auf seine ideelle Individualität im Anderen, also realiter auf das Andere beziehen. Diese Beziehung tritt als die Geschlechtsbeziehung 70 nach der Notwendigkeit der Gattung auf. Die 69 Siehe S. 97-102. Nach der sinngemäßen Unterscheidung zwischen Beziehung und Verhältnis, die zuerst in der Logik der zweiten Systementwürfe stattfindet, ließe es sich sagen, nur der Mensch hat das Geschlechtsverhältnis, in dem Sinne eines Verhältnisses als Bezüglichkeit der vielfachen Beziehung des Vielfachen. J II., S. 36-37. Baum, Manfred: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik, S. 248. Dagegen ist die Beziehung die einfache Verbindung des einen einfachen mit dem anderen. Während sich das Tier durch die einfache Begierde des Geschlechts auf anderes bezieht, verhält sich der Mensch durch die Vielfältigkeit der 70 181 Geschlechtsbeziehung hat “zuerst überhaupt die allgemeine Form der Begierde”. Die Begierde ist das Gefühl, die mangelhaft sinnliche Idealität in sich mit der äußeren Realität zu erfüllen. Aber in der geschlechtlichen Begierde ist die zu erfüllende Idealität des Individuums zwar als die Empfindung in ihm, aber als im Anderen bestehende Individualität getrennt von ihm. Die Geschlechtsbeziehung des Tiers besteht darin, das ideelle Aufgehobensein seiner Individualität als empfunden im Anderen mit seinem Sein zu erfüllen. Es ist nicht Begierdenerfüllung, das andere in sich einzusaugen und zu vernichten, sondern sich selbst ins andere einzugießen und zu füllen. In der geschlechtlichen Begierde ist “sein Seyn und sein Aufgehobenseyn in ihm zugleich und aus einandergehalten”, und dies, was auseinander gehalten und getrennt ist, zu vereinen ist die Geschlechtsbeziehung (J I.243). Hier ist das Aufgehobensein des Individuums nur als die Empfindung, also idealiter, entstanden, und realiter gehemmt. Diese gehemmte Aufhebung des Individuums, sein Sein aufbewahrend in die Einheit mit dem Anderen zu erheben, macht gerade den höheren Prozess der Gattung beim Tier. Aber die Geschlechtsbeziehung als der Prozess der Gattung ist für das Tier freilich “ein gehemmtes Vernichten durch Noth, oder ein absolut aüsseres”.71 Denn die Empfindung seiner Individualität in der Geschlechtslust entsteht und entwickelt sich aus der natürlichen Not zur Geschlechtsbeziehung. Die Hemmung des Vernichtens kommt dagegen im Geschlechtsverhältnis des Menschen zur bewussten Vollziehung. Die selbstbewusst gestaltete Totalität des Individuums ist “in der Trennung der Geschlechter” realisiert. Die Gestalt des Individuums als Totalität hat nur die geschlechtliche Differenz. Die hieraus entstehende Begierde wird, wie beim Tier, notwendig gehemmt, aber nicht aus der natürlichen Not, sondern gemäß der bewussten Notwendigkeit. Das Bewusstsein des Individuums ist hier vor allem frei von der Tätigkeit des Gegensatzes, die die natürliche Begierde erfordert. Das freie Bewusstsein ist das Bewusstsein des in seinem Erzeugnis realisierten Selbst. Das Vernichten dieses Erzeugnisses ist also idealiter schon gehemmt durch das Bewusstsein der Erfüllung seiner selbst. Das erfüllte Selbst ist seine gestaltete Totalität. Seine Erfüllung der Begierde ist der Genuss seiner selbst im Erzeugnis. Und wenn nun das andere Individuum als die gleiche Totalität geschlechtlich begehrt wird, steht diese Begierde auch nicht in der natürlichen Not, sondern im Genuss der gleicherweise gestalteten Totalität des anderen. Die geschlechtliche Begierde des Menschen soll nicht zwangsläufig befriedigt, sondern kann bewusst genossen werden. Im menschlichen Begierde zum anderen Geschlecht. 71 Der abgeschnittene erste Satz des Fragments 21 in der ersten Geistesphilosophie könnte so rekonstruiert werden. 182 Geschlechtsverhältnis des Menschen wird das Vernichten nicht wegen seiner im Anderen empfundenen Individualität natürlicherweise und äußerlich gehemmt, wie beim Tier. Sondern das Individuum selbst “hemmt das Vernichten im Genusse, durch sich selbst”, durch das Bewusstsein seines Selbsts, das im begehrten Anderen erkannt wird. Im Genuss der geschlechtlichen Begierde wird das Vernichten daher völlig gehemmt und überwunden. Dagegen im Fall des Tiers ist die Grenze zwischen Erfüllungen der Lebens- und der Geschlechtsbegierde äußerlich und unbestimmt, also kann in der besonderen Spezies das Vernichten in jener Begierde auch in dieser geschehen. Das Bewusstsein des begehrten Anderen ist das Bewusstsein des Selbsts im Anderen. Dies Andere soll nicht vernichtet, sondern erfüllt werden. Die gegenseitige Erfüllung der Individuen basiert daher nicht auf der wechselseitigen Anerkennung, oder darauf, dass, wenn ich das andere vernichten will, es auch mich vernichten will. Sondern die Hemmung des Vernichtens gründet sich auf das gegenseitige Erkennen des Selbst im Anderen, daher ist das, was als anerkannt gesagt werden kann, nur das, was in der natürlichen Weise als Selbst erkannt ist. Das Erkennen des Selbsts im Anderen entsteht durch die Begierde nacheinander natürlicherweise, aber vollzieht sich zugleich durch das freie Bewusstsein. Und zwar wird das erkannte Selbst zugleich als das Selbst im Anderen für mich, also des Anderen meiner selbst erkannt. Wegen dieses Bewusstseins werden die als zwei Geschlechter gestalteten Individuen “zu Bewußtseyn füreinander” und zugleich “zu für sich seyenden, bestehenden” Bewusstsein gemacht. Dies bedeutet, dass die Beziehung der Individuen in der geschlechtlichen Begierde in erster Linie die Beziehung zwischen ihren Bewusstsein ist. Jedes ist, wie es für sich ist, “sich seiner bewußt für sich” “in dem Bewußtseyn des andern”, und auch für das Bewusstsein des anderen ist es ebenfalls als für sich (J I.301). Wegen der Beziehung des selbstständigen Bewusstseins wird auch die Geschlechtsbeziehung nicht die animalische Begattung, sondern “eine ideale” Beziehung, in der zuerst die Vereinigung eines Bewusstseins mit dem anderen vollbracht wird. Die ideale Geschlechtsbeziehung geht über die jeweilige leibliche Verbindung hinaus und ermöglicht die bewusste Einheit der Individuen. Als diese Einheit verwaltet und leitet sie eher die reale Begattung. Eben aus diesem Grunde ist die Sexualität nicht bloß der Gegenstand der nötigen Begierde, sondern ferner des Genusses. Dieser Genuss setzt also die Vereinigung des Bewusstseins voraus. Aber des Weiteren, wenn sich die Begierde des Menschen vom Zusammenhang des sexuellen Genusses befreit und zur Begierde des Bewusstseins selbst, der bewussten Einheit wird, die nichts anderes als das unmittelbare Einssein beider “in dem absoluten für sich seyn beyder” ist, ist sie eben die “Liebe”. Während der sexuelle Genuss abhängig vom Zirkel der natürlichen Begierde ist, ist die bewusste 183 Begierde selbst “eine bleibende Verbindung” des Bewusstseins (J I.302). Die Liebe ist so eine bewusst bestehende Einheit. 3.2. Liebe und Ehe Die Liebe als ein Thema des frühen Hegel, das bald als “das Grundprincip des empirischen Charakters” mit den moralischen Empfindungen (FS 101), bald als vereinigende Tätigkeit des Lebens (N 322) in Betracht gezogen wurde, ist hier als ein Moment der Bewusstseinslehre aufgestellt. Dadurch bekommt sie, verglichen mit ihrer frühen Bestimmung, den konkreteren Inhalt der Vereinigung als Einheit des Bewusstseins und zudem als Mittel der äußeren Realisierung; und Hegel entwickelt dies an den Themen ‚Ehe’, ‚Familienbesitz’ und ‚Kind’. Der Genuss in der Liebe besteht nun nicht in der jeweiligen Befriedigung der wiederkehrenden Begierde, sondern gerade in dem “Anschauen seiner selbst in dem Seyn des andern Bewußtseyns”. Der Genuss als dies Anschauen ist beständig, indem beide als das bewusste Einssein bleiben. Die Beziehung der Liebe ist “eine so bleibende als das Seyn beyder”. Umgekehrt bestehen beide nun lediglich in der Beziehung der Liebe. Diese Beziehung selbst ist “das Seyn beyder”. Die als ihr Sein bestehende Beziehung ist als eine objektive eben die “Ehe”. Die Ehe ist die objektiv realisierte Beziehung der Liebe, in der jedes Bewusstsein “gegenseitig in dem Bewußtseyn des andern” “als seine ganze Einzelnheit” besteht. Sie ist die erste objektive Mitte, in der die Vereinigung des für sich seienden Bewusstseins durch die Liebe frei realisiert wird. Sie ist das Ergebnis der freien Handlung, durch die das Individuum als die gestaltete Totalität auch sich als das Bewusstsein von diesem Selbst realisiert. Hier ist starker Nachdruck darauf zu legen, dass sich das Selbstbewusstsein des Individuums als Totalität nur vermittels des gleichen Bewusstseins des Anderen verwirklichen kann. Denn die vollständige Selbstrealisierung des Bewusstseins, insofern es um das zu realisierende Bewusstsein geht, kann auch nur als das realisierte Bewusstsein zum Bewusstsein kommen. Das Bewusstsein einer Totalität lässt sich nur durch das Bewusstsein einer anderen gleichen Totalität als solches erkennen. Die Erkenntnis der gleichen Totalität ist als menschliche Begierde die Liebe und deren Objektivierung die Ehe. Die Ehe ist die erste “ganz gemeinsame Existenz”, in der die “ganze Einzelnheit” jedes Individuums als Totalität besteht (J I.302). Die ganze Einzelheit des Individuums als Totalität hat die Gemeinsamkeit zur Bedingung. Dies ist eben das ontologische Spezifikum des bewussten Seienden. Das, was Hegel bereits in der Frankfurter Zeit über den Geist gesagt hat, den als solchen “nur der Geist erkennt” (N 305), gilt hier auch für das Bewusstsein, das als die erste 184 Existenzform des Geistes entwickelt wird. Und gerade aus diesem Grunde lehnt Hegel die kontraktualistische Erörterung72 der Ehe ab. Die Ehe ist gar kein Vertrag beider, die sich für irgendeinen besonderen Zweck zusammenschließen. Sie ist die Einheit mit dem ganzen anderen, in der die Totalität eines jeden als seine bewusste Natur selbst bestehen bleibt. Sie ist daher die Existenzform über die Einzelheit hinaus, in der jeder Einzelne als Totalität existiert. Jedes Individuum realisiert sich durch die Vereinigung des Bewusstseins seiner Totalität mit dem anderen über seine Einzelheit hinaus. Die Ehe, in der jedes das totale Bewusstsein hat oder “die Totalität das Bewußtseyn eines jeden ist”, ist daher eher ein heiliges Band, das das Endliche anhand seiner Bewusstheit über seine Einzelheit hinaus verwirklicht (J I.302). Während die Liebe in der ersten Geistesphilosophie von der menschlichen Begierde ausgehend die bewusste Einheit beinhaltet, wird sie in der zweiten Geistesphilosophie als Einheit durch den Akt des Wissens zwischen den extremen Charakteren des entzweiten Willens erklärt. Sie ist damit dem Kontext der Begierde entzogen und mehr 72 Die Zielscheibe seiner Kritik ist vor allem das damals getrennt veröffentlichte Werk Kants, die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre (1797), der erste Teil der Metaphysik der Sitten. Dieses Werk studierte Hegel bereits in der Frankfurter Zeit mit strengem Blick und übte in mehreren Jenaer Schriften Kritik daran, insbesondere bezüglich der Ehe, so im System der Sittlichkeit. J I., Anhang, S. 384. HH, S. 18, 146, 152. SE, S. 308-309. Kant definiert die Ehe als die ‘natürliche Geschlechtsgemeinschaft’ ‘nach dem Gesetz’, die aus dem Vertrag und der realen Beiwohnung als Leistung des Vertrags besteht. Der Zweck desselben ist die rechtliche Legitimation des Genusses der Geschlechtsorgane, in der aber das Kindererzeugen nicht verpflichtend ist, sondern dies ist nur der ‘Zweck der Natur’, der durch den Ehevertrag unerklärbar ist. Daher haben die Eheleute gegeneinander und gegenseitig mit ihren einmal erzeugten Kindern nur rechtliche Pflichten und, demgemäß in der Tugendlehre, nur moralische Rechte und Pflichten. Ihr Recht aber gehört sogar dem ‘zugleich auf dingliche Art’ persönlichen Recht, aufgrund des Vertrags oder in der Erziehung die Person als die Sache zu handhaben. Hierin ist kein subjektimmmanenter Anlass zur Ehe und Kindererzeugung, sondern es werden lediglich die äußeren Elemente des Vertrags um des Zweckes jedes einzelnen willen erklärt. Die Äußerlichkeit des Vertrags kommt im rechtlichen Zustand des Staates aus dem ursprünglichen Kontrakt zum Ausdruck: ‘Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk’ ‘in praktischer Absicht unerforschlich: d. i. der Untertan soll nicht über diesen Ursprung’ ‘werktätig vernünfteln’, sondern er hat nur die Pflicht des Gehorsams. Solche Forschung bleibt endlich noch Monopol des Lehrers der Vernunft, wie schon in der vorigen Kritik Hegels gesehen. MSr, AB106-116, A168-174 (B198-204). Dagegen führt Hegel die Liebe als das bewusstseinsimmanente Moment vor und zu der Verehelichung ein, überwindet dadurch den kontraktualistischen Gedanken der Ehe. Hierbei ist der Einfluss Fichtes in der Grundlage des Naturrechts (1796) nicht zu übersehen. Er betrachtet die Liebe, unter deren Gestalt der Geschlechtstrieb des Weibes erscheint, als den innigsten ‘Vereinigungspunct der Natur, und der Vernunft’, und lokalisiert sie zusammen mit der entsprechenden ‘Grossmuth’ des Mannes innerhalb der Ehe, die ‘kein erfundener Gebrauch, und keine willkürliche Einrichtung’, sondern ‘ein durch Natur, und Vernunft in ihrer Vereinigung nothwendig, und vollkommen bestimmtes Verhältnis’, also sich selbst ‘ihr eigener Zweck’ ist. Daher gründet sich das Eherecht ‘gar nicht auf einen besonderen willkürlichen Vertrag’, wenn auch auf den anderen, fundamentalen ‘Bürgervertrag’ mit dem Staat, dessen Recht ursprünglich als Zwangsrecht fungiert. Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 310-318. Dieser Vertrag der Bürger mit dem Staat ist für Hegel allerdings ebenfalls nicht realistisch. Bei ihm ist die Ehe die Ursache des Ehevertrags, umgekehrt wie bei Kant, und der Ursprung des Rechts ist kein erdichteter Sozialvertrag wie bei Fichte, sondern, wie zu sehen, schlechthin das gegenseitige Anerkanntsein der Personen in der Beziehung, das äußerlich zu realisieren und realisiert ist. 185 mit dem geistigen Inhalt durchsetzt. Daher fällt hier das Wissen jedes Charakters voneinander ins Gewicht. Aber wie oben analysiert, ist der Charakter im Extrem der Einzelheit nicht von Beginn an zum Wissen gelangt, sondern bleibt zuerst als die Spannung in der Tätigkeit des Gegensatzes, als das nichtwissende Treiben zum Wissen am Tag der Arbeit. Er bringt durch seine einzelne Tätigkeit im Grunde genommen das Allgemeine hervor, das das Werkzeug und viele Produkte ermöglicht, und gelangt dadurch auch zum Wissen, dass sein Einzelnes ein Allgemeines ist. Dagegen ist der kontemplative Charakter im Extrem der Allgemeinheit des Willens bereits “das Wissende” von der Aufhebung des Einzelnen in der Tätigkeit, wodurch das Allgemeine hervorgebracht wird. Jener männliche Charakter ist zwar zuerst mehr einzeln und unwissend, aber tätig und aktiv. Dieser weibliche ist zwar mehr allgemein und wissend, aber zuerst untätig und passiv. Diese Passivität aber bedeutet gar keine völlige Untätigkeit im negativen Sinne. Sie bedeutet einerseits, in der unmittelbaren Beziehung beider das Objekt des Triebes des Mannes zu werden. Sie ist anderseits aber als das zu erreichende Wissen der Zweck des Triebes und der Tätigkeit. Der feminine Charakter bleibt ruhig, aber zugleich das Andere zur Bewegung zu sich veranlassend. Seine Passivität ist Passivität als der Reiz zur Tätigkeit und sein Wissen causa finalis derselben. Der maskuline Charakter ist dagegen nur als gereizt, also als im Grunde passiv tätig. Seine Tätigkeit ist insofern causa efficiens des Wissens, als sie zum Wissen gelangen wird. Damit beide Extreme des Willens vereint werden, muss zunächst “das Wissen” des weiblichen Charakters ins “Erkennen” übergehen, weil dieser zu Beginn als Wissen bleibt (J III.208). Hegel wendet hier die Beziehung der beiden Charaktere auf die Struktur ihres Wissens an und unterscheidet dies Wissen vom Erkennen, zu dem es sich in ihrer Beziehung entwickelt. Die Form des Wissens überhaupt ist bekanntlich die Verbindung des einzelnen Gegenstandes und seines allgemeinen Attributs durch die Kopula. Also z. B. „diese Rose ist rot“. Das Einzelne ist das Allgemeine. Aber auf dem Standpunkt des Subjekts des Satzes ist diese Rose nicht im Wesentlichen so rot, in dem Maße, wie der allgemeine Begriff des Prädikats impliziert. Sie besteht lediglich in der Bewegung, ihr Wesen als das Rot zu realisieren. In diesem Sinne ist das Einzelne allgemein. Dagegen, auf dem Standpunkt des Prädikats, drückt das Rot nicht alle Wesentlichkeiten aus, die diese Rose als mannigfaltige Attribute hat. Es besteht in der Beziehung auf ein Attribut dieser Rose, in der es als ihr Rotes realisiert ist. In diesem Sinne ist das Allgemeine einzeln. Der Grund dafür, dass der Satz zustande kommt, ist daher, dass beide das Einzelne und Allgemeine des Rots selbst sind. Also, das Einzelne ist das Allgemeine in der Beziehung, die das Allgemeine als die Einheit beider selbst, 186 als das Rot selbst und im Satz als die Kopula ausdrückt. Insofern die Beziehung der Extreme des Willens die Beziehung des Wissens ist, können an beide Stellen des Satzes der einzelne Charakter des Mannes und der allgemeine der Frau treten. Weil sich der einzelne Charakter, obzwar in seiner Tätigkeit gegen andere einzelne, auf sich, also auf das Allgemeine in sich bezieht und dies durch die Tätigkeit realisiert, ist er allgemein. Der allgemeine weiß sich als die Realisierung des Allgemeinen und ist als dieses Selbst einzeln. Das Wissen eines jeden besteht eben darum, weil jeder an sich das ist, was das Andere ist. Und wenn das Wissen die Verbindung des Einzelnen und Allgemeinen ist, ist das Wissen des Grundes dieser Verbindung als Selbst gerade das Erkennen. Das Selbst eines jeden ist hier das Allgemeine eben als die Einheit des Einzelnen und Allgemeinen, die das Wissen eines jeden ermöglicht. Das Wissen von diesem Selbst als Grund jedes Wissens oder vom Selbst, das in seinem Anderen zum Wissen wird, das Wissen seines Wissens oder mit einem Wort dies doppelte Wissen ist das Erkennen. Das Erkennen ist daher Hegel zufolge “eben das gegenständliche in seiner Gegenständlichkeit als Selbst wissen”. Selbst in der oberen Struktur des einfachen Wissens ist das Moment dieses Erkennens enthalten. Der Satz „diese Rose ist rot“ kommt zustande nicht nur darum, weil das Allgemeine als die Einheit der beiden Glieder besteht, sondern auch, weil es zu mir gehört und in mir geistig anwesend ist. Ein Wissen zu haben ist in der Hinsicht der Reflexion qualitativ verschieden vom Wissen meines Selbst in meinem Wissen. In jenem Falle weiß ich bloß, dass diese Rose rot ist. Hingegen im letzteren Falle weiß ich das gegenständliche Wissen als meines, als mein Selbst, das es hat. Während in jenem diese Rose ein Gegenstand bleibt, der die Eigenschaft ‚rot’ hat, ist sie in diesem meine Rose, in der das von mir gewusste Rot als objektiv realisiert erkannt wird. Das gewusste Wesen eines Gegenstandes ist identisch mit dem das Wesen wissenden Ich. Gerade aus diesem Grunde beziehe ich mich als das wahrhaft Allgemeine auf Einzelnes in der Welt, obwohl ich auch wie diese Rose oder jener Baum einzeln bin. Das Erkennen ist also in meinem Wissen die Identität des Gekannten mit mir zu er-kennen. Diese Reflexion von uns auf das Wissen muss auch für beide Charaktere werden. Das Allgemeine des weiblichen Charakters ist nach unserer Reflexion bereits das Einzelne als “das wissende Selbst”. Gleichfalls ist das Einzelne des männlichen das Allgemeine als “das auf sich beziehen”, insofern seine Beziehung auf einzelne Gegenstände in der Tätigkeit nicht indifferent, sondern die Beziehung auf diejenigen einzelnen ist, die seiner Einzelheit gleich werden sollen. Das Wissen beider voneinander entsteht dadurch, dass das Wissen des ersteren Charakters das “Anschauen seiner selbst” als des aus dem Zusammenhang der Arbeit zurückgekehrten Triebes ist. Insofern dieser Trieb 187 angeschaut wird, ist er als die Mitte zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen schon “Wissen geworden, dessen was er ist”. Die Entzweiung des Willens ist die Entzweiung in den Charakter des zum Wissen gelangten Triebes und den des noch bleibenden Triebes zur Tätigkeit. Jener angeschaute Trieb ist verschieden von diesem einfachen Trieb, in dem Sinne, dass im Wissen jenes Triebes auch das Selbst als Trieb durch das Anschauen gewusst wird. Dagegen ist der Trieb des männlichen Charakters noch nach außen gerichtet. Daher wird nun das Wissen des weiblichen Charakters “am Entzweyen” des Willens “die Mitte” zwischen beiden Charakteren. Während in der Beziehung eines Charakters, oder allgemein des Willens auf äußere Gegenstände, der Trieb des männlichen Charakters das Hauptprinzip ist, ist es in der Beziehung zwischen den Charakteren das Wissen des weiblichen Charakters. Hieraus wird auch bemerklich, dass die Aktivität und die Passivität jedes Charakters in der externen Tätigkeit hier, in der internen Beziehung zwischen den Charakteren, umgekehrt sind. In dieser Beziehung weiß der feminine Charakter sich gegenständlich, d. i. im Anderen. Weil sein Wissen das Wissen vom Selbst als dem zurückgekehrten Trieb ist, weiß er “sein Wesen” “im Andern” als dem noch tätigen Trieb, in dem als in der Spannung sein Wesen als selbstständiges Selbst ist. Der feminine Charakter ist das Allgemeine, das im Anderen sich als das selbständige Einzelne weiß. Demgegenüber weiß der maskuline Charakter, dass das, was er ist, als das Wissen im Anderen gewusst wird. D. h. er weiß endlich sein selbständiges Wesen in der Tätigkeit, das im Anderen allgemein prädiziert und gewusst wird. Er ist das Einzelne, das im Anderen, im Wissen des Anderen, sich als das selbstständige Allgemeine weiß. So wird zwischen beiden Extremen des Willens das Wissen des ersteren Charakters die Mitte, und damit wird das Gespanntsein des letzteren die “Selbständigkeit beyder” (J III.209). Jeder ist nun die selbständige Einheit des Allgemeinen und Einzelnen, obwohl diese dem Grade nach verschieden ist. Jeder hat dem Extrem des Willens entzogen die Allgemeinheit des Wissens und zugleich die Einzelheit des Triebes. Er ist die “erste Einheit der Intelligenz und des Willens” als die “ganze Totalität”. Er ist das “selbstständige Ich”, das sich allgemein weiß und einzeln handelt. Nun erst ist der Charakter nicht im Extrem, sondern im realen Sinne männlich oder weiblich. Die Frau ist das Wissende, “Trieb zu erwecken, und ihn sich an ihm befriedigen zu lassen”, und der Mann der Hinaustreibende, um gewusst und befriedigt zu werden (J III.208). Jene ist das Getriebene durch den Trieb, den sie weiß, und dieser der Gewusste durch das Wissende, das er begehrt und treibt. Jene ist im Trieb passiv, im Wissen aktiv und dieser umgekehrt. Jene ist des Weiteren das aktiv Wissende, durch den aktiven Trieb des Anderen sich befriedigen zu lassen, und dieser das aktive Treibende, durch das aktive 188 Wissen des Anderen sich zu befriedigen. Beide sind “in der Form des Wissens füreinander” und zugleich in der Form des Triebes gegeneinander gespannt, “selbstständig” entgegengesetzt. Diese Entgegensetzung der Selbstständigkeiten aber schlägt vermittels des Wissens voneinander in die Gleichheit um. Jeder ist dem Anderen gleich darin, dass er ihm als selbstständiger entgegengesetzt ist. “Sein sich unterscheiden vom Andern” wegen seiner Selbstständigkeit ist “daher sein Sichgleichsetzen mit ihm” (J III.209). Jeder weiß diese Gleichheit im Anderen. Dies Wissen ist schon doppelt und ins Erkennen übergegangen. Das Wissen ist hier nicht bezüglich des äußeren Gegenstandes, sondern “im Innern selbst” beider gegenseitig entfaltet. In diesem Wissen wirkt freilich das Element des Triebs zwischen beiden. Aber der Trieb zwischen Mann und Frau ist nicht nur instinktiv stimuliert, sondern hat ferner den Inhalt des Wissens von einander. Eben deswegen ist der Reiz als der Trieb der Frau nicht nur passiv, sondern veranlasst darüber hinaus geistig die Erregung des Mannes, ist daher selbst erregend. Der “Reitz ist selbst eine Erregung”. Auch umgekehrt ist die Erregung des Mannes als das wissenstätige Wesen der Frau geistig reizend. Nur dies Selbsterkennen im Anderen kann die Liebe sein. Die Liebe aber hat des Weiteren den Verzicht eines jeden auf seine Selbstständigkeit zur Bedingung. Insofern jeder sich selbst im Anderen weiß, wird die Entgegensetzung beider aus ihrer Selbstständigkeit her aufgehoben. Dadurch nähern sie sich einander, was bereits das Aufgeben der Selbstständigkeit bedeutet. In dieser Annäherung weiß jeder auch, “daß das Andre sich ebenso in seinem Andern weiß”. Dafür hebt jeder auch sich als für sich seiend auf und wird “sein Seyn für anderes”, in dem er auch sich weiß. Die Reziprozität dieses Erkennens ist die letzte Bedingung der Liebe. Wegen des Selbsterkennens im Anderen und um des ebenfalls erkennenden Anderen willen seine Selbstständigkeit aufzuheben und sein Wesen im Anderen zu haben, ist eben die Liebe. In Vergleich zur ersten Geistesphilosophie lässt sich die Liebe hier in drei Hinsichten charakterisieren. Zunächst ist sie das Resultat des Verzichts auf die Selbstständigkeit und der Selbstaufhebung, während sie dort als das unmittelbare Einssein beider auftritt. Dies Moment der Selbstaufhebung kommt in der ersten Geistesphilosophie erst im Kind zum Vorschein, das die objektive Realisierung ihres Einsseins ist. Das Kind ist nach der zweiten Geistesphilosophie auch das objektive Geschöpf der Selbstaufhebung beider. Aber dadurch, dass die zweite Geistesphilosophie von Anfang an in der Liebe als einer Art Vereinigung das Moment der Selbstaufhebung aufstellt, gewinnt sie mehr an Konsequenz. Denn die Vereinigung bzw. die Einheit schließt das Moment der Aufhebung beider Glieder in sich ein. Naturphilosophisch werden beide durch das jeweils Andere aufgehoben und vereint. Dagegen ist die Aufhebung in der 189 Geistesphilosophie immer die Selbstaufhebung, sei es natürlich, sei es unumgänglich entstanden. Die Liebe enthält die spontane Selbstaufhebung, die aus der Natur des Menschen entspringt. Demgegenüber wird für die Vereinigung als die gesellschaftliche Beziehung eine bewusste Selbstaufhebung durchgeführt, die durch den Zustand des Kampfes zwangsläufig erfordert wird, wie bald gezeigt werden wird. Außerdem verdeutlicht die zweite Geistesphilosophie die Liebe eben als “das Element der Sittlichkeit”. Die Liebe zeigt in ihrer natürlichen Beziehung potenziell das grundlegende Element der gesellschaftlich-staatlichen Beziehung. Ohne diese natürliche Neigung der Vereinigung und der Selbstaufhebung würde der Kampf um Anerkennung nur als Kampf bleiben. Die Auflösung des Kampfes gründet sich auf das Selbstbewusstsein von dieser Natur des Menschen. Aber dies besagt nur die Fähigkeit zur Gestaltung der sittlichen Welt, nicht das Realprinzip derselben. Dass die Liebe selbst als das subjektive Prinzip nicht einfach in die Gesellschaft erweitert werden kann, belegte schon der Fall Jesu in der Jugendschrift Hegels. Sie ist noch nicht die Sittlichkeit selbst, sondern “nur die Ahndung derselben”. Durch die Liebe erklärt ist nur ein “natürliches Individuum, sein ungebildetes natürliches Selbst”, das durch das Andere natürlicherweise “anerkannt” ist (J III.210). Hier ist daher nicht die Tätigkeit erläutert, sondern das Werden des sittlichen Subjekts.73 Drittens liegt die merkwürdige Differenz der zweiten Geistesphilosophie darin, dass auf dieser Stufe keine Rede von der Ehe ist. Stattdessen schließt daran die Darstellung des Familienbesitzes an, die in der ersten Geistesphilosophie fehlt. Diese Differenz ergibt sich höchstwahrscheinlich aus der Erwägung, dass die Ehe selbst nicht das unmittelbare Ergebnis der Liebe ist, sondern vielmehr die Eigenschaft der noch nicht erreichten gesellschaftlichen Beziehung hat.74 Die Einheit durch die Liebe wird begrifflich zwar als die gemeinsame Basis des Lebens, d. i. als der Familienbesitz und als das vereinte Individuum, d. i. als das Kind, objektiviert, aber nicht notwendig als die Ehe, die die institutionelle Vermählung voraussetzt, also die interpersönliche und zugleich gesellschaftliche Handlung beider ist. 73 Dies ist ein inhaltlicher Beleg für Hegels Konzeption der gesamten Jenaer Geistesphilosophie als Philosophie der Sittlichkeit. Siehe S. 85-88. Unmittelbaren und großen Einfluss auf diese Konzeption übt Kimmerle zufolge die Skizze des Naturrechtsaufsatzes aus. Kimmerle, Heinz: Die Staatsverfassung als „Konstituierung der absoluten sittlichen Identität“ in der Jenaer Konzeption des „Naturrechts“ HR, S. 133-134. 74 Eine Differenz beider Geistesphilosophien liegt auch in der sorgfältigeren Distanzierung Hegels von Fichte, der in der Grundlage des Naturrechts eben die Liebe und folgend den Beischlaf als den wirklichen Vollzug der Ehe ansieht. Ihm zufolge ist die Trauung vor dem geistlichen Gericht nur die sekundäre Handlung zum Gewinn der moralischen Gerechtigkeit von der Gesellschaft und der juridischen Gültigkeit vom Staat her, dessen von einer absolut freien Handlung der Person, wie der Ehe, absolut getrenntes Recht erst durch den Erweis der ehelichen Erklärung berechtigt wird, als Zwangsrecht das Recht der Eheleute zu schützen. Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 322-325, 332-333. 190 Sie beinhaltet zwar begrifflich die Familie, aber noch nicht die Ehe, die später als institutionell in der Gesellschaft zu betrachten ist. Die Darstellung des Familienbesitzes in der zweiten Geistesphilosophie lässt sich so lesen, dass sie die erste Geistesphilosophie völlig ergänzt. 3.3. Familienbesitz und Kind Die Ehe ist de facto auch in der ersten Geistesphilosophie eher im Sinne der Lebensgemeinschaft als der geschlossenen Ehe erwähnt. Sie ist selbst nur die Einheit des Bewusstseins beider als die objektiv realisierte Beziehung, nicht die objektive Entelechie der Einheit selbst als das Seiende, in dem ihr Einssein verkörpert ist. Sie ist lediglich die objektiv gesetzte Beziehung ihres Einsseins, die nichts anderes als ihre Lebensgemeinschaft ausdrückt. Die Einheit beider ist noch auf das Bewusstsein beider voneinander angewiesen, und die Rolle der Mitte spielt hier notwendig noch das Bewusstsein, das aber in der objektiven Beziehung nun “ihre existirende Einheit” ist. Weil diese Einheit nicht nach der äußeren Notwendigkeit, sondern durch das Bewusstsein von der Identität der freien Individuen entsteht, ist sie die Mitte, in der sie eins sind, aber zugleich, an der sie sich abscheiden, d. i. die “Mitte, worin sie sich für Eins als aufgehobene ihres Gegensatzes erkennen” und worin “sie sich ebendarum wieder entgegengesetzt sind”. Weil sie “nur als Bewußtseyn Eins” sind, ist ihre Einheit ebenso “nothwendig ein Bewußtseyn”, das als die Mitte für sich seiend ist (J I.303). Damit ihre Einheit die Einheit wird, in der sogar ihre Entgegensetzung als der existierenden Individuen überwunden ist, muss ihr selbst das existierende Bewusstsein ebenso als die gestaltete Totalität werden. Die Totalität, in der das eine Bewusstsein gestaltet und verkörpert wird, ist gerade das Kind. Die zweite Geistesphilosophie behandelt als Gegenstand der befriedigten Liebe vor dem Kind den Familienbesitz.75 Die Liebe ist das Sein beider für anderes, in dem ihre Selbstständigkeit aufgehoben ist. Die Befriedigung der Liebe ist die Vereinigung des Erregenden und des Reizenden vermittels des Wissens voneinander. Die befriedigte Liebe ist als das Vereinte unterschieden von beiden Charakteren, also “das dritte, das Erzeugte”. Dies Erzeugte ist gleichfalls nicht nur vom Erkennen beider abhängig, sondern muss auch für sie bestehen. Es lässt sich zuerst als die “unmittelbare Dingheit” vergegenständlichen. Denn wenn die Liebe das Sein für anderes im gegenseitigen 75 Wenn Hegels Lehre vom Charakter die Ethik im Aristotelischen Sinne ist, fängt hier nun die Ökonomie als die Aristotelische Wissenschaft des Haushaltes, d. i. οικος, an, die das gemeinsame Leben von Mann, Frau, Familiengut und Kind behandelt. Aristoteles: Oeconomica, 1343a-1345b. HH, S. 162. 191 Erkennen ist, wird die befriedigte Liebe “das Andersseyn” als die Realisierung des Erkennens sein, in dem jeder mit dem Anderen als dem Anderen seiner selbst vereint ist. Dies Anderssein kann in der dinglichen Gestalt alles Äußere sein, was ihr gemeinsames Leben bedingt, wie Haus, Grundstück, Werkzeuge u. a. Der Inbegriff dieses Äußeren ist eben der “Familienbesitz”. Aber dies Erzeugte ist nicht das realisierte Erkennen selbst beider, sondern lediglich der entäußerte Gegenstand desselben. Das Ding kann gar nicht das existierende Erkennen selbst sein. Der Familienbesitz ist nur das Medium des Erkennens, das “Mittel der Liebe”, nicht das Vorhandensein derselben. Das, was im Familienbesitz realisiert ist, ist gleichsam das Werkzeug der Liebe, das aber nicht aus eigenem Antrieb tätig ist. Daher erkennen beide wiederum ihre befriedigte Liebe nicht im Werkzeug, sondern nur “durch die gegenseitige Dienstleistung” vermittels des Werkzeugs. Diese gegenseitige Dienstleistung ist nichts anderes als die Führung des gemeinsamen Lebens. Aber wie das Werkzeug die allgemeine Beziehung der Arbeit ist, so ist der Familienbesitz andererseits auch “ein Allgemeines” als “die dauernde bleibende Möglichkeit” ihrer gemeinsamen Existenz, obzwar er als einzelnes Ding existiert (J III.211). Daher, wie die konkrete Arbeit im unmittelbaren Gebrauch des Werkzeugs liegt, besteht die Wirklichkeit der Liebe im Betreiben des Familienbesitzes, das “durch die gemeinschafftliche Arbeit” füreinander durchgeführt wird. Der Familienbesitz ist also zugleich das Mittel ihrer Liebe und das Werkzeug ihrer gemeinschaftlichen Arbeit. Und das Interesse an diesem gemeinsamen Erwerb um der Liebe willen ist Hegel zufolge erst die menschliche oder “vernünftige, geheiligte” Begierde, die sich im eigentlichen Sinne dem Menschen zuschreiben lässt. Die Begierde ist nur als das Interesse an der allgemeinen Tätigkeit aus dem Erkennen der Gleichheit mit dem Anderen menschlich. Natürlicher Beleg dafür ist eben die gemeinschaftliche Tätigkeit wegen der Liebe. Des Weiteren wird das Erzeugnis ihrer Arbeit nicht unverzüglich verbraucht, sondern im Familienbesitz als der dauerhaft allgemeinen Möglichkeit ihres Lebens aufbewahrt. Der Familienbesitz, der in dieser Weise erhalten und akkumuliert wird, ist das “Familiengut”, das, insofern die Familie durch Generationen dauert, “die allgemeine Möglichkeit” und zugleich “auch die allgemeine Wirklichkeit” ihres Genusses ist. Es ist vor allem “ein unmittelbar geistiger Besitz”, in dem die Familie als die Einheit vorhanden ist. Aber das Familiengut als das Mittel der Liebe enthält ferner das Moment der höheren Tätigkeit als das Werkzeug der Arbeit. Hierin liegt die Vortrefflichkeit und zugleich Beschränktheit des Familiengutes. Während das Werkzeug nur das Arbeitende und das zu Bearbeitende vermittelt, schließt das Familiengut auch “selbstbewußte Thätigkeiten” von beiden zusammen. In diesem Punkt ist es dem Werkzeug der Arbeit überlegen. 192 Dennoch hängt die Einheit der Tätigkeiten nicht vom Familiengut selbst, sondern vom Erkennen beider Charaktere ab. Das Familiengut ist als das Ding nicht mehr als das Werkzeug. Denn es ist gar keine erkennende Tätigkeit selbst, wie das Werkzeug nicht selber arbeitend ist. Es ist noch nicht die vergegenständlichte Liebe selbst, weil deren Erkennen noch in beiden Charakteren, in ihrem Selbstbewusstsein, liegt. Es ist noch nicht das Erzeugte, das von ihnen unterschieden und selbstständig ist. Es ist lediglich die Einheit, die sich als die Liebe nicht erkennen kann. Deshalb ist es für die Befriedigung der Liebe noch unbefriedigend. Daher, insofern die Liebe im gegenseitigen Erkennen besteht, muss die zu verwirklichende Liebe auch ein existierendes Erkennen selbst sein, das beiden gegenüber für sich seiend ist, d. i. ein sich “erkennendes Erkennen” (J III.212). Es ist gerade das Kind, in dem die Liebe für sich wird und selbstbewusst besteht. Das Kind ist die befriedigte Liebe, die selbst als das Erkennen existiert, und die Einheit als das dritte, die selbst für sich wird. Jeder Charakter war bekanntermaßen vor der Liebe bereits die Einheit der Intelligenz und des Willens als die Totalität des Individuums. Das Kind zeigt nun das für sich Werden dieser Totalität als das Bewusstsein durch die Liebe beider. Dies ist nicht einmal different vom für sich Werden des totalen Bewusstseins in der ersten Geistesphilosophie. Das Kind ist auch nach der ersten Geistesphilosophie eine gestaltete Totalität als Individuum, in dem die Einheit der beiden selbstständigen Bewusstsein äußerlich realisiert ist. Und insofern die Einheit beider ein Bewusstsein ist, ist das Kind das Werden dieses einen Bewusstseins zum totalen Bewusstsein in seiner Individualität. Es hat als die Einheit des Bewusstseins die Zweiseitigkeit des Erkennens. Zunächst ist es das reale Individuum, in dem beide sich “als Eins” “in Einem Bewußtseyn” erkennen. Dies Erkennen beider ist zum einen das Erkennen ihres Aufgehobenwerdens als der selbstständigen Einzelnen, zum anderen der Gattung. Im Kind sind ihre Selbstständigkeiten in sein Fürsichsein aufgehoben. In dieser Einheit als einem Bewusstsein erkennen sie daher sich “als aufgehobene” oder als aufzuhebende in seinem für sich Werden. Die Einheit ist zudem anders als ihre Einzelheiten geworden, d. i. eine “gewordne Einheit”, in der die Wesenheiten von ihren Einzelheiten vereint sind. Sie ist nichts anderes als die Gattung, die auch von ihnen im Kind erkannt wird (J I.303). Dies besagt aber nicht, dass das Kind unmittelbar existierende Gattung ist; es ist auch ein einzelnes Individuum. Es heißt, das Kind ist dennoch ein solches Geschöpf, in dem beide Einzelne das Werden und Beleben der Gattung durch ihre Aufhebung erkennen und entwickeln. Insofern ist es ihr Geschöpf, in dem sie sich als die Gattung erkennen und gattungsgemäß handeln. Es ist also für sie die existierende Gattung, die als ihr Selbstbewusstsein existiert und sich in einem Individuum realisiert. Dies Erkennen der 193 Gattung zeigt gut das Spezifikum des Menschen als Gattungswesens. Denn eben aus dem Erkennen kann der Mensch seine Aufhebung als des Einzelnen willig beabsichtigen und erdulden. Freilich ist auch das Tier im Erkennen seines Kindes die “sich gewordne Gattung”. Aber weil sein Erkennen nicht bewusst, sondern nur abhängig von der Dauer der einzelnen Empfindung ist und sein Leben vom Prinzip der Individualisierung beherrscht wird, entbehrt sein Erkennen des Moments des Selbst, also kann es sein Vernichtetwerden in der Gattung nicht erleiden, sondern setzt sich ihr wiederum gegenüber. Insofern ist die Gattung ihm unmittelbar geworden und gegeben. Es unterscheidet sich endlich von der “Gattung im Kinde selbst”, das ihm also wiederum “ein aüsseres” Individuum nur als das Andere wird. Dem Einzelnen ist die unmittelbar existierende Gattung ohne Moment seines Selbst nichts als ein anderes einzelnes. Wegen der Rückkehr dieser Beziehung der Andersheit wird die Allgemeinheit der Gattung ins Kind bloß transponiert und veräußerlicht; deren Entfaltung folgt daher nur dem äußeren Gesetz der Evolution. Diese einfache Veräußerlichung der Allgemeinheit ist “die höchste Form der Vernünftigkeit, deren das Thier fähig ist” (J I.243). Dagegen ist dem Menschen das Kind die aus ihm gewordene Gattung. Die Gattung wird aus den Eltern als ihre Gattung, und zwar durch ihre Aufhebung. Weil sie ihre Gattung ist, ist diese Aufhebung ihre Selbstaufhebung. Das Selbsterkennen als Gattung ist das Erkennen des aufgehobenen Selbst. Des Weiteren gehört aber dieses Erkennen der Einheit beider erst nur ihnen. Insofern das Kind als die Einheit des Bewusstseins beider “selbst ein Bewußtseyn” ist, muss die Einheit auch als Bewusstsein des Kindes bestehen. Das vereinte Bewusstsein der Eltern muss zum Bewusstsein des Kindes für sich werden. Die Realisierung des Bewusstseins kann nur als das existierende Bewusstsein zur Vollendung kommen. Das eine Bewusstsein als die Einheit muss als das des Kindes existieren, dafür muss das Bewusstsein des Kindes so gebildet werden. Diese Bildung ist gerade die Erziehung. In der Erziehung benehmen sich die Eltern gemäß dem Erkennen ihrer Gattung allgemein, und das Kind wird demnach ein selbstständiges Individuum, das sich frei mit der Allgemeinheit des Bewusstseins zur Totalität des Seins verhält. Sie ist eben der Ort des für sich Werdens des totalen Bewusstseins selbst. Die Erziehung ist die Bildung des totalen Bewusstseins in der selbstständigen Individualität des Kindes durch die Selbstaufhebung der Eltern. Das, was in der Erziehung dem Kind gegeben und bei den Eltern aufgehoben wird, ist zum einen das gewordene Bewusstsein, zum anderen die gewordene Individualität der letzteren. Die Erziehung ist aber auch die gegenseitige Bildung, insofern das Kind sich das Gegebene aneignen muss. Auf der einen Seite setzen die Eltern ihr gewordenes Bewusstsein in ihr 194 Kind als die noch werdende Gestalt. Durch dieses Setzen wird das Kind als die erzeugte Gestalt immer mehr zum Bewusstsein belebt. Dieses werdende Bewusstsein des Kindes ist insofern reflektierend und allgemein, als es sich durch die Aufhebung des eigenen Bewusstseins der Eltern als der absolut Einzelnen ergibt. Die Eltern lassen durch ihr vereintes Bewusstsein das Kind das allgemeine Bewusstsein reflektieren und realisieren dadurch in ihm “die Leerheit der absoluten Einzelnheit”. Andererseits aber muss ihr gewordenes Bewusstsein vom Kind selbst aufgenommen und in sein eigenes Bewusstsein vereinigt werden. Nur hierdurch wird sein Bewusstsein für sich, und nur mit diesem Bewusstsein wird das Kind das selbstständige Individuum. Das, was in die Lebendigkeit des Organischen nicht absorbiert ist, ist unorganisch. Das gewordene Bewusstsein der Eltern, das als gegeben und gesetzt noch nicht ins lebendige Bewusstsein des Kindes geeint ist, ist für es gleichsam die “unorganische Natur” (J I.303). Diese unorganische Natur bedeutet zum einen allerdings nicht einfach Naturdinge, sondern die Totalität des Bewusstseins, das durch die Eltern erreicht ist und sich frei zur ganzen Welt verhält. Sie ist zum anderen fürs Kind ein anderes, gegebenes Bewusstsein, das als unorganisches anzueignen und zu verzehren ist. Obwohl dieser Ausdruck Hegels von der unorganischen Natur sich an seine naturphilosophische Terminologie anzulehnen scheint, ist er jedoch auch geistesphilosophisch von großem Belang. Bisher behandelte die Bewusstseinslehre das Bewusstsein in seinen Entwicklungsphasen analytisch. Aber es gibt in Wirklichkeit keine reine Natur, auf die sich das Bewusstsein bloß bald theoretisch, bald praktisch bezieht. Insofern der Mensch immer das Kind seiner Eltern ist, besteht in ihm lediglich die organische oder unorganische Natur, die schon durch das gewordene Bewusstsein vermittelt ist. Eben aus diesem Grund ist der Mensch immer Kind seiner Zeit.76 Sein Bewusstsein hat dem Wesen nach die Geschichtlichkeit. Und auch deswegen ist die Jenaer Bewusstseinslehre dem System nach die logische Entfaltung des bereits erreichten totalen Bewusstseins als sittlichen Subjekts durch die philosophische Reflexion. Die Erziehung ist der Prozess, in dem das bereits gewordene Bewusstsein in der bereits gewordenen Individualität vom Kind in sein selbstständiges Bewusstsein in seiner werdenden Gestalt einbezogen und organisiert wird. Hier ist das erstere für das letztere die unorganische Natur zum Verzehren. Aber diese Nahrungsaufnahme ist nicht bloß biologisch, sondern schon bewusst, sogar bewusstseinsreziprok. Denn die unorganische Natur ist schon von den Eltern im Gedächtnis behalten, benannt und bearbeitet, also schon “durch die Form des Bewusstseins” durchgegangen (J I.305). Das Bewusstsein des Menschen, der zu Beginn ohne Ausnahme Kind war, steht daher bereits in der Konfrontation mit der bewussten 76 Oder “ein Sohn seiner Zeit”. GPR, S. 26. 195 Welt, also mit dem Bewusstsein der Welt; deshalb ist es wesentlich gesellschaftlich. Hierin ist aber auch das Moment des Vernichtens enthalten, wie verzehren vernichten heißt. Hegel bringt dies schlechthin zum folgenden Ausdruck: Die Eltern “erzeugen ihren Tod” als die unorganische Natur (J I.303). Die Erzeugung des Kindes ist die Erzeugung des Todes der Eltern. Diese Rede vom Tod besagt weder schlechterdings den Tod der Eltern wegen des Kindes noch nur die einfache Metapher des Negationsmoments. Der Tod ist bei Hegel die Form der Existenz, die immer besteht, wo der Übergang von der Individualität zur Allgemeinheit notwendig ist. Diese Form ist in Anwendung auf das Ding die Vernichtung, auf das Organische angewendet der Tod. Die Vernichtung bzw. der Tod sind die Erscheinungen, die in der Welt realiter geschehen. Aber die Erscheinung ist immer wegen ihres Wasseins da. Zu betrachten ist eben die erscheinende Wesenheit,77 daher ist auch der Tod in seiner Wesenheit zu fassen. Vom Tod wird das vom Prinzip der Individualität dominierte Tier äußerlich heimgesucht, wenn die Allgemeinheit der flüssigen Elemente seine Individualität überwältigt. Die äußere Notwendigkeit liegt an seiner Individualität, die selbst Allgemeinheit nicht erreichen kann. Dagegen ist der Tod des Menschen überhaupt kein natürlicher. Der Mensch, der als ein Individuum selbst das Allgemeine erkennen und hervorbringen kann, stirbt im Wesentlichen aus sich selbst. Dies spiegelt sich eben im Tod der Eltern wider. Ihr Tod bringt den menschlichen Tod ans Licht, der bereits im Leben des von Natur aus bewussten Individuums prinzipiell wirksam ist. Diese Erklärung lässt sich ferner auf die Untersuchung des Frankfurter Hegel über die Liebe Jesu zurückführen. Die Liebe Jesu realisiert Hegel zufolge das Maximum der Vereinigung mit dem Anderen als seinem ganzen Volk, dessen Leben bereits in der Objektivität tot war. Durch das Vermögen der Liebe, selber als Objekt den Tod zu erleiden, restituiert er das objektivierte Leben des Volks zu einem solchen, in dem die freie Subjektivität lebendig ist, obgleich in der Idealität.78 Die reine Freiheit, die von aller Objektivität emanzipiert ist, ist also “in ihrer Erscheinung der Tod”. Hierin liegt daher auch die Beschränktheit der idealen Emanzipation Jesu. Aber andererseits belegt sein Tod den Grenzwert des freien Vermögens des Subjekts. Im Naturrechtsaufsatz kurz nach der Frankfurter Zeit heißt es: “durch die Fähigkeit des 77 Die Aufgabe der Philosophie, die sich Hegel stellte, heißt bereits in den Fragmenten über die Verfassung Deutschlands das wesentliche “Verstehen dessen was ist, und damit die ruhigere Ansicht, so wie ein in der wirklichen Berührung und in Worten gemässigtes Ertragen derselben zu befördern”. SE, S. 163. Auch im späteren Brief an Sinclair vom 15. Okt. 1810 geht es darum, für “ein regelmäßiges Gebäude” der Philosophie in der “Tagesordnung” die “wissenschaftliche Form zu erfinden oder an ihrer Ausbildung zu arbeiten”. Br. S. 332. 78 Siehe S. 71-72. 196 Todes erweist sich das Subject als frey und schlechthin über allen Zwang erhaben”79 (JKS 448). Die Ansicht der Jenaer Geistesphilosophien lautet nun, dass die übermenschliche Liebe und freie Fähigkeit des Todes in der absoluten Trennung und Entgegensetzung ihren Niederschlag auch im Leben des Menschen selbst finden. Und zwar ist das Resultat der Liebe hier nicht gegenstandslos, sondern ein anderes freies Individuum. Die Eltern verschaffen sich selbst die innere Notwendigkeit ihres Todes in der Erziehung des Kindes, die nichts anderes als das Er-ziehen des vereinten allgemeinen Bewusstseins aus ihren einzelnen ist. Ihr Tod ist also der wirkliche Ausdruck der Göttlichkeit in der Handlung des Menschen. Der Mensch stirbt nicht in einem gewissen Zeitpunkt. Sondern er ist immer sterbend, insofern er über seine Einzelheit hinaus Allgemeines realisiert. Der Tod der Eltern ist also der “werdende Tod” (J I.303) oder nach der zweiten Geistesphilosophie “das verschwindende Werden, der sich aufhebende Ursprung”. Denn das, was zu Tode kommt, ist lediglich die bloß unmittelbare Existenz der Individualität. Daraus wird zugleich aber auch ein solches Individuum geboren, dessen Bewusstsein immer allgemeiner gebildet wird. Das Kind als die “selbstbewußte Einheit” der Liebe ist daher nach der zweiten Geistesphilosophie eben “zugleich Bewegung”, die “Einzelnheit” und “das unmittelbare Daseyn” aufzuheben (J III.212). Der Tod der Eltern als der unorganischen Natur ist gleichzeitig mit dem Werden des gebildeten Bewusstseins des Kindes. Aber vor der Bildung ist das Bewusstsein des Kindes zuerst nur “die bewußtlose Einheit”. Ihm als dieser Einheit sind die Eltern auch nur “ein unbekanntes dunkles Ahnden seiner selbst”. In der Erziehung heben sie seine Erstarrtheit in sich auf und geben ihr Bewusstsein als seine Materie an, durch deren Verwendung es für sich sein Bewusstsein bildet. Die Bewusstlosigkeit seiner Einheit wird aufgehoben, sein Bewusstsein wird “zu einem solchen, welches” für sich “ein andres Bewußtseyn in sich setzt”. Es analysiert des Weiteren, gliedert und vereinigt das gesetzte Bewusstsein in seine Einheit. Insofern ist es nun die bewusste Einheit als “das Werden eines andern Bewußtseyns in ihm” (J I.304). Durch dies andere Bewusstsein tritt die dunkle Ahnung des Kindes in die Welt ein, die “schon eine zubereitete” durch jenes Bewusstsein im “Wissen der Eltern” ist. Für das Kind existiert die Welt nämlich schon als die von Eltern gewusste in der “Form der Idealität”. In der Beziehung auf 79 Deswegen kann nur der Mensch “sich umbringen”. Wegen des Elements des Willens kann der Mensch allein ‘alles fallen lassen, auch sein Leben: er kann einen Selbstmord begehen’. GPR, § 5, 47. Auch schon im Leben Jesu heißt es, “was der Mensch sein Ich nennen kan, und was über Grab und Verwesung erhaben ist, und sich selbst seinen verdienten Lohn bestimmen wird, ist fähig sich selbst [zu] richten – es kündigt sich als Vernunft an, deren Gesezgebung von nichts mehr sonst abhängig ist”. FS, S. 223. Freilich würdigt Hegel nicht den Selbstmord, sondern das Leben mit solch einer Fähigkeit der Freiheit. Der Tod ist bereits zu lebender, sonst ist nur die leere Realisierung der flüchtigen Freiheit übrig. 197 “diese ideelle Welt” stößt das Kind auf die äußere Welt. D. h. mit dieser äußeren Welt konfrontiert es sich durch jene gegebene Idealität der Welt. Diese beiden Welten können sich entsprechen oder widersprechen. In jenem Fall soll das Bewusstsein des Kindes die Realität der ideellen Welt in der äußeren Welt aufsuchen und finden, “wie das ideelle existirt”. Dadurch bestätigt und realisiert es die Idealität. Diese Realisierung der Idealität bedeutet die letzte Instanz der Wahrheit, die hier von den Eltern her gegeben ist. Wiederum gesagt: Für Hegel ist nur die als äußerlich realisiert bestätigte Wahrheit wahr, also die etablierte Wahrheit. Aber andererseits kann “für das Kind der Widerspruch der realen Welt, und der idealen der Eltern vorhanden” sein. Er entspringt aus der Nichtentsprechung der beiden Welten oder aus dem Nichtwissen der Eltern und also des Kindes. Es setzt in diesem Fall die reale Welt “als nicht bewußte Seite ideell” und wendet an, prüft und realisiert die ideelle, bewusste Seite von den Eltern her, überwindet hiermit den Widerspruch. Die reale Welt wird endlich gemäß seiner neuen Anordnung der bekannten Idealitäten gewusst. Es besteht für das Kind, also für den Menschen, weder reines Nichtwissen noch reine Unbekanntheit, insofern sein Bewusstsein dem Wesen nach geschichtlich ist und insofern nur auf der Basis des Gewussten etwas Ungekanntes da ist. Und sogar dies ist selbst schon zumindest in der Form des Nichtwissens gewusst. Die “als nicht bewußte Seite gesetzte” ist auch “selbst ein Bewußtseyn”. Die Leerheit dieses Bewusstseins wird durch die Realisierung des bereits gewussten mit der neuen Wahrheit erfüllt. Die Bildung des Kindes in jenem Fall lässt sich praktische, die letztere theoretische nennen. In jener Bildung bezieht das Kind praktisch sein Ideelles auf das Reelle, in dieser theoretisch das unbewusste Reelle auf sein erneut Ideelles. Die dadurch bestätigte und erlangte Identität der beiden Welten bzw. des inneren Ideellen und des äußeren Reellen ist realistisch. In der Bildung wiederholt sich daher der theoretische und praktische Prozess des bisher betrachteten Bewusstseins realiter. Durch “diese absolut entgegengesetzte Thätigkeit”80 zwischen beiden Seiten ist das Bewusstsein des Kindes nun “erst ein sich selbst gewordnes Bewußtseyn” (J I.305). Die Erziehung ist auch nach der zweiten Geistesphilosophie “das Werden seines Fürsichseyns” als des totalen Bewusstseins (J III.213). Das für sich gewordene totale Bewusstsein ist eben nichts anderes als das sittliche Subjekt, dessen gesellschaftlichstaatliche Entfaltung nun zu erläutern ist. 80 Diese reflektierende Bildungsgeschichte des natürlichen Bewusstseins des Kindes ist in wissenschaftlicher Darstellung eben die Phänomenologie des Geistes, während die Jenaer Geistesphilosophien die reflexive Logik des schon gebildeten Bewusstseins sind. 198 IV. Volksstaatslehre der allgemeinen Sittlichkeit 1. Kampf um Anerkennung 1.1. Ursprung des Kampfes um Anerkennung Die bisherige Bewusstseinslehre ist die onto-logische Lehre über das Werden des sittlichen Subjekts. Sie erläutert die logische Struktur des für sich werdenden Bewusstseins bis zu seiner Totalität. Das letztlich gewordene Bewusstsein ist das totale Bewusstsein, dessen Für-Sich-Werden in der Erziehung des Kindes zu typisieren, und das als gewordenes das sittliche Subjekt zu nennen ist. Aber erreicht ist nur erst der Träger der sittlichen Tätigkeit, nicht diese Tätigkeit selbst. Nun sind die sittliche Tätigkeit und deren Resultate in der Gesellschaft und der Geschichte zu erklären. Doch sie werden nicht unmittelbar durch die Urkunden der Gesellschaft und der Geschichte, sondern wiederum im Hinblick auf die typisierte Logik ihrer Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit dargestellt. Und insofern sie realiter als besondere Gestalten im gesellschaftlich-geschichtlichen Zeitraum existieren, ist diese Darstellung realistisch und zugleich wesentlich. Das totale Bewusstsein ist das Bewusstsein, das theoretisch den Begriff des äußeren Gegenstandes für sich erwirbt und praktisch nach seinem Willen realisieren kann. Es erfasst durch das Denken sich als das Wesen des Gegenstandes und realisiert dies durch die Tätigkeit gemäß dem Wesen, die nichts als seine Selbstverwirklichung ist. Es ist eben das vernünftige Selbstbewusstsein, das sich frei auf das Sein im Ganzen bezieht.1 Diese Beziehung ist nun nicht mehr Beziehung auf den zu begreifenden äußeren Gegenstand, sondern auf den Gegenstand als Träger des bereits realisierten Selbst, und nicht mehr auf das andere Bewusstsein durch die menschliche Begierde, sondern auf das bloß andere mit gleicher Totalität, aber außerhalb des natürlichen Moments der Liebe. Die erstere Beziehung hat aber die letztere zur Bedingung. Denn der Gegenstand, der meinem Begriff angemessen existiert, ist zwar mein, aber diese Beziehung des Besitzes ist lediglich einseitig zwischen dem tätigen Ich und dem untätigen Ding errichtet. Nur als diese Beziehung wurde der Familienbesitz im Vorangegangenen betrachtet, der daher noch gar kein gesellschaftlicher war. Auf ein Ding nämlich kann sich außer dem Ich auch ein anderes Subjekt beziehen wollen. Also vor der und für die Beziehung des Besitzes wird die Beziehung zwischen Subjekten um den Besitz als 1 Dies Selbstbewusstsein ist eben das Prinzip, das nachher in der Rechtsphilosophie vorausgesetzt ist. GPR, § 21. 199 Vorfrage gestellt. Denn der Besitz umgekehrt bedingt die Ausschließlichkeit des beziehenden Subjekts, und deren Gründe sind die beiden folgenden: “Die Besitzergreifung ist die sinnliche Bemächtigung” (J III.216). Diese Aussage der zweiten Geistesphilosophie drückt vor allem die Ausschließlichkeit des Besitzes selbst aus. Die Besitznahme ist als sinnliche zugleich unmittelbar und einzeln. Sie ist logisch das unmittelbare Sein des Besitzenwollenden und zugleich das Nichtsein anderer bei dem zu besitzenden Gegenstand, gleichwie der Stuhl, auf dem ich jetzt sitze, zugleich den Ausschluß der anderen bedeutet. Der sinnliche Besitz ist selbst einzeln, daher ausschließend. Ausgeschlossen werden allerdings nicht irgend welche anderen Dinge, sondern eben alle anderen Subjekte. Der Besitz ist also nicht zuletzt die ausschließliche Beziehung zwischen Subjekten mit dem totalen Bewusstsein, denen es um den einzelnen Gegenstand des Besitzes geht. Der selbstständige Besitz eines jeden in der ausschließlichen Beziehung kann in keiner anderen Weise als anerkannt bestehen. Aber der Prozess der Anerkennung ist nicht friedlich und reibungslos im gleichen Maß wie die Ausschließlichkeit des Besitzes. Die Ausschließlichkeit des Besitzes hat ihren Grund nicht nur in der Einzelheit des Dings. Dies wird einzeln besessen, aber vom totalen Bewusstsein, das für sich geworden ist. Die Totalität des Bewusstseins besagt die organische Einheit des selbstständigen Bewusstseins, in dem der Teil mit dem Ganzen eins, also für das Ganze bedeutsam ist. Während die erste Geistesphilosophie von Beginn an gerade die Beziehung des totalen Bewusstseins auf das andere zur Darstellung bringt, werden in der zweiten Geistesphilosophie zuerst einige Eigenschaften des durch die Liebe erzeugten Individuums ausgeführt. Das Kind ist nämlich die durch die natürliche Erzeugung gegenständlich und auch durch die Erziehung selbstbewusst verwirklichte Liebe. Es ist als verwirklicht “ein für sichseyendes”, das “das ganze einfache Wesen an ihm selbst” hat. In seinem Wesen sind beide Charaktere als seine ganze Individualität vereinfacht und vereint. Diese Vereinigung ist auch das realisierte Selbsterkennen selbst der Liebe, in dem es also sich selbst weiß. Oder vielmehr es ist das “geistige Anerkennen selbst, welches sich selbst weiß”. Weil es das gegenseitig realisierte Erkennen selbst eines jeden Elternteils als Selbst ist und weil es sein Selbst als das erkannte Selbst der anderen, d. i. der Eltern weiß, ist es unmittelbar und geistig anerkannt. Es weiß sich selbst als anerkannt, oder es ist ferner das Anerkennen selbst, welches es als sich selbst weiß. Dies Anerkennen ist zum einen erst nur in der Familie durch die natürlich entstandene und bewusst vollzogene Liebe erreicht, also noch nicht 200 gesellschaftliche Tätigkeit, sondern nur die Fähigkeit des Individuums dazu.2 Aber das unmittelbare Anerkennen durch die Liebe ist zum anderen die realisierte Einheit als das Selbst der rudimentären Familienmitglieder. Deshalb ist das gebildete Kind nun die Familie selbst als Ganzes. In ihm ist die Familie zu ihrer ganzen Individualität geworden und nun als dieses Ganze “einem andern in sich geschlossenen Ganzen gegenübergetreten”. Oder nun bestehen “vollständige, freye Individualitäten füreinander”. 3 Diese Individuen sind nur als das geistige und selbstbewusste Anerkennen für sich seiend. Insofern ist das Individuum “erst ein eigentliches Seyn für den Geist”, das die gesellschaftliche Tätigkeit in erster Linie mit dem Anerkennen anfängt (J III.213).4 Denn sein unmittelbares Dasein ist in der Familie unmittelbar anerkannt und sein Wissen unmittelbar das geistige Anerkennen selbst. Es kann und will nur als anerkannt da sein. Aber sein unmittelbares Dasein als zunächst nur in sich anerkannt ist ausschließend gegen das andere. Das unmittelbare Dasein des Individuums heißt nichts anderes als das Leben vom Familiengut, insbesondere vom dauerhaft allgemein vorhandenen Gut, das sein Dasein sichert. Dieses Gut des einen Individuums 2 Das Anerkennen durch die Liebe ist nur an sich, bedeutet daher das Vermögen des gebildeten Subjekts für die anerkennende Tätigkeit, dessen Darstellung noch der Bewusstseinslehre angehört. Aus diesem Grunde macht auch nicht die ‘Synthese zwischen Liebe und Kampf’, wie Siep behauptet, den Anerkennungsprozess aus. Eine ähnliche Missdeutung taucht auch in der Habermasschen Interpretation des Kampfes um Anerkennung auf, in dem die Liebe als der Zweck der Versöhnung fungiert. Siep, Ludwig: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, S. 53-63. Habermas, Jürgen: Arbeit und Interaktion, S. 16-17. Lövenich, Friedhelm: Modernisierung des Idealismus, HS 25, S. 124-125. Zur Kritik dieser Position siehe Göhler, Gerhard: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie?, HS 16, S. 222-226. Tuschling, Burkhard: Die „offene“ und die „abstrakte“ Gesellschaft, S. 103-104. Das Problem der Anerkennung derjenigen, die lieben oder sich Liebe wünschen, kann gar nicht Kampf des einen mit dem anderen, sondern nur Konflikt meiner Liebe selbst mit meiner Ehre sein, wie Hegels Vorlesungen über die Ästhetik gut beschreiben. VÄ II.182-190. Über die nur formale und analoge Korrelation des Liebesbegriffes mit dem Anerkennungsbegriff im Vergleich von Hegel und Jacobi, siehe Falke, Gustav: Hegel und Jacobi, HS 22, S. 136-142. 3 Deshalb ist die Familie, die durch das gebildete selbstständige Individuum vertreten wird, nicht nur ‘der Intimbereich’, der Blasche zufolge als der sittliche Bereich vom unsittlichen der bürgerlichen Gesellschaft in der Rechtsphilosophie unterschieden ist. Freilich ist die Entsittlichung der Familie durch die Rückwirkung der bürgerlichen Gesellschaft auf sie nicht ausführlich in Hegels Beschreibung präsent – und dies ist nicht Hegels, sondern die damalige Beschränkung des industriell unentwickelten Deutschland –, aber die Möglichkeit ihrer Erklärung ist vorhanden. Denn das Subjekt der anerkennenden Beziehung in der Gesellschaft ist eben das Individuum, das alle Momente der Familie in sich als gebildet hat. Auch nach der Rechtsphilosophie tritt die Familie “auf natürliche Weise und wesentlich durch das Prinzip der Persönlichkeit in eine Vielheit von Familien auseinander, welche sich überhaupt als selbstständige konkrete Personen und daher äußerliche zueinander verhalten” (GPR § 181). Und eben die “bürgerliche Gesellschaft reißt” “das Individuum aus diesem Band” der Familie “heraus, entfremdet dessen Glieder einander und anerkennt sie als selbstständige Personen (GPR § 238). Aber die bürgerliche Gesellschaft ist ferner nicht allein, wie bei Blasche, der unsittliche Bereich, sondern auch der der Genese der Sittlichkeit auf der allgemeinen Ebene. Blasche, Siegfried: Natürliche Sittlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. Hegels Konstruktion der Familie als sittliche Intimität im entsittlichten Leben MR, S. 312-337. 4 Auch in Wagners theologischer Interpretation der Wissenschaft der Logik ist der Geistesbegriff gut erklärt, der ‘seine Realität als wissende Anerkennung des menschlichen Selbstbewusstseins’ hat. Wagner, Falk: Theo-Logik, S. 219-220. 201 erscheint in der Beziehung auf das andere eben als die Frage des Besitzes, dessen Ausschließlichkeit im unmittelbar und selbstständig anerkannten ausschließenden Dasein des Individuums als der ganzen Familie liegt. Deshalb ist die, dem Wesen nach, erste gesellschaftliche Tätigkeit des Individuums gerade die Anerkennung, die sich zuerst um den Besitz dreht.5 Unter dem Gegenstand des Besitzes versteht Hegel hier nicht das einzelne Ding, wie ein Werkzeug, sondern das Grundstück, weil es bekanntlich das Dasein des Individuums als der ganzen Familie mit Dauer und Beständigkeit ermöglicht. Aber dies heißt weder, daß er einfach der physiokratischen Neigung Kants folgt, noch sieht er von der merkantilistischen Begründung Fichtes ab.6 Sein Gesichtspunkt steht eher, wie bekannt und auch nachher zu sehen ist, dem nationalökonomischen Standpunkt nahe, der freilich damals in Deutschland zumeist auf die Fabrikarbeit beschränkt ist. Seine Wendung “eines Stücks der Erde” in der zweiten Geistesphilosophie ist daher bloß die Anführung der genetisch ersten Besitzgestalt für die logische Typisierung (J III.214). Zum Familiengut gehören, wie vorhergehend erwähnt, Haus, Grundstück, Werkzeuge u. a. Vor allen Dingen ist aber in Hegels Augen die Hauptsache des Besitzes, weswegen das 5 Der Kampf um Anerkennung und der um Ehre dürfen nicht verwechselt werden. In jenem geht es in erster Linie immer um den Besitz, der das Dasein des Individuums äußerlich bedingt. Der wörtliche Ausdruck des letzteren tritt bei Hegel nicht auf, sondern das Wort “Ehre” wird benutzt nur zur Bezeichnung der behaupteten, einzelnen, daher im Kampf aufzugebenden Ganzheit oder Totalität des Individuums, während die Anerkennung selbst der gar nicht aufzugebende Zweck des Kampfes ist. Aber wenn die gesellschaftliche Beziehung eine anerkennende zwischen bereits selbst anerkannten Personen ist, wäre es gerade die Gesellschaft, in der es sich um die Ehre der Person handeln könnte, weil diese den persönlichen Wert des bereits durch jenen Kampf anerkannten Individuums selbst bedeutet. Das, worum es hier beim Kampf um Anerkennung im Wesentlichen geht, ist daher nicht die Ehre, sondern vielmehr diese als persönlicher Wert lässt sich zwar nur nach ihrem äußeren Dasein in der anerkennenden gesellschaftlichen Beziehung der bereits anerkannten Personen verletzen, aber als dies erreichte Anerkanntsein der Person selbst nicht verletzen (J III.236). Auch ist Hegels Kampf schwer als ein richterlicher Kampf zu pazifizieren, weil es nicht nur um die Ehre als totales Bewusstsein des Seins für sich, sondern vor allem um das eben Totalität des Bewusstseins bedingende Sein selbst, d. i. Leben oder Tod geht. SE, S. 318. J I., S. 308, 326. J III., S. 232. Bonsiepen, Wolfgang: Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, HSB 16, S. 81-91. Siep, Ludwig: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, S. 63-68. Der Kampf um Anerkennung, HS 9, S. 155-207. 6 Kant zufolge ist der Boden ‘als Substanz’ ‘alles Beweglichen auf demselben’ Gegenstand des ursprünglichen und gemeinsamen Besitzes aller Menschen, dessen einseitige und teilweise Okkupation nur durch ‘die bürgerliche Verfassung’ peremptorisch und distributiv gerechtfertigt wird. MSr, AB82-92. Dagegen ist der Boden bei Fichte als ‘die gemeinschaftliche Stütze der Menschheit in der Sinnenwelt’ in der quantitativen Hinsicht ‘gar kein möglicher Gegenstand dieses Besitzes’, sondern nur des Rechts, auf demselben zu einem bestimmten Zweck ‘ganz allein Producte zu erbauen’, das daher dessen Gebrauch zu einem anderen Zweck nicht ausschließen darf. Er wird nur den Einzelnen mit verschiedenartigen Gebrauchszwecken ‘unter der Garantie des Staats vertheilt’. Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 217220. Allerdings ist die Modifikation „physiokratisch“ oder „merkantilistisch“ philosophisch relativ. Z. B. Andreas Arndt sieht die physiokratische Auffassung in Fichtes Begriff der Arbeit als ‘Naturproduktion’, in dem Sinne, dass nur die Natur für Fichte produktiv sei und sich die Tätigkeit der Produzenten lediglich darauf richte, ihr nachzuhelfen, obzwar diese Fichtesche Natur später ‘zur toten Grundlage’ der Willkür des Staates herabgesetzt werde. Arndt, Andreas: Die Arbeit der Philosophie, S. 40-41, 52-56. 202 Individuum in die ausschließende Beziehung auf das andere eintritt, eben das Grundstück, das selbst als das allgemeine Dasein der Natur von jeher das Leben des Menschen bedingte und auch in der Vorbereitungsphase der industriellen Revolution Gegenstand der häufig streitigen Einfriedung bzw. enclosure war. Dass er auch andere Gegenstände, insofern diese das Dasein des Individuums bedingen, unter den neuzeitlichen Besitzgestalten nicht übersieht, lässt sich erkennen an seiner Aufzählung, wie “ein mannichfaltiges” “Haben, das Gut, die aüsserliche Mitte” in der ersten Geistesphilosophie (J I.308). Auch die in beiden Geistesphilosophien oft erwähnte Maschine ist keine Ausnahme. Betont ist allein, dass die Erscheinung eines Individuums gegen das andere äußerlich und die unmittelbare Gestalt dieser äußerlichen Erscheinung die Anerkennung des Besitzes ist, der als das selbstständige Dasein eines jeden “eine negative ausschliessende Bedeutung” hat (J III.214). Hegels Anerkennungsbegriff, wie viele andere seiner Begriffe, ist übernommen und bearbeitet. Als dessen erster Erfinder führt Fichte ihn in der Grundlage des Naturrechts als die gegenseitige Anerkennung eines jeden als Vernunftwesens ein und gründet darauf den Begriff der Individualität als einen gemeinschaftlichen Begriff. Das Individuum besagt ihm zufolge ‘das durch Entgegensetzung mit einem anderen vernünftigen Wesen bestimmte Vernunftwesen’. Damit das Subjekt als dies Individuum in der Sinnenwelt vom anderen nicht nur als Mittel behandelt werden, sondern frei wirksam sein könne, sei die gegenseitige Anerkennung eines jeden als freien Vernunftwesens durch die ebenfalls reziproke Beschränkung seiner Freiheit nötig. Die Selbstbestimmung als Individuum auf der Basis der gegenseitigen Anerkennung sei also gemeinschaftlich und wechselseitig, woraus auch das Rechtsverhältnis als Fundament der Gemeinschaft deduziert werde. Der Rechtsbegriff Fichtes ist in diesem Hinblick ‘der Begriff eines Verhältnisses zwischen Vernunftwesen’,7 das nichts anderes als das ihre Individualität wechselseitig hervorbringende ‘interpersonale Verhältnis’8 zwischen dem Ich und dem anderen ist. An diesen Fichteschen Anerkennungsbegriff knüpft Hegels zweite Jenaer Geistesphilosophie enger an als die erste, weil dort das Rechtsverhältnis wie bei Fichte durch die anerkennende Beziehung begründet wird, während hier die Anerkennung zum absoluten Geist des Volkes führt.9 Es besteht allerdings auch ein großer Unterschied der beiden Geistesphilosophien Hegels gegenüber Fichte darin, dass die Anerkennung in der Beziehung auf das andere nicht umhin kann, durch den Kampf durchzugehen, dessen Auflösung die Selbstaufhebung 7 8 9 Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 41-55. Zahn, Manfred: Einleitung zu Fichtes Grundlage des Naturrechts, S. IVVIII. J I., S. 315. J III., S. 215. HH, S. 163, 171. 203 und das Erkennen eines jeden im anderen erfordert, während sie bei Fichte durch die quantifizierbare Selbstbeschränkung aus dem vernünftigen Denken über das natürliche und notwendige Faktum als die mögliche Bedingung des Bewusstseins der Individualität und des Selbstbewusstseins kampflos und urrechtlich abgemacht wird.10 Der Ort, wo Hegels Anerkennungsbegriff zum ersten Mal auftritt, ist eine Jenaer Frühschrift, der Naturrechtsaufsatz. Aber er ist hier im Kontext der “Aufführung der Tragödie im sittlichen” terminologisch benutzt (JKS 458). Die Anerkennung heißt nämlich “die Anerkennung” des Schicksals “in dem Kampf” mit demselben, das als die “unorganische Natur” erscheint und dem sich “die sittliche Natur” entgegensetzt (JKS 459). Diese zwei Arten von Natur sind “die doppelte Seite” der notwendigen “Erscheinung des Absoluten” in der Objektivität (JKS 433). Der Einzelne oder das einzelne Volk als eine sittliche Natur anerkennt durch den Kampf mit der unorganischen Natur in der “Gefahr des Todes” (JKS 449) die letztere Natur als sein Schicksal und gelangt dadurch zur Versöhnung mit dem Absoluten als der Einheit beider Naturen. Die unorganische Natur bedeutet nicht bloß die physische, sondern auch alles, was noch nicht sittlich organisiert ist. Insofern Unorganisches tot ist, besteht das Sittliche nur in der Konfrontation mit diesem Prinzip des Todes, dessen göttliche Macht ihm überlegen ist. Das Schicksal ist diese notwendige Konfrontation mit dem Übermächtigen trotz der Aussicht seiner Niederlage. Denn lediglich durch dies Vermögen des Todes oder “durch die Kraft des Opfers” im Kampf können das Sittliche und seine Freiheit bewiesen und anerkannt werden. Daher ist das Sittliche die Bühne der Tragödie, “welche das Absolute ewig mit sich spielt” (JKS 458). Hier besteht der Kampf des Sittlichen um Anerkennung in der engen Verbindung mit dem antiken Ideal, über das Hegel bereits in der Zeit der Studien 1792/93-1794 bezüglich der Szene der Todes der antiken Helden zwar nur ansatzweise, aber etwas ähnliches notierte, “denn sie haben gelebt, und haben in ihrem Leben gelernt, die Macht der Natur anzuerkennen” (FS 137). Freilich kommen auch die konstitutiven Elemente für den Anerkennungskampf im Naturrechtsaufsatz zum Vorschein, z. B. in der Ständelehre, die zwischen dem “die Gefahr des Todes” in sich habenden und dem sie nicht habenden Stand unterscheidet, aber dennoch gleichfalls auf die antike Ständelehre angewiesen ist (JKS 455-458). Diese antikisierende Neigung bleibt noch bis in die erste Geistesphilosophie spürbar. Für Hegels damaligen sehr spezifischen Anerkennungsbegriff, der sich also neben seinen späteren Begriff stellen lässt, müsste die unorganische Natur als der noch unsittliche Zustand logisch vor der und realiter im Gegensatz zu der sittlichen Welt 10 Seelmann, Kurt: Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion, S. 16-17. Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 35, 51, 126-127. 204 verstanden werden und das Subjekt des Kampfes nicht als das schon sittliche, sondern sich erst im Kampf nicht mit dem Übermächtigen, sondern mit dem anderen gleichfähigen Individuum sittlich bildende Individuum. Dieser Anerkennungsbegriff tritt in dem kurz nach dem Naturrechtsaufsatz niedergeschriebenen System der Sittlichkeit auf. Obzwar sich die antikisierende Deutungsneigung noch fortsetzt und trotz der schellingianisierenden Methode des Aufbaus, kommt der Anerkennungsbegriff hier im fast gleichen Status, wie in der zweiten Geistesphilosophie, zwei Mal ins Spiel, d. i. im Verhältnis von Eltern und Kindern und im Verhältnis des Lebens als der höchsten Indifferenz des totalen Einzelnen. In der ersteren Phase resultiert die Anerkennung aus der Aufhebung des Verhältnisses zwischen dem Kind als dem Besonderen und den Eltern als dem Allgemeinen und auch aus der Aufhebung der Eltern selbst durch “die allgemeine Wechselwirkung und Bildung” (SE 290). Die Allgemeinheit der Wechselwirkung gründet sich gleichsam auf die Einheit der Eltern durch die Liebe, und die Bildung bzw. Erziehung der Eltern lässt das Kind seine “aüssere Negativität” als das bloß subjektive Individuum “immer mehr aufheben und ebendadurch eine grössere innere Negativität und damit höhere Individualität setzen” (SE 289). Dadurch wird das Kind “ein gleiches selbstständiges Wesen”, und sein Verhältnis ist “nur beständig”, bis es dies Wesen in seine Einzelheit einverleibt. Es hat nämlich als die ganze Familie “die höchste Individualität und aüssere Differenz”, die selbst nichts anderes als das gegenseitige “Anerkennen” der Familienmitglieder ist (SE 290). Es ist nun das Individuum als das Subjekt der gesellschaftlichen Beziehung, das die “Totalität” “immer innerhalb der Einzelnheit selbst” hat. Es tritt dadurch mit anderen ins “Verhältniß des Tausches, und des Anerkennens eines Besitzes” ein (SE 303). In dieser zweiten Phase des Anerkennungsbegriffs haben die gesellschaftlichen Elemente, d. i. Tausch, Besitz, Eigentum u. a., zwar noch keinen solchen festgestellten Stellenwert wie in den späteren Schriften, allein in der Anerkennung geht es immer ums Leben, mit dem das Individuum als die “Indifferenz aller Bestimmtheiten” oder “als im Ganzen für sich seyendes” “schlechthin Eins” ist, sei es im Verhältnis des Besitzes, sei es des Tausches. Aber weil das Individuum zuerst nur als “ein formal lebendiges”, nämlich von der Familie “als solches anerkannt” ist (SE 304), enthält diese formale Idealität der Anerkennung auch in seiner Freiheit “die Möglichkeit des Nichtanerkennens, und der Nichtfreyheit”. Dadurch gerät es ins Verhältnis gegen das andere, “aber mit ungleicher Macht des Lebens”. Obzwar nicht unter dem offenbaren Ausdruck des Kampfes, hat dies doch “das Verhältniß der Herrschafft und Knechtschafft” zur Folge (SE 305). Dieser Begriff der Anerkennung lässt sich daher in seinem Ansatz als bereits ausgestattet mit all seinen spezifischen Elementen einschätzen. 205 Der Anerkennungsbegriff gewinnt erst in den beiden Jenaer Geistesphilosophien ‘systembildende Kraft’,11 um in der ersten die Sittlichkeit des Volks zumeist in Hinsicht auf die der Phänomenologie des Geistes nähere Tätigkeit der Anerkennung und in der zweiten die Grundlage des Rechtsverhältnisses meistens hinsichtlich des der Rechtsphilosophie ähnlichen Anerkanntseins als Resultat der Anerkennung zu konstituieren. Der Anerkennungsbegriff erhält hier zwei auch später unveränderte Grundcharaktere. Er fungiert vor allem in zweifacher Weise im gesellschaftlichen Bereich des Hegelschen Systems. Die Gesellschaft ist der objektive Bereich der gesellschaftsfähigen Subjekte in ihrer Beziehung zu einander. Die Fähigkeit der Subjekte ist nicht zuletzt Fähigkeit für das freie Verhältnis zum anderen in der Gesellschaft. Diese müsste daher einerseits auch dem Subjekt immanent begründet werden. Die Anerkennung ist eben Grundlage der immanenten Fähigkeit des Bewusstseins oder des “Menschen in seinem Begriff” (J III.214). Sie ist gesellschaftliches Vermögen der Freiheit, das in der ersten Geistesphilosophie als einziges Thema und auch in der zweiten noch im Teil des ‚Geistes nach seinem Begriffe’ sowie später in der Phänomenologie des Geistes hauptsächlich, sogar bewusstseinskonstitutiv, dargestellt wird. Auf dieser Basis kommen Subjekte in der Gesellschaft in die gegenseitig anerkennende Beziehung wie Tausch, Vertrag u. a. Dies Beziehen verläuft aber keineswegs nur friedlich. Der Grund hierfür liegt in der bewusstseinsimmanent oder seinem Begriff nach erreichten und hier vorauszusetzenden Ausschließlichkeit des freien und selbstständigen Subjekts, dem es um den Besitz geht. Die realistische Seite des hegelschen Anerkennungsbegriffs besteht umgekehrt darin, dass gesellschaftliche Beziehungen, wie Tausch, Vertrag u. a. im Wesentlichen eben konkurrierende und streitende Beziehungen der Anerkennung sind. Das, was durch diese Beziehungen objektiv anerkannt ist, ist die institutionell geordnete Gesellschaft als der objektive Bereich, dessen Grundstein das Rechtsverhältnis ist. Daher müssten auf der anderen Seite auch das Recht und die Institutionen als das objektive Anerkanntsein durch das gesellschaftliche Subjekt erklärt werden. Diese Erklärung ist gerade die Begründung des Rechts und der rechtlichen Institutionen und zugleich die letzte Instanz des Beweises des freien gesellschaftlichen Vermögens des Subjekts, was erst im Kapitel über den wirklichen Geist in der zweiten Geistesphilosophie und nachher in der Rechtsphilosophie als Gestalten des objektiven Geistes hauptsächlich behandelt wird. Ohne Verstehen dieses Charakters des Anerkennungsbegriffs ist auch schwerlich verstehbar, warum Hegel die Elemente des Naturrechts, wie Naturzustand und Vertrag, teils kritisiert, teils erläutert, und auch, warum dieses Thema in den beiden 11 Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 150. 206 Geistesphilosophien vor dem gesellschaftlichen Bereich des Volks bzw. des wirklichen Geistes und dann noch einmal in der zweiten Geistesphilosophie im Abschnitt über den wirklichen Geist abgehandelt wird. Zweitens geht der Anerkennungsbegriff Hegels auf der Basis der Ausschließlichkeit zumindest theoretisch durch den im Voraus unausgleichbaren Kampf hindurch.12 Denn die reale gesellschaftliche Beziehung enthält wesentlich dieses Element des Kampfes. Sie ist das Resultat der Reflexion auf diesen Kampfzustand. Selbst ein anerkannter Vertrag über das Eigentum wird im Grunde genommen eben darum geschlossen, weil ohne solche kontraktliche Anerkennung der Kampf auf Leben und Tod unvermeidlich wird. Unten wird zu zeigen sein, dass die Anerkennung die ideale Aufhebung des Selbst durch sich selbst ist, während der Kampf die reale Aufhebung des einen Lebens durch das andere ist. Die Anerkennung heißt die Realisierung des allgemeinen Selbst durch die ideale Selbstaufhebung eines jeden statt des realiter Leben vernichtenden Kampfes. Es besteht keine Realisierung des Allgemeinen ohne Aufhebung des Einzelnen. Diese Aufhebung erfolgt gelgentlich realiter im Kampf bzw. Krieg und immer wesentlich und idealiter in der anerkennenden Beziehung. Und weil ohne die letztere die erstere unumgänglich ist, ist der Kampfprozess für den Anerkennungsbegriff zwangsläufig. Der Kampf um Anerkennung scheint daher zwar für die ideologischen Kritiker auf den ersten Blick fabelhaft und unwirklich, aber muss als das nüchterne onto-logische 12 Das Missverständnis oder Ignorieren dieses ersten Merkmals als der Unausweichlichkeit und Unversöhnlichkeit von Hegels Kampf um Anerkennung idealisiert leicht seine Anerkennungstheorie. Der Kampf ist weder eine ‘Dialogsituation’ wie das sittliche Verhältnis bei Habermas, noch gar ein fiktiver Zustand, sondern eben darum, weil er realiter unausgleichbar ist und mein Dasein aufhebt, nimmt jeder Einzelne dessen Aufhebung idealiter als Selbstaufhebung voraus, was eine Überwindung und zugleich Vollziehung des realen Kampfes in anderer Weise ist. Aller gesellschaftliche Verkehr von Sprache, Arbeit, Tausch u. a. ist also Anerkennungsprozess der objektiven Verallgemeinerung des sich aufhebenden Einzelnen. Jeder erreicht dadurch das Allgemeine des selbst aufgehobenen einzelnen Selbst in seinen Produkten oder Instituten als das objektivierte Anerkanntsein seiner Person, als die verwirklichte Entelechie ihrer Freiheit. D. h. die persönliche und menschliche Allgemeinheit der erzeugten Objekte wird dadurch erklärbar. Die Allgemeinheit der gesellschaftlichen Erzeugnisse ist überhaupt nicht nur kommunikativ erreichte Allgemeinheit der Intersubjektivität, ihre Objektivität gar keine Objektivität des intersubjektiv vereinbarten Allgemeinen, sondern die objektive Allgemeinheit der sich aufhebend realisierenden Subjekte eben in den gesellschaftlichen Entitäten. Dagegen kann die Intersubjektivität ohne Moment der Selbstaufhebung die ‘Objektivität eines Allgemeinen’ erreichen, aber de facto nichts anderes als die subjektive Objektivität des nur intersubjektiv gestimmten Allgemeinen. Sie kann auch gar nicht die Objektivierung selbst des Allgemeinen, d. i. die Allgemeinheit des gesellschaftlichen Objekts gründlich erklären. Denn sie ist nichts anderes als die Reziprozität der Subjektivität oder die Subjektivität der Reziprozität, für die kein Eingang in die objektive Entität, sondern nur ins objektive Subjekt besteht. Hegels objektiver Geist ist auch der äußerlich objektivierte Geist, aber dagegen ist Habermas’ Geist lediglich ‘die Kommunikation Einzelner im Medium eines’ intersubjektiven ‘Allgemeinen’. Habermas, Jürgen: Arbeit und Interaktion, S. 9-47. Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 155157. Tuschling, Burkhard: Die „offene“ und die „abstrakte“ Gesellschaft, S. 101-116. Fulda, Hans Friedrich: Hegels Begriff des absoluten Geistes, HS 36, S. 171-198. Siehe andererseits auch zum Mangel von Habermas’ Begründung des selbstidentischen Subjekts als Subjekts der Kommunikation, durch die es nur als ‘Produkt einer Sozialisation’ erklärt wird, Nagl, Ludwig: Gesellschaft und Autonomie, S. 244-268. 207 Fundament der gesellschaftlichen Wirklichkeit verstanden werden, die außer auf der Basis der Anerkennung realiter notwendig zum Kampf führt. Dies bedeutet also auch ganz und gar nicht naiv, dass immer zum Anerkennen gekämpft werden müsste. Die Realität der anerkennenden Beziehung und deren ontologische Instanz dürfen nicht verwechselt werden. Erklärt wird eben diese Instanz der Anerkennung. Der Ausgangspunkt von deren bewusstseinsimmanenter Erklärung in den beiden Geistesphilosophien ist das totale Bewusstsein bzw. das freie selbstständige Individuum. Hier steht das Subjekt zuerst noch auf der Schwelle der Gesellschaft. Das für sich gewordene totale Bewusstsein in der ersten Geistesphilosophie tritt in die Beziehung auf ein anderes totales Bewusstsein. Selbst seiner Besitz ergreifenden Beziehung auf das Ding muss die Errichtung dieser Beziehung auf das andere Bewusstsein vorausgehen, wie oben erwähnt, weil jene Beziehung bereits in sich die Ausschließung des anderen Bewusstseins impliziert. Das Bewusstsein erkennt ferner “absolut nothwendig” im anderen “sich als sich selbst”. Das erste wahre Erkennen von gleichen Dingen ist, ihr Gleiches zu erkennen. Das totale Bewusstsein erkennt also eben sich selbst im ebenbürtigen anderen, insofern dies Erkennen wahrhaft ist. Aber “in diesem Erkennen ist jeder für den andern unmittelbar ein absolut einzelner”, der ein eigenes totales Bewusstsein hat. Dies Erkennen kann sich freilich vermittelst des Gefühls unmittelbar zur Liebe entwickeln, aber wenn es sich ohne solche natürliche Vermittlung schlechthin um den Besitz handelt, wird das Erkennen auf die andere Weise erreicht, die eben als der Kampf um Anerkennung zu erklären ist. Die Unumgänglichkeit dieses Kampfes liegt in der zweifachen Eigenschaft des Bewusstseins eines jeden. Das Bewusstsein vereinigt als totales alle Teile in sich, nämlich absolut in die Einzelheit seiner Existenz, daher ist es äußerlich absolut einzeln. Dies besagt auch, dass “jede Einzelnheit seines Besitzes, und seines Seyns, an sein ganzes Wesen geknüpft erscheint”. Insofern ist jeder Einzelne nicht mehr als “ein Bewußtseyn” oder ein “vern[ünftiges] Wesen”, in dem Sinne, dass die Einheit durch die Vernunft in seiner Einzelheit realisiert ist (J I.307). Die Totalität seines Bewusstseins ist noch lediglich “das ideellseyn der Welt”, weil seine Totalität noch nicht in der ganzen äußeren Welt realiter verwirklicht, sondern nur die vernünftige Selbstständigkeit derselben gegenüber ist. Aber wegen der Totalität setzt jeder jedes einzelne Moment seines Seins und Besitzes auch eben “als sich selbst”. Die Totalität heißt für ihn, dass sein Einzelnes schlechterdings sein Ganzes ist. Aus diesem Grunde ist die “Verletzung einer seiner Einzelnheiten” “eine absolute Beleidigung” “seiner als eines Ganzen”. D. h. “die Kollision um jedes einzelne” ist “ein Kampf um das Ganze”. Hierin liegt die Notwendigkeit des Kampfes um Anerkennung, wenn es bei der Äußerung seiner 208 Totalität in der Beziehung auf das Andere um den Besitz geht. Diese Begründung des Kampfes durch die Totalität des Bewusstseins jedes Einzelnen könnte unwirklich und unplausibel scheinen, weil keiner de facto sein ganzes Leben auf den Besitz eines geringfügigen Dings setzen würde. Aber dieser logisch radikalisierte Typus zielt auf die Grundlegung der vollständigen Freiheit des Einzelnen, der total und vernünftig denken kann, in der Gesellschaft. Für seine Freiheit muss es gar keine Beschränkung des Besitzes geben. Und seine Handlung muss als etwas, was aus der Freiheit des selbstständigen Individuums entsteht, unterstellt werden. Dieser Typus hat auch andererseits als der ontologische Maximalfall der gelegentlich realiter geschehenden Streitfälle Realität. Das streitfähige Bewusstsein ist in seiner vollkommenen Potenz das totale Bewusstsein. Es ist das vernünftige Bewusstsein, das sich frei auf die Totalität des Seins bezieht. Für es ist das ganze Sein schlechthin ideell entweder aufgehoben oder aufhebbar. Für es ist selbst ein Ding nicht mit dem eigenen Wert allein, sondern auch als Wert oder Bestimmtheit von ihm her vorhanden. Das Ding hat schon “seinen Gegensatz gegen mich verlohren” und besteht nun für mich nur als bestimmt von mir. Insofern ist es nun mein. Aber es gehört nicht nur mir, sondern ist schlechthin eins mit meiner Totalität. Es ist Ich. Als diese Totalität treffe ich mit dem Anderen als der gleichen Totalität zusammen. Und insofern das Ich selbstständig und für sich seiend oder nach der zweiten Geistesphilosophie das geistige Anerkennen selbst ist, will jeder sein totales Bestehen gegeneinander “anerkennen, und anerkannt wissen”. Dieser Wille zum Anerkennen bedeutet inhaltlich, dass jeder im Bewusstsein des anderen als seine eigene Totalität erscheinen, d. i. daß der andere “aus der ganzen Extension seiner Einzelnheiten” ausgeschlossen werden soll. Denn das Bestehen eines jeden als Totalität ist formell abhängig vom Ausschließen des anderen. Das, dessen einer Teil vom anderen Einzelnen einseitig oder gemeinsam besessen ist, ist nicht total. Solange jeder Einzelne als Totales bestehen will, ist das Ausschließen, also der Kampf zwangsläufig. Dies Bestehen lässt sich gar nicht durch sprachliche “Versicherungen, Drohungen oder Versprechen” garantieren. Diese Art Vereinbarung ist nichts anderes als “die ideelle Existenz des Bewußtseyns” und nicht einmal aus dem totalen Bewusstsein immanent abgeleitet. Sie ist unvollkommen wie die ideelle Halbwahrheit. Hier dreht es sich vielmehr um die “wirkliche” und “praktische” Beziehung zwischen den wirklich und absolut für sich seienden Einzelnen (J I.308), d. h. um die ontologische Tatsache, dass jeder nach der Totalität seines Bewusstseins auch in der Beziehung auf den anderen als solche existieren will. Beide “müssen daher einander verletzen” und beleidigen, wie ihre Totalität exklusiv ist (J I.309). 209 1.2. Kritik am Naturrecht Dieses Verhältnis der wechselseitigen Exklusion ist de facto bei Hegel nicht originell, sondern hat seinen Ursprung in der Naturrechtslehre. Seine Originalität liegt eher in seiner manchmal als schwankend angesehenen, zweifachen Einstellung zur Naturrechtslehre. Durch dies scheinbare Schwanken aber setzt sich seine realistische Haltung für das vernünftige Verstehen dessen, was ist, durch. Die neuzeitliche Naturrechtslehre setzt sich aus zwei zusammengehörenden Hauptelementen zusammen, d. i. aus den Lehren vom Naturzustand und vom gesellschaftlichen Vertrag. Dieser ursprüngliche Vertrag ist auf der einen Seite eine vernünftige Maßnahme, den Rechtszustand einer Gesellschaft zu konstruieren, und gründet sich auf das Recht der Natur, das bald als den Chaoszustand bewirkend, bald als diesen in eine Ordnung bringend beschrieben wird. Auf alle Fälle begründet das Naturrecht den ursprünglichen Vertrag, der durch die vernünftige Natur des Menschen im Naturzustand erfordert wird. Andererseits ist der Naturzustand Zustand des Chaos und der Unordnung, aus dem der Mensch nur durch einen solchen Vertragsschluss herauskommen kann. Die Natur heißt daher hier zum einen das Vernünftige der Vertragsmöglichkeit, zum anderen das rein empirische des chaotischen Naturzustandes. In der Naturrechtslehre sind nämlich die zwei Bedeutungen des Naturbegriffs verquickt. Die Ambivalenz des Naturbegriffs ist bereits in der mythologischen Zeit durch seine etymologische Wortbildung von φυεσθαι oder nasci vorbestimmt, was das Werden als ein bloßes Phänomen oder nach dem Wesen bedeutet. Auf dem Standpunkt des bloßen Werdens und Änderns ist der Begriff etwas unmittelbar Gegebenes, also Ordnungsloses, dagegen auf dem Standpunkt des Prinzips des Gewordenen das Wesen und die Beschaffenheit von etwas. Hegels Einsicht in diese Ambivalenz lässt sich bereits an seinen frühen Studien über den griechischen Glauben an die Göttin des Geschicks, Μοιρα, ablesen, die mit der blinden Notwendigkeit die Natur beherrscht. Die Natur entsteht zwar blind notwendig, aber insofern sie von den Göttern beherrscht wird, bringen sich die Achtung und der Gehorsam “vor dem Strome der Naturnothwendigkeit” mit der “Überzeugung” von ihrer Herrschaft “nach moralischen Gesezen” zusammen (FS 106).13 Bezüglich des Naturrechts warnt Hegel später auch in den Vorlesungen vor der Veröffentlichung der Rechtsphilosophie einleuchtend vor der 13 Nach den Fragmenten historischer Studien Hegels 1795-98, die Rosenkranz überliefert, wurden die Natur und das Göttliche “durch die Einrichtung des römischen Staates” getrennt, während Christus als Mensch “der Verbinder beider” wurde. HLeben, S. 522-523. Auch FN, S. 51-52. In der entgötterten Natur wurde das Vernunftrecht des Gott-Menschen das Naturrecht. Die Ambivalenz des Naturbegriffs, die sich im Zusammenhang des Natur- und des Gottesrechts zeigt, bestand auch im Zusammenhang des Naturund des Vernunftrechts weiter. 210 begrifflichen Zweideutigkeit. Demnach mache er vom Terminus des Naturrechts nur herkömmlichen Gebrauch, da unter Natur zum einen “das Wesen und der Begriff von etwas”, zum anderen “die bewußtlose unmittelbare Natur als solche” verstanden werde (VNS § 2, VR I. § 3). Denn eben im Naturrecht der Neuzeit geschieht wiederum die Vermischung dieser Bedeutungen ohne begriffliche Differenzierung. Repräsentativ für diesen Fehltritt ist in Hegels Augen vor allem Thomas Hobbes,14 der durch die empirische Behandlung des Naturrechts die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Vertrags begründen will. Diese empirische Behandlungsweise ist es, die zusammen mit der anderen, reinformellen, bereits im Jenaer Naturrechtsaufsatz Hegels zur Zielscheibe seiner Kritik wurde. Ihm zufolge liegt der Hauptirrtum der empirischen Behandlung im Festhalten an der bloß reinen Empirie. Aber es gibt ‘keine bloße, von allem Widerschein des Absoluten unberührte’,15 also inhaltlich vernunftlose Empirie, genauso wie kein reines, von allen Materialien der Empirie abstrahiertes, also formell nur negativ Absolutes. In der Einseitigkeit sind beide also nicht so verschieden, sondern treffen sich in der Anwendung des eigenen Prinzips aufeinander. Die Reinheit der Empirie kann nämlich lediglich durch die Abstraktion von der unlauteren 14 Aber Hegel hält andererseits auch diesen naturrechtlichen Ansatz von Hobbes hoch, die bis dahin naturteleologisch, also naturtheologisch begründete Staatsgewalt auf Prinzipien des Menschen selbst zurückzuführen, dadurch, dass er natürliche Bedingungen nur insofern in die Verbindung mit Recht und Gesellschaft bringt, als sie das notwendige Gesetz des Verlassens des natürlichen Rechts enthalten. Die Zweideutigkeit des Naturbegriffs bei Hobbes trägt nämlich zur Verwandlung des traditionellen Naturrechts ins Recht des Menschen bei, das später als Vernunftrecht aufgefasst wird. Riedel zufolge versucht Hegel bis 1803/04 ‘den ursprünglichen Zusammenhang’ der zwei Seiten des ambivalenten Naturbegriffs, d. i. ‘von Recht und Natur, wieder zu Geltung zu bringen’. Aber durch seine konzentrierte Auseinandersetzung von 1804 mit Fichte verändere sich seine Naturrechtskonzeption; letztlich seien seit 1816 Natur und Freiheit, Naturgesetz und Rechtsgesetz auseinander getreten. Riedel, Manfred: Hegels Kritik des Naturrechts, HS 4, S. 177-204. Natur und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie MR, S. 109127. Diese Behauptung müsste aber etwas gemildert werden. Das Seiende als die Natur wird auch, worauf schon Aristoteles hingewiesen hat, in mehrfacher Weise ausgesprochen. Die Freiheit oder das Recht ist also die Natur des vernünftigen Seienden, des Menschen. Hegel versucht von Anfang an immer das Recht als die Natur des spezifisch vernünftigen Seienden zu entwickeln und damit beide im geistesphilosophischen Bereich zu vereinigen, wie Aristoteles als erster die Zweideutigkeit des Naturbegriffs im Bereich der Physik und der Politik einheitlich erklären wollte. Aristoteles: Metaphysica, 1014b-1015a. Physica, 186b-192b. Ethica Nicomachea, 1134b-1135a. Politica, 1254a. Die unvernünftige Modalität des Menschen ist also nicht die Natur des Menschen, sondern nur die Natürlichkeit als seine Unmenschheit, die auch unter Menschenmengen als Naturzustand der bürgerlichen Gesellschaft oder des Staatenverhältnisses vorhanden sein kann. Das, worauf Hegel verzichtet, ist nur der bereits verwirrte Terminus ‘Naturrecht’ als ein philosophischer Begriff. Die Natur im von Hegel noch so genannten Naturrecht bleibt daher ‘die Natur, d. h. das begriffliche Wesen des Rechts’. Schnädelbach, Herbert: Hegel und die Vertragstheorie, HS 22, S. 114. Dies lässt sich auch daran zeigen, dass der Geist bei Hegel ‘keine metaphysische Entität jenseits der Natur bezeichnet’, sondern ‘für die Konstellation aus Gesellschaft, Individuum und Natur’ steht. Er ‘ist ein individuell-gesellschaftliches Naturverhältnis’. Der Mensch als das geistige Seiende erkennt und anerkennt also seine natürlichen Triebe vernünftig und notwendig und verwandelt sie in seine zweite Natur, die Vernünftigkeit. Reusswig, Fritz: Natur und Geist, S. 7-17, 145-167. Ein Beispiel davon ist eben der Anerkennungskampf. 15 HH, S. 145. 211 Mannigfaltigkeit der Erfahrungen zustande kommen. Hier herrscht bereits der Formalismus.16 Der rechtlose Zustand der bloßen Empirie, der in dieser Weise von der unrechtlichen empirischen Mannigfaltigkeit abstrahiert wird, ist gerade der Zustand der reinempirisch vorgestellten, ursprünglichen Einheit als “Chaos”, das “bald mehr unter dem Bild des Seyns durch Phantasie als Naturzustand, bald mehr unter der Form der Möglichkeit und der Abstraction” “als Natur und Bestimmung des Menschen” beschrieben wird. Der ursprüngliche Zustand, der “als schlechthin nothwendig, an sich, absolut” behauptet ist, ist einerseits durch “eine Fiction” für das Modell der reinen Empirie als der Naturzustand vorgestellt, andererseits durch das formelle Hineinbilden des gesellschaftskonstruktions-, also vertragsfähigen Naturells des Menschen aufgrund der empirischen Psychologie “als Gedankending”, “als eine bloße Möglichkeit” anerkannt. Daher vertritt der Naturzustand selbst auch die Zweideutigkeit des Naturbegriffs des Naturrechts. Er ist aber nur formelle Koppelung zweier Unverträglicher, deshalb “der härteste Widerspruch” (JKS 424). Zudem fehlt der empirischen Behandlungsweise das für ihre Wissenschaftlichkeit entscheidende Kriterium für die Grenze zwischen dem, was notwendig den Naturzustand bildet, und dem Zufälligen. In dem Naturzustand ist nur so viel, was “für die Darstellung dessen, was in der Wirklichkeit gefunden wird”, brauchbar, also durch die Extraktion aus den Erfahrungen herausgelöst ist. Das “richtende Princip für jenes apriorische” und rein Empirische im Naturzustand ist nur “das aposteriorische” (JKS 425). Der Naturzustand ist nichts anderes als das Resultat der ‘Projektion des Faktischen ins a priori Normative’ ohne Maßstab.17 Die Wissenschaftlichkeit der empirischen Behandlung dieser Fragen ist für Hegel deshalb letztlich zweifelhaft. Hegels Kritik an der Wissenschaftlichkeit des Naturrechts lautet nicht viel anders als gegenüber der rein formellen Behandlungsweise des transzendentalen Idealismus. Eher gelangt die kritische Philosophie im Naturrecht zum “Culminationspunkt desjenigen Gegensatzes”, der zwischen dem Absoluten und dem Endlichen, dem Einen und dem Vielen, oder dem Ideellen und dem Reellen besteht (JKS 419). Kant bemerkt bereits in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft die Ambivalenz des Naturbegriffs, dessen 16 Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 29. Diese formalistische, also idealistische Neigung bezeichnet im Grunde genommen den Schwachpunkt allen neuzeitlichen Empirismus. Ein Umkehrschluss von der Behauptung der Empirie als Ursprungs des Wissens zum Grund der Behauptung entlarvt seine unempirische Formalität, z. B. die sogar Gewissheit des Wissens garantierende Perzeption von Locke und Berkeley, was diese deshalb inkonsequent auch irrtümlich zur Annahme einer Substanz führt, oder die nur Ideen als Materialien der Assoziation angebende Impression von Hume, die nichts anderes als die von der vernünftigen Tätigkeit der Assoziation formell gereinigte und getrennte Erfahrung ist. Deshalb muss die notwendige Konnexion in der Kausalität als einer Assoziation sowohl der Empirie, weil sie unerfahrbar ist, als auch der Vernunft, weil dann nichts sie sichert, bezweifelt werden. 17 Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 30. 212 Praktisches ‘mit dem Praktischen nach dem Freiheitsbegriffe für einerlei’ genommen wird. 18 Jenes technisch-Praktische muss freilich vom moralisch-Praktischen streng unterschieden werden, aber insofern ‘der Freiheitsbegriff’ auch ‘den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen’ soll, muss auch der Grund der Einheit beider gedacht werden können. Dieser Grund wird dadurch bereitgestellt, dass die übersinnliche ‘Gesetzmäßigkeit’ der Form der Natur wenigstens als ‘zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen’ zusammenstimmend gedacht wird. Er ist nämlich der ‘Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zu Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält’. Der Zweck nach dem Freiheitsbegriff soll als die phänomenale Wirkung in der Sinnenwelt existieren. Dafür muss ‘die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur’ vorausgesetzt werden. Diese Bedingung ist sogar nichts anderes als die apriorische Bedingung in der Natur des Menschen ‘als Sinnenwesens’. Denn ‘allgemeine Naturgesetze’ als unerfahrbar haben ‘ihren Grund in unserem Verstande’.19 Die Gesetzmäßigkeit der Natur als im Verstand begründet kann daher nur als in der Natur des freien sinnlichen Menschen vorausgesetzt die Zweckmäßigkeit sein. Diese Natur des Menschen ist es, die Kant eben in den Formen der Urteilskraft zu entfalten versucht. Bemerkenswert ist hier andererseits, dass die Natur in ihrem Recht schon damit als die Natur des Menschen, d. i. die Vernunft vorbestimmt ist, die Gesetze denken und nach denselben handeln kann. Das Naturrecht wird daher in der Metaphysik der Sitten schlechthin als ‘das a priori durch jedes Menschen Vernunft erkennbare Recht’, d. i. als das Vernunftrecht definiert, das mit dem positiven Recht die systematische Rechtslehre bildet. Demzufolge ist auch der Naturzustand der noch nicht bürgerliche, aber schon gesellschaftliche Zustand des Privatrechts, aus dem gemäß dem in der Vernunftidee bzw. im Vernunftrecht liegenden Postulat des öffentlichen Rechts in den Zustand desselben mit der äußeren Zwangsgewalt überzugehen ist.20 Das Naturrecht wird in der ein Jahr vor der Kantischen Metaphysik der Sitten erschienenen Schrift Fichtes, d. i. in der Grundlage des Naturrechts, im gleichen Sinne betrachtet. Das Naturrecht ist Fichte zufolge das Recht derjenigen Natur, ‘welche 18 Jaeschke unterscheidet zwei damalige Kritiker des Naturrechtsbegriffs, die sich auf Hegel erheblich auswirkten. Deren einer sei allerdings Kant, der auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die Natur als den deskriptiven Bereich, wo ‘keine Norm gesetzt’ sei, differenziere. Der andere sei Edmund Burke, der in seinen Reflections on the Revolution in France im Gegensatz zu Kant den Naturrechtsanspruch kritisiere, der mit seinem ‘künstlichen, „gemachten“ Ideal’ von ‘Natur = Vernunft = Aufklärung = Revolution’ ‘die Wirklichkeit des geschichtlich vorhandenen Rechts zerstöre’. Dadurch behält Hegel das Gleichgewicht der mit der sinnlichen Wirklichkeit vermittelten Vernunft seit seiner Jugendzeit auch hier weiter. HH, S. 366-367. 19 KU, AIVI-LV. 20 MSr, AB44, 139-140, A157-165 (B156-158, 193-194). 213 mehrere vernünftige und freie Wesen neben einander, in der Sinnenwelt, wollte, indem sie mehrere der Ausbildung zur Vernunft und Freiheit fähige Leiber producierte’, als ob sie, mit Verstand und Willen, nichts anderes als dies Nebeneinander der freien Vernunftwesen planen würde. Es ist daher das Vernunftrecht zwischen den freien Vernunftwesen ‘in einem gemeinen Wesen’. Es ist das Urrecht, das den Grundsatz der positiven Gesetze in einer Gemeinschaft bildet. Dies Gemeinwesen ist für Fichte vor allem der Staat. Der ‘Staat selbst wird der Naturzustand des Menschen, und seine Gesetze sollen nichts anderes seyn, als das realisirte Naturrecht’. Denn es gibt kein Naturrecht zwischen Menschen außer dem Gemeinwesen.21 Die Naturrechtslehre der kritischen Philosophie macht insgesamt keinen Gebrauch vom empirischen Naturbegriff. Hegels Kritik im Naturrechtsaufsatz richtet sich zuerst also nicht sowohl auf das Detail des durch die kritische Philosophie dargestellten Naturrechts als vielmehr auf ihr “Princip der dem empirischen sich entgegensetzenden Apriorität”, das das Naturrecht als rein formelle Wissenschaft konstruiert. Dies Prinzip beruht nicht zuletzt auf ihrem Verständnis der “Unendlichkeit” bzw. des Absoluten (JKS 430). Ihr Absolutes ist Hegel zufolge nichts anderes als “das negativ Absolute”, weil es lediglich durch die Abstraktion seiner reinen Form und die Negation des mannigfaltigen Seins des Endlichen aufgefasst wird. Alle Entgegengesetzten sind in der Reinheit der Form gleich. Die reine Idealität eines Baums ist nichts anderes als die von seiner materiellen Einzelheit abstrahierte, reine Realität desselben. Das Un-endliche in seiner Formalität ist das absolut Endliche, das Endliche in seiner formellen Absolutheit. Das Unbestimmte ist das absolut Bestimmte in seiner formellen Bestimmung.22 Vor allem ist die reine Identität “unmittelbar reine Nichtidentität oder absolute Entgegensetzung”, weil das, was formell nicht zum Gegenstand oder entgegengesetzt wird, nicht identisch sein kann. Durch diese Abstraktion wird auf der einen Seite die reine Einheit der Vernunft errungen, die das Absolute genannt wird. Dafür wird andererseits “die Realität, oder das Bestehen der entgegengesetzten” in ihrer materiellen Konkretheit in “empirischer Weise” “fixiert” und als Unreines, Unvernünftiges, also zu Negierendes aufgestellt (JKS 431). Das Prinzip der Apriorität der rein formellen Naturrechtslehre ist das Prinzip dieser Entgegensetzung der formellen Einheit der reinen Vernunft gegen das Endliche, Viele und Reelle. Wenn die empirische Naturrechtslehre durch die formelle Abstraktion empirisch vorgefundene Elemente in den ursprünglichen Zustand hineinbildet, denkt die rein formelle in gleicher Weise aus dem Zustand des 21 Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 93, 148-149. Fichte selbst korrigiert also später 1812 seinen Ausdruck so; ‘Naturrecht, d. i. Vernunftrecht, und so sollte es heißen’. Das System der Rechtslehre, S. 498. 22 Aller Extremismus in jedem Bereich der Theorie und der Praxis trifft so aufeinander. 214 Vernunftrechts die empirischen Elemente hinweg, um die absolut reine Bedingung für das Recht und die Moralität herauszustellen. Aber ihr behauptetes Absolutes ist nur negativ und hat daher keine positive Realisierung in der Welt. Außerdem ist die Naturrechtslehre der kritischen Philosophie wegen ihrer Reinformalität zwar unter der reinen Einheit der Vernunft in die objektive Rechtslehre und die subjektive Tugendlehre eingeteilt, aber diese Teile haben inhaltlich miteinander nichts zu tun.23 Nur in solcher Entgegensetzung ist sie eine reine Einheit, aber eben deshalb läuft Hegel zufolge auch das apriorische Prinzip selbst der Sittlichkeit auf “das Princip der Unsittlichkeit” hinaus, gleichwie alle Gegensätze in ihrer reinen Form gleich sind (JKS 437). Denn es gibt gar keine Bestimmtheit, die nicht “in die Begriffsform aufgenommen und als eine Qualität gesetzt”, dann “zu einem sittlichen Gesetz gemacht werden könnte” (JKS 436). Kants berühmtes Beispiel vom Depositum,24 dessen Niederlegung niemand beweisen kann, zeigt die formelle Einheit durch ein einseitig gewähltes der entgegengesetzten Glieder. Die Ableugnung des Depositums zur Maxime zu machen führt Kant zufolge unter der Prüfung der allgemeinen Gesetzgebung zum Resultat, dass es gar kein Depositum geben würde. Dann widerspreche dies dem, dass ein Depositum möglich sei, daher könne die Ableugnung keine Maxime werden. Aber dieser Widerspruch ist in Hegels Augen überhaupt kein realer, sondern nur formaler, wie im formallogischen Widerspruchsatz alles und das jeweils Entgegengesetzte als Glieder aufgestellt werden können. D. h. das Depositum und das Nichtdepositum stehen hier nur im formellen Gegensatz. Und alle Glieder des Gegensatzes sind in dem Punkt gleichgültig und gleichwertig, dass sie eben im Gegensatz, also als entgegengesetzte sind. Auf der einen Seite wird zwar das Nichteigentum hergeleitet, aus dem aber sein Widerspruch mit dem Eigentum nicht deduziert, sondern einfach formell gesetzt ist, weil andererseits das Eigentum als bestehend gesetzt ist. Aber das Warum des Bestehens des Eigentums als Maßstab ist nicht erklärt, sondern de facto ist nur auf dem einseitigen Standpunkt, dass Eigentum sein soll, gefordert, dass jene Maxime ausgeschlossen werden muss. Schließlich ist nichts darüber erläutert, warum ein Eigentum bestehen muss und warum also jene Ableugnung des Depositum unerlaubt ist. Dies alles ist erklärbar nur aufgrund dessen, “was außerhalb des Vermögens dieses praktischen Gesetzgebens der reinen Vernunft liegt” (JKS 436). Sonst ist die Gesetzgebung dieser Vernunft lediglich petitio principii. Ihr Prinzip ist des Weiteren insbesondere in seiner Anwendung unsittlich. Um Hegels berühmtes Beispiel anzuführen, hat die Maxime, den Armen zu helfen,25 wenn als 23 24 25 MSr, AB13-18. Fichte: Grundlage des Naturrechts, S. 10-11. KpV, A49-51. GMS, AB56-58. 215 Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gedacht, zur Folge, entweder, dass es keine Armen mehr gibt, weil ihnen allgemein geholfen wurde, oder dass durch die Hilfe allgemeine Armut herbeigeführt wird. Schließlich wird es keine Menschen mehr geben, denen geholfen werden kann oder die helfen können. Die “Maxime also als allgemein gedacht hebt sich selbst auf” (JKS 439). Hegel spricht daher auch dieser Behandlungsweise der Naturrechtslehre “für das Wesen der Wissenschaft alle Bedeutung” ab (JKS 419). Wenn die erste Jenaer Geistesphilosophie die Idealität des kontraktuellen Elements der Naturrechtslehre verwirft, kritisiert die zweite die Fiktivität des Naturzustandes derselben. Hegel hat hier vor allem den Naturzustand des Hobbes im Sinne. Dieser Zustand ist “das freye gleichgültige Seyn von Individuen gegeneinander”, in dem sie “keine Rechte und keine Pflichte gegeneinander” haben, sondern nur “der Begriff der gegeneinander freyen Selbstbewußtseyne gesetzt” ist. Dies Setzen der freien selbstbewussten Individuen als Ursprung aller Rechte wird von Hegel als ein wichtiges Verdienst Hobbes’ angeführt.26 Aber seine Willkürlichkeit liegt dagegen auch darin, dass es unerklärt ist, nach welcher Notwendigkeit der Zustand eingeführt wird und was für Rechte und Pflichte daraus entstehen. Lediglich weil es im Naturzustand keine Rechte und Pflichten gibt und weil jeder den Begriff seines freien Selbstbewusstseins realisieren muss, muss der Zustand schlechthin verlassen werden. Die Aufhebung dieses Zustandes wird des Weiteren aber “in der That bewußtlos” vollzogen, d. i. “daß der Begriff nicht in den Gegenstand fällt”. Jeder nämlich realisiert nicht seinen Begriff selbst als das freie Selbstbewusstsein zu einem Gegenstand, sondern er wird so gedacht, dass er für solche Realisierung den Zustand verlassen hat. Das Subjekt dieser Annahme könnte kein anderer als der Naturrechtslehrer sein, von dem auch Rechte bzw. Pflichten als die Bedingung der Realisierung äußerlich aufgestellt werden.27 Obzwar der Begriff des Individuums von Hobbes als das freie Selbstbewusstsein gut angesetzt ist, wird die 26 Jaeschke zufolge besteht Hobbes’ Fortschritt vor allem darin, dass die Freiheit des Menschen trotz seines Naturrechtsansatzes ‘nicht kontraktualistisch’, sondern bereits im Naturzustand, wo kein Unrecht ist, weil kein Recht ist, nicht nur als ‘ein Faktum’, sondern auch als ‘die alleinige Quelle des Rechts’ begründet, wodurch das Normen bildende Faktum der menschenrechtlichen Freiheit einzig denkbar wird, während sie bei anderen Theoretikern außer Kant und Hegel erst durch die Kontraktschließung zum Übergang vom unfreien Naturzustand zur Gesellschaft verbürgt wird. Jaeschke, Walter: Zur Begründung der Menschenrechte in der frühen Neuzeit, S. 184-212. Ihm zufolge gelangt diese Begründung auch in der Staatsphilosophie des Hobbes zur ‘Entsubstantialisierung der traditionellen Religion’ und ‘Ausbildung eines künstlichen Staatskultes’. Jaeschke, Walter: Der Glaube als Hüter der Verfassung, S. 107-109. Über den Einfluss von Hobbes auf Hegel siehe Bobbio, Norberto: Hegel und Naturrechtslehre MR, S. 93- 103. 27 Zwischen der kontraktualistischen Rechtfertigung der dem Einzelnen fremden, seine Freiheit einschränkenden Macht und dem Terror der modernen Revolution besteht also ‘ein notwendiger Zusammenhang’. Schnädelbach, Herbert: Hegel und die Vertragstheorie, HS 22, S. 117-120. HH, S. 370371. 216 Notwendigkeit des “exeundum e statu naturae” außerhalb dieses Begriffs nur hineingedacht (J III.214). Eben das Recht selbst ist Hegel zufolge die erste Realisierung des Begriffs. Aus “diesem Begriff soll es entwickelt werden”. Hingegen ist das Recht der Naturrechtslehre nicht bewusstseinsimmanent, das Individuum weiß es also nicht als seine Realisierung. Und eben deswegen liegt auch die Notwendigkeit des nach oder zugleich mit dem bewusstlosen Exodus abzuschließenden Vertrags nicht in den Kontrahenten selbst oder in ihrem Selbstbewusstsein. Hegel lehnt schließlich das Naturrecht und dessen Elemente ab und setzt an dessen Stelle seine Anerkennungstheorie. Freilich bezieht Hegel nicht allein eine negative Einstellung gegen die Naturrechtslehre, weshalb er oft als in ihrer Bewertung schwankend angesehen wird. Aber klar und deutlich ist, dass er keine unrealistischen Elemente des Naturrechts übernimmt. Der Naturzustand und der Vertrag, die erdichtet und formell abstrahiert sind, können daher nicht einmal konstruktiv für seine Anerkennungstheorie sein. Sie werden vielmehr nur insofern ausführlich erläutert, als sie Realität in der Welt des Menschen haben. Der Vertrag wird also nur als zwischen Individuen über konkreten Inhalt realiter geschlossen in Betracht gezogen. 28 Der Naturzustand ist also auch nur insofern Gegenstand der Betrachtung, als er ein wirklich rechtloser Zustand ist. Ihn erkennt Hegel, wie nachher zu sehen ist, in der zweiten Geistesphilosophie eben am Verhältnis der souveränen Staaten zueinander und später in der Rechtsphilosophie auch an der bürgerlichen Gesellschaft der Neuzeit über die Wirksamkeitsgrenze des Rechts hinaus.29 Er macht andererseits das Kampfmoment des Naturrechts dem Bewusstsein immanent. Diese bewusstseinsimmanente Kampftheorie als die Grundlage und der Verlauf der Gesellschaft und des Rechts ist seine Anerkennungstheorie. Nur aus diesem Grunde versteht es sich also gut, dass er wiederum in der zweiten Geistesphilosophie vom Naturzustand redet, nämlich insofern dieser der Zustand des Kampfes aus der inneren Notwendigkeit des Bewusstseins des Individuums ist. 30 Die Bewegung der Anerkennung also “hebt eben seinen 28 ‘Der Vertrag als Naturrechtsfigur’ gehört bei Hegel nicht einmal ‘a priori’ ‘zum Begriff des Rechts selber’, wie Schnädelbach deutet, auch nicht zur Gestaltung der anerkennenden Beziehung, sondern insofern er als konkreter Vertrag zwischen anerkannten Individuen abgeschlossen wird, gehört er zur Anwendung und Entwicklung des Begriffs des Rechts, daher zur anerkennenden Beziehung. Schnädelbach, Herbert: Hegel und die Vertragstheorie, HS 22, S. 113-117. 29 J III., S. 274-275. GPR § 289, § 333. HH, S. 387-390, 398-400. 30 Hegels Rechtslehre ist also Wissenschaft ‘der inneren Logik des freien, sich objektivierenden Willens und ihrer Stellung zum Selbstbewusstsein der Freiheit’, die Jaeschke zufolge in den Jenaer Systementwürfen erst ansatzweise und später in der Rechtsphilosophie verschärft dargestellt wird. HH, S. 371. Die Übergehung dieses Charakteristikums kann dagegen leicht zur Missdeutung wie bei Ilting führen, der das abstrakte Recht und die Moralität in der Rechtsphilosophie nur als ‘eine methodische Fiktion’ für ‘die Bestätigung einer Hypothese’ betrachtet. Ilting glaubt de facto die zwei Stufen mit der ‘Fiktion eines Naturzustandes’ vergleichen zu können. Ilting, Karl-Heinz: Die Struktur der Hegelschen 217 Naturzustand auf”. Ihre logische Notwendigkeit liegt in der selbstrealisierenden Struktur des Bewusstseins und ihre ontische Wirklichkeit in der rechtsbildenden Struktur der Gesellschaft und des Staates. Das Recht ist der realisierte Begriff des freien und selbstbewussten Individuums. Der Begriff des Individuums muss daher das Individuum zum Recht befähigen. Seine Rechtsfähigkeit ist aber schlechterdings nichts anderes als seine selbstbewusste Freiheit. Das Individuum in Hinsicht dieser Rechtsfähigkeit ist gerade die “Person”.31 Der Begriff des Individuums ist die rechtsfähige Person, deren Inhalt “das freye Selbst”32 ist. Dies realisierte Selbst der Person ist zum einen das Recht. Aber indem sich das Individuum als für sich und selbstständig nur in der ausschließenden Beziehung auf das andere realisieren kann, muss das Recht zum anderen auch solche Beziehung sein, deren Ausschließlichkeit überwunden ist. Der Prozess dieser Überwindung ist der Kampf um Anerkennung; als dessen Resultat ist das Recht also “die Beziehung der Person in ihrem Verhalten zur andern”. Das Recht ist als diese Beziehung “das allgemeine Element ihres freyen Seyns”. Die rechtsfähige Person ist bereits durch die bisherige Bewusstseins- oder Geisteslehre als das selbstständige und freie Individuum erreicht. Daher braucht das Recht nicht anderswoher herbeigebracht zu werden, sondern für die Rechtsbildung ist es nur nötig, die Selbstrealisierung des Individuums in der Beziehung auf andere zu verfolgen. Diese Selbstrealisierung ist selbst das “Erzeugen des Rechts überhaupt, d. h. der anerkennenden Beziehung”. Der Mensch ist, wie vorher betrachtet, als das selbstbewusste und selbstständige Individuum für sich das geistige Anerkennen selbst. Er “wird nothwendig anerkannt und ist nothwendig anerkennend” (J III.215). Lediglich Rechtsphilosophie MR, 53-62. Zum Einwand gegen Ilting siehe Fulda, Hans Friedrich: Zum Theorietypus der Hegelschen Rechtsphilosophie. HPR, S. 408-410. 31 Die Person ist bei Hegel schlechthin nur der Begriff des Subjekts oder des freien Willens, insofern der freie Wille sich als selbstbewusstes Allgemeines auf sich in seiner Einzelheit bezieht, also auch als das rechtsfähige Subjekt betrachtet werden kann. In der Persönlichkeit des Subjekts ist daher nach der Rechtsphilosophie “das Wissen seiner als Gegenstandes, aber als durch das Denken in die einfache Unendlichkeit erhobenen und dadurch mit sich rein-identischen Gegenstandes”, d. i. das Wissen vom gegenständlich verallgemeinerten Selbst. Dieses Wissen lässt sich nicht allein, wie in der Interpretation Iltings, der Kantischen psychologischen Persönlichkeit zuschreiben, die das Vermögen hat, ‘sich der Identität seiner selbst in den verschiedenen Zuständen seines Daseins bewußt zu werden’. Denn Hegels Persönlichkeit ist nicht nur ein solches Vermögen für das Bewusstsein der Selbstidentität, sondern ferner sein bewusstseinstheoretisch von allem konkret Beschränkten abstrahiertes und als dessen Wesen erreichtes Allgemeines in seinen einzelnen Handlungen und Beziehungen praktisch-rechtlich zu realisieren und sich auf sein vergegenständlichtes Selbst zu beziehen. Sie ist mit einem Wort der ontologische Begriff des Subjekts in seiner praktischen Adäquatheit. GPR § 35, MS AB22, Ilting, KarlHeinz: Rechtsphilosophie als Phänomenologie des Bewußtseins der Freiheit. HPR, S. 230-231. 32 Dieser Rechtsbegriff, der ‘mehr ist als eine formale Sammelbezeichnung für den Inbegriff der Gesetze, sondern etwas über die Wirklichkeit des Rechtsinhalts sagt’, kann den Defekt des modernen, rein formalen Gesetzesbegriffes bewältigen, der gesetzliches Unrecht nicht ausgrenzen kann. Kaufmann, Arthur: Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S. 21-38, 121-138. 218 aus dieser Bewegung lässt sich das Rechtsverhältnis der Gesellschaft oder, nach der ersten Geistesphilosophie, die wirkliche Sitte des Volkes gut erklären. 33 Die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen ist “kein stillschweigender oder ausgesprochener Urvertrag” (J I.315). Sie ist das Werk und zugleich die Bühne der anerkennenden Tätigkeit des Menschen selbst. “Das Anerkennen ist also das Erste, was werden muß” (J III.218).34 1.3. Kampf und dessen Auflösung Das äußere Moment des Anerkennungskampfes in den beiden Geistesphilosophien ist bekanntermaßen der Besitz. In der ersten Geistesphilosophie setzt jeder Einzelne “in der Einzelnheit seiner Existenz sich als ausschliessende Totalität”. Dies bewusste Setzen muss auch “wirklich werden”, indem er auch schlechterdings wirklich da sein muss. In diesem Dasein oder “in seinem erscheinenden Seyn” kann er als die Totalität bereits nicht umhin, dem anderen gegenüber ausschließend zu sein. Insofern jeder zusammen mit anderen besteht und bestehen muss, kann sich das äußere Sein eines jeden am anderen stoßen. Also verursacht selbst eine bloße Störung des einen im bloß äußeren Dasein die wirkliche Ausschließung des anderen. In diesem Fall lässt sich der Zusammenstoß freilich zumeist einfach durch die Abtrennung eines Individuums lösen. Aber nicht in dem Fall des bloß äußeren Daseins, sondern des Daseins als Besitzes führt die Störung zur aktiv einander ausschließenden Handlung. D. h. in seinem Besitz müsste jeder “besonders nothwendig gestört werden, denn im Besitze liegt der Widerspruch”. Der Widerspruch des Besitzes, der hier zum ersten Mal erwähnt ist, besteht Hegel zufolge eben im Verhältnis des Gegenstandes zum Subjekt. Mit einem Wort ist er der Widerspruch des einzelnen Subjekts mit dem allgemeinen Ding der Natur. Die Allgemeinheit eines Dings, das freilich nur als einzelnes existiert, heißt die 33 In diesem Sinne erfasst Hegels Naturrecht bereits im Naturrechtsaufsatz ‘das Sittliche’. Kimmerle, Heinz: Die Staatsverfassung als „Konstituierung der absoluten sittlichen Identität“ in der Jenaer Konzeption des „Naturrechts“ HR, S. 138-141. Über das Naturrecht als ein Recht ‘von Natur aus’ ‘nur aufgrund der Vernunft als innerstem Wesen des Menschen’ in der Rechtsphilosophie, siehe Fulda, Hans Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, S. 200-203. 34 In der Rechtslehre oder Rechtsphilosophie Hegels als Lehre vom objektiven Geist sind daher die innere Unabhängigkeit des bewusstseinstheoretisch entwickelten Subjekts und die hier erläuterte Anerkennung desselben als gegeben vorausgesetzt. Das Werden des Begriffs des Rechts als Dasein des freien Willens fällt “außerhalb der Wissenschaft des Rechts”. Für sein Werden ist der Begriff des Vertrags als Gegenstand bereits des Rechts ungeeignet. GPR § 2. Siep, Ludwig: Intersubjektivität, Recht und Staat in Hegels ,Grundlinien der Philosophie des Rechts’. HPR, S. 257-264. Das vorausgesetzte Werden des Rechts ist auch nicht einmal durch irgendwelche teleologische Metaphysik der Idee, wie in Dreiers Interpretation, sondern bewusstseinstheoretisch oder geistesphänomenologisch erreicht, wie die bisherige Darstellung zeigt. Dreier, Ralf: Recht – Moral – Ideologie, S. 326-341. 219 allgemeine Äußerlichkeit, d. i. die Andersheit seiner Beziehung. Das Ding kann sich zwar nicht aus sich selbst auf andere beziehen, aber von allen anderen bezogen werden. Deshalb kann es überall da sein, wo sein Bestehen nicht wesentlich gestört wird. Hegel drückt dies als “ein allgemeines der Erde” aus. In dieser Hinsicht enthält es in sich keine Bestimmung der Zugehörigkeit zu einem besonderen bewussten Einzelnen. Ein einzelnes Subjekt, das seine Totalität erreichte, will dieses Ding in seiner Macht haben. Die Besitzergreifung ist daher eine widersprüchliche Handlung, und der Besitz ist das Ergebnis des einseitigen Setzens seitens des Bewusstseins allein, “was wider die Natur des Dings als eines allgemeinen aüssern ist” (J I.309). 35 Im Besitz liegt der Widerspruch der Einzelheit des seiner Totalität bewussten Subjekts mit der äußeren Allgemeinheit des einzelnen Dings. Indem die Besitzergreifung eines Einzelnen gar keine eigentümliche Bestimmung des Dings ist, ist sie offen auch gegenüber allen anderen Einzelnen. Und insofern jeder einzelne, der als ausschließende Totalität besteht, sich eines bestimmten Dings bemächtigt, ist dies für einen anderen notwendig die aktive Störung, die Verletzung seines Seins. Diese Verletzung ist selbst notwendig, sobald ein äußerlich allgemeines Ding von einem anderen in Besitz genommen wird. Wenn die erste Geistesphilosophie den Besitz als die widersprüchliche Handlung des Einzelnen wider die äußere Allgemeinheit des Dings erläutert, ist der Besitz in der zweiten Geistesphilosophie auch ein solcher Widerspruch der einzelnen Besitznahmehandlung mit dem allgemeinen Recht des Subjekts, “Selbst zu seyn”. Auf dies Recht gründet sich das Recht des Besitzes. Der Besitz ist die Äußerung des allgemeinen Rechts, ein Selbst zu sein. Das Individuum kann bereits als das freie Selbst für sich sein und sich selbst als dieses Selbst erkennen und anerkennen. Die Anerkennung seines Selbst aber muss auch äußerlich gelten. Der Begriff des Individuums, Selbst zu sein, ist äußerlich “die Macht gegen alle Dinge”. Daher kann das Individuum auch das, was zum Selbstsein nötig ist, in Besitz nehmen. Aber diese 35 Der Widerspruch des Besitzes liegt bei Kant nicht im Begriff des Besitzes selbst, sondern, nach seiner Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in der Möglichkeit der ‘Läsion’ durch ‘Gebrauch’, den ein anderer von einem Ding macht, das ich nicht physisch besitze. Um der Läsion vorzubeugen, müsste ich also alles äußerlich Benutzbare als das Meine haben, dies würde dann dem Besitz jedes Einzelnen als der subjektiven Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs überhaupt widersprechen. Hierfür schlägt Kant also die Unterscheidung des ‘sinnlichen’, physischen, und des ‘intelligiblen’, bloß rechtlichen Besitzes vor. Der Besitz wird hier nicht sowohl aus dem inneren Widerspruch der Handlung selbst als vielmehr äußerlich von der rechtlichen Seite des besitzexternen Gebrauchs her erklärt. Die Frage, wie der Besitz als die subjektive Benutzbarkeit objektive Rechtlichkeit erhält, wird daher auch nicht durch das immanente Moment des Besitzsubjekts selbst wie im Streit oder Kampf, sondern gemäß der apriorischen Vernunftidee im Rechtslehrer außer dem Subjekt, endgültig nur durch den Übergang vom privatrechtlichen Naturzustand in den bürgerlichen Zustand des öffentlichen Rechts aufgelöst, der unter der Voraussetzung des intelligiblen Gesamtbesitzes insbesondere des gesamten Bodens das Recht des Besitzes peremtorisch und distributiv garantiert. MSr, AB55-56, 63-90. 220 Besitznahme wird nur als “die sinnliche Bemächtigung” des nicht sein Selbst allgemein realisierenden, sondern des “als einzelner” außer sich und dem Ding “einen dritten” ausschließenden Individuums vollzogen (J III.216). In seinem ausschließlichen Haben ist das Individuum unmittelbar, nicht mehr für sich. Denn sein Sein als das allgemeine Selbst ist unmittelbar beschränkt durch ein einzelnes Ding, an dem alle anderen keinen Teil haben sollen. “Das sinnliche unmittelbare, worauf das Allgemeine angewandt ist, entspricht diesem nicht”, und eben insofern ist der Besitz nur die um der Entsprechung willen vom Individuum wiederholte, “schlecht unendliche Theilung” (J III.217). Also ist der Besitz “Widerspruch des Habens und des Fürsichseyns” (J III.216). Er ist nämlich Widerspruch der unmittelbaren Einzelheit der Besitznahme und der Allgemeinheit des für sich seienden Selbst. Wie allgemein das Selbst auch sein mag, so kann es sich doch nicht außer in der einzelnen Beziehung auf das einzelne Ding erhalten und realisieren. Insofern ist der Widerspruch unausweichlich. Die Besitznahme ist in Ansehung ihrer Unmittelbarkeit “nicht an sich allgemein”, sondern “immer ein Widerspruch”, und ihre Angemessenheit zum jeweiligen Bedürfnis des Individuums für sein Selbstsein “widerspricht dem reinen Selbst, der Gleichheit, die gerade dem Rechte zu Grunde liegt”. Und weil noch kein Recht zwischen Individuen außer dem Recht auf Selbst und Ding hier aufgestellt ist, sind die sinnliche Bemächtigung eines jeden und die Ausschließung des dritten darum noch unbegrenzt und völlig “dem Zufalle anheimgestellt”, worin “keine Vernunft” wirksam ist (J III.217). Die denkbare Auflösung der Vernunft ist, quasi in der Vertragstheorie, keinen unmittelbar genommenen, sondern nur “durch Vertrag” vermittelten Besitz anzuerkennen. Aber hierfür müssen im Voraus die Kontrahenten vor allem selbst anerkannt sein. Jedes Individuum ist bereits an sich als “die Liebe”, als das geistige Anerkennen “diß Anerkanntseyn” (J III.218). Es geht nun um das Anerkanntsein eines jeden in der Beziehung auf den anderen. Dies zieht sich insofern notwendig durch den Kampfprozess hindurch, als sich die Selbstständigkeit bzw. Totalität eines jeden nicht aufgeben lässt. Das dadurch gegenseitig anerkannte Individuum wird, wie unten, und ganz anders als in der Vertragstheorie, das wirkliche Subjekt des Vertrags36 über den Besitz sein, der das Recht zwischen Individuen impliziert. In der ersten Geistesphilosophie läuft der Anerkennungskampf nun folgendermaßen. Jeder Einzelne, der das totale Bewusstsein hat, tritt wegen der unmittelbaren Besitzergreifung ins wirkliche Verhältnis der wechselseitigen Negation ein. Jeder schließt von seinem Besitz den anderen “thätlich” aus, stellt seinen vom anderen verletzten Besitz nicht her. Dies wird vom anderen ebenfalls dafür gehalten, dass jener 36 Der Vertragsgedanke hat also bei Hegel ‘seinen Ort ausschließlich im Privatrecht’. HH, S. 386. 221 ihn dadurch verletzt und das “als das seinige” Gesetzte negiert. Insofern jeder Einzelne als die Totalität besteht, ist für ihn “das von dem andern negirte” nicht ein bloß äußeres, sondern “als in seiner Totalität seyend” zu behaupten. Indem jeder so “seine Totalität als eines einzelnen behauptet”, dreht es sich hier nicht um die Negation des Besitzes nur als eines Teils im anderen, sondern um die der Totalität des anderen selbst (J I.309). Insofern jeder die Totalität des freien und selbstständigen Bewusstseins ist, ist diese logische Radikalisierung von der exklusiven Besitznahme bis zur gegenseitigen Negation der Totalität selbst notwendig. Das gegenseitige Anerkennen der Totalität, das jeder Einzelne beim Besitz in Anspruch nimmt, wird also “eine negative Beziehung der Totalität”. Jeder setzt nun seine ganze, in der Beziehung auf den anderen “erscheinende Totalität”, d. i. “sein Leben an die Erhaltung” irgendeines einzelnen Besitzes und geht zugleich ebenso “auf den Tod des andern”. Dieser Kampf ist so widersprüchlich wie der Besitz. Denn jeder will darin die Einzelheit seines Seins als Totalität und die Einzelheit seines Besitzes indifferent, gleichermaßen behaupten. Im Vorgriff auf die Formulierung der Wissenschaft der Logik gesagt, löst und hebt sich der Widerspruch auf, da er die gegenseitig negierende Beziehung der unverträglichen Entgegengesetzten ist. Gleichfalls führt die Reduktion von allem, was den “ganzen Besitz, und die Möglichkeit alles Besitzes und Genusses, das Leben selbst” eines jeden bedeutet, auf den einzelnen Besitz zur Aufhebung dieses allen, inklusive dieses einzelnen Besitzes. Der Widerspruch des Kampfes ist, gleich wie im Besitz, im Grunde genommen der Widerspruch der Einzelheit der Existenz eines jeden mit der Totalität bzw. Allgemeinheit seines Bewusstseins. Der Kampf wird de facto dadurch verursacht, dass jeder seine Totalität als eines Einzelnen, nämlich die “Totalität der Einzelnheit”, durchsetzen will. Dies hat aber durch den Kampf lediglich die Aufhebung seiner als der “Totalität der Einzelnheit” zur Folge. Hierdurch anerkannt ist nur die “vern[ünftige] Totalität” eines jeden Bewusstseins, das die Totalität des Seins als seinen Begriff in sich vereinigt und äußerlich bestätigt, aber eines Bewusstseins, das sich zwar für die Realisierung seiner Totalität im Kampf durchsetzt, allein nun wegen der Aufhebung seiner einzelnen Totalität nicht als solche existieren kann (J I.310). D. h. lediglich die vernünftige Fähigkeit des Einzelnen für seine Totalität ist in Gestalt des Kampfes erwiesen und anerkannt. Wirklich anerkannt ist nur das ideale Vermögen, das nicht mehr realiter in der Einzelheit eines jeden bestehen kann. Durch den Kampf erwiesen ist dennoch auf der einen Seite das vernünftige Vermögen des freien Einzelnen, eben das unendliche Vermögen seiner sich bis zum Tod einsetzenden Freiheit, wie schon erwähnt. Auf der anderen Seite deutet der Kampf auch an, dass die Vernunft, die sich gänzlich in der reinen Form des Einzelnen durchsetzen, als die Aufhebung oder Beherrschung des 222 anderen erscheinen will, letztlich im Kampf sogar die Basis ihres Bestehens verliert.37 Der Anerkennungskampf geht de facto vom Bewusstsein aus, das seine Totalität in der Einzelheit seiner Existenz aufbewahren will. Daher ist zuerst in der Erscheinung die Einzelheit seiner Totalität anzuerkennen. Jeder steht nur als Einzelner in der Welt. Ich kann also nicht unmittelbar “von dem andern wissen, ob er Totalität seye”, bevor er, wenn er von mir “bis auf den Tod” getrieben wird, sein Vermögen erweist, gleichsam sein Leben daran zu wagen. Wenn er sich selbst von dem Tod fernhält und die Verletzung durch mich nur als Verlust seines einen Teils oder seines ganzen Besitzes in Kauf nimmt, ist er mir unmittelbar nur “eine nicht Totalität”. Wenn ich nicht auf den Tod des anderen ziele, sondern “den Streit vor dem Tödten” beende, erweise ich mich ebenfalls nicht als Totalität, sondern erkenne nur die Totalität des anderen an. Das Anerkennen jedes Einzelnen als Totalität kann nicht anders als in den Kampf auf Leben und Tod geraten. “Diß Anerkennen der Einzelnheit der Totalität führt also das Nichts des Todes [herbei]” (J I.311). Die Ursache dieses negativen Ergebnisses liegt entscheidend am totalen Bewusstsein. Das Bewusstsein, das seine Totalität durch die Einzelheit seiner Existenz durchsetzen will, führt letzten Endes zur Vernichtung der Einzelheit, also seiner Totalität selbst. Insofern der existierende Einzelne das totale Bewusstsein hat, ist dies Ende unumgänglich. Die Anerkennung des Einzelnen als Totalität in der Beziehung auf den anderen ist daher wesentlich der unversöhnbare Kampf. Mit Hegels Begriff der Anerkennung hat also eine Vertragstheorie der Gesellschaft oder eine Kommunikationstheorie ohne dieses Moment des bewusstseinsbzw. subjektimmanenten Kampfes nichts Gemeinsames. Das nur durch den Kampf errungene Anerkennen der Einzelnen ist so “absoluter Widerspruch in ihm selbst”. Doch der Widerspruch hebt sich auf. D. h. wenn das Anerkennen meines Bewusstseins als einer Totalität im anderen Bewusstsein verwirklicht wird, bedeutet dies gerade den Tod der Einzelheit des anderen im Kampf oder zumindest die Aufhebung seines Bewusstseins als einer anderen Totalität. Die Anerkennung, die nicht durch einen Gleichrangigen vollzogen wird, ist schon keine Anerkennung mehr. Daher ist die Verwirklichung des Anerkennens geradewegs die Aufhebung desselben. Das Bestehen eines solchen widersprüchlichen Anerkennens ist nämlich das Aufheben des Bestehens. Aber diese Aufhebung des Anerkennens kommt gar nicht zum Schluss der Unmöglichkeit der Anerkennung schlechthin. Das totale Bewusstsein kann in der Beziehung auf das andere “nur als ein Anerkanntwerden” 37 Dies ist das alleinige Resultat der ‘unvernünftigen Vernunft’, ‘die herrschen will’, also ‘notwendig zu Gewalt’ und Kampf mutiert. Dann wäre der Anerkennungskampf Hegels der Geburtsort der mit der Geschichte vermittelten, vernünftigen Vernunft. Jaeschke, Walter: Eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist Jc, S. 210-211. HH, S. 147. 223 bestehen. Insofern muss die Anerkennung für es möglich sein. Sie ist zudem bereits wirklich, insofern die Gesellschaft schon aufgrund ihrer realiter da ist. Zu erklären ist daher nur, worin die Möglichkeit der bereits präsenten Anerkennung eigentlich liegt. Diese sieht Hegel weiterhin im Kontext des Kampfes. Das Ergebnis des Anerkennungskampfes bedeutet gemäß unserer Reflexion, dass das anerkannte totale Bewusstsein “nur ist, indem es sich aufhebt”. Dieses Sein ist realiter nur das Nichts des Todes, falls der Kampf wirklich geführt wird. Aber das totale Bewusstsein hat des Weiteren bereits dies Vermögen unserer Reflexion. Es ist das Bewusstsein, das den ganzen Kampfprozess für sich reflektieren und erkennen kann.38 Also erkennt es die Aufhebung seiner selbst als conditionem sine qua non seiner Anerkennung. Es erkennt, dass es, um anerkannt zu werden, aufgehoben und aufgeopfert werden muss. Es verwandelt damit seine reale Aufhebung durch den Kampf in eine ideale Aufhebung. Es will daher nun seine Totalität nicht durch die Einzelheit der unmittelbaren Existenz durchsetzen, sondern setzt zuerst aus sich selbst seine Totalität “als eine aufgehobene”. Denn jeder erkennt nun, dass die Totalität seines Bewusstseins in seiner Einzelheit, d. i. die einzelne Totalität seines Bewusstseins, nur als eine solche aufgehobene anerkannt werden kann. Die sich so setzende, einzelne Totalität des Bewusstseins ist “eine sich selbst aufhebende”. Ohne diese Selbstaufhebung ist sie in ihrer Realisierung immer widersprüchlich und endet in ihrer Vernichtung. Die unmittelbare Totalität des Bewusstseins des Einzelnen, wie vollständig es auch sein mag, ist unrealisierbar, daher überhaupt kein wahrhaft Allgemeines. Dagegen ist die einzelne Totalität als von sich selbst aufgehoben ferner bereits als “eine anerkannte” realisiert. Denn ihr Aufgehobensein ist eben das, was das andere Bewusstsein in jenem Kampf um seine Anerkennung erzielt. Sie besteht nun als aufgehobene, so wie im anderen Bewusstsein, und ist von ihm als solche anerkannt. Ihr durch sich Aufgehobensein ist ihr Anerkanntsein im anderen. Diese Selbstaufhebung wird freilich wechselseitig vollzogen. Die daraus resultierende gegenseitige Anerkennung geht also über den Kampf auf 38 Die Bedeutung der Reflexion des Bewusstseins in sich für die Auflösung des Kampfes ist hier zum ersten Mal thematisiert. Vgl. Bonsiepen, Wolfgang: Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, HSB 16, S. 88-89. Siep, Ludwig: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, S. 178190. Eben deshalb hat Hegels Rechtslehre eine Entwicklung, die außerhalb ihrer liegt, zur Voraussetzung. Das Bewusstsein ist bereits als totales zu seiner Freiheit gelangt und hat sein freies Dasein als Recht. Das totale Bewusstsein in der ersten Jenaer Geistesphilosophie, der selbst erkennende, freie Wille in der zweiten Geistesphilosophie und das Selbstbewusstsein in der Phänomenologie des Geistes sind zumindest für sich schon unserer Reflexion fähig, also ist der Begriff des an und für sich freien Willens in der Rechtsphilosophie nicht nur für uns, sondern auch für das Bewusstsein selbst. Sonst hätte die Rechtsphilosophie quasi noch eine ‘Phänomenologie des Bewußtseins der Freiheit’ nötig, wie Ilting meint. Aber sie ist gar keine andere Phänomenologie, sondern schlechthin Ontologie des selbst objektivierenden und objektivierten Geistes als Recht. Vgl. Ilting, Karl-Heinz: Rechtsphilosophie als Phänomenologie des Bewußtseins der Freiheit. HPR, S. 225-254. 224 Leben und Tod hinaus. Und die so anerkannte einzelne Totalität ist nun eben “absolut allgemeines Bewußtseyn”, das Hegel hier als den das Volk konstituierenden, absoluten Geist ausdrückt (J I.312). Nach der zweiten Geistesphilosophie beruhen die Aufhebung des Kampfes und das Erreichen der Anerkennung auf dem Wissen von sich als aufgehoben im anderen, ähnlich wie auf dem Erkennen des Bewusstseins für sich in der ersten Geistesphilosophie. Jeder ist durch die Ausschließung und Überwältigung im Kampf idealiter als ein Aufgehobenes im anderen und realiter als ein Aufzuhebendes durch den anderen. Charakteristisch hierfür ist, dass der Anerkennungskampf nicht geradewegs in dem Nichts des Todes, sondern davor in der höheren Ungleichheit endet. Diese “höhere Ungleichheit”, die als der logische Ausdruck der Beziehung von Herrschaft und Knechtschaft in der gleichzeitig geschriebenen Phänomenologie des Geistes anzusehen ist, gewinnt mehr an geschichtlicher39 und gesellschaftlicher Realität, die auch das Wissen von sich als aufgehoben im anderen konkret kategorisieren kann. Denn in der realisierten Ungleichheit ist dieses Wissen auch wirklich. Dadurch steht auch das reflektierende Erkennen des Bewusstseins als das Kernmoment der erreichten Anerkennung in der ersten Geistesphilosophie ferner auf der wirklichen Basis. Als ein weiterer Charakter ist in der zweiten Geistesphilosophie schon mehr präzisiert, dass es im Besitz nicht darum geht, wer sich zuerst eines Dinges sinnlich bemächtigt und damit den anderen ausschließt, sondern es geht um die schon geschehene Tatsache selbst, dass irgend jemand bereits, wenn auch “ruhig unbefangen”, etwas in Besitz genommen und zugleich den anderen ausgeschlossen hat (J III.219). Im bereits ergriffenen Besitz weiß jeder nur seinesgleichen, d. i. “des Anderen fürsichseyn im Andern”, das für dessen Selbstständigkeit das Fürsichsein des ersteren ausgeschlossen hat (J III.218). Der Ausgeschlossene setzt also seinerseits ebenfalls “sein ausgeschlossenes Für sich seyn”, “sein Mein”, in den Besitz des Ausschließenden, damit “sein Selbst” “in das Wissen” dieses Besitzers selbst. Dadurch entsteht die Beleidigung oder Verletzung wirklich, die subjektiv dafür gehalten wird, aber noch nicht rechtlich ist. Aller Streit um Besitz geht, genauer gesagt, also nicht um die erste unmittelbare Bemächtigung, sondern um deren Exklusivität und Berechtigung in der Beziehung des Wissens beider (J III.219). Und insofern es um das Wissen eines jeden von “sich als fürsichseyn” und dessen Realisierung im ausschließlichen Besitz geht, ist der Kampf zwischen Individuen um Anerkennung notwendig der bewusst geführte 39 Höchstwahrscheinlich wegen der logischen Eigenschaft als Grundlegung der geistesphänomenologischen Erfahrung des Bewusstseins hat der Jenaer Sittlichkeitsbegriff ‘starke historische Konnotationen’, während er in der Rechtsphilosophie ‘zu einem formell geschichtsindifferenten Begriff’ wird. HH, S. 385. 225 “Kampf auf Leben und Tod” (J III.221). Zwischen diesen Kampf und die erlangte Anerkennung stationiert Hegel eben die oben erwähnte “höhere”, “neue Ungleichheit” als das unmittelbare Resultat des Kampfes. Die erste Ungleichheit vor dem Kampf ist nur physische, in diesem Sinne auch Gleichheit, denn “das herrenlose Ding” lässt sich physisch von jedem beliebigen aneignen. Hingegen hat jeder im Kampf die Absicht, sich nicht eines solchen Dings, sondern des Fürsichseins des anderen um bereits angeeigneten Besitz zu bemächtigen. Der Kampf endet mit dem erfolgten Setzen des einen, nicht ins Ding, sondern ins Fürsichsein des anderen. Dies ist zwar nicht Ungleichheit in der Beziehung der Individuen auf das Ding, aber eine neue, höhere Ungleichheit in der Beziehung zwischen Individuen.40 Diese ungleiche Beziehung ist nichts anderes als die zwischen Herrn und Knecht. Und die Auflösung der Ungleichheit liegt gleichfalls eben in der ungleichen Beziehung selbst. Diese höhere Ungleichheit erklärt Hegel stillschweigend als den Zustand, in dem die Beleidigung oder Verletzung des aus der ersten Besitznahme Ausgeschlossenen gelungen ist. Allerdings könnte auch die Verletzung des Ausschließenden logisch oder geschichtlich erfolgreich sein, wenn er auf seinen Besitz Leben setzen könnte. Allein der bereits aus seinem Sein Ausgeschlossene müsste leichter mit seiner nur reinen und leeren Selbstständigkeit im Kampf die Gefahr des Todes laufen. Wichtig ist aber vor allem, dass die herbeigeführte Ungleichheit, in der das wahrhafte Fürsichsein beider äußerlich unmöglich ist, aufgehoben werden muss. Die Ungleichheit ist de facto “schon an sich aufgehoben”. Denn sie impliziert selbst zugleich die Aufhebung eines jeden als des Fürsichseins. Das Ausschließen in der Besitznahme ist schon durch die Beleidigung oder Verletzung aufgehoben, aber in der Ungleichheit als deren Resultat sind beide auch “ausser sich”, in diesem Sinne aufgehoben. Zum einen setzte sich der Beleidiger im Kampf in das Fürsichsein des anderen. Daher besteht sein Fürsichsein de facto im Beleidigten. Nämlich er ist außer sich und “sich Gegenstand” (J III.219). Zudem ist sein Setzen nur “auf Kosten des andern” möglich, daher hierauf beschränkt. Er restituierte zwar sein verlorenes Sein für sich, aber hat es nicht im unmittelbaren Besitz, sondern lediglich im überwältigten anderen. Wer sein Fürsichsein im anderen hat, ist nicht mehr für sich. Zum anderen verlor der Beleidigte im Kampf seinen Besitz, und sein Fürsichsein ist nun verletzt und aufgehoben. Stattdessen ist in ihm “ein Fremdes für sich seyn” des Beleidigers gesetzt, daher gleichfalls unselbstständig und unfrei (J III.220). Das fremde Fürsichsein in sich gehört nicht ihm, sondern kommt vom Beleidiger her. Auch er ist also außer sich und “sich Gegenstand”. Jeder hat letztlich sein Fürsichsein 40 Hegels Erwähnung der höheren Ungleichheit erinnert also an Rousseaus Unterscheidung von der physischen und gesellschaftlichen Ungleichheit. 226 nur gegenständlich, d. i. nur in seinem Gegenstand. Sich Gegenstand zu sein heißt “ein Wissen” von seinem Selbst zu haben, das an der Stelle des Gegenstandes steht. Sich im Gegenstand zu haben ist nichts als das Wissen oder Erkennen. Eben durch dies Wissen entsteht die Aufhebung der Ungleichheit realiter für beide. D. h. jeder ist nun “seiner im Andern bewußt, zwar als ein aufgehobenes”, obwohl er “dem anderen gelten” wollte (J III.219). Jeder weiß sein aufgehobenes Fürsichsein im anderen auch in dem Maße wirklich, wie die höhere Ungleichheit wirklich vorhanden ist. Durch dieses wirkliche Wissen setzt jeder wiederum, aber nun in anderer Weise, wirklich “sein bewußtes Für sich seyn”. Weil das Fürsichsein eines jeden nach dem Wissen nur als ein Aufgehobenes im anderen gilt, also nur so anerkannt werden kann, setzt jeder es nun nämlich als ein solches Aufgehobenes. Dies Setzen ist nicht mehr das Überwältigen des Daseins des anderen, sondern vielmehr “das durch sich vollbrachte Aufheben des Daseyns” eines jeden im Besitz (J III.220).41 Jeder wird nicht als das unmittelbare Dasein im Besitz, sondern als ein solches anerkannt, dessen Einzelheit vermittels des Wissens aufgehoben ist. Insofern er so den unmittelbar genommenen Besitz nicht als sein Fürsichsein verallgemeinert, sondern dies Fürsichsein in seinem einzelnen und äußeren Dasein als aufgehoben in der Beziehung auf den anderen setzt, ist er schon an sich anerkannt. Denn als dies Aufgehobene gilt jeder bereits für den anderen. Und als dies Anerkanntsein kann jeder nun erst in der anerkennenden Beziehung den anderen auch seinen Besitz anerkennen lassen. D. h. er ist das wirkliche Subjekt der Sittlichkeit. Das allgemeine Durchsetzen des Fürsichseins durch sein einzelnes Dasein oder das unmittelbare Verallgemeinern der Einzelheit des Daseins für sein Fürsichsein, was lediglich zum Kampf führte, wird daher durch das Selbstaufheben der Einzelheit und durch das Wissen und Setzen seines darin realisierten Fürsichseins als des Aufgehobenen überwunden. Die vernünftige Selbstverallgemeinerung des Einzelnen ist in die vernünftige Bildung und Beziehung des allgemeinen Selbst durch die Selbstaufhebung des Einzelnen verwandelt. Diese notwendige Entwicklung nennt Hegel also einerseits wiederum die “List” der “Vernunft”. Der Wille zum Anerkennen ist der Wille, der sein Selbst als dies Aufgehobene weiß. Der dieses wissende Wille ist nicht ein Wille, der sein einzelnes Dasein unmittelbar mit seinem allgemeinen Fürsichsein einseitig vereinigt, sondern “vollkommen in seine reine Einheit reflectirter” Wille, der als das in seinem aufgehobenen Dasein gesetzte, bewusste Fürsichsein rein vereinigt und allgemein anerkannt ist. “Dieser wissende Willen ist nun allgemeiner” Wille, der 41 Dies oder, mit anderem Wort, das Setzen seines Daseins als Aufgehobenes ist eben das Aufheben des Kampfes, nicht das Moment dafür, sich im Kampf als Ehre zu behaupten. Vgl. J III., S. 220, Fußnote 2. und Siep, Ludwig: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, S. 65-66. 227 bereits nichts anderes als “das Anerkanntseyn” ist (J III.221). Der Einzelne mit solch einem Willen ist also andererseits eben als Subjekt der rechtlichen Beziehung der Anerkennung, wie des Tauschs, Vertrags u. a. “die Person. Der Willen des Einzelnen ist der allgemeine, und der Allgemeine ist [der] einzelne”. Der Wille aus dem Wissen des Einzelnen ist allgemein und zugleich als das Wollen des Einzelnen einzeln. Das Verhältnis der Einzelnen mit dem Willen gemäß der Allgemeinheit ihres Wissens ist Hegel zufolge schlechthin “Sittlichkeit überhaupt”, die “unmittelbar aber Recht” der Person ist (J III.222). Die Einzelnen mit dem wissenden Willen treten in die anerkennende Beziehung der Personen ein, durch die das Anerkanntsein als ihr freies Dasein unmittelbar eben Recht ist. Und der Inbegriff der Beziehung, d. i. der anerkennenden Tätigkeit und der anerkannten Ergebnisse, konstituiert eben die Sittlichkeit überhaupt, deren anerkannte, also rechtliche Elemente bald zu betrachten sind. Die Erreichung der Sittlichkeit durch die Selbstaufhebung und Anerkennung des Einzelnen ist in der ersten Geistesphilosophie etwas ausführlicher erläutert. Die Aufhebung der einzelnen Totalität durch sich selbst ist de facto doppelte Aufhebung, kurz, der Einzelheit und der Totalität. Sie ist einerseits Aufhebung der Totalität des Bewusstseins, das in der Einzelheit der Existenz besteht. Insofern jeder Einzelne selbst diese einzelne Totalität seines Bewusstseins aufhebt und als Aufgehobenes setzt, ist das “Seyn des aufgehobenseyn der einzelnen Totalität” nicht mehr beschränkt in der Existenz des einen Einzelnen, sondern auch im anderen Bewusstsein als anerkannt. Die aufgehobene Totalität des Bewusstseins, das über seine einzelne Existenz hinausgeht, ist eine “absolut allgemeine”, die nun in jedem Einzelnen existieren kann. Das Bewusstsein dieser Totalität ist “absolut allgemeines Bewußtseyn”, das auch in jedem Einzelnen insofern absolut realiter vorhanden ist, als er mit anderen in einer Gesellschaft lebt (J I.312). Dieses Bewusstsein nennt Hegel hier den absoluten Geist oder den “Geist, als absolut reales Bewußtseyn”. Im letzteren Ausdruck ist der Geist als objektiver gut hervorgehoben. Dagegen verrät jene Nennung des absoluten Geistes zum einen noch die Unvollständigkeit seines philosophischen Systems, in dem sie später endgültig durch den objektiven Geist ersetzt wird, aber zum anderen beruht sie wegen der häufigen Benutzung des Prädikats höchstwahrscheinlich bloß auf dessen ursprünglicher Semantik von absolut, d. i. ‘abgelöst, vollendet, vollkommen, uneingeschränkt, unbedingt’.42 Der absolute Geist hier wäre dann kein spezifischer Titel für eine Stufe des Systems, sondern hieße allein das allgemeine Bewusstsein, das selbst sogar sich in der Einzelheit seiner Existenz aufhebt und davon befreit. Allgemeines kann in der Welt nur als 42 Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 127. 228 Einzelnes existieren. Aber ohne Aufhebung und Befreiung von seiner Einzelheit kann kein Allgemeines wahrhaft existieren. Um dieser wahrhaften Existenz willen fällt das einzelne Naturding letztlich der Vernichtung anheim. Es ist gerade nur das bewusste bzw. geistige Seiende, das sich in der Einzelheit aufhebt und zugleich als sich Aufhebendes und bildendes Allgemeines in der Einzelheit weiter bestehen kann. Insofern ist das Bewusstsein allgemeines und reales Bewusstsein, in dem der Geist als die Einheit der Einzelheit und der Allgemeinheit nun absolut realisiert wird. Die Selbstaufhebung besagt freilich keine reale Selbstvernichtung, sondern ideelle Selbstaufhebung oder ideelles Setzen des Selbst als Aufgehobenes, das also auch Bereitschaft zur realen Selbstopferung sein kann. Sie ist in diesem Hinblick andererseits auch Aufhebung der Einzelheit, in der sich das allgemeine Bewusstsein bildet und erhebt. Die einzelne Totalität des Bewusstseins als ideell aufgehobene ist “nicht mehr einzelne”, sondern “sich selbst diß aufgehobenseyn ihrer selbst”. Meine Totalität ist nicht mehr nur meine, sondern als aufgehoben die Totalität aller. Meine Einzelheit ist nur eine bloße Möglichkeit für das Bestehen der Totalität, gar keine abgesonderte Wirklichkeit, in der diese für sich ist. Die absolut allgemeine Totalität besteht für sich lediglich über die Einzelheit hinaus oder in der aufgehobenen Einzelheit. Sie ist, “was sie unmittelbar für sich selbst ist”, nur im Bewusstsein eines solchen Einzelnen, der “auf sich Verzicht getan hat” und “immer zum Tode” seiner Einzelheit “bereit ist”. In der aufgehobenen Einzelheit eines Einzelnen schaut ein anderes Bewusstsein der Totalität also eben sich selbst an oder ist eben als das Bewusstsein jenes Einzelnen. In der Einzelheit eines jeden besteht sein Bewusstsein der Totalität als aufgehobenes, als das auch das andere Bewusstsein in ihm sein kann. Dies ist gerade darum möglich, weil die Einzelheit eines jeden nicht nur für seine Existenz, sondern darüber hinaus offen für die Existenz alles Bewusstseins der Totalität ist. Seine Einzelheit ist so aufgehoben, dass sie für seine Existenz gleichwie für die Existenz anderer totaler Bewusstsein eine Möglichkeit ist. Des Weiteren kann die Einzelheit seiner Existenz eher um des sich aufhebenden und bildenden, allgemeinen Bewusstseins willen aufgegeben und aufopfert werden. Dies bedeutet nicht einmal Vernichtung der Einzelheit, sondern die Bildung der absoluten Einzelheit, in der die Allgemeinheit existiert. Die so aufgehobene Einzelheit ist als existierend die “absolute Einzelnheit” (J I.313). Sie ist nichts anderes als die Unendlichkeit, in der der Geist als die wesentliche Einheit des Mannigfaltigen besteht. Dies heißt allerdings ebensowenig, dass die aufgehobene Einzelheit eines jeden unmittelbar die Unendlichkeit, wie oben das Bewusstsein der aufgehobenen Totalität der absolute Geist ist. Diese Identifikation der aufgehobenen einzelnen Totalität mit der Absolutheit des Geistes müsste vielmehr in der logischen Identität ihrer Struktur 229 verstanden werden. Dies bedeutet ferner, dass jeder Einzelne nun das wirkliche Subjekt des Geistes, des geistigen Allgemeinen, daher der Sittlichkeit als der Wirklichkeit des Allgemeinen geworden ist. Während also die Selbstaufhebung der Totalität dem Weg zur Bildung und Entwicklung des Allgemeinen angehört, richtet sich die Selbstaufhebung der Einzelheit nach der wahrhaften Realisierung des Allgemeinen. Hierin liegt das Moment der Selbstopferung nach der Notwendigkeit des auf den Kampf reflektierenden Bewusstseins, in jenem ist das Moment der Gemeinschaftlichkeit impliziert. Bezeichnend für die sich aufhebende einzelne Totalität eines jeden ist daher zum einen die absolut allgemeine Totalität, zum anderen die absolute Einzelheit, Unendlichkeit. Aber insofern diese noch im Werden sind, sind in der einzelnen Totalität de facto die drei Formen des Seins, des Aufhebens und des Seins als Aufgehobenseins “absolut als Eines gesetzt”. Jede einzelne Totalität ist da als sich aufhebend und zugleich als so ideell aufgehoben. Diese drei Formen sind nichts anderes als die Grundstruktur der Anerkennung. Sie heißen auch die gesellschaftliche Grundstruktur des Bewusstseins, solange es nur als anerkannt ist. Sein “Anerkanntwerden ist seine Existenz”. Notwendig dafür ist vor allem die Selbstaufhebung des Bewusstseins. Jedes Ding ist und vergeht, so wie es gegeben ist. Nur das bewusste Seiende erhebt sich über sein Sein, hebt sich auf, wird als aufgehoben anerkannt und existiert als anerkanntes Allgemeines. Das allgemeine Bewusstsein als aufgehoben ist daher “zugleich die ewige Bewegung des zu sich selbst werden eines, in einem andern, und des sich anders werden in sich selbst”. Das sich verallgemeinernde Bewusstsein in dieser Bewegung ist “absolute Substanz” bereits in dem geistesphänomenologischen Sinne der Substanz als Subjekt.43 D. h. 43 Hegels eigener Substanzbegriff ist in seinem ersten philosophischen Auftreten bereits über den traditionellen Begriff hinaus von der Subjektivität infiltriert. Hegel sieht schon zumindest in der Frankfurter Zeit das Hauptprinzip des Göttlichen als den Geist, als den er in der ersten Jenaer Zeit des Weiteren das Absolute entwickelt. Siehe S. 76-79. Zudem weiß er bereits in der Berner Zeit von der philosophischen Revolution in den Briefen Schellings und Hölderlins, Fichtes absolutes Ich mit Spinozas Substanz gleichzusetzen. HH, S. 13. Obschon er damals diesen Versuch verfehlt, musste er in dieser Atmosphäre von Beginn an auf eigene Weise die Substanz auch subjektiv und geistig zu verstehen suchen. Seine berühmte Formel ‚Substanz = Subjekt’ kommt freilich erst in dem zweiten Jenaer Systementwurf wörtlich zum Vorschein, aber die Substanz hier in dem ersten Entwurf ist aus dem erklärten Grunde auch bereits bewusster und geistiger Begriff. J II., S. 140-141. Sie heißt ‘eben die sich mit sich vermittelnde Wirklichkeit des geistigen Lebens eines Volks’. HH, S. 163. Das irrige oder schematische Verstehen dieses Substanzbegriffs verursacht eine unzutreffende Kritik der substanzialistisch missdeuteten Sittlichkeit Hegels oder eine Interpretation, die die Substanz Aristotelischer oder/und Spinozistischer Provenienz in der ersten Jenaer Geistesphilosophie und die Subjektivität Fichtescher Provenienz in der zweiten nur als verschiedene Aspekte betrachtet. Über den ersteren, Nagl, Ludwig: Gesellschaft und Autonomie, S. 27-51. Über den letzteren, Riedel, Manfred: Hegels Kritik des Naturrechts, HS 4, S. 177204. Düsing, Klaus: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, HSB 15, S. 134-149. ders.: Politische Ethik bei Plato und Hegel, HS 19, S. 133-134. ders.: Hegels Vorlesungen an der Universität Jena, HS 26, ders.: Ontologie bei Aristoteles und Hegel, HS 32, S.15. 86-89. 230 insofern es nun Allgemeines nicht allein theoretisch erkennt, sondern ferner praktisch bildet und entwickelt, ist es ein solches Bewusstsein, dessen Bewegung das Allgemeine der Akzidentiellen absolut zu Grunde liegt (substat) und sich entwickelt. Lediglich in diesem sich bewegenden Bewusstsein existiert die Substanz absolut. Dies Bewusstsein nennt Hegel eben den “Geist eines Volks” und “die Seite seiner Bewegung” “die absolute Sittlichkeit”. Das sich über seine Einzelheit erhebende Bewusstsein ist Bewusstsein des Gemeinwesens, des Volks, als solchen, Geist des Volkes, und seine ewige Bewegung also selbst die absolute Sittlichkeit des Volkes. In der Bewegung ist jeder bewusste Einzelne nun als Mitglied des Volkes “ein sittliches Wesen”. Jeder ist das wirkliche Subjekt des sittlich verfassten Volkes. 44 Das jeweils durch seine anerkennende Bewegung erlangte allgemeine Bewusstsein ist die allgemeine Sittlichkeit als eine bestimmte Wirklichkeit seines Volkes. Das Wesen jedes Einzelnen ist daher “die lebendige Substanz der allgemeinen Sittlichkeit”, die in mannigfaltigen Existenzformen erscheint (J I.314). Diese mannigfaltigen Erscheinungsformen der Sittlichkeit sind Hegel zufolge “die Sitten des Volks”, die als Vielfalt von Zeremonien, Institutionen, Rechtsverhältnissen u. a. vorhanden sind und in denen sich das sittliche Leben des Volks vergegenständlicht (J I.315). Im Hinblick auf Termini und Konzept entfaltet die erste Geistesphilosophie auf der Linie der “Philosophie der Sittlichkeit” vom Naturrechtsaufsatz (JKS 479-484) ausgehend aus der anerkennenden Bewegung die institutionellen Konstituentien des Volkes, während sich die zweite Geistesphilosophie an der Herleitung der immanenten Rechtsverhältnisse in den institutionellen Konstituentien des Staates orientiert. Aber trotz der Änderung zwischen beiden fungieren und entwickeln sich ihre sittlichen Elemente weiter als Momente der sittlichen Wirklichkeit, deren subjektive und objektive Seite, anerkennende Tätigkeit und anerkannte Entelechie, enzyklopädisch gesagt, objektivierender und objektivierter Geist nun in Betracht kommen. 2. Volksgemeinschaft 2.1. Volk und Werk Wie schon gesehen, besteht die Anerkennung nach Hegel aus drei Phasen, deren erste das geistige Anerkennen selbst als Fähigkeit für die anerkennende Beziehung zu Anderen, aber nicht durch den Anerkennungsprozess, sondern lediglich durch die vorhergehende Bewusstseinslehre erklärbar ist, und deren zweite die anerkennende 44 Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 43. 231 Beziehung des totalen Einzelnen, der solche Fähigkeit hat, zu einem Anderen und in erster Linie eben als der Kampf auf Leben und Tod zu erwägen ist. Aber erreicht durch diesen typisierten Kampf ist nur das Anerkanntsein jedes Einzelnen als des sich aufhebenden, also von sich selbst aufgehobenen, oder gerade als der Person, aber noch nicht in ihrem gesellschaftlichen Dasein selbst, in Besitz, Tausch, Vertrag u. a. Hierin liegt die nun zu betrachtende dritte Phase der Anerkennung als gesellschaftliche Beziehung auf Andere.45 Diese Beziehung lässt sich in doppelter Hinsicht markieren. Sie als die wirkliche Beziehung der Anerkennung in der Gesellschaft erweist zum einen die Wirklichkeit des Kampfes um Anerkennung in der zweiten Phase, der ohne ideelle Selbstaufhebung eines jeden realiter nur zum Nichts des Todes gelangt. Sie ist zum anderen die wirkliche Bestätigung oder Realisierung des durch die Reflexion bzw. das Wissen des Kampfes erlangten, daher noch ideellen Anerkanntseins als des sittlichen Wesens oder der Person. Diese Struktur entspricht wiederum dem Standpunkt Hegels, daß die Wahrheit zweimal, d. i. kognitiv erreicht und praktisch bestätigt und erst dann etabliert wird. Das Bewusstsein des Einzelnen ist nun das allgemeine Bewusstsein als Anerkanntsein durch die Selbstaufhebung. Es bildet in der anerkennenden Beziehung auf anderes die Allgemeinheit seiner und des anderen, und das so gebildete allgemeine Bewusstsein ist eben der Geist des Volks. Der Einzelne mit der Bildungsfähigkeit ist also das sittliche Wesen als Mitglied des Volks, und durch seine Tätigkeit wird das allgemeine Bewusstsein als Wirklichkeit von Sitten, Institutionen, Rechtsverhältnissen u. a. realisiert. Die Tätigkeit dieser Realisierung ist in concreto nichts anderes als eine weitere Beziehung der Anerkennung auf den Anderen in der Gesellschaft, wo es nun nicht um den totalen Einzelnen selbst vermittels des Besitzes, sondern um sein gesellschaftliches Dasein als seine dingliche oder objektive Seinsbedingung geht. Die Wirklichkeit als das Resultat der Tätigkeit konstituiert bekanntlich jeweils die allgemeine Sittlichkeit des Volks, deren lebendige und tätige Substanz eben das Wesen des sittlichen Einzelnen ist. Die Tätigkeit selbst des Einzelnen, durch die die allgemeine 45 Eichenseer teilt die Anerkennung Hegels in den Jahren 1803-1806, obwohl abgesehen von der Fähigkeit des geistigen Anerkennens, doch treffend in drei Phasen ein, d. i. erstens die ‘reine Anerkennung’ als ‘Kampf’, der ‘dem eigentlichen Anerkennungsverhältnis in jeder Hinsicht’ vorausgeht, dann die ‘gesellschaftliche Reproduktion’ dieser Anerkennung’ im allgemeinen Verkehrsprozess, und drittens die Anerkennung als ‘gewalthabendes Gesetz’, die ‘allgemeine Garantie’ derselben. Eichenseer, Georg: Die Auseinandersetzung mit dem Privateigentum im Werk des jungen Hegel, S. 84. Dagegen wird Siep zufolge nur der Kampf um Anerkennung in der Jenaer Zeit jeweils nach den Phasen der Ehre, d. i. der Person, der Familie und des Volks eingeteilt, obwohl er selbst bemerkt, dass de facto ‘der Begriff der Ehre in der Erörterung dieser Form des Kampfes’ im zweiten Jenaer Systementwurf ‘überhaupt nicht’ fällt. Und zwar fehle dem Kampf hier die ‘Selbstaufhebung der Einzelheit im vollen Sinne’. Siep, Ludwig: Der Kampf um Anerkennung, HS 9, S. 155-207, insbesondere 186-187. 232 Sittlichkeit konstituiert wird, ist Hegel zufolge auch formaliter die absolute Sittlichkeit als die ewige Bewegung. Aber der Begriff der absoluten Sittlichkeit in der ersten Jenaer Geistesphilosophie, der jedoch später keine Anwendung findet, ist de facto Relikt aus den zwei früheren Schriften. Deren eine, d. i. der Naturrechtsaufsatz, unterscheidet die absolute Sittlichkeit, “die ganz innwohnend in den Individuen und ihr Wesen” ist, von der relativen, “die ebenso in den Individuen”, aber “reell ist”. Diese objektivierte Realität der Sittlichkeit ist teils absolut indifferent von, und als “das reelle” teils relativ identisch mit der absoluten Sittlichkeit, weil das als reell Bestehende die Endlichkeit der Einzelheit der Existenz hat (JKS 454). In dieser Hinsicht verhält sich die absolute Sittlichkeit zuerst “negativ gegen” das “System der Realität”, bis sie “durch vollkommene Aufnahme des” formalen und realen “Verhältnisses in die Indifferenz selbst” real und allgemein wird (JKS 453). Das System der Sittlichkeit definiert die Idee der absoluten Sittlichkeit als “die Identität” der “Anschauung” des Einzelnen mit seinem “Begriff”, die zum Erkennen als “ein Adäquatsein gedacht werden” muss und zuerst “als Natur” im Sinne des Wesens, als “die natürliche Sittlichkeit” erscheint (SE 279-280). Diese Sittlichkeit gelangt ebenfalls durch das negative Verhältnis gegen das reale System der Individuen hindurch zur positiven absoluten Sittlichkeit. Die Zwischenstufe der absoluten Sittlichkeit, die sich als negative Sittlichkeit benennen lässt, ist nach jener Schrift de facto unmittelbar die sittliche Tätigkeit des Einzelnen und in dieser Schrift ebenso die Tätigkeit der reinen, also gegenüber der Sittlichkeit negativen Freiheit des Einzelnen. Die “Sittlichkeit des Einzelnen” ist schlechthin “ein Pulsschlag des ganzen Systems und selbst das ganze System” der Sittlichkeit (JKS 467). Die absolute Sittlichkeit heißt daher mit einem Wort nichts anderes als die sittliche Wesenheit des selbstständigen, freien, totalen Einzelnen, die im Naturrechtsaufsatz nur ansatzweise als das absolute unmittelbare Gegenteil des Absoluten, als die reale “Gestalt” desselben, also als ein dem Einzelnen selbst zuerst Negatives konzipiert ist (JKS 453) und deren Organisation oder Verhältnis im System der Sittlichkeit lediglich als adäquat vorausgesetzt und logisch-strukturell analysiert wird. Nun lässt sich eingeschränkt auf den Sittlichkeitsbegriff Hegels sagen, dass die erste Jenaer Geistesphilosophie den Bildungsprozess des Einzelnen bis zu seiner sittlichen Wesenheit als der absoluten Sittlichkeit bewusstseinstheoretisch und die zweite gemäß dem Begriff des Geistes entwickelt. Wegen der Einführung dieser genetisch-logischen Erklärungsweise ist es zudem in der ersten Geistesphilosophie nicht nötig, der absoluten Sittlichkeit einen systemkonstitutiven Status zuzuschreiben. Die absolute Sittlichkeit besagt daher nun schlechthin die ewige Bewegung des über seine Einzelheit hinaus Allgemeines bildenden und als Allgemeines bestehenden Bewusstseins des Einzelnen, 233 also des Geistes des Volks. Diese Bewegung ist ewig, insofern der Einzelne selbstbewusst, d. i. verallgemeinerungsfähig, ist, also als solch allgemeines Bewusstsein besteht, und insofern umgekehrt das Volk als die Entelechie des allgemeinen Bewusstseins, d. i. als das Gemeinwesen der Einzelnen, weiter besteht. Sie ist auch logisch ewig, insofern das Allgemeine in der Welt nur durch die ununterbrochen selbstaufhebende Realisierung des Einzelnen existieren kann. Nun sind die realen Gestalten dieser ewigen Bewegung zu erläutern, die insgesamt als gesellschaftliche Beziehung der Anerkennung zu nennen ist. Aufgrund der strukturellen und thematischen Ähnlichkeit entspricht diese Stufe der Geistesphilosophien dem zweiten Teil der Sittlichkeit im Naturrechtsaufsatz und System der Sittlichkeit, d. i. der negativen Sittlichkeit, während die erste absolute oder natürliche Sittlichkeit in diesen Schriften ihre Entsprechung eben in der Bewusstseinslehre der Geistesphilosophien bis zum sittlichen Subjekt inklusive des Kampfes um Anerkennung, und die dritte reale oder positive absolute Sittlichkeit in der später zu betrachtenden Staatslehre findet. Der Einzelne gerät nun als Mitglied des Volks in die gesellschaftliche Beziehung auf den Anderen, und es kommt zur Beziehung der Anerkennung des gesellschaftlichen Daseins des bereits als Person anerkannten Einzelnen. Das dadurch anerkannte äußere Dasein eines jeden konstituiert nun die Grundlage der Volksgemeinschaft bzw. Gesellschaft. Daher kann die Beziehung hier unter dem Titel der Volksgemeinschaft in Betracht gezogen werden. Der Ausdruck „Volksgemeinschaft“ ist nach Hegels Begriff des Volks eine Art Pleonasmus, weil das Volk für ihn, wie schon erwähnt, immer eine soziale Einheit aus bestimmten Individuen in der Geschichte bedeutet. 46 Aber der Volksbegriff als Einheit der Gesellschaft ist nur bis zur ersten Geistesphilosophie beibehalten und wird in der zweiten Geistesphilosophie durch den Staatsbegriff ersetzt. Jedoch ist der Staatsbegriff in der Jenaer Zeit noch ein solcher, der den Gesellschaftsbegriff in sich enthält. Der Jenaer Hegel kommt noch nicht dazu, über die vom Staat unabhängige Gesellschaft oder das Volk als einen getrennten Bereich nachzudenken. Dies spiegelt zusammen mit der Aufgabe der Vereinigung in einen Staat den damaligen Zustand der noch unentwickelten oder sich erst gestaltenden bürgerlichen Gesellschaft47 in Deutschland wider. Eine neue, moderne Gesellschaft 46 Siehe S. 14. Kimmerle zufolge bereiten die ausführliche Behandlung der ökonomischen Sphäre und die genauere Erfassung der gegenseitigen Anerkennung in den beiden Jenaer Geistesphilosophien die spätere Einführung der bürgerlichen Gesellschaft vor, die auch Weisser-Lohmann zufolge in der zweiten Württemberg-Schrift (1817) nur andeutungsweise und erst in den ersten Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18) als ein zweites Glied der berühmten Trichotomie der Sittlichkeit erörtert werde, während die bürgerliche Gesellschaft der Frühzeit in der Aristotelischen Einheit mit dem Staat bleibe. Kimmerle, Heinz: Die Staatsverfassung als „Konstituierung der absoluten sittlichen Identität“ in 47 234 sollte eine solche sein, die sich in einem vereinigten Staat ausformt. Also ist das Volk im Naturrechtsaufsatz als “die absolute sittliche Totalität” definiert, mit der der antike Polis-Staat und der naturrechtliche Staat der Neuzeit verglichen und bewertet werden(JKS 449) 48 . Und auch im System der Sittlichkeit ist es zwar als die “Anschauung” der “Idee der Sittlichkeit”, als “die Form, in der sie von Seiten ihrer Besonderheit erscheint”, von der Konstitution des Staates als dem die Anschauung oder Form der Besonderheit in die Einheit mit deren sittlichen Wesen bringenden, realen Begriff, d. i. der totalen “Realität des Allgemeinen” Begriffs der Sittlichkeit unterschieden, aber beide, d. i. das Volk und die in Gestalt der Regierung konkretisierte Konstitution, bilden eine “wahrhaffte sittliche Totalität” (SE 340). Ebenfalls kann unter der gleichen Totalität der Sittlichkeit in der ersten Geistesphilosophie, in der für den verlorenen Textteil gemäß der Darstellung höchstwahrscheinlich eine rechtliche und konstitutionelle Konstruktion des Volks zu erwarten ist,49das Volk, und in der zweiten Geistesphilosophie der Staat als hervorgehoben angesehen werden, mit der wichtigen Differenz, dass Hegel dazwischen auf den Volksbegriff als die natürliche Einheit einer Gesellschaft verzichtet und sich mehr an dem Staat als bewusst geschaffener sittlicher Organisation einer Gesellschaft orientiert. Die Volksgemeinschaft und der Staat werden daher in diesem Kapitel als Volksstaatslehre ausgeführt. Unter dieser Einteilung lässt sich die Volksgemeinschaft wiederum von zwei Seiten betrachten. Von der subjektiven Seite der Anerkennung her können zuerst die gesellschaftliche Tätigkeit des sittlichen Subjekts im Volk und deren Resultat als das der Jenaer Konzeption des „Naturrechts“ HR, S. 141-147. Weisser-Lohmann, Elisabeth: „Divide et impera“, HS 28, S. 193-214. Siehe auch HH, S. 387. Dagegen führt die Ignorierung dieser entwicklungsgeschichtlichen Aussicht zur übertriebenen Missinterpretation wie bei Göhler und Roth, die in den Jenaer Entwürfen die ‘Staatswerdung der bürgerlichen Gesellschaft’ durch ‘Bewegungen der Selbsthingabe (Liebe) und der Selbstbehauptung (Kampf)’ sehen, oder bei Horstmann, der die bürgerliche Gesellschaft des reifen Hegel ‘keineswegs als neues Element der Hegelschen Theorie’, sondern nur als ‘eine verhältnismäßig neue Kategorie’ ansieht, die seit Beginn allein zum Nachweis der Notwendigkeit des Staates diene. Göhler, Gerhard u. Roth, Klaus: Der Zusammenhang von Ökonomie, Recht und Staatsgewalt. ZPF 35, S. 501-518. Horstmann, Rolf-Peter: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie MR, S. 293-294, 301-303. 48 Der Staat wird hier nur zweimal wörtlich erwähnt. JKS, S. 449, 451. Aber Bobbio zufolge ist hier ‘polis mit Volk übersetzt’, das sich bezüglich der sittlichen Totalität in fünf Hinsichten gut bezeichnen lasse. D. h. das Ganze in der sittlichen Totalität im Aristotelischen Sinne komme erstens der Natur nach ‘vor den Teilen’ und stehe dann ‘über den Teilen’, insofern es aus diesen bestehe. Drittens sei die sittliche Totalität als das Leben eines Volks selbst ‘ein historisches Ereignis’, wo viertens eine neue ‘Dimension der Sittlichkeit’ eingeführt werde. Schließlich werde durch dieses Konzept die neuzeitliche Naturrechtslehre distanziert. Doch Hegels Volksbegriff sei auch ganz different von dem der Historischen Rechtsschule als der autogenetischen Matrix des Rechts. Bobbio, Norberto: Hegel und Naturrechtslehre MR, S. 85-93. Dazu, Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 42-44. HH, S. 147. Über die Differenz von der Historischen Rechtsschule, Losurdo, Domenico: Hegel und das Deutsche Erbe, S. 272-277. 49 Diese Erwartung aber kann noch nicht als gesichert gelten. Siehe J I., Anhang, S. 350. 235 Werk des Volkes erklärt werden. Dies geschieht im zweiten Teil des Fragments 22 der ersten Geistesphilosophie, den die Herausgeber unter den Kolumnentitel ‘das Volk’ gestellt haben. Hierin kehren die Kategorien der Bewusstseinslehre, aber diesmal als die existierenden Formen im Volk wieder. Diesem Teil entspricht das zweite Kapitel, “Wirklicher Geist”, in der zweiten Geistesphilosophie. Aber diese entfaltet zumeist die objektive Seite des durch solche Tätigkeit Anerkanntseins, oder enzyklopädisch gesagt, des objektivierten Geistes, wenn jene Tätigkeit die Seite des objektivierenden Geistes ist. Und sogar mit der Ein- und Ausführung des Staatsbegriffs treten für den gesellschaftlichen Bereich auch neue Kategorien wie Vertrag, Strafe und Gesetz auf, die sich nicht mehr im Nebeneinander mit jenen Kategorien der ersten Geistesphilosophie erörtern lassen, sondern eher einen Vergleich mit den Elementen der Rechtsphilosophie erlauben. Wegen der unterschiedlichen Seiten der anerkennenden Beziehung und der verschiedenen Inhalte der beiden Geistesphilosophien soll die Volksgemeinschaft nun unter zweifachem Gesichtspunkt getrennt behandelt werden. Das Volk in der ersten Geistesphilosophie, das unter dem ersteren Gesichtspunkt der anerkennenden Tätigkeit thematisiert werden soll, hat bekanntermaßen das Spezifikum, dass unter dem Volksgeist auch der absolute Geist verstanden wird, unbeschadet dessen, ob dies nun die Unreife des Hegelschen Systems oder nur den etymologischen Sinn von ‘absolut’ zeigt. Aber deutlich ist, dass der absolute Geist hier keineswegs im Sinne der zweiten Geistesphilosophie oder der Phänomenologie des Geistes zu verstehen ist. Dass er in diesen beiden Schriften erst in den Bereichen der Kunst, Religion und der Philosophie vorkommt, ist ein Indiz dafür. Ein anderer, mehr texttreuer Beleg lässt sich aus dem Fragment zum Ende des ersten Jenaer Systementwurfs ist nur die Form herausfinden, wo das absolute Bewusstsein, “weil es nur als Begriff existirt”, als “keine Gegenwart in dem einzelnen Bewußtseyn als solchen” habend, als für dieses ein “absolutes Jenseits” erklärt ist. Demnach ist das Streben eines Volkes “in der Form der Einzelnheit”, das absolute Bewusstsein als die “Gestalt”, als dasjenige “Werk” anzuschauen, das die einzelnen Volksmitglieder selbst hervorbringen und in dem sie aufgehoben sind, gleich wie “eine göttliche Komödie” (J I.330-331). Dies impliziert, dass der absolute Geist bzw. das absolute Bewusstsein ‘nicht mehr in den Begriffen der sittlichen Sphäre’ des Volks schlechterdings zu formulieren ist.50 Darüber hinaus kann die Rede vom absoluten Geist hier auch als Vorausnahme des Standpunkts unserer Reflexion angesehen werden.51 Denn ungeachtet dieser Rede wird de facto hier zumeist 50 HH, S. 164. Diese Vorausnahme stimmt mit der Textstruktur der Anfangsphase der ersten Geistesphilosophie zusammen, in der zuerst die Erklärung des Geistes, des Wesens des Bewusstseins, und sogar des erst zu 51 236 das ewige Werden des Volksgeistes zu seinem Werk logisch dargestellt. D. h. zunächst wird nicht der Volksgeist und sein Werk, sondern nur die logische Struktur seines Werdens zum Werk erläutert, in der der absolute Geist liegt. Nicht erst in irgendeiner geistigen Tätigkeit und irgendwelchen Werken des Volks wird der absolute Geist erreicht, sondern eben in der Struktur dieser Tätigkeit, die vom Einzelnen durchgeführt und ununterbrochen zum Werk des Volks konkretisiert wird, liegt der absolute Geist. Auf dem Standpunkt unserer Reflexion ist er bereits wirksam in der Tätigkeit des Einzelnen als Volksmitglied zum Werk des Volks. Diese Reflexion muss und kann auch für das einzelne Bewusstsein selbst werden, das schon auf dieser Stufe die Fähigkeit unserer Reflexion hat. Dafür muss zuerst seine gesellschaftliche Tätigkeit, die sein verallgemeinerndes und verallgemeinertes Bewusstsein als den Geist des Volks und das Werk des Volks bildet, in Betracht kommen. Erst dadurch wird sich die geistige Tätigkeit des ganzen Volks unter der ewigen Struktur begreifen lassen. Eben hier ist der absolute Geist erreicht, der aber dann nicht mehr im sittlichen Bereich, sondern in den Bereichen des Erkennens des Absoluten selbst verstanden werden kann. Daher müsste der absolute Geist des Volks in der ersten Geistesphilosophie angesichts der Bildung und Entwicklung des Bewusstseins selbst auf den nicht erhaltenen, aber hinreichend antizipierbaren Abschlussteil der Konstitution des Volks übertragen gelesen werden. Nach unserer Reflexion definiert die erste Geistesphilosophie den absoluten Geist eines Volks als “das absolute allgemeine Element”, als den “Äther, der alle einzelnen Bewußtseyne” als Elemente “in sich verschlungen” hat, und als “die absolute einfache lebendige, einzige Substanz”. Die naturphilosophischen Termini in dieser Definition wie Element, Äther und Substanz betonen die objektive Realität und Beweglichkeit des absoluten Geistes. Der absolute Geist ist das objektiv als Element, als Substanz existierende, lebendige Allgemeine. Er ist das allgemeine Element, das absolut als die ideellen Wesen aller Seienden existiert, der Äther52 aller einzelnen Bewusstseine, die das Wesen des Seienden als ideelles Allgemeines selbst erkennend realisieren, und die einfache und einzige Substanz, aufgrund deren alle Seienden nach ihrem Wesen absolut erreichenden Geistes des Volks, dann die inhaltliche Entfaltung der Bewusstseinslehre selbst abgehandelt wird. Hier wird ebenfalls zunächst der absolute Geist, danach die Volksgemeinschaft erklärt. 52 Der Äther ist das fünfte Element, das Aristoteles außer den vier Grundelementen für die Erklärung der Bewegung der Himmelskörper einführte und die frühneuzeitliche Physik für die Erklärung des Phänomens der fernwirkenden Kräfte wie Gravitation wieder aufgriff. Er ist in Hegels Geistesphilosophie als das allgemeine Element der geistigen Bewegung metaphorisiert. Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 114. Freilich, der Ätherbegriff wird vom Jenaer Hegel auch als ein naturphilosophisches Prinzip einer ‘geistigen Materie’ bzw. eines ‘materiellen Geistes’ benutzt, sofern die Naturphilosophie dem Systementwurf nach von der Metaphysik ausgeht. Über den Wandel des Begriffs in der Hegelschen Naturphilosophie und in der damaligen Physik, Frercks, Jan: Artikel Äther, Hegel-Lexikon, S. 139-142. 237 existieren können. Aber er als das allgemeine Element heißt nicht das Wesen als irgendein vollkommenes Wassein aller Seienden, sondern schlechthin das Wesen selbst, die Wesenheit selbst derselben, in der in dieser Hinsicht alle mannigfaltigen Wesen absolut vereint und vereinfacht sind. Er als der Äther besagt auch nicht irgendein vollständig allgemeines Bewusstsein aller einzelnen, sondern die Bewusstheit selbst, die Geistigkeit selbst derselben, anhand deren alle bewussten einzelnen Wesen erkennen und realisieren. Er als die einfache und einzige Substanz bedeutet letztlich nicht irgendeine zuhöchst gestaltete Existenz, sondern die Existenz, die Existentialität selbst, die allen akzidentiellen Existenzen zugrunde liegt (sub-stat). Mit einem Wort, diese wesentlich existierende Geistigkeit bezeichnet die subjektive Idealität des absoluten Geistes angemessen. Diese Idealität existiert bereits objektiv, d. h. sie ist bereits bei allen Seienden da, insofern diese nach ihrem, obzwar auf die Einzelheit ihrer Existenz beschränkten geistigen Wesen bestehen. In dieser Hinsicht ist er eben die lebendige, “thätige Substanz” oder die Substanz als das Subjekt. Des Weiteren existiert er nicht nur in der Natur als dem Anderssein seiner selbst objektiv und wesentlich, sondern auch selbst in der Tätigkeit des vereinzelten Bewusstseins seiner selbst objektiv und geistig. Allein der Geist fasst den Geist selbst auf. Nun ist hier die Wechselseitigkeit des Verhältnisses von Subjekt und Objekt zu beachten. Das einzelne Bewusstsein in seiner Verallgemeinerung und Realisierung ist einerseits zwar das Subjekt seiner Tätigkeit auf dem Weg zum Erkennen des absoluten Geistes, aber andererseits zugleich das Objekt des sich selbst realisierenden, absoluten Geistes, insofern die subjektive Tätigkeit des ersteren bereits auch in Richtung nach der absoluten Notwendigkeit des Geistes vollzogen wird oder werden muss. Umgekehrt ist der absolute Geist das Objekt des allgemeinen Erkennens des einzelnen Bewusstseins und zugleich das Subjekt, das sich mittels der Erkenntnis und Tätigkeit desselben realisiert. Das einzelne Bewusstsein in diesem Verhältnis zum absoluten Geist ist das Bewusstsein des Einzelnen als Volksmitgliedes, d. i. dasjenige, das in der Beziehung auf Andere über seine Einzelheit hinaus ein allgemeines Bewusstsein seiner und anderer als den Geist des Volks bildet. Aber diese Beziehung auf Andere ist insofern vor allem Beziehung von Kampf, Entgegensetzung und Konflikt, als sie Beziehung der selbständigen und freien Einzelnen ist. In dieser Beziehung selbst, nämlich in der gesellschaftlichen Beziehung der Anerkennung, wird die Einzelheit jedes Bewusstseins aufgehoben und der Volksgeist generiert. Aber der so gebildete Volksgeist ist auch gar nicht von Anfang der gesellschaftlichen Formation an absolut. Sondern der absolute Geist kann, wie nun verdeutlicht, vielmehr nur am Ende der Bildung von Volk und Volksgeist durch die Aufhebung des einzelnen Bewusstseins erst für dieses aufgehobene, 238 allgemeine Bewusstsein eben als der Volksgeist sein. Dieses Ende der Bildung besteht aber realiter nicht; es ist lediglich eine Vollendung der bewusstseinsimmanenten Rekonstruktion des Absoluten bis zu einer bestimmten Stufe seines Systems. Daher lässt sich auch umgekehrt vom Standpunkt unserer Reflexion aus sagen, dass der absolute Geist eines Volks, oder genauer gesagt, in einem Volk, “sich als Bewußtseyn” der Einzelnen “entgegensetzen” und als ihre “erscheinende Mitte” in der gesellschaftlichen Beziehung dieser Entgegensetzung tätig sein müsse. In der Bewusstseinslehre war die Mitte des Bewusstseins die realiter erscheinende Gestalt seiner Einheit zwischen Bewusstsein und Gegenstand, Begriff und Gegenstand, oder Allgemeinem und Einzelnem. Sie war als die Mitte, in der beide eins sind und zugleich sich entgegensetzen, auf dem Standpunkt unserer Reflexion auch selbst ein Phänomen des Geistes als des absoluten Einsseins des Bewusstseins. Nun in dieser Gesellschaftslehre des Bewusstseins ist die Mitte ein solcher Ort, wo die einzelnen Bewusstseine selbst “ebenso eins sind”, wie sie “sich entgegensetzen”. Sie ist gleichfalls zum einen für die einzelnen Bewusstseine die jeweilige reelle Gestalt ihrer Einheit in ein allgemeines Bewusstsein als den Volksgeist, zum anderen für uns auch das Phänomen des absoluten Geistes selbst. Die Tätigkeit der einzelnen Bewusstseine bis zur oder gegen die Mitte ist zugleich die Vernichtung ihrer Einzelheit bis zur oder gegen die Gestalt ihrer allgemeinen Einheit. Die Mitte ist eben ein ihre Einzelheit “vernichtendes Eins”, dessen Tätigkeit “ihre eigene Thätigkeit” ist. Diese ist für uns auch “die Thätigkeit des Geistes” selbst, in dem Sinne, dass die allgemeine causa finalis der Einzelnen zugleich die causa efficiens ihrer Aufhebung ist. Die Rede vom absoluten Geist gilt nur bis hierher; danach geht Hegel nach unserer Reflexion nur auf das Verhältnis des Volksgeistes und seines Werks ein. Das Werk des Volks ist gerade nichts anderes als die erscheinende Mitte zwischen den entgegengesetzten einzelnen Bewusstseinen. Der Volksgeist als das absolut allgemeine Bewusstsein der Einzelnen wird im Werk als dem allgemeinen Anderssein seiner selbst da sein und sich erkennen, und dies ist eben die hier voraussehbare Struktur des absoluten Geistes. Der “Geist des Volkes, muß sich ewig zum WERKE werden, oder er ist nur als ein ewiges Werden zum Geiste”. Die ideale Wahrheit ist nur erst Halbwahrheit. Damit der Volksgeist ein absolutes und wahres allgemeines Bewusstsein aller Einzelnen werden kann, muss er objektiv als Werk aller erwiesen werden. Bekanntlich darf der Volksgeist bei Hegel keineswegs als Subjekt des Werks im spiritualistischen Sinne verstanden werden. Er wird, wie im vorigen gesehen, realiter vom Bewusstsein der Einzelnen gebildet, und insofern diese im Wechsel von Leben und Tod fortbestehen, ist er auch ewig. Aber der von ihnen nur im Bewusstsein verwirklichte Volksgeist besteht selbst 239 erst idealiter unter ihnen. Daher muss er ferner von ihnen selbst auch objektiviert und als diese Entelechie ihres allgemeinen Bewusstseins bestätigt werden. Ohne dies Werden zum Werk ist er “nur als ein ewiges Werden zum Geiste”, solange sie in einem Gemeinwesen bestehen. Aber eben insofern ist er schon zum Werk geworden. Insofern sie bereits als Volksmitglieder tätig sind, insofern ihre Tätigkeit bereits in ihrem Volksgeist “gesetzt ist”, sind sie bereits so als ein Gemeinwesen, das nichts anderes als das Werk des Volkes ist. Dies Verhältnis des Volksgeistes zum Werk vermittels des Bewusstseins der Einzelnen hat eine kompliziertere Struktur im Vergleich zur vorigen einfachen Produktion des Werkzeugs durch den Einzelnen. Dies drückt Hegel als die Selbstbeziehung des Volksgeistes, d. i. als die Beziehung desselben als des passiven auf sich als ein tätiges aus. Der Volksgeist ist als das Werden zum Geiste zunächst selbst ein Resultat der Einzelnen, daher ein passives. Der gewordene Volksgeist, gemäß dem die Einzelnen nun als das Volk ein Werk ausbilden, ist zweitens auch als das Werden zum Werk selbst tätig und aktiv. In dem Verhältnis bezieht der Volksgeist sich als das gewordene Passive wiederum eben auf sich als das Tätige in seinen Mitgliedern, dadurch wird er zum Werk. Weil dieses Verhältnis einerseits die Objektivierung des allgemeinen Bewusstseins der selbst aufhebenden Einzelnen ist, ist es auch “unmittelbar das Aufheben” ihrer einzelnen Tätigkeit, ihrer Einzelheit selbst. Es ist auf der anderen Seite die Objektivierung des noch ideellen Volksgeistes selbst, aber nun die Realisierung des bewusst Allgemeinen als des objektiven Allgemeinen selbst, eben das “anderswerden seiner selbst”. Wenn die Natur in der Naturphilosophie für den Geist das Anderssein seiner selbst als einzelne ist, ist das Werk des Volks nun das Anderssein des Geistes als des Geistes selbst, wenn auch in der einzelnen Form der Existenz eines Werkes. Zwar nur andeutungsweise, aber ohne Zweifel wird im Verhältnis drittens die Subjekt-Objekt-Beziehung zwischen dem Bewusstsein der Einzelnen und dem Volksgeist umgekehrt. Der Volksgeist ist zwar durch die Einzelnen passiv geworden, allein er selbst veranlasst sie des Weiteren, ihn zum Werk auszubilden. Er selbst ist als ihr Zweck die Ursache ihrer sich aufhebenden und zum allgemeinen Werk objektivierenden Tätigkeit. Während in der vorigen Bewusstseinslehre bei der Bearbeitung des Einzelnen sein Werkzeug als die Einheit seines Allgemeinen und des dinglichen Einzelnen für ihn das Werk war, ist das Werk des Volks nun hier dasjenige Allgemeine selbst, das, obzwar und weil in der einzelnen Form der Existenz, ewig objektiv werden muss, und der Volksgeist ist das absolut allgemeine Bewusstsein, das ebenso ewig zum Geist des Werkes eines Volkes werden muss. Das Werkzeug des Geistes und Werkes eines Volks ist also hier eher die Einzelnen selbst, die durch die Selbstaufhebung der Einzelheit ihrer Existenz Allgemeines erzeugen, d. i. die Einheit 240 der Allgemeinheit und der Einzelheit sind.53 Mittels ihrer Tätigkeit als tätiges Volk geht “ein sich bewußtseyendes überhaupt” ihrer aller, d. i. der Volksgeist, “in das Product, das sich selbst gleiche” über (J I.315). Also ist das Werk des Volks immer das gemeinschaftliche und allgemeine Werk aller. In ihrem Werk schauen die bewussten Einzelnen nun “sich als Ein Volk”, d. h. als eine gesellschaftliche und sittliche Einheit an. Ihr “Werk ist somit ihr eigner Geist selbst”, der äußerlich existiert. Ihr Geist ist zwar das Erzeugnis ihrer Tätigkeit, aber weil diese zugleich “das Aufheben ihrer selbst” ist, erscheint er ihnen als “ein für sich selbst seyendes” Werk, das sie ihrerseits als ihren Geist verehren. Das Aufheben selbst ist “der für sich seyende allgemeine Geist” unter ihnen, der “als Geist ihr ideales Einsseyn” und “als Werk ihre Mitte” ist (J I.316). In diesem sittlichen Werk des Volks ist ihr allgemeiner Geist als der des Volks lebendig. Die Lebendigkeit des Volksgeistes liegt im ewigen Kreislauf seines Werdens zum Werk und des Abschiedes vom Werk durch die ständige Selbstaufhebung der Einzelnen. Der Geist und das Werk des Volks haben nämlich Geschichtlichkeit, die in der Gesellschaft der Einzelnen präsent ist und im Kreislauf die absolute Rückkehr des Geistes in sich widerspiegelt. Dieser Kreislauf ist keine bloße Wiederholung beider, sondern gerade die logische Struktur des absoluten Werdens der Idee des Geistes. Die Idee des Geistes ist bekanntlich nichts anderes als die Idee der Einheit seiner selbst und seines Andersseins.54 Insofern der sittliche Geist des Volks sich noch durch die Tätigkeit der Einzelnen organisiert, hat er auch noch “seine unorganische Natur”, die mit seiner organischen Einheit noch nicht vereint ist. Diese unorganische Natur bezeichnet allerdings, wie schon geklärt, nicht etwa Naturdinge, sondern diejenigen Einzelnen und deren Handlungen, die noch nicht zu ihrem Volksgeist gelangen oder davon abweichen. Für diese ist der Geist zwar nur ein anderes, aber sie sind für den Geist seine aufzuhebende “Natur, in der er sich nur ein anderes geworden ist”. Um diese unorganische Natur als das Anderssein seiner selbst aufzuheben, realisiert er sich notwendig und ununterbrochen “in der Totalität seines Werks”, d. h. er veranlasst fortwährend jene Einzelnen, sein Werk auszubilden, setzt diese als sich selbst, insofern sie dadurch aufgehoben werden, und genießt sich absolut, indem er sie als aufgehobene “in sich zurückgenommen hat”. Dies alles ist möglich, insofern sie immerhin das verallgemeinernde Bewusstsein haben, und schon wirklich, insofern sie bereits bei solcher Tätigkeit sind. Und das, was dadurch im Volksgeist 53 Aus dieser Stelle lässt sich daher auch der in der zweiten Geistesphilosophie zuerst wörtlich auftretende Begriff der List in dem Kontext des Volksgeistes, ferner des absoluten Geistes herleiten. Siehe S. 171-175. Die List der Vernunft ist mit einem Wort nichts anderes als das selbst zum Werkzeug Werden des Subjekts in seinem eigenen Streben nach der Allgemeinheit. 54 Siehe S. 81-83. 241 entsteht und zum Bewusstsein kommt, ist gerade die Idee des Geistes, nämlich, dass der Geist eins mit seinem Anderen, seinem Werk ist. Eben an diesem Ort muss, wie später zu zeigen, vom sittlichen Bereich in einen anderen, in den innersten Bereich des Geistes übergegangen werden, wo seine Idee als Idee selbst, d. i. als Form von Kunst, Religion und Wissenschaft existieren kann. Aber davor muss dieser sittliche Geist des Volks für uns nun auch wiederum für das Bewusstsein der Einzelnen selbst werden. Zu beleuchten ist nun der Weg von den Einzelnen zum Volk, von ihrem Bewusstsein zum Volksgeist und Werk, eben der Weg der Vergesellschaftung. Jener Kreislauf von Volksgeist und Werk ist de facto nichts anderes als der Kreislauf zwischen diesen beiden und den Einzelnen. Er ist realiter ein solcher Prozess, in dem das Bewusstsein des Einzelnen sich zu einem allgemeinen bildet und dieses ferner verwirklicht. Daher hat er die Bildung des einzelnen Bewusstseins zum Volksgeist zur Voraussetzung. Eben aus diesem Grunde wiederholen sich die Kategorien der Bewusstseinslehre hier. Gegen das einzelne Bewusstsein, das noch nicht den Geist erreicht, ist der Geist zuerst also negativ, oder das einzelne Bewusstsein, für das der Geist noch ein anderes ist, bezieht sich lediglich negativ auf ein anderes. Es ist zum einen das selbstständige und freie Bewusstsein des Einzelnen, das nach der vorhergehenden Bewusstseinslehre bereits seine absolute Totalität erlangte. Dies Bewusstsein ist aber zum anderen eben die “unorganische Natur des sittlichen Geistes” oder “der Geist in seiner Negativität”, insofern es zwar noch kein Selbstbewusstsein des Geistes, aber doch bereits geistig tätig ist. Es war am Ende der Bewusstseinslehre die einzelne Totalität, die die ganze Familie repräsentiert. Diese Familie selbst als die Realität der totalen Einzelheit kann daher auch die unorganische Natur des Geistes heißen. Das totale Bewusstsein eines Einzelnen ist different vom totalen Bewusstsein eines Anderen. In dieser Hinsicht ist die äußere Natur überhaupt, die jedes Bewusstsein im vorigen kognitiv und praktisch in sich vereinigte, de facto in ihm nur negativ gesetzt. Die in jedem Bewusstsein als eine aufgehobene gesetzte Natur ist nämlich nur negativ gegen die so gesetzte im anderen Bewusstsein. Daher ist der Geist selbst, der in einem solchen totalen Bewusstsein wirksam ist, auch “nur different” und negativ, und insofern hat er Totalität nur als “die Realisirung” des “differenten” Bewusstseins. Diese Realisierung des totalen, aber differenten Bewusstseins war zuerst eben der Besitz in der ausschließenden Beziehung. Nun ist diese differente Totalität jedes Bewusstseins bis zum Geist des Volks aufzuheben. Jedes muss nun diejenige Totalität erreichen, die von der differenten und ausschließlichen Beziehung ihrer natürlich bedingten Existenz befreit ist, d. i. nicht die Totalität des einzelnen, sondern aller einzelnen. Diese wird gerade “ein absolut positiver” und “allgemeiner Geist” sein 242 (J I.317). Die erste, wichtigste Stufe der Aufhebung der einzelnen Totalität ist bereits abgehandelt. Sie ist eben der Kampf um Anerkennung. Hierdurch wurde das totale Bewusstsein des Einzelnen als der ganzen Familie aufgehoben. Jeder Einzelne hat die Einzelheit seiner Existenz und sein totales Bewusstsein in der Einzelheit als aufgehoben gesetzt. Aber noch nicht alle Momente des totalen Bewusstseins, die die Familie von Natur aus konstituieren, vor allem die Sprache, die Arbeit und der Besitz, sind aufgehoben. Diese thematisiert Hegel daher als die anerkennende oder sie zum Werk ausbildende Beziehung in der Gesellschaft oder im Volk. Aber er will zunächst hier nicht die einzelne Konfliktphase der anerkennenden Beziehung zur ausführlichen Darstellung bringen, sondern diese Beziehung “mit dem Charakter der Allgemeinheit” bezeichnen (J I.318). Durch jenen Anerkennungskampf hindurch ist jeder schon als das allgemeine Bewusstsein, aber nur als dieses das Volksmitglied. Jedes Bewusstsein, das bereits unserer Reflexion fähig ist, kann sich selbst in der anerkennenden Beziehung auf andere verallgemeinern. Diese allgemeine Seite ist hier Hegels erstes Interesse. Die darauf folgende Darstellung der einzelnen Konflikt- oder Abweichungsphasen wie Vertragsbrüche, Verbrechen und die Notwendigkeit des Gesetzes könnten im verlorenen Teil der ersten Geistesphilosophie erwartet werden, aber auch in der zweiten Geistesphilosophie ein gutes Muster finden. Schließlich lässt sich der Grund für die Priorität des Anerkennungskampfes vor dem Werk des Volksgeistes in der Darstellung höchstwahrscheinlich aus dem doppelten Charakter jenes Anerkennungskampfes mutmaßen, d. i. aus dem bewusstseinstheoretischen und aus dem gesellschaftsbildenden Charakter. Die Notwendigkeit des Kampfes ist nur bewusstseinsimmanent explizierbar und die Realität desselben lediglich in der wirklichen Gesellschaft nachweisbar. Das Individuum als die ganze Familie ist als das totale Bewusstsein einerseits das Anerkennen selbst und muss andererseits als das Volksmitglied erst anerkannt werden. Der Anerkennungskampf vermittelt als der onto-logische Typus des totalen und sittlichen Subjekts in der Gesellschaft diese zwei Stufen, die auch die zwei Glieder des Kreislaufes von dem Einzelnen und dem zum Werk werdenden Volksgeist sind. Diese systematische Darstellungsstruktur rechtfertigt wiederum die oben genannte Dreistufigkeit der Hegelschen Anerkennungstheorie. Nun ist auf deren dritte Stufe einzugehen. 2.2. Gesellschaftliche Tätigkeit der Anerkennung Die Sprache war nach der Bewusstseinslehre auf der inhaltlichen Seite “die Beziehung 243 der Nahmen” als der einzelnen Idealitäten, die das theoretische Bewusstsein den äußeren Gegenständen gegenüber setzt, und “das gewordene Allgemeine” aus dem Beziehen dieser Namen, die das selbst noch einzelne Bewusstsein im Gedächtnis behält (J I.289). Das Aussprechen des einzelnen Bewusstseins als des Aufgehobenen, also Anerkannten, lässt nun das ausgesprochene Allgemeine nicht in einem einzelnen Bewusstsein bleiben. Sondern das Allgemeine des einen Anerkannten wird selbst als aufgehoben unmittelbar zum Allgemeinen des anderen im Anerkanntsein beider. Dadurch gestaltet sich die Sprache als der gleiche Inhalt der anerkannten Bewusstseine in einer allgemeinen Existenz, die nichts anderes als die Volksgemeinschaft ist. Aber Hegel erörtert zuerst, wie oben gesagt, nicht linguistisch den synchronistischen Gestaltungsprozess der Sprache im Horizont der Gesellschaft, sondern die allgemeinen Charaktere der so gestalteten Sprache. Die Sprache, die so “im Bewußtseyn aller auf dieselbe Weise” widerhallt, ist “ein allgemeines an sich anerkanntes”. Das Allgemeine des selbst aufgehobenen Bewusstseins besteht auch selbst als Aufgehobenes, also als an sich Anerkanntes im anderen Bewusstsein. Die Sprache als anerkannt ist eben die “Sprache eines Volks” als Werk desselben, und “Verstand und Vernunft”, die nun nicht vom Einzelnen, sondern als die Kraft des gemeinsame Namen bzw. Idealitäten ordnenden Volks gemeinschaftlich besessen werden. Sie ist also ferner als das Werk des Volks “die ideale Existenz des Geistes, in welcher er sich ausspricht, was er seinem Wesen [nach] und in seinem Seyn ist”. Der Geist wird nämlich als Allgemeines, Geistiges, als der Geist selbst ausgesprochen und aufgenommen, und so als die Sprache des Volksgeistes existiert er in allgemeiner Weise. Diese Existenz ist zwar ideal, aber zugleich wirklich. Im Gedächtnis des Einzelnen als dem Werden zur Sprache wurde das Ideelle des äußeren Gegenstandes als aufgehoben gesetzt. Dies Gesetztsein des Ideellen als Aufgehobenen ist “vorhanden” als die Sprache des Volks, “als ideelles, allgemeines Bewußtseyn”, als der Geist des Volks. Deshalb ist das Aussprechen dessen, was jeder meint, das Aussprechen desjenigen Allgemeinen, in dem jeder seine Meinung hat und ausdrückt. Meine Meinung, dass dieser Baum grün sei, ist ebenso im anderen Bewusstsein, wie sie ist, weil das ideelle Aufgehobensein ihres Inhalts in Namen wie „dieser“, „Baum“ u. a. nicht nur in meinem Bewusstsein, sondern auch bereits im Volksgeist als gesetzt vorhanden ist. Die Sprache in dieser Entsprechung, die jedes sprechende Bewusstsein unmittelbar in einem anderen Bewusstsein findet, ist ihre wirkliche, daher wahre Sprache. Sie ist erst als die Sprache des Volks wahr. Die Wahrheit der Sprache heißt hier nicht Wahrheit des ausgesprochenen Inhalts selbst, die durch die Entsprechung desselben mit dem äußeren Gegenstand garantiert wird. Für diese Wahrheit des sprachlichen Inhalts als das Werk des Volks ist noch nötig der 244 Prozess der praktischen Bestätigung der Volksglieder wie Erziehung oder kommunikative Beziehung. Die wahre Sprache heißt hier nur die wirkliche Entsprechung ihrer idealen Existenz in allem Bewusstsein. Dieser Sprache des Volks entspricht die äußere Natur im ganzen, in der das Volk lebt. Sie ist eher selbst die “ideell gesetzte Natur” des Volks. Sie ist im Volk “ihrem Wesen nach für sich selbst vorhanden”, daher ist das Sprechen eben das Entäußern dieses für sich vorhandenen Allgemeinen durch den Einzelnen. Dies ist kein sprachliches Produzieren des Einzelnen wie in der Bewusstseinslehre, sondern nun “die blosse Form” “der reinen Thätigkeit”, das “innerlichseyn” der schon produzierten Sprache unmittelbar äußerlich zu machen. D. i. das Sprechen ist nun immer das unmittelbare Veräußerlichen eines an sich anerkannten, für sich seienden Allgemeinen in der Sprache des Volks, eines Inhalts des allgemeinen Bewusstseins, des Volksgeistes. Dies bedeutet aber seinerseits eine zweifache Beziehung. Als das Sprechen des Allgemeinen in der Sprache des Volks ist die “Bildung der Welt zur Sprache” “an sich vorhanden” (J I.318). Diese Bildung ist nun nichts anderes als “die Erziehung”, nicht von einzelnen Eltern, sondern im Horizont des Volks, dessen ausgesprochene Sprache bzw. entäußerte ideelle Welt “für das werdende Bewußtseyn” von einer neuen Generation zunächst “als seine unorganische Natur vorhanden” ist. Damit diese unorganische Natur in sein einzelnes Bewusstsein als das allgemein Gewordene aufgenommen wird, braucht das werdende Bewusstsein nur für “die Idealität” der Natur des Volks “die Realität zu finden” und “für die Sprache” desselben “die Bedeutung zu suchen, die in dem Seyn” der äußeren Natur ist. Die gesprochene Sprache des Volks ist daher zum einen die Erziehung seines werdenden Bewusstseins, das sich zugleich seinerseits durch seine Bestätigung des ausgesprochenen Inhalts das wahre Werk des Volks aneignet. Und dadurch wird jeder Einzelne eben ein Mitglied des Volks. Eine die Sprache des Volks sprechende Tätigkeit ist die gesellschaftliche Bildung seines für den Volksgeist auch unorganischen Einzelnen zu seinem organischen Mitglied. Oder die Erziehung im Horizont des Volks ist die sich wiederholende Bestätigung seines ideell Allgemeinen durch das werdende Bewusstsein, das damit die äußerlich ausgesprochene, also für es unorganische Natur in sein gewordenes allgemeines Bewusstsein als des Volks aufnimmt. Das Moment des Sprechens ist also für die Sprache des Volks, ferner für das Volk selbst von großem Belang. Denn ohne die Entäußerung kann das ideell Allgemeine nur subjektiv im Einzelnen, also gar nicht gemeinsam im Volk existieren. Aber das Subjekt, das es ausspricht, ist realiter nicht das Volk selbst, sondern das einzelne Bewusstsein, das seine anerkannte Allgemeinheit im Volk erreicht. Das ausgesprochene Allgemeine des einzelnen Bewusstseins ist nicht nur als Allgemeines ein Ideelles, in dem der 245 entsprechende, äußere Gegenstand ideell vernichtet ist, sondern auch als ausgesprochenes “selbst ein aüsseres”, das seinerseits auch “vernichtet, aufgehoben werden muß”, um das Allgemeine im anderen Bewusstsein zu bedeuten. Ohne ihre Entäußerung und ohne die Aufhebung ihrer Entäußerung ist die Sprache also auch “im Volk als ein todtes”. Die ausgesprochene Sprache muss als das äußere nicht nur vom werdenden, sondern von jedem Bewusstsein aufgehoben und “ihrem Begriff nach” aufgenommen werden. Diese sprachliche Tätigkeit ließe sich als kommunikative benennen, obzwar Hegel selbst hier diesen Begriff nicht wörtlich benutzt. Das Sprechen ist daher zum anderen in Begleitung der Aufhebung seiner Äußerlichkeit eine Kommunikation, in der das ausgesprochene Allgemeine eines Einzelnen von einem Anderen geprüft, bestätigt und als die Sprache des Volks anerkannt wird. Es ist nämlich solch eine Beziehung, jedes in der Sprache des Volks ausgesprochene Allgemeine anzuerkennen. Allgemein gesagt ist es die gesellschaftliche Beziehung der Anerkennung, alle Volksmitglieder kommunikativ zu bilden. Auf diese Weise wird die Sprache des Volks fortwährend im Kreislauf zwischen dem Volk und den Gliedern “reconstruirt” (J I.319). Sie ist als das Werk des Volks die ideale, aber wahre Existenz des Volksgeistes und als das tätige Sprechen des Volksmitgliedes die allgemeine Bildung aller zum Volksgeist. Schließlich, um die realistische Seite Hegels hier nicht zu übergehen, muss die Aufmerksamkeit vor allem auf das unentbehrliche Moment der Entäußerung gerichtet werden. Ohne dieses Moment lässt sich kein Allgemeines in gemeinsamen Besitz nehmen und als allen gehörig anerkennen. Das Sprechen besagt hier als eine entäußernde Tätigkeit schlechthin das vom Einzelnen durchgeführte, phonetische und sinnliche Sprechen des Allgemeinen. Dies ist weder nur einfaches Tauschmittel vom schon interpersonal erhaltenen, objektiven Allgemeinen, noch bloß äußere Form der kommunikativen Tätigkeit. Sondern es ist vielmehr schlechterdings “die blosse Form des aüsserlich machens, was schon producirt ist” (J I.318). Es ist daher mehr als die bloße Verkehrsform. Es ist nämlich die bloße Form, in der der Einzelne, der das bereits produzierte Allgemeine im Volk erkennt, selbst sein Bewusstsein davon äußerlich macht. Es ist also die Selbstrealisierung des einzelnen Bewusstseins als des allgemeinen oder Verwirklichung des schon reziprok anerkannten, also objektiven Allgemeinen durch den Einzelnen. Das Gesprochene kann also auch gut oder schlecht geraten sein. Eben deswegen muss die Äußerlichkeit des Gesprochenen wiederum aufgehoben und das Gesprochene selbst in den kommunikativen Bildungsprozess einbezogen und dadurch weiter anerkannt werden. Das Gesprochene und Ausgedrückte des Einzelnen, was so anerkannt ist, ist sein gesellschaftliches und allgemeines Dasein als sein sprachliches 246 Anerkanntsein. Dies freilich erklärt Hegel hier nicht ausführlich, sondern er erwähnt das Sprechen nur als die bloße Form. Allein diese ist in erster Linie die Form der Entäußerung bzw. Realisierung des Selbst. Der Grund für ihre Blöße liegt höchstwahrscheinlich gerade in der Vorläufigkeit und Idealität des Gesprochenen selbst. Die Selbstrealisierung müsste eher die vorhandene Entelechie des Volks in der beständigen äußeren Gestalt sein. Hegels Behandlung dieser Gestalt bei der Sprache lässt sich erst im Vertragsteil von der zweiten Geistesphilosophie erwarten. Dagegen ist der praktische Prozess der selbst realisierenden Entäußerung55 eben in der folgenden Arbeit ausführlich thematisiert, und zwar zumeist im Hinblick auf ihre wirklich geschehende schlechte Verallgemeinerung. Wenn die Sprache die theoretische Tätigkeit des Einzelnen zum Werk und Geist des Volks oder der Gesellschaft ist, ist die Arbeit nun auch solch eine praktische Tätigkeit desselben. Die Arbeit des einzelnen Bewusstseins als des durch die Selbstaufhebung anerkannten Allgemeinen wird ebenfalls “in ihrer Einzelnheit selbst” “eine allgemeine” (J I.319). Ihre Erörterung in den beiden Jenaer Geistesphilosophien spiegelt zum ersten Mal die seit der Berner Zeit durchgeführten ökonomischen Untersuchungen Hegels wider.56 Die erste Geistesphilosophie bringt sie im Großen und Ganzen auf zwei Seiten zur Darstellung, d. i. auf der positiven Seite der Anerkennung der einzelnen Arbeit als der allgemeinen und gesellschaftlichen und auf der negativen der schlechten 55 Dieser praktische Prozess des einzelnen Volksmitgliedes als Entäußerung des reziprok erreichten, aber deshalb noch nur intersubjektiv objektiven Allgemeinen fehlt der Kommunikationstheorie. Der Prozess beruht im Grunde genommen auf Hegels Lehre vom Bewusstsein, das erst durch die gegenständliche Verwirklichung seines Allgemeinen seine Wahrheit bestätigt. Hegels Einführung der Bewusstseinslehre in der Jenaer Zeit bedeutet daher nicht den Verzicht auf ‘die Idee einer vorgängigen Intersubjektivität des Menschen überhaupt’, wie Honneth interpretiert, sondern die ontologische Grundlegung von deren Möglichkeit, sofern das Bewusstsein das Menschsein des Menschen konstituiert. Des Weiteren muss sich das gegenseitig bewusst gewordne Allgemeine der Einzelnen in der Gesellschaft realisieren. Diese Realisierung ist der reale Anerkennungsprozess ihres ideell Anerkannten, d. i. der interpersonale Etablierungsprozess ihrer anerkannten ideellen Wahrheit, der als Arbeit, Tausch und Vertrag u. a. fortgeht und sich in den Wahrheitsgestalten von Gesetz, Institution und Staat konkretisiert. Die Unterstellung des nur intersubjektiven Allgemeinen für die Anerkennung hält diese Gestalten einfach nur für ein automatisches Resultat desselben Allgemeinen, aber übergeht deren immanente praktische Genese aus demselben, in der auch ein intersubjektives Allgemeines ab und zu als falsch erwiesen werden kann. Deshalb missversteht Honneth das Auftreten des Staates im dritten Systementwurf nur als Hegels Einschiebung der ‘übergeordneten Instanz’ für seine ‘Theorie der Sittlichkeit’ um den Preis des Verzichtes auf das Prinzip der Intersubjektivität. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung, S. 11-105, insbesondere 53, 98-99. 56 ‘Hegels Rezeption der Nationalökonomie’, die in der deutschen klassischen Philosophie einzigartig war, wurde motiviert, zum einen de facto durch die Vermittlung der damaligen ‘Populärphilosophie’, die die Nationalökonomie als eine progressive Gesellschaftstheorie aufnahm, zum anderen durch die wirkliche Gesellschaftssituation, worin sich die politisch-ökonomische Realität und deren Bestimmtheiten zum ‘System’ der allgemeinen Abhängigkeit der Individuen verselbständigen. Vgl. Riedel, Manfred: Zwischen Tradition und Revolution, S. 118-124; HH, S. 388. Zu einer Berichtigung von Riedels Erwähnung der Ricardo-Rezeption Hegels in der Rechtsphilosophie siehe Arndt, Andreas: Die Arbeit der Philosophie, S. 62-63. 247 Entäußerung der allgemeinen Arbeit selbst, wie bei Maschine und Arbeitsteilung. Die Anerkennung des Einzelnen ist die Anerkennung desselben als der aufgehobenen Totalität. Daher will der Einzelne auch – abgesehen von der kognitiven Tätigkeit -, dass sein Arbeiten, das seinem Bedürfnis dient, anerkannt wird. Aber die anerkennbare Arbeit ist nicht die für ihn allein geeignete, sondern die Arbeit in der “Form der Allgemeinheit”, in der also alle Anderen sie verrichten können. Denn die Arbeit als Tätigkeit selbst ist realiter immer die Arbeit des Einzelnen, und anerkennbar darin ist nur die allgemeine Weise seiner Arbeit. Diese ist “für die Arbeit das wahre Wesen”. Sie muss als “eine Regel aller Arbeit”, in der seine Einzelheit aufgehoben ist, vernünftig und für sich sein. Sie muss auch nicht nur als die Regel bleiben, sondern des Weiteren realiter anwendbar und angewendet werden. Sie wird zunächst allerdings von einem geschickten Einzelnen erdacht und gebraucht. Der Einzelne stellt dann zur Anerkennung seiner Arbeit diese nicht in seiner eigentümlichen, sondern in allgemeiner Weise auf, die für die Anderen zuerst “als ein aüsseres”, “als unorganische Natur” erscheint, aber durch die “Erlernung” und Anwendung eine Regel aller gleichförmigen Arbeit wird. Eben darum ist die Arbeit “nicht ein Instinct, sondern eine Vernünftigkeit, die sich im Volke zu einem allgemeinen macht”. Eine einfache Handlung, aus einem Bedürfnis Früchte einfach zu pflücken und zu essen, ist also nicht einmal Arbeit. Insofern Arbeit die Grundbedingung für das nur durch solche einzelne Handlungen nicht zu führende Leben des Einzelnen ist, muss sie selbst auch als äußere Tätigkeit des anerkannten Einzelnen durch deren allgemeine Weise anerkannt werden. Andernfalls hätte die Arbeit des Einzelnen weder gesellschaftlichen und ökonomischen Wert, noch würde sie als die Tätigkeit seines Lebens gewährleistet. Die anerkannte Arbeit in der Allgemeinheit ihrer Weise wird realiter zwar als die “subjektive Thätigkeit des Einzelnen” verrichtet, doch sie ist schon die sich in dieser einzelnen Tätigkeit realisierende allgemeine Arbeit. Das Arbeiten als die Tätigkeit ist also nun eben “in der Weise des Geistes vorhanden”, in der die Arbeit des Einzelnen durch das Allgemein-, d. i. “Anderswerden ihrer selbst zu sich zurückkehrt”. Diese Beziehung zwischen der einzelnen und allgemeinen Arbeit hat die Verallgemeinerung der einzelnen Arbeit und die Erlernung der verallgemeinerten zur Voraussetzung. Sie ist wiederum nichts anderes als der “Kraislauff” zwischen dem Einzelnen und dem zum Werk werdenden Volksgeist. “Das Anerkennen der Arbeit, und” der “Geschicklichkeit” in diesem Kreislauf hängt von der “Erfindung eines allgemeinen” in der Arbeit und von dessen Nachvollziehbarkeit durch das Erlernen ab. Die Arbeit, die dadurch im Volk immer allgemeiner entwickelt und anerkannt wird, ist als ihre Allgemeinheit die ideale Existenz des Volksgeistes und als die erlernte Geschicklichkeit das Werk desselben. Sie ist unmittelbar ein “allgemeines Gut” des 248 Volks (J I.320). Aber die Arbeit als die allgemeine Weise ist wie das Sprechen noch zu ideell, um das Werk des Volks zu sein. Allein sie kann auch als die äußere Existenz, eben als das Werkzeug, bestehen. 57 Das Werkzeug war nach der Bewusstseinslehre selbst ein einzelnes Ding, das doch das Zweckverhältnis des Willens als in sich realisiert hat. Weil die Arbeit die allgemeine Beziehung des Bewusstseins ist, in der der reale Zusammenhang der auf die Vernichtung des Gegenstandes gehenden Begierde gehemmt und idealiter als aufgehoben gesetzt ist, 58 hält das Werkzeug, in dem sie als die allgemeine Weise realisiert ist, “vom Menschen sein materielles Vernichten ab” (J I.321). Die Bedeutsamkeit des Werkzeugs liegt darin, dass die unmittelbare Beziehung der Vernichtung zu dem allgemeinen Verhältnis der aufgehobenen Vernunft des Einzelnen erhoben wird. Während der begehrende Mensch seine einzelne Vernunft unmittelbar für die Vernichtung des Begehrten und die Befriedigung der Begierde einsetzt, setzt der arbeitende seine vernichtende Vernunft “als eine aufgehobne” im Werkzeug und realisiert sie als eine allgemeine Beziehung (J I.320). Daher muss das Werkzeug in seinem Idealtypus ein solches sein, in dem die unmittelbar vernichtende Beziehung der Begierde bis zum allgemeinen Zusammenhang des Lebens zwischen der aufgehobenen Begierde und deren Gegenstand, dem Menschen und dem Naturding, ferner dem Geist und der Natur erhoben wird. Was unter diesem allgemeinen und lebendigen Zusammenhang verstanden wird, erwähnt Hegel aber hier nicht deutlich, sondern geht nur auf die Darstellung der negativen Wirkung der Maschine über. Der Zusammenhang wäre die organische Einheit des Menschen oder des Geistes mit der Natur als dem Anderssein seiner selbst, die in der lebendigen Zirkulation beider besteht. Denn es gibt nichts, was unmittelbar und völlig zunichte gemacht wird, sondern alles lässt sich als in der Einheit bestehend nur auf geistige Weise auffassen. Aber das Werkzeug ist noch nicht frei vom Problem, das materielle Vernichten aufzuheben. Denn im Werkzeug besteht die vernichtende Beziehung des Menschen noch als seine formale Tätigkeit weiter, “die auf ein todtes” Ding “gerichtet” und “wesentlich” nichts anderes als “das Tödten desselben” ist. Hierin liegt die Schranke des Werkzeugs. Und diese Schranke ist für Hegel schon in einer wirklichen Gestalt desselben aufgetreten. Das Werkzeug, in dem die Absicht des Einzelnen auf die Vernichtung, d. i. seine Einzelheit nicht aufgehoben ist, kann nicht das Werk des Volks, sondern nur des einzelnen Ich sein. Es ist nicht die List der das allgemeine Zweckverhältnis realisierenden Vernunft, sondern 57 Im Vergleich zum Werkzeug der Arbeit könnte auch die Sprache die äußere und reale Existenz eben als die Schrift haben. 58 Siehe S. 160-163. 249 lediglich der “Betrug”, den der Einzelne mit seiner verhüllten, noch einzelnen Vernunft “gegen die Natur ausübt” (J I.321). Und wenn er seine Vernunft nicht mit dem aufgehobenen Inhalt seiner Absicht, sondern als solche “aufgehobne” Vernunft, in der nur die Einzelheit der Existenz seiner Vernunft aufgehoben ist, ins Werkzeug setzt und diese Vernunft “von sich abhält, wird das Werkzeug “zur Maschine” als nur äußerlich getrennt, aber innerlich ausgedehnt von seiner Einzelheit (J I.320). Gerade hier liegt der Ausgangspunkt der ökonomischen Kritik Hegels. Im Kontrast zur positiven Einschätzung von Werkzeug und Maschine in der Bewusstseinslehre richtet Hegel hier das realistische Augenmerk auf die aktuell in Betrieb gesetzte Maschine als Werkzeug. Die Maschine ist zurückzuführen auf die nur formale, also schlechte Verallgemeinerung der einzelnen Arbeit. Sie lässt sich nach zwei Seiten einschätzen. Zum einen hebt der Einzelne seine formale Tätigkeit in hohem Maß in die von ihm getrennte Maschine auf und “lässt sie ganz für ihn arbeiten”. Aber in dieser Maschinenarbeit ist die Einzelheit seiner Absicht selbst, sich die Natur anzueignen und zu unterjochen, nicht aufgehoben, und sogar in der Maschine als Aneignungsmittel ist zum anderen das wesentliche Seinsverhältnis des zuletzt zu vernichtenden Gegenstandes in der Natur vernachlässigt. Z. B. die Massenproduktion der Möbel beachtet das natürliche Verhältnis des Waldes nicht. Der Mensch bleibt hier noch innerhalb der Einzelheit der Natur wie in der Einzelheit seiner Absicht stehen und will ihr als den einzelnen toten Dingen immer mehr abschwindeln. “Aber jeder Betrug” des Menschen “rächt sich gegen ihn selbst”. Dies besagt nicht, dass die ausgenutzte Natur selbst Rache an ihm nimmt, sondern nur, dass der Einsatz seiner betrügerisch verallgemeinerten Vernunft zwangsläufig auch auf das trügerische Resultat gegen den Einsetzenden hinausläuft. In der Maschine ist für Hegel mindestens in seiner Zeit nicht das wesentliche Verhältnis des allgemeinen Bewusstseins des anerkannten Einzelnen als aufgehobenen zur lebendigen Natur realisiert. Der Mensch hebt darin zwar die Formalität seiner vernichtenden Arbeit auf, aber nicht “die Nothwendigkeit seines Arbeitens” selbst. Und zwar in dem Maß, wie er sich der Natur bemächtigt, wird er selbst mit seiner Arbeit immer “niedriger”. Die Vermehrung der einzelnen Produkte durch die Maschine führt zur Erniedrigung des Werts des einzelnen Produkts im Verhältnis zur bestimmten Wertsumme, die nichts anderes als die Erniedrigung des Werts der einzelnen Arbeit pro einzelnes Produkt bedeutet. Daher wird sein Arbeiten immer mehr gezwungen, um die gleiche Wertgröße zu erreichen, aber er kann nun in keiner anderen Weise als immer “maschinenmässiger” arbeiten. Diese kritische Einsicht Hegels in die Maschine als Aneignungsmittel ist nicht allein die Bilanz der damaligen ökonomischen Nebenwirkung. Sie stützt sich nicht zuletzt auf die wesentliche 250 Auffassung vom wahren Werkzeug als Werk des Volks. Aber die realisierte Wahrheit in der Maschine ist noch nicht wahr im vollen Sinne. Eine reale Gestalt von einem wahren Werkzeug als Werk des Volks in der Gesellschaft herauszufinden wäre also auch ein Hauptinteresse Hegels. Doch alles Wirkliche wandelt sich nur auf seinem vernünftigen Wesensverhältnis beruhend, und es gibt nichts, was sinnlos da ist. Der Betrug des Einzelnen gegen die Natur ist also im Wesentlichen Selbstbetrug. Durch die weitere Analyse dieses vernünftigen Resultats wird dieser Bereich der gesellschaftlichen Arbeit später als das notwendige Moment des modernen Staats in der Rechtsphilosophie herausgestellt. Des Weiteren eröffnet Hegels Auffassung des wahren Werkzeugs sowohl die Sicht auf die gesellschaftliche Besitzform des Produktionsmittels, in dem die Einzelheit eines jeden aufgehoben ist, als auch auf die ökologische Aufmerksamkeit des Produktmaterials, das zum wesentlichen Seinsverhältnis der Natur gehört, nämlich diejenige Sicht, die zum einen Marx ohne Bewusstsein dieses Hegelschen Elements hauptsächlich politisch-ökonomisch entwickelte, 59 zum anderen diejenige, die das Bewusstsein der ökologischen Krise heute begründen kann.60 Als formale Verallgemeinerung der einzelnen Arbeit behandelt Hegel außer der Maschinenarbeit auch die Arbeitsteilung. Auf seine Analyse des Arbeitswerts wirkt sich zwar die damalige Nationalökonomie, insbesondere Adam Smiths,61 aus, aber seine Unterscheidung des Arbeitsbegriffs nach dem Wert lässt sich auch als Vorausnahme der Marxschen Unterscheidung zwischen der konkreten und abstrakten Arbeit62 ansehen. 59 Das Problem des Kapitalismus liegt Marx zufolge im Widerspruch der sich immer mehr vergesellschaftlichenden Produktionskräfte mit den Produktionsverhältnissen, d. i. dem Privatbesitz der Produktionsmittel. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844) MEW 40, S. 523-567. Zur Kritik der politischen Ökonomie MEW 13, S. 8-9. 60 Der Vorwurf Hösles in ökologischer Hinsicht gegen den angeblichen Vulgärhegelianismus wegen der Bejahung des übermäßigen Vorrechts des Geistes gegenüber der Natur, andeutungsweise auch gegen Hegel wegen seines milden Fortschrittsoptimismus des Geistes, kann aber nur schwer auf Hegel zutreffen, der bereits früher sowohl die bedrohliche Seite der geistigen Tätigkeit als auch die Notwendigkeit der Natur als des Andersseins des Geistes einsah. D. h. das Begreifen ist selbst schon das geistige Beherrschen des Begriffenen (N 376), daher muss der Begriff des Geistes immer mit Vorsicht bestätigt und realisiert werden, um dem Begriffenen keine Gewalt anzutun, sondern es seinem Wesen nach als das Anderssein des Geistes bestehen zu lassen. Die Realisierung des Geistes ist nicht einseitige Aneignung der Natur, sondern das Werden oder Vergegenständlichen des Geistes zur Natur als seinem Anderssein nach ihrem wesentlichen Seinsverhältnis. Im ähnlichen Sinne sieht Liebrucks bei Hegel eine Art ‘Praxis des Zen-Buddhismus’, nicht der Gewalt. Hösle, Vittorio: Praktische Philosophie in der modernen Welt, S. 171-177. Liebrucks, Bruno: Recht, Moralität und Sittlichkeit bei Hegel MR, S. 35, 38. Zu Hegels Ansätzen einer ökologischen Sittlichkeit siehe auch Reusswig, Fritz: Natur und Geist. Grundlinien einer ökologischen Sittlichkeit nach Hegel, S. 162-167, 194-201, 228-236. 61 J I., Anhang, S. 384-385. 62 Eichenseer, Georg: Die Auseinandersetzung mit dem Privateigentum im Werk des jungen Hegel, S. 100-102. Zu einem etwas groben, aber überprüfungswürdigen Vergleich siehe Tuschling, Burkhard: Objektiver Geist: Kapital. Dialektik bei Hegel, Dialektik bei Marx, in Die Folgen des Hegelianismus, S. 193-221. Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie MEW 13, S. 19-24. Das Kapital Bd.1 MEW 23, S. 52-61. 251 Ein gutes Beispiel hierfür ist seine Rede von der Arbeit im lebendigen Zusammenhang mit der Natur und von der Arbeit als formaler Tätigkeit. Dafür sprechen auch die von ihm genannten Arbeiten “als Arbeiten eines einzelnen für seine Bedürfnisse” und die “allgemeine ideale” Arbeit, die von Hegel als die Zweifachheit der Arbeit des Einzelnen in Betracht gezogen werden (J I.321). Die letztere Arbeit, die bei Hegel das Resultat der formalen Verallgemeinerung der einzelnen Arbeit selbst ist, ist bereits fast die von ihrem qualitativen Zusammenhang abstrahierte und quantifizierbare Arbeit bei Marx als das Resultat der Vergesellschaftung der Produktion, deren Hauptmerkmal die Arbeitsteilung ist. Hierin wird der Mensch den Produkten, dem Produktionsprozess, seiner Arbeit und ferner seinem Wesen als arbeitendem Menschen entfremdet.63 Diese Entfremdung wird aber bei Hegel nicht einmal durch die künstliche Verstaatlichung der Produktionsmittel abgeschafft, sondern insofern sie das wirkliche Resultat der Entäußerung der Einzelnen ist, kann sie durch die rechtlichen Institutionen eben als das Anerkanntsein von den Einzelnen selbst überwunden werden. Die Arbeit ist im Wesentlichen die Tätigkeit des praktischen Bewusstseins, in der die einzelne Begierde und deren einzelner Gegenstand sich als ideell Aufgehobene auf einander beziehen. Der ideell aufgehobenen, also nicht unmittelbaren, sondern menschlich gedachten und gesetzten Begierde verleiht Hegel nun den Ausdruck „Bedürfnis“. Die Arbeit des Einzelnen hat daher selbst das vernünftige und allgemeine Verhältnis, und als dieses ist sie anerkennbar. Die anerkennbare Arbeit ist nicht Arbeit, die Bedürfnisse des Einzelnen unmittelbar befriedigt, sondern in der die Einzelheit seiner Bedürfnisse selbst aufgehoben, also als das allgemeine und anerkannte Bedürfnis im Volk ist. Nicht die einzelne Arbeit, die einzelne Bedürfnisse befriedigt, sondern die allgemeine Arbeit für die Befriedigung des allgemeinen Bedürfnisses wird als die Tätigkeit des Einzelnen anerkannt, und nur vermittelt durch diese anerkannte Arbeit ist das Bedürfnis des Einzelnen auch als anerkannt erfüllbar. In diesem Sinne ist die Freiheit des Einzelnen bei Hegel weit entfernt vom liberalen Individualismus. Der Einzelne setzt sein einzelnes Bedürfnis als aufgehobenes, als allgemeines im Volk und befriedigt es durch die allgemeine Arbeit dafür. Insofern ist sein zu befriedigendes oder befriedigtes Bedürfnis auch anerkannt. Aber dieser begriffliche Prozess der Anerkennung lief realiter in anderer Weise, und hieran erkennt Hegel eben die schlechte, aber wirklich notwendige Verallgemeinerung der Arbeit. Denn der Einzelne kann nicht immer durch die Aufhebung jedes einzelnen Bedürfnisses jede allgemeine Arbeit verrichten und dadurch sein Bedürfnis erfüllen. Sondern er verallgemeinert de facto seine Arbeit nicht sowohl jeweils durch die Aufhebung aller seiner Bedürfnisse als 63 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844) MEW 40, S. 510-522. 252 vielmehr durch die Extraktion und Abstraktion von seinen einzelnen Bedürfnissen. Er setzt sein Bedürfnis als aufgehobenes allgemeines und betreibt eine allgemeine Arbeit dafür. Die Produkte dieser Arbeit gehen über seine Not hinaus und sind nun eher Gegenstände des allgemeinen Bedürfnisses des Volks. In diesem Verhältnis zwischen der allgemeinen Arbeit und dem allgemeinen Bedürfnis ist ferner sein konkretes Bedürfnis nicht enthalten, sondern davon getrennt. Was er produziert hat, braucht er nicht mehr, oder er produziert nicht mehr, was er braucht. Seine allgemeine Arbeit bezieht sich nur formal auf das allgemeine Bedürfnis, und außerhalb dieser formalen Beziehung liegt sein konkretes Bedürfnis. Bei ihm sind einerseits seine einzelne Arbeit als eine allgemeine und sein konkretes Bedürfnis getrennt, und jene wird für dieses äußerlich verrichtet. Jene seine Arbeit ist andererseits auch für das allgemeine Bedürfnis des Volks und kann daher anerkannt sein. Aber sie ist bei ihm für sein eigenes Bedürfnis, und zwar für alle seine Bedürfnisse. In seiner allgemeinen Arbeit ist deshalb die Einzelheit seines Bedürfnisses nicht aufgehoben, sondern lediglich nicht unmittelbar enthalten. Seine Arbeit als eine einzelne ist “eine formale abstracte allgemeine” geworden, und seine Produkte befriedigen nun nicht unmittelbar seine Bedürfnisse, sondern sind “nur die Möglichkeit” der Befriedigung. Er muss nämlich seine Produkte für die Not seiner anderen Bedürfnisse tauschen. Hier ist der bedürfende Einzelne seinen Produkten äußerlich und entfremdet. Diese Entfremdung des Produzenten überhaupt ist verschieden von der Marxschen Entfremdung des Lohnarbeiters von seinen Produkten in der Klassenordnung des Produktionsprozesses, vielmehr gründlicher und ontologischer. Denn sie ist der Tätigkeit des Arbeitenden selbst logisch immanent, und sie ist geschichtlich entstanden. Die Befriedigung der Bedürfnisse des Einzelnen ist nun als auf den Tausch angewiesen unter zwei Bedingungen möglich. Erstens ist “die Befriedigung der Totalität seiner Bedürfnisse” nun “eine Arbeit aller”, d. i. “die Arbeit des ganzen Volkes”, die seine Bedürfnisse und seine äußerliche allgemeine Arbeit dafür vermittelt. Diese Vermittlung läuft über den Tausch seiner Produkte, dessen Möglichkeit eben Vergleichbarkeit der Produkte voraussetzt. Hegel deutet diese Vergleichbarkeit hier nur als aus der Vergleichbarkeit der Bedürfnisse nach den Produkten entspringend an. Die Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen hängt von der Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung aller Anderen durch seine Produkte ab. Die Bearbeitung dieser Produkte ist daher selbst eine allgemein vergleichbare Arbeit. Die Arbeit eines jeden hat also zweitens “einen Wert”. Hegel erklärt hier nicht ausführlich den Ursprung des Wertes, sondern richtet seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Tatsache, dass die allgemeine Arbeit des Einzelnen keineswegs konkret allgemein, sondern selbst abstrakte 253 Arbeit als ein vergleichbarer Wert ist. Die Arbeit des Einzelnen und sein Besitz der Produkte sind nun “nicht was sie für ihn sind, sondern was sie für alle sind”. Nicht nur seine Produkte, sondern auch sein Produktionsprozess selbst ist nun seinem konkreten Bedürfnis äußerlich und bleibt nur die Möglichkeit von dessen Befriedigung. Er arbeitet nicht als das lebendige Korrelatum seines Bedürfnisses, sondern als der abstrakt Tätige für dessen Erfüllbarkeit, die nun nichts anderes als “eine allgemeine Abhängigkeit aller voneinander” ist. In dieser Abhängigkeit der formalen und abstrakten Arbeit eines jeden verschwindet “alle Sicherheit und Gewißheit daß sein Arbeiten als einzelnes seinen Bedürfnissen unmittelbar gemäß ist”64 (J I.322). Die formale Verallgemeinerung der Arbeit beruht im Grunde genommen auf dem “Auseinanderlegen des Concreten” in dem Bedürfnis und der Arbeit. Zuerst wird ein Bedürfnis von den konkreten Bedürfnissen des Einzelnen extrahiert und als ein allgemeines gesetzt, und demgemäß wird seine einzelne Arbeit auch die allgemein quantifizierbare Arbeit für die Tauschbarkeit der Produkte des allgemeinen Bedürfnisses. Das Auseinanderlegen entsteht des Weiteren auch in seiner einzelnen Arbeit selbst, die nun nur den Sinn eines quantitativen Wertes hat. D. h. die einzelne Arbeit wird immer mehr in Teilarbeiten vereinzelt und differenziert. Dadurch geht zum einen die lebendige Konkretheit der einzelnen Arbeit zwar auch immer mehr verloren, aber die Teilarbeit, die in hohem Maß differenziert, also nun indifferent ist, wird zum anderen umso leichter zu quantifizieren und zu erlernen. Die Vergrößerung dieser Geschicklichkeit hat anscheinend die leichtere Beherrschung der Natur durch den Menschen zur Folge. Das 64 Hegel versucht auch in seiner eigenen Weise über nationalökonomische Annahmen wie die Bestimmung des Wertes durch das Verhältnis zwischen Nachfrage und Angebot oder durch die eingesetzte Arbeitsgröße hinauszugehen. Eine wichtige Rolle spielt hier Landau zufolge eben die Aristotelische Tradition, die ‘den Wert am Bedürfniss’ messe. Hegel liefere dennoch ‘keine klare Analyse des Wertbegriffs’. Aber sein Wertbegriff lasse sich an der Rechtsphilosophie ablesen, wo er als ‘objektiv bestimmbar durch die konkrete Vergleichbarkeit aller individuellen Bedürfnisse’ erklärt sei. Die Vergleichbarkeit ist nach der ersten Jenaer Geistesphilosophie auf “die Abstraction eines Bedürfnisses als ein allgemeines” gegründet, für die die Arbeit “eine formale abstracte allgemeine” wird (J I.322). Das abstrakte Bedürfniss und die abstrakte Arbeit dafür aber fallen bei Hegel nicht in den nationalökonomischen Kontext. Sondern er betrachtet ihre Rückkehr zur Konkretheit und sogar, wenn dies unmöglich ist, das Eingreifen der Staatsgewalt als notwendig, weil ihre Wahrheit in der Befriedigung des mit dem Allgemeinen vermittelten Bedürfnisses liegt. In dieser Hinsicht steht Hegel nicht auf dem Standpunkt der Nationalökonomie, wie in der Einschätzung von Marx. Sondern die Abstraktheit von Bedürfnis und Arbeit muss vom Einzelnen oder ferner institutionell aufgehoben werden können, insofern der Tausch des abstrakten Wertes nicht die materiale und distributive Gerechtigkeit im Aristotelischen Sinne garantiert, sondern häufig gesellschaftliche Ungleichheit verursacht. Die Arbeit des Einzelnen muss sein Bestehen als Person durch die Befriedigung seines konkreten Bedürfnisses materialiter sichern können. Eben darum wird auch ‘Hegels Vertragslehre’, wie Landau erläutert, ‘eine Synthese naturrechtlicher Gedanken materialer Vertragsgerechtigkeit mit dem Prinzip der Privatautonomie’ versuchen. Landau, Peter: Hegels Begründung des Vertragsrechts MR, S. 182-188. GPR, § 63. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844) MEW 40, S. 574. Zu Hegels Kritik der politischen Ökonomie siehe Arndt, Andreas: Die Arbeit der Philosophie, S. 56-63. 254 Bedürfnis und die Arbeit scheinen sich also auch in der allgemeinen “Form des Bewußtseyns” zu entwickeln. Aber diese allgemeine Form ist äußerlich extrahiert vom Konkreten der ersteren. Das Bewusstsein des Einzelnen ist “nicht eine Absolutheit”, worin die einzelne Beziehung selbst bei seinen Bedürfnissen und Arbeiten völlig vernichtet und aufgehoben ist, sondern noch “darauf gerichtet, diese Einzelnheit aufzuheben”, aber dadurch, dass er ein Einzelnes von ihnen abtrennt, als ein alle seine anderen Bedürfnisse bzw. Arbeiten Ersetzendes, d. i. als ein quantitativ Allgemeines setzt und als die mit allen Bedürfnissen bzw. Arbeiten des Volkes vergleichbare Quantität ununterbrochen vereinzelt, damit verallgemeinert. Die Verallgemeinerung “auf diese formale falsche Weise” des Auseinanderlegens ist empirisch unendlich, so wie die empirische Differenzierung einer Linie in unendlich viele Punkte. Dementsprechend vergrößert die Arbeitsteilung auch vielmehr die Abhängigkeit des Einzelnen von der Natur. Diese resümiert Hegel unter vier negativen Resultaten. Vor allem vergrößert sich die Abhängigkeit in der Proportion mit der Steigerung der Produktmenge, die Hegel nach Adam Smith als die unmittelbare Folge der Arbeitsteilung betrachtet. Die drastische Vermehrung der Produkte durch den etwas größeren Einsatz der geteilten Arbeiten unter der gleichen Bedingung von Arbeitslohn und Arbeitsstunden bedeutet auf der einen Seite die Vermehrung der produzierten Wertsumme, die aber andererseits nichts anderes als das relative Sinken des Wertes der gleichen Lohnarbeit ist. D. h. um die der vermehrten Wertsumme entsprechende Kaufkraft zu haben, muss die Teilarbeit immer mehr und abhängiger verrichtet werden. Zweitens wird die immer mehr geteilte und vereinfachte Arbeit selbst “umso absolut todter”, also geeigneter für die Maschinenarbeit. Die allzu leicht zu erlernende Geschicklichkeit ist äußerst beschränkt und einfach. Die Wiederholung dieser einfachen und maschinenmäßigen Arbeit führt “zur letzten Stumpfheit” des arbeitenden Bewusstseins (J I.323). Der Arbeiter wird seinem bewussten, d. i. menschlichen Wesen entfremdet. Darüber hinaus steht die einzelne Arbeit eines jeden im unübersehbaren Zusammenhang “mit der ganzen unendlichen Masse der Bedürfnisse”. Jeder kann trotzdem nicht vermeiden, vom unsicheren Zusammenhang blind abzuhängen, insofern das Erfüllungsmittel seiner Bedürfnisse solche Arbeit ist. Deshalb ist “die Arbeit einer ganzen Klasse65 von Menschen” immer gefährdet durch eine entfernte Manipulation, 65 Der Ausdruck “Klasse”, der in der ersten Geistesphilosophie nur einmal (J I.324) und in der zweiten nur dreimal (J III.244, 245, 270) auftaucht, kann aber kaum als eine deutliche Beziehung für die gesellschaftliche Klasse der Lohnarbeit, wie Eichenseer interpretiert, angesehen werden. Eichenseer, Georg: Die Auseinandersetzung mit dem Privateigentum im Werk des jungen Hegel, S. 102. Aber Hegel bedient sich auch nicht ‘einer sachlich durchaus unpassenden, ideologischen Redeweise’, die LübbeWolff zufolge Rücksicht nur auf den Erwerbsstand mit Ausschluss von Fabrikarbeitern nimmt. LübbeWolff, Gertrud: Hegels Staatsrecht als Stellungnahme im ersten preußischen Verfassungskampf. ZPF 35, S. 255 sie “überflüssig und unbrauchbar” zu machen. Die Arbeit eines jeden ist nun die ihrem Zweck entfremdete Arbeit. Schließlich ist die immer bequemere “Assimilation” oder Einbeziehung der Natur in den Produktionsprozess durch die Arbeitsteilung in unendliche Stufen teilbar. Aber die übermäßig vielen Bequemlichkeiten der so geteilten Arbeiten machen die Assimilation im Ganzen “wieder ebenso absolut unbequem”. D. h. für den Einzelnen kann die Beherrschung der Natur durch seine leichte Teilarbeit bequem sein, aber seine Arbeit ist die teilweise Beziehung mit der zerlegten und analysierten Natur im Ganzen; daher wird die assimilierende Beziehung auf die Natur als das organische Ganze immer schwerer und unbequemer. Diese formale und falsche Verallgemeinerung der Arbeit scheint einerseits von der geistesphilosophischen, d. i. immanenten und notwendigen Entwicklung des Geistes abzuweichen und andererseits plötzlich die ökonomische Analyse hervorzuheben. Aber dieser Eindruck verschwindet sofort, wenn darauf geachtet wird, dass sich die Geistesphilosophie nun nicht im Bereich des Geistes nach seinem Begriff, sondern seiner Wirklichkeit befindet. Die Bewusstseinslehre im Vorigen ist nur die Lehre von der begrifflichen Existenz des Geistes im Zusammenhang mit dem äußeren Gegenstand als seinem Anderssein. Die vorige Lehre vom Anerkennungskampf ist ebenfalls lediglich die bewusstseinsimmanente und ontologische Lehre der Anerkennung als Grund der realiter in der Gesellschaft zumeist ohne extremen Kampf gezollten Anerkennung. In der Gesellschaft als dem wirklichen Ort der anerkennenden Beziehung ist der Geist noch nicht, was er ist. Insofern nicht der Geist selbst, sondern das geistige Subjekt, das gesellschaftliche und sittliche Individuum, sich selbst realisiert und entäußert, wird der Geist in seiner Andersheit und Endlichkeit realisiert. Die schlechte Wirklichkeit ist nicht auf dem endlichen Standpunkt dieses Individuums, sondern durch dessen Reflexion oder auf dem Standpunkt seines Geistes als ein Irrtum erfasst. Jedenfalls ist sie dennoch die vorhandene Wirklichkeit des Geistes, in der er irgendwie realisiert und durchgesetzt ist. Wegen dieser Tätigkeit des Geistes hebt auch der wirkliche Widerspruch sich selbst auf, was nichts anderes als die Entfaltung der Geschichte durch das sittliche Subjekt ist. Dies ist nämlich ganz und gar keine natürliche Evolutionslehre, sondern eine Art gesellschaftliche Ontologie des Geistes im Einzelnen und zugleich Lehre von seiner Entwicklung durch das einzelne, aber geistige Subjekt. Aber um das Geistige oder die wirkende Vernunft in der Wirklichkeit, nämlich den wirklichen Geist, zu erfassen, muss in erster Linie die Wirklichkeit selbst zuerst 499. Sondern vielmehr hat er eine jeweilige ganze Gruppe aus Geschäftsmännern und Arbeitern in jedem Erwerbszweig im Sinne, die das unverschärfte Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im damals industriell noch unentwickelten Deutschland sachlich widerspiegelt. 256 realistisch auf den Begriff gebracht werden. Die Wirklichkeit ist hier die sich wirtschaftlich entwickelnde und politisch reorganisierende Gesellschaft der Neuzeit. Deshalb stellt Hegel zunächst die ökonomische Tätigkeit der Einzelnen vor Augen. Aber er stellt nicht nur ihre ökonomische Diagnose. Die einzelne Arbeit eines jeden als die formale und abstrakte allgemeine, deren Begriff auch als das dingliche Dasein des Geldes realisiert ist, bildet zusammen mit dem gleichfalls verallgemeinerten Bedürfnis, dessen Begriff als die dingliche Ware des Konsums konkretisiert ist, “für sich in einem grossen Volk “ein ungeheures System von Gemeinschafftlichkeit und gegenseitiger Abhängigkeit”. 66 In der Gemeinschaft eines so großen Volks, in dem die Volksmitglieder in einem gesellschaftlichen Ausmaße tätig sind, wird die Gesellschaft als das System der gegenseitigen Abhängigkeit gebildet, in dem jeder gleichsam wie ein Toter “blind und elementarisch sich hin und herbewegt” oder wie “ein wildes Thier” eine beständige Bezähmung und Bildung braucht (J I.324). Eben aus diesem Grunde ist die neuzeitliche Gesellschaft für Hegel der vorhandene Naturzustand. Aber dieser Naturzustand ist auch eben der Ort, wo sich die Gesellschaft nach ihrem vernünftigen Wesen kontrolliert, ordnet und organisiert. Daher ist Hegels Hauptinteresse hier nicht einfach ökonomisch, sondern vielmehr auf ‘die gesellschaftsbildende Funktion der ökonomisch-poetischen Tätigkeit’ 67 der Einzelnen gerichtet. Im System der Abhängigkeit lässt sich die Sicherheit jeder Tätigkeit nur durch die wechselseitige Anerkennung garantieren, deren konkurrierende und streitende Beziehung im typisierten Falle jedoch hier im unvollständigen Manuskript der ersten Geistesphilosophie keine weitere Erklärung findet. Trotzdem lässt sich eine solche anerkennende Beziehung mit Billigkeit und Gewissheit voraussehen, in der auch das objektive Dasein des Anerkanntseins als die vernünftige Basis der Gesellschaft, eben als das Recht 68 , wie später zu sehen, erreicht wird. Aber zuletzt ist in der ersten 66 Auch nach dem System der Sittlichkeit ist niemand im “System der allgemeinen gegenseitigen physischen Abhängigkeit von einander” “für die Totalität seines Bedürfnisses” selbstständig, und seine Arbeit oder irgendein Vermögen der Befriedigung seines Bedürfnisses “sichert ihm nicht diese Befriedigung”. SE, S. 350. 67 Riedel, Manfred: Zwischen Tradition und Revolution, S. 123. 68 Die Wirtschaftslehre Hegels, die Priddat bezüglich der Rechtsphilosophie als eine Lehre der ‘normativen Wirtschaftsverfassung’ aus der rechtlichen Perspektive der Ökonomie bestimmt, gilt auch hierfür. Hegels Ökonomie sei nämlich ‘keine Smithsche Kapitalwirtschaft’, die durch invisible hands automatisch ausgeglichen werde, sondern eine arbeitsteilige ‘Tauschwirtschaft aristotelischen Musters’, in der der schwankende Wert der Dinge im System der Sittlichkeit durch die Regierung, in der Rechtsphilosophie durch die Korporationen gesichert, ferner die normative Verteilung der Einkommen und das Recht auf Arbeit versichert werden. Priddat, Birger P.: Hegel als Ökonom, S. 9-42, 185-193. Die Aristotelische Verbindung von ‘private property’ und ‘common use’ aufgrund der Grundidee, dass ‘property’ ‘an natural and normal extension of personality, a source of pleasure and an opportunity of good activity’ ist, wird von Hegel eben als die moderne und normative Verbindung vom Privateigentum und Gemeinwohl aufgenommen und versucht. Ross, David: Aristoteles, S. 245-246. 257 Geistesphilosophie noch der Besitz nach dem allgemeinen Charakter der anerkennenden Beziehung zu erklären. Der Besitz war nach der Bewusstseinslehre “das dritte, das Erzeugte”, in dem die befriedigte Liebe als das Anderssein von den vereinten beiden in Gestalt der Dingheit vergegenständlicht ist (J III.211). Danach war der Besitz das unmittelbare Moment des Auftakts zum Anerkennungskampf, weil er vom totalen Bewusstsein des Einzelnen als eins mit seinem ganzen Wesen, “als ausschliessende Totalität” gesetzt wird (J I.309). Er ist nun die “ruhende Seite”, nämlich das dingliche Relatum des Arbeitens und Bedürfnisses des Einzelnen (J I.324). Wenn das, in dem die allgemeine Arbeit eines jeden als der allgemeine Begriff von Wert in der materiellen Gestalt existiert, das Geld ist, ist der Besitz des Einzelnen das konkrete Erzeugnis des allgemeinen Bedürfnisses und der allgemeinen Arbeit, das zugleich auch mit dem Geld, d. i. in allgemeiner Weise, vorstellbar ist. Der so vorstellbare Besitz des Einzelnen ist im ganzen Volk selber “ein allgemeiner”. Dieser allgemeine Besitz ist nur insofern der anerkannte Besitz des Einzelnen, als jeder Einzelne “durch das allgemeine Bewußtseyn” jeden Besitz so setzt. Nach der Lehre vom Kampf um Anerkennung erreichte jeder als gegenseitig anerkannt bereits dies allgemeine Bewusstsein, in dem jede Einzelheit aufgehoben ist. Vermittels dieses Bewusstseins besitzt jeder nun das seinige, dessen Einzelheit ebenfalls aufgehoben ist. Insofern ist der Besitz jedes Einzelnen anerkannt. Die allgemein verwertbare Seite des einzelnen Besitzes impliziert daher sein Gesetztsein im allgemeinen Bewusstsein, im Geist des Volks. Deshalb wird er auch als ein allgemeiner Besitz im Volk austauschbar. Der so anerkannte, einzelne Besitz des allgemein abschätzbaren Erzeugnisses ist eben das “Eigenthum”.69 Das Eigentum ist der durch das allgemeine Bewusstsein als anerkannt gesetzte Besitz jedes Einzelnen in der beständig anerkennenden Beziehung aller. 70 Im Eigentum sind nun also die Ausschließlichkeit und der Widerspruch des Besitzes folgendermaßen überwunden. Zunächst wird die Ausschließlichkeit des Besitzes durch das allgemeine Bewusstsein zu 69 Hegels Eigentumsbegriff ist also kein traditionell-naturrechtlicher Rechtstitel als ‘Okkupation’, die wegen ihrer kämpferischen Ausschließlichkeit den Gesellschaftsvertrag notwendig macht, sondern alles der Person Äußere und Dingliche als das äußere Dasein der Person im weiten Sinne von dominium, das durch die Formen der gesellschaftsbildenden Vermittlung, wie Arbeit und Tausch, steht unter der anerkannten Herrschaft der Person. Riedel, Manfred: Zwischen Tradition und Revolution, S. 131. Seelmann, Kurt: Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion, S. 18. Das Eigentum ist daher weder auf die nur versachlichte Natur noch auf die nur versachlichte Beziehung der freien Person, in Ritters Interpretation, zu beschränken. Ritter, Joachim: Person und Eigentum MR, S. 158-164. 70 Nach VNS § 24, “Besitz und Eigentum sind wesentlich eins, das Eigentum ist die rechtliche Beziehung des Besitzes, und im Besitz bleibt, wenn beide getrennt werden, nur die Seite der äußerlichen Beziehung”. Jene rechtliche Beziehung des Besitzes ist eben die hier erklärte anerkennende Beziehung. Siehe auch GPR § 45. 258 einer solchen Ausschließlichkeit aller, in der jeder gemeinschaftlich alle Anderen von seinem bestimmten Besitz ausschließt und nur diesen bestimmten Besitz hat. In diesem Sinne ist das ausschließende Besitzen des Einzelnen das ausschließende Besitzen aller. Die Ausschließlichkeit des Besitzes ist als die gemeinschaftliche Ausschließlichkeit aller anerkannt und aufgehoben. Der Widerspruch des Besitzes lag ferner zwischen seiner Allgemeinheit als Ding und seiner bestimmten Zugehörigkeit als Besitz. Das allgemeine Bewusstsein setzt nun ein allgemeines Ding “als das Gegentheil seiner selbst” an sich, nämlich als ein einzelnes Ding aller Einzelnen. Allgemeines ist immer da als ein Allgemeines gegenüber allen Einzelnen. Ein Ding als Ding ist nämlich als der mögliche Besitz aller nur einem Einzelnen angehörig. Es ist ferner insofern ein einzelner Besitz, als alle das Ihrige besitzen. Im Setzen eines allgemeinen Dings als eines einzelnen Besitzes ist aller einzelne Besitz von allen Dingen bereits als anerkannt realisiert. Ein einzelner Besitz ist eine Wirklichkeit alles einzelnen Besitzes. Indem “in diesem einzelnen Besitz alle besitzen”, ist der einzelne Besitz zugleich allgemein und als das allgemeine Ding anerkannt. Die Allgemeinheit eines Besitzes als Dings erscheint als seine Austauschbarkeit, und die Einzelheit eines Dings als Besitzes tritt als seine bestimmte Zugehörigkeit auf. Diese gegenseitig anerkannte Allgemeinheit des einzelnen Besitzes ist nichts anderes als die Allgemeinheit des besessenen Dings als Dings, die aber nun “die Form des Bewußtseyns” erhalten hat. Deswegen ist auch “die Sicherheit meines Besitzes” “die Sicherheit des Besitzes aller”, und “in meinem Eigenthum” als anerkanntem Besitz haben auch “alle ihr Eigenthum”. Mein Eigentum ist nun zwar als das meinige ein bestimmter Besitz, doch bereits “nicht auf mich allein bezogen sondern allgemein” als der wechselseitige Grund für das Eigentum aller Anderen. Der anerkannte Besitz bzw. das Eigentum gründet sich darauf, dass seine ausschließliche Einzelheit ideell aufgehoben und als eine Einzelheit des allgemeinen Besitzes aller anerkannt wird. Das Eigentum ist daher realiter einzeln besessen und zugleich idealiter allgemein anerkannt. Es ist also das Konkrete als die “Identität entgegengesetzter” oder Einheit des einzelnen und des allgemeinen Besitzes. Aber die Allgemeinheit des Eigentums ist bekanntermaßen auch in der allgemeinen Weise des Werts vorstellbar. Der Einzelne kann also sein konkretes Eigentum nur so vorstellen und ins Allgemeine des Eigentums setzen. Dadurch entsteht auch die Vereinzelung des Eigentums, wie bei der Arbeit und dem Bedürfnis. Wegen des Setzens der Vereinzelung werden zwei Momente des Eigentums als Einheit abgetrennt und zwar “für sich, als Abstractionen” (J I.325). Denn das Eigentum als anerkannt ist nur als die Einheit seiner Einzelheit und Allgemeinheit konkret einem Einzelnen gehörig. Aber nun bestehen das allgemeine Eigentum als von seiner Einzelheit getrennt und das einzelne als von seiner 259 Allgemeinheit getrennt nebeneinander. Das erstere ist als das Eigentum, in dem seine Einzelheit nicht mehr gültig, sondern aufgehoben ist, im ganzen Volk gesetzt. Der Einzelne besteht in dieser Weise im Volk, weil seine einzelne Totalität nur als aufgehobene im Volk sein kann. Doch mit dem getrennten allgemeinen Eigentum ist er nun “nur im ganzen des Volkes”. Hingegen ist das letztere Eigentum nun für den Einzelnen wiederum lediglich “das Einzelne des Bedürfnisses und Besitzes”, das “in die Natur seiner Einzelnheit zurück” fällt. Mit diesem getrennten einzelnen Eigentum bleibt der Einzelne in sich selbst. Diese Auseinanderlegung bedeutet nun nichts anderes als das freiwillige Aufhören des Einzelnen, “die Ehre zu haben”. Die Ehre heißt die Totalität des Einzelnen auf der gesellschaftlichen Ebene, als die er im Anerkennungskampf seinen einzelnen Besitz als eins mit seinem ganzen Wesen setzte.71 Da konnte er lediglich durch das Aufgeben und Aufheben seiner einzelnen Totalität als Person anerkannt werden. Indem er sein Eigentum abtrennt, bleibt er auf der einen Seite mit seinem einzelnen Eigentum, das zwar noch durch das allgemeine Bewusstsein des Volks idealiter anerkannt, aber wegen seiner Abtrennung nun ihm als abstrakt einzelnes ist, “als eine Organisation”, d. i. als die “Person” bestehen. Auf der anderen Seite erscheint das allgemeine Eigentum, das der Einzelne von sich abtrennt und als abstrakt allgemeines setzt, seiner Person “aüsserlich als Sache” (J I.326). Die Darstellung der ersten Geistesphilosophie bricht hier ab. Aber die Person und die Sache als getrennte müssten in der antizipierbaren Darstellung die Grundstruktur des Tausches im Handel ausmachen. Die unmittelbaren Erzeugnisse der konkreten Arbeit sind so unmittelbar Eigentum des Einzelnen als die Einheit mit seiner Person. Aber die Produkte der abstrakt allgemeinen Arbeit sind als von der Einheit des Eigentums abgewichen die Waren. Die Sache ist der rechtliche Terminus der Waren, insofern und weil diese auf jeden Fall aus der, obzwar abstrakten, dennoch allgemeinen Entäußerung der Person entspringen und ihr Tausch daher nur in der rechtlichen Beziehung der Personen möglich ist. Die gerecht ausgetauschte Sache wird wiederum als vereint mit der aufgehobenen Ehre der Person realiter anerkannt. Aber dafür muss vor allem der Tausch selbst auch etwas Anerkanntes sein. Dies kann eben nichts anderes als das Recht sein. Das Recht ist auch das Werk des Volkes, mit dem die Person im Kreislauf steht. Des Weiteren, wenn alle Formen des Verkehrs im Volk, wie Sprache, Arbeit, Tausch u. a. die anerkennende Tätigkeit des sittlichen Subjekts sind, müsste das Recht als das objektive Anerkanntsein72 der Tätigkeit selbst das endgültige Werk des Volkes sein. Aber dies 71 Siehe S. 202. Anm. 5. Diese Unterscheidung der zwei Seiten der Anerkennung entspricht in Theunissens Analyse der Rechtsphilosophie der Unterscheidung zwischen dem Verhältnis der Personen und dem der sittlichen 72 260 alles findet hier keine weitere Darstellung. Sie ist erst in der zweiten Geistesphilosophie zu erwarten, wo Rechtsverhältnisse als das objektivierte Anerkanntsein der Person, wie unten, thematisiert sind. 2.3. Anerkanntsein der Person als des gesellschaftlichen Subjekts Die zweite Geistesphilosophie fokussiert die objektive Seite des Anerkanntseins durch gesellschaftliche Tätigkeit. Die gesellschaftliche Tätigkeit als die anerkennende Beziehung des sittlichen Subjekts beruht in der ersten Geistesphilosophie auf der Verallgemeinerung eines jeden Bewusstseins. Jede verallgemeinernde Tätigkeit in der Gesellschaft gelangt jeweils zu einem Anerkanntsein. Aber diese Tätigkeit ist zugleich auch die objektivierende Tätigkeit dessen, was durch den Einzelnen verallgemeinert wird. Insofern ist das Anerkanntsein objektiv-allgemeines. Das Anerkanntsein als dies objektiv Allgemeine steht hier im Mittelpunkt der Darstellung. Das Anerkanntsein, das zwischen den Einzelnen nur kognitiv erreicht ist, ist zwar allgemein, aber noch nicht objektiv oder lediglich ideell bzw. interpersonell objektiv. Die gesellschaftliche Tätigkeit der Anerkennung hat nicht nur allgemeines, sondern auch objektiv vorhandenes Anerkanntsein zur Folge. Wenn jene Tätigkeit das Thema der ersten Geistesphilosophie ist, ist deren Resultat nun hier Hauptinteresse. Das Resultat kann in so verschiedener Gestalt, wie seine Tätigkeit, erlangt werden. D. h. das Anerkanntsein Substanz oder zwischen der ausdrücklichen Wechselanerkennung der Vertragspartner und der unausdrücklich anerkannten Rechtsordnung im Vertrag. Diese normative Rechtsordnung im Vertrag ist ihm zufolge von Hegel nur so erklärt, dass sie nicht direkt von den Kontrahenten, d. i. intersubjektiv, als ein allgemeiner Wille ausgebildet werde, sondern lediglich als ein gemeinsamer bestehe. Aber diese Kritik gründet auf einer falschen Prämisse, dass die intersubjektive Allgemeinheit wahre Allgemeinheit ist und der intersubjektive Wille im Vertrag u. a. den allgemeinen Willen an und für sich unmittelbar generieren kann. Hingegen kann erstens die Intersubjektivität allenfalls nur das halbe Element der wahren Allgemeinheit sein, die bekanntlich gar nicht als solche selbst in der Welt erscheint, sondern nur durch die Leistung oder Realisierung des gemeinsamen Willens erst als eine jeweilige wahre Entelechie bestätigt wird. Zweitens ist jeder Vertrag im Grunde genommen verdoppelt, d. i. zum einen als die anerkennende Tätigkeit jeder Person um eine konkrete Sache, zum anderen als auf dem Anerkanntsein der Person basierend, das in der Geschichte als die Rechtsordnung beachtet und als Gesetz gesetzt ist. Jene anerkennende Tätigkeit ist die konkrete Verwirklichung ihres Begriffs, d. i. des allgemeinen Willens in der Gestalt des gemeinsamen, in diesem Sinne auch der Richtungsweiser der wirklich wahren Allgemeinheit. Das unmittelbare Bewusstsein im Vertrag ist freilich nicht direkt das Rechtsbewusstsein, zu dem es aber durch Selbstbildung im Vertrag u. a. gelangt. Deshalb sucht Hegel die unausdrückliche ‘Allgemeinheit nicht im Fortgang der’ ausdrücklichen ‘Gemeinsamkeit’ im Vertrag, sondern bestätigt und erklärt diese nur eben als die Wirklichkeit der ersteren. Die intersubjektive Bildung des allgemeinen Willens durch die Gemeinsamkeit des Willens wird von Hegel nicht verdrängt, sondern gehört für ihn bezüglich des Rechts zur empirischen Sphäre der Rechtsbildung. Die Sache des bereits gebildeten und gesetzten allgemeinen Willens hingegen ist Sache des Begriffs, eben der Philosophie, auf die Hegel vornehmlich einzugehen versucht. Theunissen, Michael: Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts. HPR, S. 317-381. Insbesondere 328, 362-367, 380. 261 kann, wie oben erläutert, als Sprache, Werkzeug, Eigentum o. a. objektiv bestehen. Diese Gestalten sind aber, ebenso wie ihre Tätigkeiten, zweifach, d. i. einerseits Resultate der anerkennenden, andererseits der konkret sie erzeugenden Tätigkeiten, wie Sprechen, Arbeiten, Besitzen u. a. Das gesellschaftliche Bestehen dieser konkreten Tätigkeiten und ihrer Resultate wird nur durch die gleichzeitig darin implizierte Tätigkeit der Anerkennung garantiert und ist nur als das objektive Anerkanntsein möglich. Die adäquate Gestalt des Anerkanntseins müsste daher keine solche Gestalt sein, in der die jeweilig heterogene Tätigkeit als ein allgemeines anerkannt wird, sondern die anerkennende Beziehung selbst ist in allen gesellschaftlichen Tätigkeiten objektiviert. Das wahrhaft objektive Anerkanntsein muss das Objektivierte der Anerkennung selbst sein, gleich wie die wahre Realisierung der Liebe als des Geistigen im oben Stehenden nicht in irgendeinem anderen Mittel, sondern erst im geistigen Seienden selbst möglich war. Das, worauf die zweite Geistesphilosophie abzielt, ist also vor allem das Anerkanntsein als die Entelechie der Anerkennung selbst. Eben aus diesem Grunde treten hier andere Kategorien als in der ersten Geistesphilosophie ein, nämlich diejenigen, in denen es sich gerade um das Anerkanntsein selbst handelt, wie unmittelbares Anerkanntsein, Vertrag, Verbrechen und Strafe. Das objektiv realisierte Anerkanntsein in diesen Gestalten ist nichts anderes als das Recht. Die hier dargestellten Kategorien sind die äußeren Verkehrsgestalten des Rechts, und das Recht ist das objektivierte Anerkanntsein als die Entelechie der Anerkennung selbst. Das Recht als dies Anerkanntsein ist adäquat der anerkennenden Tätigkeit selbst, die als mannigfaltige gesellschaftliche Tätigkeit auftritt. In diesem Hinblick zielt die zweite Geistesphilosophie endgültig auf die Bildung der Rechtsverhältnisse selbst in den mannigfaltigen gesellschaftlichen Verkehrsformen. Umgekehrt, damit diese Verkehrsformen objektiv und allgemein gültig sind, müssen sie auf jenen Rechtsverhältnissen beruhen. D. h. das Recht muss des Weiteren das verbindliche Gesetz der gesellschaftlichen Handlung sein. Dies macht das zweite und wesentliche Thema aus, das in der zweiten Geistesphilosophie als das Gewalt habende Gesetz, und auch hier als wirkliches Anerkanntsein behandelt wird. Durch den Kampf um Anerkennung ist das sittliche Subjekt selber unmittelbar anerkannt. Der Kampf ist ohne gegenseitige Anerkennung durch die Selbstaufhebung unvermeidlich, und insofern jeder dies reflektiert und vollzieht, wird er unmittelbar anerkannt. Das sittliche Subjekt als das unmittelbare Anerkanntsein ist gerade “die Person”. Die Person ist in erster Linie seine “unmittelbare Wirklichkeit” als sein erstes Anerkanntsein. Sie ist nach der ersten Geistesphilosophie das, was das sittliche Wesen des Einzelnen mit dem totalen Bewusstsein als das gesellschaftliche Subjekt organisch 262 konstituiert. Insofern weiß sie sich durch die Selbstaufhebung anerkennen zu lassen und ist als anerkannt. Sie ist gemäß der zweiten Geistesphilosophie derjenige Einzelne, der seinen einzelnen Willen zur Anerkennung durch das Wissen und Vollziehen der Selbstaufhebung allgemeingültig realisiert. Sie ist vor allem das Subjekt des allgemein wissenden, einzelnen Willens. Sein allgemeines Wissen betrifft im Wesentlichen eben die Notwendigkeit, seine abstrakte und einseitige Einzelheit aufzuheben, um anerkannt zu werden. Der so wissende Willen des Einzelnen ist gleich dem allgemeinen. Die Person ist daher das Subjekt des Willens, der Intelligenz, oder der Intelligenz, die Wille ist. In diesem sittlichen Subjekt ist der Geist erst wirklich. Die Tätigkeit des Subjekts ist gerade die Verwirklichung des Geistes. Der Geist ist nun nicht mehr nur nach seinem Begriffe, sondern er tritt ferner wirklich auf, in dem Maß, wie sich die Person dem Begriff ihres Geistes angemessen realisiert. Also gelangt der in der Person wirkliche Geist auch zur objektiven Wirklichkeit in dem Volk bzw. der Gesellschaft. Das unmittelbare Anerkanntsein der Person für sich ist deswegen der Ausgangspunkt des wirklichen Geistes in der zweiten Geistesphilosophie. Die Person als das unmittelbare Anerkanntsein kommt zuerst in Bezug auf Begierde, Arbeit und Tausch in Betracht. Dieser Teil ist mit den vorigen Darstellungen der ersten Geistesphilosophie vergleichbar, abgesehen von der Abhandlung der Sprache. Aber der Teil von der Begierde bis zum Verbrechen steht der Struktur nach eher dem ersten Teil, dem abstrakten Recht, der Rechtsphilosophie näher, in dem Sinne, dass die zweite Geistesphilosophie wegen ihres geistesphänomeno-logischen Charakters zumeist das Rechtverhältnis als Anerkanntsein der Person hervorhebt. Dagegen ist der vorige Teil der ersten Geistesphilosophie, der die Arbeit und den Tausch als die gesellschaftlichen Tätigkeiten behandelt, dem Inhalt nach ähnlicher dem nächsten Teil der zweiten Geistesphilosophie über das Gesetz und dem Teil vom System der Bedürfnisse in der Rechtsphilosophie, in dem das gesellschaftliche System von der Arbeit und dem Tausch erläutert ist. Dennoch ist der Teil der ersten Geistesphilosophie als die Darstellung der anerkennenden Tätigkeit de facto nicht sowohl rechtsphilosophisch als vielmehr vorrechtsphilosophisch, daher bewusstseinstheoretisch.73 Dagegen liegt in der Darstellung der zweiten Geistesphilosophie der Akzent auf der Darlegung des Rechtsverhältnisses – und deshalb wird der Begriff der Person in den Vordergrund gerückt. Die Person ist zunächst “als fürsichseyn überhaupt” vor allem “geniessend und 73 Es besteht in den beiden Geistesphilosophien bekanntermaßen kein der Moralität der Rechtsphilosophie entsprechender Teil, außer der einzigen Rede von der Moralität als dem subjektiven Relatum der Sittlichkeit in der Staatslehre der zweiten Geistesphilosophie (J III., S. 265). Aber die Textteile vom Gesetz bis zum Staat hier entsprechen dann dem dritten Teil, d. i. der Sittlichkeit, der Rechtsphilosophie. 263 arbeitend”. Die Begierde in der Bewusstseinslehre musste als das animalische Vernichten des Begehrten durch den Begehrenden aufgehoben werden und ferner als die allgemeine Beziehung des Bewusstseins bestehen. Die Begierde der Person hat nun selbst “allgemeines, geistiges Seyn”, das bei ihrem unmittelbaren Anerkanntsein wirklich ist. Denn der Einzelne, der vom Anderen als das ideelle Aufgehobensein anerkannt ist, weiß in der Beziehung auf den Anderen auch seine Begierde als ideell aufgehoben. Die Begierde des anerkannten Einzelnen in der Gesellschaft geht nicht unmittelbar über zum Vernichten oder Erfüllen irgendeines Begehrten, das nicht als ihm gehörig anerkannt ist. Sondern sie kommt zuerst als die allgemeine Beziehung des Wissens zum Bewusstsein und gelangt vermittels der Form der Anerkennung zur Befriedigung. In diesem Hinblick hat die Begierde der Person erst als die wirkliche und menschliche “das Recht aufzutreten”. D. h. insofern die Begierde nun in allgemeiner und gesellschaftlich vertretbarer Weise erfüllbare, notwendige Bedingung des Lebens ist, hat sie das Recht, sich zu zeigen und zu erfüllen. Und das Individuum, das diese Begierde hat, hat “erst als einzelnes” das gesellschaftliche “Daseyn” (J III.223), während es in der vorigen Bewusstseinslehre nur nach jedem Moment seines geistigen Seins abstrakt erläutert wurde. Die allgemeine Form der Begierdenerfüllung ist bekanntlich die Arbeit. Die Erfüllung der ideell aufgehobenen Begierde ist gleich wie beim praktischen Bewusstsein aufgeschoben; demnach verhalten sich die Dinge der Erfüllung als “ihre allgemeine innre Möglichkeit” zur Begierde. Diese Dinge werden nach dem allgemeinen Verhältnis der Erfüllung “verarbeitet”, und ihre innere Möglichkeit wird dadurch “als aüssre, als FORM gesetzt”. Z. B. das Wasser als die allgemeine innere Möglichkeit der unmittelbaren Befriedigung des Durstes wird durch das Verarbeiten in der Form eines Getränks gesetzt. Die animalische Befriedigung aller Begierden ist in der Gesellschaft nicht unmittelbar, sondern lediglich vermittelt durch die allgemeine Tätigkeit möglich. Das Verarbeiten ist eine solche Tätigkeit, die aufgehobene Begierde als eine allgemeine zu objektivieren und als ein anerkanntes zu setzen. Es ist nämlich “das sich zum Dinge machen des Bewußtseyns”. Es wird aber “im Elemente der Allgemeinheit” “ein abstractes Arbeiten”, denn es besteht nun nicht mehr im konkreten Zusammenhang der unmittelbaren Erfüllung mit dem begehrten Ding. Die von mir hergestellte Speise ist nicht um meines Essens willen, insofern habe ich sie mir gegenüber abstrakt gefertigt. Diese abstrakte Arbeit entspringt eigentlich aus der Abstraktion von den Bedürfnissen. Im “Elemente des Seyns überhaupt” ist das Individuum zuerst mit einer “Menge von Bedürfnissen” da. Aber die Tätigkeit des Individuums, wie allgemein sie auch immer sein mag, ist nur in einzelner Weise durchführbar. Es kann jedes Mal nur für eines seiner 264 Bedürfnisse arbeiten. Oder seine Arbeit wird nur für ein bestimmtes Bedürfnis verrichtet. Aber dies eine Bedürfnis besteht bei anderen Individuen auch im Kontext einer Vielheit. Das eine Bedürfnis kann also objektiv verallgemeinert und von ihnen als ein allgemeines anerkannt werden. Es wird vom Individuum aus seinen mannigfaltigen Bedürfnissen extrahiert und als ein Allgemeines der vielen Anderen abstrahiert. Der Extraktion eines Bedürfnisses aus der Vielheit der mannigfaltigen Bedürfnisse des Individuums entspricht das Bestehen des einen Bedürfnisses als Vielheit in den vielen Anderen. Diese Vielheit ist es, was das Ich in sich aufnimmt und wofür es arbeitet. Die von ihm hergestellten Dinge des Bedürfnisses können nun gleichartige Bedürfnisse der vielen Anderen allgemein befriedigen, deshalb ist sein Arbeiten “die Abstraction der allgemeinen Bilder” von solchen Dingen. Freilich ist sein Arbeiten “ein sich bewegendes Bilden”. Aber insofern es sich auf die Verallgemeinerung durch die Abstraktion gründet, ist es nicht Arbeit als konkrete, sondern abstrakte Selbstbewegung. Dies ist eben der Grund für die abstrakte Arbeit anlässlich des abstrahierten Bedürfnisses, der in der ersten Geistesphilosophie nur andeutungsweise erwähnt war. Das Individuum in dieser Abstraktion seines Bedürfnisses und seiner Arbeit ist auch selbst abstrakt für sich seiend. Sein Fürsichsein besteht nicht aus einer Vielfalt von Bedürfnissen, sondern nur als ein abstrahiertes Bedürfnis. “Weil nur für das Bedürfniß als abstractes Fürsichseyn gearbeitet wird, so wird auch nur abstract gearbeitet” (J III.224). Kurz gesagt, in der idealen Beziehung zwischen den Einzelnen als unmittelbar Anerkannten werden die das konkrete Dasein eines jeden konstituierenden Bedürfnisse durch die Abstraktion zu einem Bedürfnis verallgemeinert und zur abstrakten Arbeit für dieses eine Bedürfnis geführt. Jeder Einzelne, der nicht anders als in einzelner Weise tätig sein kann, arbeitet also “für Ein Bedürfniß”, aber nun nicht für sein Bedürfnis, sondern darüber hinaus “für die Bedürfnisse Vieler”. Die Arbeit eines jeden Einzelnen besteht in der Beziehung eines jeden auf die vielen Anderen. “Jeder befriedigt also die Bedürfnisse Vieler, und die Befriedigung seiner vielen besondern Bedürfnisse ist die Arbeit vieler anderer”. Und wie das Bedürfnis überhaupt von ihm in viele Seiten analysiert und eine Seite davon als ein allgemeines Bedürfnis abstrahiert wird, so wird seine Arbeit überhaupt nun eine ebenfalls abstrahierte allgemeine Arbeit. Diese Arbeit als abstrakte ist weiterhin selbst analysierbar und abstrahierbar, aber nun “nach der Weise der Dingheit” von ihren Produkten, die vor ihrer Verwendung nicht die Wirklichkeit, sondern nur die Möglichkeiten der Begierdenerfüllung sind. Jeder Einzelne arbeitet nicht konkret gemäß dem wirklich befriedigten Bedürfnis, sondern abstrakt gemäß dessen möglichen Dingen. Daher, wie ein Ding konstruktiv zerlegbar ist, wird seine Arbeit auch “in viele abstracte Seiten” analysiert. Die Rekonstruktion des 265 abstrakt zerlegten Konkreten ist mechanisch. “Sein Arbeiten selbst wird ganz mechanisch”. Die mechanische Konstruktion der abstrakt geteilten Arbeiten ist durch die Maschine substituierbar. Die nötige Arbeit eines jeden wird endlich eine “blosse Bewegung” gemäß der Maschine. Die bearbeiteten Produkte als die abstrakte Möglichkeit der Befriedigung müssen nach dem Abschluss der Arbeit ihrerseits noch weiterhin als wirkliche Gegenstände des Bedürfnisses aufgenommen und verwendet werden. Diese Rückkehr der Produkte “zum concreten Bedürfnisse” setzt aber den “Tausch” voraus, dessen Möglichkeit auf ihrer Gleichheit gründet. Die Gleichheit der Produkte ist “ihre Allgemeinheit” “als bestimmte Abstractionen”. Diese nennt Hegel den “Werth” von Produkten, während er in der ersten Geistesphilosophie ihn als Wert der Arbeit erwähnte. Strictu sensu hat die Gleichheit Vergleichbarkeit zur Bedingung. Hegel stellt den Ursprung der Vergleichbarkeit hier ebenfalls sehr andeutungsweise als das Bedürfnis dar. Die Produkte sind zum einen als die Erfüllbarkeit des einen allgemeinen Bedürfnisses aller nach ihnen abstrakt. Aber insofern sie als Gegenstände des allgemeinen Bedürfnisses zum konkreten Bedürfnis des Einzelnen zurückkehren, sind sie auch durch die Bewegung dieser Rückkehr bestimmt. Das so bestimmte abstrakte Allgemeine der Produkte ist der Wert. Hier unterstrichen ist eben die “Bewegung” selbst der Produkte “zum Bedürfnisse eines Einzelnen”, obzwar ihre Struktur nicht ausführlich erklärt ist. Insofern diese Bewegung die Rückkehr zur Konkretheit des Bedürfnisses ist, ließe sie sich nicht einfach auf die Wertbildung durch das Verhältnis zwischen Nachfrage und Angebot am Markt, wie bei Adam Smith, zurückführen. Dadurch wird wiederum verdeutlicht, dass Hegel sich nicht für die ökonomische Gestaltungsweise des Wertes, sondern für den Erfüllungsprozess des, mit dem gesellschaftlichen Allgemeinen, wie dem Wert, vermittelten, konkreten Bedürfnisses des Einzelnen interessiert.74 Ferner, wenn der Wert die Allgemeinheit der abstrakt bestimmten Produkte ist, ist seine verdinglichte Gestalt, d. i. der “Wert selbst als Ding”, “das Geld” (J III.225). Das Geld als die materielle Repräsentanz des Wertes ist nach der ersten Geistesphilosophie ein solcher Begriff, der als “die Form der Einheit oder der Möglichkeit aller Dinge des 74 Nach diesem Interesse wird auch die Analyse des Wertes in der Rechtsphilosophie ausgefeilt. “Die Sache im Gebrauch ist eine einzelne nach Qualität und Quantität bestimmte und in Beziehung auf ein spezifisches Bedürfnis”. Wie dies spezifische Bedürfnis “zugleich als Bedürfnis überhaupt” “mit anderen Bedürfnissen vergleichbar ist”, so ist die spezifische Brauchbarkeit der Sache “zugleich als quantitativ bestimmt vergleichbar mit anderen Sachen von derselben Brauchbarkeit”, ferner “mit solchen, die für andere Bedürfnisse brauchbar sind”. “Diese ihre Allgemeinheit” ist “der Wert der Sache, worin ihre wahrhafte Substantialität” eben als mit dem gesellschaftlich Allgemeinen vermittelt “bestimmt und Gegenstand des Bewusstseins” von diesem Allgemeinen ist. GPR, § 63. Siehe auch VNS, § 37. Die abstrakte Arbeit als die Tätigkeit der Vermittlung ist daher auch eine “Bildung in Beziehung auf die Bedürfnisse” in der bürgerlichen Gesellschaft. VNS, § 91. GPR, § 187. 266 Bedürfnisses” materiell existiert (J I.324). Es ermöglicht nämlich den Ein- und Austausch aller möglichen Dinge des Bedürfnisses. Hegel erläutert auch nicht eingehend den Zusammenhang zwischen dem Wert und dem Geld - denn das Geld als Repräsentanz des Wertes hat selbst auch Eigenwert als Ding –, aber ihn interessiert doch, wie nun ersichtlich, vor allem die wirkliche Beziehung der Anerkennung beim Tausch. Der Tausch durch die allgemein anerkannten Mittel wie Wert oder Geld lässt nicht nur das eingetauschte Ding zum Besitz zurückkehren, sondern ferner zum realiter anerkannten Besitz, d. i. zum Eigentum. Der Tausch ist eine wirkliche gesellschaftliche Tätigkeit der Anerkennung. Er ist überhaupt das Geben und Nehmen zwischen dem Besitz als dem abstrakten Produkt und dem Besitz als dem Geld, als dem abstrakten Ding des Wertes. Das Stellen des Besitzes als des abstrakten für den Tausch impliziert de facto an sich schon die ideale Aufhebung des Daseins des Einzelnen, das seine Totalität konstituiert. Durch diese Aufhebung war jeder unmittelbar anerkannt. Das Anbieten des Besitzes im Tausch ist ein wirklicher Erweis oder Ausdruck des ideell aufgehobenen Daseins eines jeden als des unmittelbar anerkannten. Es ist das Setzen oder Verwirklichen des Aufgehobenseins eines jeden in dem Anderen. Das Dasein eines jeden ist hier als aufgehoben anerkannt, und der Andere erhält es als den angebotenen Besitz “mit Einwilligung des Ersteren”. Das Geben und Nehmen mit der Einwilligung ist wechselseitig, und hier bezieht sich jeder auf den Anderen, nur insofern der Andere das “negative seiner selbst” ist. D. h. jeder bekommt “von dem andern den Besitz des andern” lediglich als “vermittelt durch das Negiren des anderen”. Der Tausch besteht nur so, insofern jeder “das negirende seines Seyns, seiner Habe” ist. Der erhaltene Besitz durch die Vermittlung dieser Negation ist erst realiter anerkannt. Die Gleichheit des Wertes im Tausch drückt die vollkommene Übereinstimmung oder die Einheit beider Willen aus. Der gleichwertig eingetauschte Besitz eines jeden bedeutet darüber hinaus das Dasein eines jeden als das wirkliche Anerkanntsein. Das Dasein des Einzelnen beim einfachen Besitzen hat nur die ungeistige Bedeutung der physischen Aneignung, die aufgehoben werden muss, insofern jede Person unmittelbar anerkannt ist. Nun beim so vermittelten Besitzen ist das Dasein eines jeden selbst bereits das Anerkanntsein. Das von mir erhaltene Ding als das Aufgehobensein des Anderen im Wechsel mit meinem Aufgehobensein bildet mein anerkanntes Dasein. Es ist nun wiederum vereint mit meinem Selbst, und sogar als anerkanntes. Es ist mein Sein als Aufgehobensein und mein Eigentum “als im Selbst befaßtes” (J III.226). Der Besitz als mein wirklich anerkanntes Dasein ist eben das Eigentum. Das Eigentum ist trotz der Unmittelbarkeit des Habens schon selbst “das geistige Wesen”. Denn hierin ist “die Zufälligkeit des Besitzergreiffens aufgehoben” 267 und sein Sein nicht allein einzelnes Ding, sondern vielmehr “allgemeines Selbst”, dessen Allgemeinheit in der vorstellbaren Form des Wertes gemeinsam gewusst und dessen Haben vermittelt durch das Anerkanntsein der Person ist. Jeder ist nun in seinem Eigentum wirklich als Anerkanntes da. Die Arbeit und der Tausch sind daher reale Tätigkeiten der Anerkennung, die in der Gesellschaft gewöhnlich vollzogen werden. Sie sind zum einen zwar sinnliche und ökonomische Tätigkeiten, was aber nicht Hegels Hauptinteresse ist. Sondern seine Absicht ist hier vielmehr, das wesentliche Verhältnis der Anerkennung in solchen gesellschaftlichen Tätigkeiten zu erläutern. Sie sind zum anderen nämlich die “wissende Bewegung” der Anerkennung aufgrund der Allgemeinheit. Diese Allgemeinheit kann außer dem Wert auch in anderer Gestalt erscheinen, ebenso wie die gesellschaftliche Tätigkeit der Anerkennung. Aufmerksamkeit ist darauf zu richten, dass damit nicht gemeint ist, dass ihre vorhandene Gestalt wie Wert als wahr angesehen werden soll, sondern vor allem, dass die Allgemeinheit, abgesehen von der Wahrheitsfrage ihrer Gestalt, in welcher gesellschaftlichen Gestalt sie immer auftreten mag, in der Beziehung auf den Anderen auch zugleich als das reale Moment der Anerkennung wirkt. Die Arbeit und der Tausch, wo solche Allgemeinheit wirkt, sind daher eine Art der konkreten Realisierung der Anerkennung, die durch die vorige Reflexion auf den Kampf um Anerkennung nur idealiter erreicht wurde. Hier wurde die einzelne Totalität bzw. das selbstständige Fürsichsein eines jeden nur ideell aufgehoben, also war auch das Dasein eines jeden das ideelle Aufgehobensein oder als aufgehobenes gesetzt. Insofern war jeder unmittelbar anerkannt als die Person. In der Arbeit und im Tausch wird nun das ideelle Aufgehobensein realiter entäußert. Beide Tätigkeiten sind nicht allein die “Entaüsserung” des Bewusstseins und seines Besitzes, sondern auch des ideellen Aufgehobenseins eines jeden. Hegel übergeht allerdings nicht, dass diese Entäußerung auf der abstrakten Zerlegung des Konkreten basiert und der Wert auch nichts anderes als die abstrakte Allgemeinheit ist. In Hegels Absicht aber liegt hier nicht, eine Überwindung dieser bis zur Entfremdung führenden Abstraktheit darzubieten. In seiner Philosophie gibt es weder unkritische Rechtfertigung des Vorhandenen noch kritische Umwälzung desselben in Übergehung der Notwendigkeit seiner Genese. Deshalb ist vom höchsten Belang vor allem das vernünftige Verstehen dessen, was ist. In der Arbeit mache ich mich oder mein unmittelbares Anerkanntsein als das ideelle Aufgehobensein unmittelbar zum Dinge, zur Form des Seins. In diesem Sinne ist die Arbeit die erste Entäußerung bzw. Realisierung des unmittelbaren Anerkanntseins. Im gemachten Ding schaue ich also “mein unmittelbares Ich”, meine unmittelbare Person als objektiviert an. Im Tausch entäußere ich mich weiterhin meines Daseins als des Dings und “mache es 268 zu einem mir Fremden”. Eben in diesem Ding, das auf der Basis der Gemeinsamkeit der Willen vom Anderen aufgenommen wird, schaue ich ferner mein Anerkanntsein, meine Person als “mein fürmichseyn” an, das nun erst objektiv gültig ist. Hier erhalte ich auch wieder mein objektives Anerkanntsein in der Gestalt des eingetauschten Dinges, das eben nichts anderes als mein Eigentum, mein daseiendes Anerkanntsein ist. Die Quelle der Arbeit, des Tausches und des Eigentums ist daher im Wesentlichen “unmittelbares Selbst” bzw. “anerkanntseyn”, das durch solche Tätigkeiten in der Beziehung auf Andere objektiv verwirklicht wird (J III.227). Ich schaue nun mein Anerkanntsein als Dasein an, das in der gesellschaftlichen Tätigkeit präsent und als Eigentum konkretisiert ist. Hier gilt mein Wille objektiv in der Gemeinsamkeit mit dem Anderen. „Entäußerung“ heißt schließlich nicht nur einfach das ideale Allgemeine des Selbst äußerlich zu machen, sondern des Weiteren besteht ihre Bedeutung vor allem darin, dass, wer als anerkannt realiter da sein will, zuerst sich und sein Sein zum Negativen seiner selbst, zum Sein für den Anderen machen soll. Ich bin nicht Subjekt meiner Anerkennung, sondern der Andere. Für ihn muss ich mich zum Negativen, zum mir Fremden, was auch von ihm erwogen wird, machen können. Mein Fürmichsein lässt sich lediglich vermittelt durch mein Sein für den Anderen objektiv gewährleisten. Also, die “Entaüsserung ist ein Erwerben”. Ohne diese Vermittlung können weder das Dasein des Einzelnen noch seine Arbeit noch sein Besitz das gesellschaftliche und rechtliche Thema der Hegelschen Anerkennung sein. Im Tausch schaut jeder nun nicht nur seinen Besitz, sondern ferner sein Anerkanntsein selbst als Dasein an. Oder der im Tausch vorhandene Gegenstand ist wesentlich eben sein Anerkanntsein bzw. Wille, der wirkliche Gültigkeit hat. Mein Wille gilt nun nicht nur mir, sondern auch dem Anderen, und insofern der Tausch wirklich vollzogen wird, wird die Gültigkeit auch als wirkliche vorgestellt. Also schauen beide sich als anerkannte an, “deren Meynung und Willen Wirklichkeit hat”. Das Anerkanntsein im Tausch ist das Dasein als die wirkliche Meinung bzw. Wille. Das, was da ist, lässt sich gegenständlich erkennen und begrifflich erfassen. Also kommt das Anerkanntsein als das Dasein zu einem gemeinsamen Bewusstsein als ihrem gemeinsamen Urteil. D. h. der “Willen des einzelnen ist gemeinsamer Willen”. Dies ist der gemeinsam erkannte Inhalt jedes wirklich da seienden Anerkanntseins im Tausch. Der Wille des einzelnen ist zwar noch nicht selbst allgemein, aber eben darum gemeinsam, weil er selbst “seine Wirklichkeit als Entaüsserung seiner” ist, was zugleich Wille des Anderen ist. Dieses Wissen ist auf die wirklichen Willen beider angewiesen, daher auch selber wirklich. Wegen dieser Wirklichkeit des Wissens wird ferner ein “ideeller Tausch” ohne unmittelbares Übergeben und Übernehmen der Sachen möglich (J III.228). Denn 269 wesenhaft im Tausch ist nun nicht sowohl ein äußeres Ding als Sache als vielmehr ihr Willen selbst als wirklicher. Insofern jeder mit dem Anderen einen gemeinsamen Willen als wirklichen bildet und weiß, ist der Tausch als ideelle Wirklichkeit selbst möglich. Der sprachliche Ausdruck dieses ideellen Tausches ist gerade der Vertrag,75 den Hegel, anders als die Kontraktualisten, nur in dieser privatrechtlichen Form als betrachtenswert ansieht. Der Vertrag ist die dritte Form der Entäußerung als der gesellschaftlichen Tätigkeit der Anerkennung. Er hat die doppelte Eigenschaft als die Wirklichkeit des selbst ideellen Willens. Er ist ideell, weil in ihm nichts als das Versprechen d. i. der sprachlich ausgedrückte Wille selbst unmittelbar entäußert wird, der ausspricht, dass ich mich später einer Sache entäußern wolle. Diese ideelle Entäußerung ist aber zugleich auch wirklich, insofern der Wille eines jeden für beide wirklich gilt. Mein Wille zur Entäußerung ist der Wille des Anderen und umgekehrt. Meine Entäußerung ist vermittelt durch seine Entäußerung und umgekehrt. Der Wille eines jeden ist ein gemeinsamer Wille, der diese vermittelte Entäußerung nicht unmittelbar leistet, sondern zuerst als die sprachliche Wirklichkeit durch das Versprechen weiß. Der Vertrag ist daher “ein Tausch des Erklärens, nicht mehr der Sachen”, der aber so viel gilt wie die Sache selbst, insofern der Wille eines jeden wirkliche Gültigkeit für beide hat. Aber die Wirklichkeit des gültigen Willens im Vertrag beruht nur auf der Idealität der getauschten Erklärung. Hierin ist der Wille “in seinen Begriff zurükgegangen”. Dies bedeutet die Trennbarkeit des Willens von der Wirklichkeit. Der Wille ist nur als der gemeinsame Wille zur Leistung der Entäußerung wirklich gültig. Aber das, was im Vertrag für beide wirklich ist, ist nicht die Leistung, sondern lediglich der Wille selbst, der als “befreyt von der Wirklichkeit” der Leistung nun “als solcher Gültigkeit” hat. Die ideelle Wirklichkeit des Willens selbst kann also von der durch ihn realiter hervorzubringenden, d. i. realen, Wirklichkeit getrennt werden. Insofern ist der einzelne Wille, der nun sich als an sich gültig mit dem gemeinsamen identifiziert, auch vom gemeinsamen Selbst vor der wirklichen Leistung getrennt. Oder abgesehen von der 75 Nach dem interessanten Versuch von de Vos, die Logik der Rechtsphilosophie zu konstruieren, stützt sich das Auftreten des Vertrags logisch auf das unendliche Urteil des Daseins. D. h. ‘Das Ich ist kein Eigentum’ wie endliche Dinge. ‘Das Positive dieses Urteils ist die Reflexion des Einzelnen in sich’. Das Ich ist hier ‘mit seinen unveräußerlichen Rechten’ ‘als reflektiertes Einzelnes gesetzt’. Dagegen lässt sich das Eigentum, mit dem das Ich nun nicht verwechselt werden kann, vom Ich ‘als nicht mehr das Meinige setzen’. Mein Recht über das Eigentum ist veräußerbar. Das Setzen dieses veräußerbaren Rechts wird im Vertrag durchgeführt. Aber das zu entäußernde Eigentum ist eine äußerliche und einzelne Sache, auf die sich das Ich als das reflektierte Einzelne unmittelbar bezieht. D. h. in meinem Verhältnis zum Äußerlichen, das nicht das Ich ist, will das Ich als das reflektierte Einzelne es unmittelbar negieren und entäußern. Wegen dieser Unmittelbarkeit beider reflektierter Einzelnen, d. i. Personen, im Vertrag über die Sache kann hier nur der gemeinsame Wille auftreten. Aber dieser ist Ein Wille, den jeder Wille mit dem Anderen bildet, und zugleich eine erste Gestalt der Allgemeinheit des Willens, die an der Sache zustande kommt. De Vos, Lu: Die Logik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Eine Vermutung, HS 16, S. 104-105. 270 Wirklichkeit der Leistung gilt mir mein einzelner Wille, der im Vertrag auch dem Andern gilt, nun selbst als der gemeinsame. Denn zwischen dem selbst wirklichen und dem zu verwirklichenden Willen gibt es vor allem kein bündiges oder verbindliches Verhältnis. Eher ist mein Wille vor der Leistung seines Versprechens bereits als solcher anerkannt, daher wirklich gültig. Dieser mein gültiger Wille ist der Grund für den gemeinsamen Willen. Im Wesentlichen haben der einzelne und gemeinsame Wille einander zur Bedingung. Aber der Einzelne hält nun auf seinem Standpunkt seinen Willen für die Ursache des gemeinsamen, ferner für den gemeinsamen selbst. “Denn mein einzelner Willen gilt als solcher”, “nicht nur insofern er gemeinsamer ist, sondern der gemeinsame Willen ist ja selbst nur, insofern mein einzelner gilt”. Nur insofern und solange ich anerkannt bin, d. i. mein Wille irgendwie allgemein gilt, besteht der gemeinsame. Im Vertrag bleibt mein Wille als der gemeinsame bestehen, und insofern bin ich als anerkannt da. Allein mein Wille ist zwar darin als der gemeinsame, aber doch nur als der Wille selbst. Er ist darin gültig, “insofern er nur Willen ist, insofern ich noch nicht geleistet habe”. Der Vertrag nur als der Wille ist aber nicht das Leisten, sondern der nur im Zustand des Willens verbleibende Vertrag ist vielmehr das Brechen des Vertrags. Dies Brechen entsteht einseitig, jedoch aufgrund des konsequenten Wissens des gültigen Willens. So kann im Vertrag der Wille, der ja nur als ideell wirklich ist, entweder vom Einzelnen realiter verwirklicht werden oder schlechthin nur als seine ideelle Wirklichkeit bleiben. Während jenes das Leisten des Vertrags ist, ist dieses das Brechen desselben, und in beiden Fällen ist das Wissen des Einzelnen konsequent. Hierin liegt eben das Gebrechen des Vertrags. Denn das ideale und das reale Dasein des allgemeinen Willens, der als ein gemeinsamer gebildet wird, lassen sich im Vertrag oder nur auf der Basis von dessen Inhalt nicht notwendig unterscheiden. Der Vertrag hat lediglich solche wirkliche Gültigkeit als das Versprechen der noch nicht vollzogenen Leistung, aber nicht als das Vollziehen der Leistung. Aus dem Gebrechen des Vertrags, d. i. aus der Trennbarkeit des einzelnen vom allgemeinen Willen, kann des Weiteren der Grund des Verbrechens erklärt werden, der hier von Hegel zwar sehr kurz erwähnt, aber doch von großer Bedeutung ist. Diese plötzliche Erwähnung des Verbrechens im Kontext seiner Vertragslehre76 ist freilich nicht als die Ausführung seiner Rechtslehre anzusehen, entsteht aber nicht sinnlos, sondern impliziert mit höchster Wahrscheinlichkeit wiederum seine Kritik an der traditionellen Vertragstheorie über Gesellschaft und Recht. Nach dieser Theorie ist das Subjekt des Verbrechens gemeinhin der einzelne Wille, der sich dem durch den 76 Im Unterschied von der naturrechtlichen Vertragstheorie wird Hegels Lehre über den realen Vertrag zwischen Personen von nun an hier als Vertragslehre bezeichnet. 271 Kontrakt gebildeten, allgemeinen Willen negativ entgegensetzt. Wenn nämlich der einzelne Wille “als negativer des allgemeinen” diesen willkürlich oder absichtlich verletzt, ist er Verbrecher, der als Mitglied der Gesellschaft nicht anzuerkennen ist. Aber damit er den allgemeinen Willen negieren kann, muss er zuerst selber ihn wissen und im Voraus idealiter als allgemeiner sein können. Er negiert ihn nicht in bloßer Trennung und Entgegensetzung. Die Verletzung eines Gegenstandes ohne Wissen desselben ist nicht imputierbar. Er kann ihn nicht als einzelner, sondern nur als allgemeiner negieren. Und zwar, insofern der allgemeine Wille aus den Willen der Einzelnen entspringt, kann die Negierung des allgemeinen Willens nichts anderes als die Handlung des Einzelnen sein, der ihn gebildet hat. Der einzelne Wille kann lediglich bereits als ein Mitglied des allgemeinen diesen negieren. Als dies Mitglied ist er schon anerkannt und an sich allgemein. Nur insofern kann er sich als an sich allgemeinen dem gebildeten, allgemeinen Willen aller entgegensetzen. Erst dann ist er das Subjekt des Verbrechens. Hegel zufolge begehe ich Verbrechen, “nur insofern als ich anerkannt bin, mein Willen für allgemeinen für Willen an sich gilt”. Es besteht überhaupt weder Beleidigung noch Verletzung “vor dem Anerkennen”.77 Und eben deswegen ist das Verbrechen keine Tat des einzelnen Willens in der Trennung vom allgemeinen, sondern desjenigen einzelnen, der anerkannt, also an sich allgemein ist und sich so weiß, d. i. die Selbstdurchsetzung des einzelnen Willens als des allgemeinen im Gegensatz zum allgemeinen aller. Die Ursache der Negation des allgemeinen Willens liegt letztlich im allgemeinen Willen selbst, in seiner Idealität, mit der sich der einzelne identifizieren kann. Alle Verbrecher haben also Rechtfertigungsgründe für die Allgemeinheit ihrer Taten. Die Vertragstheorie, die das Verbrechen aus der Trennung beider Willen nur als den Verstoß des einzelnen gegen den allgemeinen erklärt, behandelt de facto einerseits den einzelnen als 77 Eben deshalb, weil das allgemeine Bewusstsein bzw. der allgemeine Wille das Resultat des Kampfes der Einzelnen um Anerkennung ist oder weil der allgemeine Wille bereits in der gesellschaftlichen Beziehung der Einzelnen aufeinander um Anerkennung bewusstseinsnotwendig gebildet ist, ist der Kampf zwischen dem einzelnen Willen selbst und dem allgemeinen Willen durchaus unmöglich. HH, S. 164. Der einzelne Wille könnte nicht als solcher, sondern lediglich als ein neu allgemeiner gegen den allgemeinen Willen Widerstand leisten. Daher ist Sieps Kritik am asymmetrischen Verhältnis der Anerkennung zwischen dem einzelnen und allgemeinen Bewusstsein bei Hegel unpassend. Siep, Ludwig: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, S. 278-285. Andererseits lässt sich der allgemeine Wille auch nicht ‘im Sinne radikaler und schonungsloser Aufklärung’ überschätzen, wie in Eichenseers Interpretation. Ihm zufolge muss sich das ‘subjektivistische Prinzip’ bei Hegel nach der Notwendigkeit der Aufklärung ‘bedingungslos am Allgemeinen’ ‘aufopfern’. Aber die ‘Individuen sind’ spekulativ gesagt nicht nur ‘das Material’, das der allgemeine Wille ‘zu seiner Realisation erzeugt’ und benutzt. Sondern sie sind eben auch das wirkliche Subjekt der Realisation, ferner in einem gewissen Sinne die Wirklichkeit desselben. Der allgemeine Wille ist zwar als causa efficiens das Subjekt der Individuen, aber zugleich das Objekt derselben als causa finalis. Eichenseer, Georg: Die Auseinandersetzung mit dem Privateigentum im Werk des jungen Hegel, S. 107-119. D. h. der Einzelne bildet seinerseits auch sich als den allgemeinen Willen und weiß sich so. Nur als dieser allgemeine, freie vernünftige Wille begeht der Einzelne Verbrechen, und hierin liegt eben Hegels Zurechnungslehre. 272 verallgemeinerungsunfähig und macht andererseits den allgemeinen nur zum Despoten, dem jeder gehorchen muss. Oder die Vertragstheorie, die nur die kontraktualistische Bildung des allgemeinen Willens behandelt, weiß nichts davon, dass die Negation dessen, was sie erklärt, eben auf diesem selbst gründet. Wie die Ursache für das Brechen des Vertrags im Vertrag selbst liegt, so entspringt das Verbrechen oder der Verstoß gegen den allgemeinen Willen aus dem allgemeinen Willen selbst. Wegen seiner idealen Verfügbarkeit kann allein durch den gemeinsamen Willen im Vertrag oder durch den allgemeinen Willen in der Vertragstheorie keine Notwendigkeit bzw. Verbindlichkeit für das Leisten des Vertrags oder das Beachten des Rechts hinreichend begründet werden. Von diesem Gebrechen wäre ferner auch die der Vertragstheorie treue Kantische Sittenlehre des Sollens nicht befreit, weil auch beim Verbrecher die Maxime seines einzelnen Willens für ihn selbst als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Der Grund für das einseitige Brechen des Vertrags liegt nicht zuletzt in der idealen Eigenschaft des Vertrags selbst, in dem das Sollen nur als Sollen selbst anerkannt ist. Dies Sollen enthält nicht die Notwendigkeit des realen Daseins in sich selbst. Die unzulängliche Erkenntnis des Einzelnen im Vertrag heißt zuerst, dass sein einzelner Wille hier als allgemeiner da ist. Aber dies Dasein ist noch nur die ideelle Wirklichkeit, nicht das reale Dasein des allgemeinen Willens selbst. Eben das Leisten ist es, durch das der einzelne Wille realiter als der allgemeine da ist. Erst im Leisten ist er “der seyende allgemeine Willen”. Eben als diesen Willen missverstand der Einzelne de facto seinen Willen, der “in der Vorstellung” des Vertrags “als allgemein geltender Willen” ist. Aber dieser gilt zwar für jenen, ist aber “nicht dasselbe”. Das Missverständnis des Einzelnen entstand dennoch konsequenterweise daraus, dass der Andere im Vertrag eigentlich lediglich “meinen nicht daseyenden Willen” anerkannte. Anerkannt von ihm ist nur das reale Nichtdasein meines Willens oder das Sollen des Leistens, d. i. “das Sollen als Sollen”. Insofern das Sollen im Vertrag nicht aufgehoben werden soll, macht es meinen selbst gültigen Willen zur “Gleichgültigkeit gegen das Daseyn und die Zeit” des Leistens (J III.229). Ich breche also schlechthin den Vertrag. Diese Aufhebung des Vertrags impliziert die immanente Kritik am idealen Inhalt des Sollens, den der Vertrag zum Wesen hat, und daher an der Kantischen Sittenlehre, wie schon erwähnt. Das Sollen des Daseins, oder dass der allgemeine Wille durch das Leisten da sein soll, ist nur das vorgestellte Dasein. Das vorgestellte Dasein ist zugleich das ideale Dasein und das reale Nichtdasein. Eben dieser Widerspruch des Sollens ermöglicht das Brechen des Vertrags. Das zweite Missverständnis des Einzelnen lautet, dass mein einzelner Wille die Bedingung des gemeinsamen Willens ist. Aber das Setzen meines einzelnen Willens 273 als des gemeinsamen hat umgekehrt den gemeinsamen Willen selbst zur Bedingung. Denn bevor ich selbst ein gemeinsamer Wille bin, kann ich meinen einzelnen Willen nicht als den gemeinsamen setzen. Die causa finalis aller Handlungen ist bereits ihre causa efficiens. Mein Wille ist “nur als anerkannter da”. Als dieser Anerkennung fähig bin ich schon Person, die unmittelbar anerkannt ist. Als die Person bildete ich bereits mit dem Anderen einen gemeinsamen Willen, den ich nun meinerseits durch das Setzen meines einzelnen Willens im Vertrag realisieren will. Darin, “daß ich ihn als gemeinsamen gesetzt, darin habe ich” bereits “als gemeinsamer [Willen]” ihn “gesetzt”. Nur als der gemeinsame Wille kann Ich meinen einzelnen als den gemeinsamen setzen. Mein einzelner Wille im Vertrag ist also “zugleich nur Moment” des gemeinsamen Willens. Hier handelt es sich um meine Person, die als der gemeinsame Wille meinen einzelnen in den Vertrag einsetzt. Das Anerkanntsein jeder Person beruht zuerst auf dem unmittelbar und ideell gebildeten, gemeinsamen Willen, als den jede nun ihren einzelnen im Vertrag realisieren und erweisen will. Dies ist eben das Leisten des Vertrags. Im Vertrag kann ich nur durch die Leistung erweisen, dass auch mein einzelner Wille gemäß dem gemeinsamen von meiner Person her realiter da ist. Und nur dadurch kann meine Person als anerkannt realiter da sein. Dagegen widerspricht mein Vertragsbruch dem, dass meine Person oder mein Wille an sich anerkannt ist. Mein Versprechen ist nicht mehr zuverlässig, und mein Wille kann nicht mehr als meine “blosse Meynung” sein. Deshalb muss ich das im Vertrag Vereinbarte leisten, d. i. nicht meinen einzelnen Willen als den gemeinsamen, sondern diesen durch jenen durchsetzen. Ich tue dies “nicht aus moralischen Gründen”, dass mein Wort gehalten, meine Charaktereigenschaft nicht geändert werden soll, um das Vertrauen des Anderen zu erhalten (J III.230). Sondern es geht vielmehr um das objektive und reale Dasein meiner Person als Anerkanntsein. Meine Gesinnung, Überzeugung oder Anlage kann ich ausbilden, ändern und entwickeln. Aber unter allen Umständen muss ich als die anerkannte Person realiter da sein können. Im Fall des Vertrags kann ich dies nur durch die Leistung erreichen. Der Zwang auf den Einzelnen zur Leistung ist daher überhaupt kein moralischer, sondern objektiver Zwang, Person zu sein, d. i. die objektive Notwendigkeit der Person. Der Zwang hat wegen der Idealität des Vertrags auch zweifache Beschaffenheit. Er geht zuerst “nicht auf die Person, sondern nur auf ihre Bestimmtheit, ihr Daseyn”. Der Vertrag ist, kurz gesagt, die Bestimmung des einzelnen Willens zu seiner Realisierung als des gemeinsamen durch die sprachliche Erklärung. Der so bestimmte einzelne Wille ist ein besonderer, und seine Bestimmtheit, sein Inhalt, ist, ein besonderes Dasein als ein Ding zu entäußern. Im Vertrag tritt jeder zuerst nur als der besondere Wille auf, der sich 274 seines besonderen Dings entäußern muss, aber noch nicht selber als der sich rein wissende, allgemeine Wille oder als die Person. Hier ist nicht die Entäußerung der Person selbst bestimmt - dies ist ganz und gar nicht möglich –, sondern ihres besonderen Daseins als Dings. Die Bestimmtheit dieser Entäußerung beinhaltet der gemeinsame Wille im Vertrag. Im gemeinsamen Willen ist daher die Person als ihr besonderes Dasein aufgelöst oder geschmolzen. Des Weiteren ist “unter dem bestimmten Dinge” dem Wesen nach eben der allgemeine Wille “verborgen”. D. h. “im besonderen” Ding des Vertrags ist der allgemeine Wille von jedem besonderen Willen einerseits als der gemeinsame vorgestellt, der realisiert werden muss, und andererseits als meine Person, als mein reiner einzelner Wille, der jenen realisieren muss. Der Vertrag ist im Wesentlichen eine Realisierungsweise des darin als gemeinsam vorgestellten allgemeinen Willens durch meine Person, die ihr besonderes Dasein entäußern muss. Ich kann bekanntlich als die reine Person unmittelbar den allgemeinen Willen nicht verwirklichen. Denn die reine Person heißt nur die ideelle Person nach der begrifflichen Allgemeinheit des wissenden Wollens oder wollenden Wissens, die also realiter immer nur als das einzelne Ich eines jeden auftritt, und ebenfalls ist der allgemeine Wille zuerst lediglich der ideelle Wille nach der Allgemeinheit des Wissens, der nur durch den einzelnen Willen eines jeden hier als der gemeinsame, später auch als das Gesetz, als das Institut realisiert wird. Insofern der einzelne Wille in Entsprechung mit dem allgemeinen tätig sein will, drückt Hegel ihn hier als den reinen einzelnen Willen aus. Zur Realisierung des allgemeinen Willens ist daher das Moment der Einzelheit nötig. Mein reiner einzelner Wille in Befolgung des allgemeinen tritt bereits hier als ein gemeinsamer auf. Ich setzte bereits als ein gemeinsamer Wille meinen einzelnen zusammen mit dem Anderen als den gemeinsamen, d. i. schloss den Vertrag, dann entäußerte ich als der durch den letzteren bestimmte, besondere Wille mein besonderes Dasein, d. i. leiste den Vertrag, dadurch erweise ich schließlich, dass mein einzelner Wille eigentlich reine Person, reiner Wille zur Befolgung des allgemeinen Willens, deswegen nun eben gemäß dem gemeinsamen Willen da ist. Der allgemeine Wille selbst realisiert und entwickelt sich eben durch diese Realisierung des gemeinsamen Willens. Daher ist der Zwang im Vertrag nicht nur auf die Bestimmtheit oder das besondere Dasein der Person, sondern wesentlich auch auf die Person selbst, genauer gesagt, nicht auf ihre Entäußerung, sondern eben auf ihr Personsein gerichtet, ihr besonderes Dasein als Ding zu entäußern und dadurch die Person zu sein, das Selbst der reinen Person zu erweisen. Und sogar das besondere Dasein der Person ist im Vertrag als dem ideellen Tausch noch nicht unmittelbar präsent, sondern zuerst nur dem Begriff nach schlechthin als das Dasein überhaupt. Es ist begrifflich “aufgelöst in der 275 Person, und im allgemeinen Willen” oder ist “nur als reine Person und als rein allgemeiner Willen, als reine Negativität”. Im ideellen Vertrag ist nur die Person eines jeden als allgemeiner Wille da. Oder jeder ist als mit der Fähigkeit zum Vertrag daseiend die reine Person, und der allgemeine Wille ist als vor seiner Konkretisierung zum gemeinsamen daseiend der reine. Das, was im Vertrag “als Seyn überhaupt gilt”, ist also nichts als der Wille oder die Person. Das, was im Vertrag primär gezwungen werden kann, ist daher weder mein besonderes Dasein noch mein besonderer Wille, der später nach der Bestimmtheit jenes entäußern muss, sondern in erster Linie meine Person, mein reiner Wille, der meinen einzelnen Willen dazu bestimmte und in die Besonderheit legte. Vor der Vertragsschließung muss ich als Kontrahent im Voraus ein gemeinsamer Wille, also eine dessen fähige Person sein. Ich konnte nur als Person einen Vertrag schließen, in dem nun also nur meine Person, mein reiner Wille, da ist. Deshalb werde ich eben als Person gezwungen. Diesen Zwang sieht Hegel als “die Krafft des Vertrags” ein. Die Kraft des Vertrags besteht vor allem darin, dass durch das Setzen des realen Tausches als des ideellen die Person und der allgemeine Wille vom Einzelnen, obzwar in beschränkter Weise, doch als wirklich wirksam begriffen werden. Der allgemeine Wille bedeutet, dass jeder zur Anerkennung zunächst sich selbst aufheben und negieren muss. Aber die Person selbst ist überhaupt nicht negierbar und veräußerlich.78 Das, was als eins mit der totalen Person, also als die Person negiert und entäußert wird, ist de facto nur ein besonderes Dasein der Person. Mein besonderes Dasein ist gleich meinem Sein überhaupt als der Person. Denn “beydes ist unzertrennlich” nach der Totalität der Person. Der allgemeine Wille tritt im Vertrag als der gemeinsame auf, der eben über das besondere Dasein der Person übereinstimmt, und jeder Einzelne ist zuerst die Person, die als der gemeinsame Wille einen Kontrakt schließt. Beim Brechen des Vertrags geht es daher nicht nur um den bestimmten Willen des Einzelnen im Vertrag, sondern auch vor allem um seinen reinen Willen, um seine Person, die als der gemeinsame Wille durch die Vertragsschließung seinen einzelnen Willen so bestimmte. “Eben im Zwange kommt” das begriffliche Erkennen der bestrittenen Person und des zu befolgenden allgemeinen Willens also “zur Gegenwart”. D. h. das, was im Zwang gesetzt ist, ist der Begriff, dass mein einzelnes Ganzes durch den Vertrag in den allgemeinen Willen aufgelöst und absorbiert ist und dass ich im Vertrag eben “für mich” “als meine Person” nicht nur mit dem Eigentum, sondern auch mit “Ehre und Leben” anerkannt bin (J III.231). Deshalb führt mein Vertragsbruch zur Zurücknahme des unmittelbaren 78 Auch nach VNS, § 29 und GPR § 66 sind “meine Persönlichkeit überhaupt, Freiheit des Willens, Sittlichkeit” und “Religion” als “Güter”, die “meine eigenste Person ausmachen”, unveräußerlich. 276 Anerkanntseins meiner Person als Daseins durch den Anderen. Dann bleibt entweder wiederum nur der Kampf um Anerkennung oder meine unbedingte Erfüllung des Vertrags übrig. In jenem Fall kommt der Kampf auf Leben und Tod in der Gestalt von Verbrechen und Strafe zum Vorschein. Aber auch in diesem Fall der Kontrakterfüllung kann das Verbrechen entstehen, wenn ich reflektiere, dass ich ungleich behandelt wurde und mich dafür realiter räche. Auch in jenem Fall ist meine Nichtleistung des Vertrags aus irgendwelchen Gründen noch nicht selbst ein Verbrechen. Nur wenn sie im absichtlichen Brechen realiter endet, kann gefragt werden, ob sie ein Verbrechen ist oder nicht. Dann muss vor allem überlegt werden, worauf das innere Motiv fürs Verbrechen objektiv gründet. Die innere und subjektive Notwendigkeit bzw. Konsequenz des Verbrechens entspringt Hegel zufolge eben aus der objektiven Notwendigkeit des Zwangs, der hier der Zwang auf meine Person gemäß dem im Vertrag implizierten allgemeinen Willen ist. Des Weiteren hat das Verbrechen außer dem kontraktlichen Zwang allerdings auch in allen aufgrund des allgemeinen Willens als notwendig hergeleiteten Zwängen seinen subjektiven Grund. Also wird die “innre Quelle des Verbrechens” von Hegel auch als “der Zwang des Rechts” ausgedrückt (J III.235). D. h. wo der Zwang objektiv notwendig ist, kann das Verbrechen immer subjektiv motiviert werden. Und weil der Zwang zuerst hier im Vertrag notwendig enthalten ist und in dessen Nichtleisten realiter entsteht, erläutert Hegel vom Zwang im Vertrag ausgehend weiter den Grund des Verbrechens. Im Zwang zum Leisten des Vertrags scheint die Verletzung meiner Person mit Ehre und Leben zwar zufällig, weil er nur die Entäußerung meines besonderen Daseins anfordert. Allein er ist, wie oben gesehen, zugleich auch Zwang auf meine Person als das daseiende Anerkanntsein. Insofern ist die Verletzung meiner Person durch den Zwang im Vertrag notwendig. Ich bin “nicht nur meinem Daseyn nach, sondern eben meinem Ich nach” “gezwungen worden”. Als Kontrahent ist meine Person bereits als daseiend gültig. Aber durch den Zwang bin ich “als in mich reflectirtes in meinem Daseyn” behandelt worden, d. i. nur als die Person, die, obzwar schon als daseiend anerkannt, dennoch von diesem Dasein her in sich reflektiert, also getrennt ist (J III.232). Der Vertrag hatte das Anerkanntsein meiner Person als Dasein zur Voraussetzung. Sein Zwang trennt nun mich von meinem Dasein. Er verletzt zuerst durch die Infragestellung des Daseins meiner Person mich in diesem Dasein. Denn meine Person, mein Wille ist bereits in meinem Dasein und mit diesem unzertrennlich verbunden. Dies anerkannte der Andere auch schon. Nun verletzt er also meinen von ihm anerkannten Willen selbst mit dem Zwang, der beinhaltet, dass ohne Entäußerung meines besonderen Daseins 277 mein Wille oder Person nicht mehr als daseiend anerkannt werde, und der also meinen Willen, meine Person als von meinem Dasein trennbar ansieht. Dies ist die erste Bedeutung der Verletzung meiner Person durch den Zwang im Vertrag. Das, was von meiner Person trennbar ist, ist lediglich mein äußerliches und besonderes Dasein als ein Ding. Eben hierüber machte der Andere ein bestimmtes Geschäft mit mir ab. Aber er stellt ferner nun nicht sowohl mein besonderes Dasein, als vielmehr meinen reinen Willen bzw. meine Person in Frage. Als mein reiner Wille, der unmittelbar anerkannt ist, gab ich freilich mein Wort. Nun beim Zwang scheint mein Wort, dass bei mir nur mein besonderes Dasein veräußerlich, daher bestreitbar ist, meinem ersten Wort nicht zu entsprechen. Dieser Widerspruch lässt sich vom Anderen freilich auch als meine Inkonsequenz behaupten. Aber der Widerspruch ist de facto ein solcher, der in allen Verträgen zwischen dem Ich als dem Kontrahenten, als dem gemeinsamen Willen, also als dem allgemeinen Wollen und dem als dem Vertragsinhalt, als dem bestimmten einzelnen Willen, also als dem besonderen Dasein besteht. Der Andere nahm bei der Vertragsschließung bereits den Widerspruch, d. i. mich “als das sich ungleiche, als das allgemeine, das ein bestimmtes Daseyn hat”, auf, genauso wie ich ihn. Also, wenn er wegen meines besonderen Daseins gemäß dem Vertrag meinen reinen Willen, meine Person selbst in Zweifel zieht und zwingt, ist dies für mich auch eine ernste “Verletzung meines reinen Ich”. Denn mein reines Ich, das als reiner Wille, als Person meinerseits auch dem allgemeinen Willen folgen will, ist unmittelbar anerkannt und soll daher durchaus nicht verletzt werden. Das, was der Andere bei mir zwingen und negieren kann, ist nur mein besonderes Dasein, mein bestimmtes Ich als besonderer Wille zur Leistung des Vertrags. Er beurteilt und zwingt nicht mich in dieser Bestimmtheit als solches, sondern als Allgemeines; also wird mein Wille, sogar mein reiner Wille nach der Bestimmtheit meines besonderen Daseins oder als dieser Bestimmtheit zugehörig und gebunden angesehen und behandelt. Mein reiner Wille ist dadurch schon aufgehoben und meine Person verletzt. Drittens ist sein Zwang letztlich nichts anderes als “eine Entaüsserung meines Willens” selbst, der von ihm als meinem besonderen Dasein zugehörig behandelt wird. Denn mein Wille muss mindestens in der Beziehung auf ihn der Bestimmtheit des Daseins folgen, das zu entäußern er auffordert. Er behält dagegen in seinem Leisten seinen Willen, der von mir gar nicht verletzt worden, sondern wie immer anerkannt ist, und entäußert sich nur seines bestimmten Daseins. Mein Anerkanntsein aber ist von ihm verletzt. Ich zeige also gegen seinen Zwang mein Anerkanntsein, um “mein Für michseyn” zu restituieren, und stelle dafür mich nicht als einen bestimmten Willen, sondern eben “als Person gegen die Person” des Anderen entgegen, weil eben meine Person verletzt und wiederherzustellen ist. Des Weiteren, 278 insofern sein Zwang angeblich aufgrund des allgemeinen Willens nicht zurückgenommen wird, hebe ich persönlich die Ungleichheit, seinen Willen selbst auf, wie er meinen Willen, und räche mich so auf gleiche Weise. Meine und seine Person geraten damit in den Kampf, aber “nicht” unmittelbar gleich “wie im Naturzustand”, in dem jeder durch die selbstbewusste Tätigkeit nur für sich gegen alle entgegensteht (J III.233). Sondern der Kampf in der Gesellschaft entsteht, wie in der Bewusstseinslehre, zwischen einem und einem anderen Willen, aber nun realiter, und zwar ist jeder Wille der allgemein wissende, der sich selbst also als allgemeines, als Person, als anerkannt weiß. Das Verbrechen ist daher die unmittelbare Verletzung der anerkannten Person. Vor allem zu unterstreichen ist, dass jede Person hier ihren einzelnen Willen als den allgemeinen denkt und setzt. Das Verbrechen ist die Aufhebung des Daseins des Einzelnen als der Person durch den Anderen, dessen einzelner Wille sich auch als allgemeiner gilt. Das Wesen des Verbrechens liegt also darin, dass der allgemeine Wille, sei er wahr oder falsch gemeint, eben durch den einzelnen Willen als sein Wille gegenüber der Person des Anderen mit Zwang und Gewalt durchgesetzt wird. Gegen den Anderen, der mir gegenüber seinen Willen als den allgemeinen durchsetzte, hebe ich also sein Sein gleicherweise auf. Diese Aufhebung bzw. das Verbrechen von meiner Seite kann ebenfalls auf drei Weisen entstehen. D. h. ich trenne seinen Willen von seinem Dasein, ordne seinen reinen Willen einem besonderen, sogar unerwünschten Dasein unter oder erzwinge die Unterwerfung seines Willens selbst gewalttätig. Diese Taten entsprechen nach der Unterscheidung Hegels dem offenen Mord, der Verbalinjurie und der Realinjurie. Die Verbalinjurie bedeutet, sein Ganzes als Allgemeines zu einem mit einem Schimpfwort ausgedrückten an sich Nichtigen zu machen und dadurch aufzuheben. Die Realinjurie bedeutet, durch Diebstahl, Raub, Gewalttätigkeit o. a. sein bewusstloses Dasein anzugreifen und demnach seinen Willen mir unterwürfig zu machen. Schließlich ist der offen begangene Mord “die gröste Verletzung”, seinen Willen, seine Person von seinem Dasein, seinem Leben, völlig abzutrennen und dadurch die absolute Macht über sein Leben zu zeigen (J III.234). Das, was Hegel durch diese Kontinuität zwischen dem Zwang im Vertrag und dem Verbrechen hervorheben will, ist nicht zuletzt die Grenze des moralischen Sollens bzw. Zwangs. Die auf der Kantischen Tugendlehre gegründete Vertragslehre enthält das unmoralische Element in sich selbst. Denn gegen den gemäß dem allgemeinen Willen angetanen Zwang kann der Verbrecher auch seinen Willen allgemein gesetzgebend 279 machen.79 Der Zwang ist bei Kant und Fichte ein objektiviertes Sollen der Moral, das als der Inbegriff der Bedingungen für moralische Handlungen eben das Recht ist. Das ‘Recht’ und die ‘Befugnis zu zwingen’ sind ‘also einerlei’.80 “Die innre Quelle des 79 Über die schon mehrere Male erwähnte tautologische Morallehre Kants, aufgrund der beim abstrakt aufgefassten Inhalt aller Handlungen gute Gründe für die Verallgemeinerung des einzelnen Willens denkbar sind, Giusti, Miguel: Bemerkungen zu Hegels Begriff der Handlung, HS 22, S. 65-66. Siep, Ludwig: Was heißt: „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ in Hegels Rechtsphilosophie?, HS 17, S. 81-86. Derbolav, Josef: Hegels Theorie der Handlung MR, S. 206-211. Und siehe S. 16-20, 35-39. Weil Kant diese Entsprechung des Verbrechens und der Maxime, ‘sich den Gesetzverstoß zur Regel zu machen, nicht bemerkt, sondern nur vom kontraktlichen Verhältnis von Person und Sache ausgeht, macht er ‘keinerlei Versuch einer Legitimation der Strafe’, sondern entwickelt nur die strenge Vergeltungslehre nach dem Gesetz. Seelmann, Kurt: Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion, S. 125-132. 80 MSr, AB35-36. Kant zufolge ist die ‘objektiven Gesetzen gemäße’ ‘Bestimmung eines solchen Willens’, der ‘nicht an sich völlig der Vernunft gemäß’ ist, ‘Nötigung’, die die Pflicht an sich ist. ‘Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz’, die für ‘ein freies (moralisches) Wesen’ nichts anderes als ‘Selbstzwang’ ist. Und die Rechtslehre ist die Pflichtlehre auf der äußeren Seite des Gesetzes, d. i. des Zwangs. GMS, AB37. KpV, A144. MSt, A1-2. Der Zwang ist in Fichtes früherer Wissenschaftslehre das Nicht-können des Ich, das sich äußert, wenn das Streben des Ich, das Nicht-Ich zu bestimmen, und das Gegenstreben des Nicht-Ich vereinigt werden. Diese Rolle des Nicht-Ich spielt in seiner Grundlage des Naturrechts eben das Gesetz. Der Grund des Zwangsgesetzes liegt in der Grenze des Rechtsverhältnisses, nämlich, dass seine Möglichkeit auf dem Gebiet des Naturrechts zwar durch wechselseitige ‘Treue und Glauben’ der Personen oder Ich bedingt, aber diese ‘Treu und Glauben’ ‘von dem Rechtsgesetze nicht abhängig’ ist. Das Gesetz muss also zwanghaft sein, so dass ‘aus dem Wollen jedes unrechtmässigen Zwecks nothwendig, und nach einem stets wirksamen Gesetze, das Gegentheil des Beabsichtigten’ erfolgen wird, d. i. dass jeder unrechtmässige Wille ‘der Grund seiner eigenen Vernichtung’ wird. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, S. 287-291. Grundlage des Naturrechts, S. 139-141. Eben dies Prinzip des Zwangsgesetzes ist für Hegel unnötig, insofern das Gesetz, wie hier erklärt, das Gesetztsein des im Einzelnen realisierbaren und unrealisierbaren allgemeinen Willens ist. D. h. wenn der Mord die Handlung des Verbrechers als seines unrealisierbaren allgemeinen Willens, also selbst der Tod ist, braucht das Gesetz hierfür keinen Zwang. Der Zwangsbegriff ist nach dem Naturrechtsaufsatz selbst bereits der nichtige Begriff “der allgemeinen Freyheit Aller, die von der Freyheit der einzelnen getrennt”, abstrahiert ist, und dann ist “diese Freyheit des einzelnen eben so isolirt”. Dass “die natürliche und ursprüngliche Freyheit” des Einzelnen eben “durch den Begriff der allgemeinen Freyheit sich beschränken” soll, heißt nichts mehr als dass die einzelne und die allgemeine Freiheit nicht identisch seien, und die absolute Freiheit “durch etwas nicht absolutes” absolut sei. “Im Begriff des Zwangs selbst wird” daher “unmittelbar etwas Aeußeres für die Freyheit gesetzt”, was die absolute Identität der Freiheit des Einzelnen und aller auf etwas nicht Absolutes zurückführt. Hingegen sieht Hegel im Naturrechtsaufsatz in der Wirksamkeit des Gesetzes nicht den künstlichen Zwang, sondern eine ontologische “Bezwingung” ein, durch die der wahre allgemeine Wille des Subjekts auch bei Schwierigkeiten des Verbrechens erreicht wird. Falls das Subjekt seinen Willen im Allgemeinen nur als +A (ein Mord) bestimmen würde, wäre –A (ein Leben) für es nur äußeres und negierbares. Durch dies äußere Verhältnis steht es lediglich in der fremden Gewalt des Zwangs. Aber es kann auch “sein +A als eine Bestimmtheit eben so negativ setzen, aufheben und entäußern”. Als diese absolute Negativität ist jedes Subjekt frei. Aber die absolut negative Freiheit ist “in ihrer Erscheinung der Tod”, und eben wegen dieser Fähigkeit des Todes ist jeder absolut frei und “schlechthin über allen Zwang erhaben”. Das Subjekt, dessen +A unrealisiertes Allgemeines (der Tod) ist, hebt dies +A (seinen Mord) auf und entäußert es, nämlich nimmt die Todesstrafe in sich auf, und dadurch wird es bezwungen. Genauer gesagt, indem es –A (ein Leben) durch sein +A negiert (Ermordung), und auch sein +A negiert (Erleiden der Todesstrafe), ist es bezwungen. Hier wirkt das Moment des Todes in der absolut negativen Freiheit. Der Tod ist die äußerste Erscheinungsform und zugleich der endgültige Realbeweis der Unrealisierbarkeit des verbrecherischen Willens. Er ist nämlich “die absolute Bezwingung” durch die absolute Freiheit. Allerdings für diese Wirksamkeit des Gesetzes ergänzt Hegel später in der zweiten Jenaer Geistesphilosophie auch das vernünftige Selbsterkennen des 280 Verbrechens” ist Hegel zufolge nichts anderes als dieser “Zwang des Rechts” selbst. Die befehlende Moral oder das zwingende Recht ist gerade der subjektive Ursprung der Unmoral oder des Unrechts. 81 Aus dem Zwang des Rechts entspringt die “innre Rechtfertigung” des Verbrechers, und “sein Wissen” vom Verbrechen heißt für ihn nur “das wiederherstellen seines einzelnen Willens” “zum Gelten, zum Anerkanntseyn”. Und zwar sein einzelner Wille ist von ihm verallgemeinert oder als mit dem allgemeinen Willen konform gedacht und gilt ihm daher als der allgemeine. Z. B. meine Person als ein Armer hat nach dem allgemeinen Willen Recht auf das Leben. Aufgrund des allgemeinen Willens zwingt das Recht, die Lebensbedingung des Anderen nicht anzugreifen. Aber durch den Zwang ist das Lebensrecht meiner Person verletzt und nicht mehr gültig als anerkannt. Denn ich als der Arme ohne Lebensunterhalt bin wegen des Zwangs weder mehr lebensfähig noch als zum Leben berechtigt respektiert. Daher ist der Zwang ungleich, der nur Lebensfähige leben lässt, und jeder muss das Recht haben, in irgendeiner Weise zu leben. Nach diesem allgemeinen Willen nehme ich also einem Anderen seinen Teil. Nun müssen sich zwei fragen, nämlich, welche von beiden Seiten in Wahrheit verbrecherisch ist und aus welchem Grund und wie es bestraft werden kann und muss. Der Zwang, der mir unter dem Namen des allgemeinen Willens angetan ist, oder auch mein Wille, der dagegen als der allgemeine ausgeführt ist, kann ungerecht sein. Auch im obigen Fall des Vertrags ist es nicht anders. Wer, der Zwingende oder ich, der Gezwungene, dort ein Verbrechen begangen hat, ist de facto noch nicht festgestellt. Hegel kürzt seine Darstellung für die konsequente Erklärung vom Zwang zum Verbrechen ab. Der getane Zwang selbst kann auch verbrecherisch sein, aber vor allem ist zu bemerken, dass, wenn jede von beiden Seiten Verbrechen begangen hat, hier der allgemeine Wille, auf den jede sich gründen will, wirksam ist. Der Zwang und die Rache sind de facto reziprok, und derjenige, der zwingen will, würde seine Handlung eher für die Rache wegen des Zwangs des vermeintlichen Verbrechers über die Unwirklichkeit seines Willens als des allgemeinen, d. i. das Geständnis des Verbrechens zur Bedingung der rechtlichen Strafe. JKS, S. 446-448. Über den Vergleich der kontraktualistischen Straflehre Fichtes mit der Hegelschen, Hösle, Vittorio: Was darf und was soll der Staat bestrafen? Überlegungen im Anschluß an Fichtes und Hegels Straftheorien in Die Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus, S. 1-55 81 Schnädelbach sieht hier nicht Hegels Kritik am Kantischen Recht als Zwang, sondern eher Hegels eigene unkontraktualistische Entwicklung desselben, d. i. eine ‘Theodizee des Verbrechens’ für die Wirklichkeit des Rechts. Aber hier wird behauptet, der Zwang, sei es vom gerechten Vertragspartner, sei es vom Recht selbst, sei es vom Verbrecher, stehe im notwendigen Zusammenhang mit dem inneren Motiv des Verbrechens, deshalb müsse das Recht selbst gar nicht allein Zwangssystem werden. Nach Reusswigs Analyse der Rechtsphilosophie ist das Verbrechen nichts anderes als die Äußerung des moralischen Defizits bzw. der Amoralität des abstrakten, also äußerlich und zwanghaft gesetzten Rechts, und auch das explizite Setzen der Zufälligkeit der kontraktlichen Übereinstimmung, in dem Sinne, dass der Vertrag aufgrund dieses abstrakten Rechts immer gebrochen werden kann. Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, S. 133-134. Reusswig, Fritz: Natur und Geist, S. 167. 281 Vertragsbrechers halten.82 Hier ist mit einem Wort lediglich die subjektive und innere Quelle des Verbrechens erklärt, aber noch nicht der objektive Grund von dessen Bestimmtheit. Der Zwang, sei er fiktiv gemeint oder sei er real, ist der subjektive Ursprung der Rechtfertigung des Rächens, ferner des Verbrechens. Der Zwang, der aufgrund des allgemeinen Willens vom Einzelnen oder institutionell ausgeführt wird, kann auch Verbrechen sein. Dies aber erwähnt Hegel hier nicht, sondern er scheint momentan die Gerechtigkeit des Zwangs vorauszusetzen, höchstwahrscheinlich weil der ungerechte Zwang des Einzelnen selbst auch ein solches Verbrechen ist, das hier in der Gegenseitigkeit von Zwang und Rache erklärbar ist, und der ungerechte institutionelle Zwang ein Problem des Widerstandsrechtes verursacht, was aber nicht hier, sondern später in der rechtlich eingerichteten Gesellschaft zu erläutern ist. Dennoch ist ein Grund für die Bestimmtheit einer Handlung als eines Verbrechens aber erstaunlicherweise sehr einfach, wenn ein Blick auf Hegels realistischen Standpunkt der Wahrheit geworfen wird. Die Handlung des Einzelnen, die, wie auch immer auf der Basis des allgemeinen Willens, der gesellschaftlichen Entelechie des allgemeinen Willens widerspricht, ist ungerecht und verbrecherisch, und sein allgemeiner Wille, der nicht harmonisch realisiert werden kann, ist nur gemeint oder falsch. Allgemeines wird nur als ein Allgemeines aller in Einzelnen realisiert. Das Allgemeine, das nicht so realisierbar oder lediglich in gewissen Einzelnen, unmittelbar allein im Verbrecher realisiert ist, ist nicht allgemein wahr. Und nur das, was in der Gesellschaft als allgemein wahr realisiert ist, kann da sein und ist da gewesen. Das realisierte Objekt des allgemeinen Willens tritt eben als Gesetz, Institut und Staat auf. Nur derjenige, der in der Gesellschaft dieser Entelechie leben kann, ist das sittliche Subjekt seines einzelnen Willens, der sich gemäß dem allgemeinen verwirklicht. Sonst wird seine Einzelheit aufgehoben, gleich wie das unangemessene Einzelobjekt für die Realisierung des allgemeinen Willens. Eben hieraus wird der Grund der Strafe abgeleitet. Das Verbrechen, das dem zwingenden allgemeinen Willen zum Trotz vollzogen ist, hat zwei Elemente. Zum einen ist der Wille des Verbrechers nun ein solcher, der “sich als einzelnen für sichseyenden weiß” und “zum Daseyn gekommen” ist. Er machte seinerseits seinen einzelnen Willen zum Dasein als Anerkanntsein. Zum anderen ist sein einzelner Wille nicht als solcher, sondern als ein allgemeiner durchgesetzt und verwirklicht. In dieser Hinsicht ist auch in ihm der allgemeine Wille tätig. Das Verbrechen ist ein Zusammenstoß des einzelnen Willens als seines allgemeinen mit dem 82 Dies ist in der Rechtsphilosophie etwas mehr verdeutlicht. Weil “Zwang durch Zwang aufgehoben wird”, ist er “nicht nur bedingt rechtlich, sondern notwendig – nämlich als zweiter Zwang, der ein Aufheben eines ersten Zwangs ist”. GPR, § 93. 282 vorhandenen allgemeinen Willen aller Anderen. Es ist also selbst “die Belebung, die Bethätigung” “des allgemeinen Willens”. Und wenn die Tätigkeit des Verbrechers anerkannt werden soll, muss sie allgemein, nicht einzeln sein. Die allgemeine Tätigkeit muss eine solche sein, die vom Verbrecher nicht nur dem Anderen, sondern auch ihm selbst gegenüber durchgeführt wird. Die vollkommene Realisierung des Einzelnen als Allgemeinen ist die Realisierung des Allgemeinen im Einzelnen. Die “anerkannte Thätigkeit” des Verbrechers ist daher “ein Aufheben des einzelnen” Verbrechers. Denn sein einzelner Wille, der nicht das Leben, sondern die Zerstörung und Vernichtung des Lebens zum Prinzip, zum allgemeinen Willen hat, kann schlechthin nicht realisiert werden, aus dem bloß ontologischen Grunde, dass nur das Allgemeine, das realisiert werden, da sein, leben kann, realisiert wird, da ist, und lebt. Und nur das Allgemeine, das adäquat realisiert ist, ist wahr. Die Strafe ist eben die Anerkennung des einzelnen Willens des Verbrechers als des allgemeinen und Realisierung dieses Allgemeinen in ihm. Das Wesen der Strafe liegt weder in der Überwältigung von der Seite des nach der Vertragstheorie vereinbarten allgemeinen Willens noch in der Prävention des Verbrechens noch in der Besserung des Verbrechers. Die Strafe ist wesentlich, die einzelne Handlung des Verbrechers als die allgemeine seines allgemeinen Willens anzuerkennen und an ihm selbst anzuwenden.83 Ihm wird zwar “das Gleiche was er gethan hat”, getan, aber nun nicht als ein Einzelnes, wie in der Rache, sondern als “das Allgemeine als solches”.84 In dieser Hinsicht ist die Strafe ein “Umschlagen” vom Vernichten des Willens des Verbrechers als des allgemeinen ins Wiedergelten des in Anderen vorhandenen allgemeinen Willens. Hier ist immer der allgemeine Wille tätig. Dies darf nicht so missverstanden werden, dass es einen schlechten, beim Verbrecher, und einen guten allgemeinen Willen bei den Anderen gibt. Das Allgemeine ist immer als 83 Nach der Rechtsphilosophie: Dass “die Strafe darin als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Verbrecher als Vernünftiges geehrt”. GPR, § 100. Auch VNS, § . 110. Primorac zufolge kommt die Strafe erstens nicht nur vom Willen aller und dessen Objektivation im Gesetz, sondern auch vom allgemeinen Willen als dem wahren des Verbrechers selbst her. D. i. sie drückt den eigenen Willen des Verbrechers aus. Dann ist die Zustimmung des empirischen und subjektiven Willens des Verbrechers zur Strafe bereits in seinem Verbrechen geschworen. Letztlich erscheint das Recht des Verbrechers auf seine Strafe als das Recht auf die retributive Strafe, d. i. nicht nach irgendeinem anderen Maßstab, sondern nach dem Grad seines Verbrechens gemessen. Primorac, Igor: Punishment as the criminal’s right, HS 15, S. 193-195. Auch, Mitias, Michael H.: Another look of Hegel’s concept of punishment, HS 13, S. 176-182. Wenn diese Anerkennung und Anwendung des Willens des Verbrechers der subjektive Grund für seine Strafe ist, liegt der objektive Grund in der gleichen, an sich bestehenden Nichtigkeit von Gesetz und Bösem, die oben ontologisch als der unrealisierbare allgemeine Wille erklärt und kurz später unten bezüglich des Gesetzes zu erklären ist. Auch Seelmann sieht das Element der Hegelschen Straflehre, das – bloß als auf die Vergeltung des Gleichen an Anerkennungsverlust angewiesen – schwer zu erklären ist. Seelmann, Kurt: Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion, S.77-79. Das Gesetz, das als Zwang für den Einzelnen erscheint, ist ebenso nichtig wie das Böse, das als Verbrechen des Einzelnen erscheint. 84 Dies entwickelt sich eben zur späteren Straflehre als Wiedervergeltung durch das verletzte Allgemeine selbst nach dem Wert der verbrecherischen Handlung. VNS, § 47, 48, 111. GPR, § 101, 102, 220. 283 Einzelnes da. Die Strafe heißt nur, dass der allgemeine Wille einerseits als der einzelne des Verbrechers weiter in ihm gilt, dadurch andererseits als der von ihm verletzte, aber in den Anderen vorhandene, allgemeine wieder gilt. Sie kann auch als Vergeltung, als Rache, angesehen werden. Aber sie ist weder die Rache eines Einzelnen noch aller, sondern als “Gerechtigkeit, d. h. das Anerkanntseyn, das an sich ist, und (aüsserlich) verletzt” ist, “wiederherzustellen” (J III.235). Im Element dieses Anerkanntseins muss daher auch das Vergelten durchgeführt werden. Alles geht also vermittels des Anerkanntseins vor. Selbst der Verbrecher weiß, dass eine Person nicht nur von ihm, sondern auch an sich anerkannt und die Verletzung der Person verboten ist. Das, was er verletzen kann, ist de facto nur das äußerliche Dasein der Person, nicht die Person selbst, wie im Naturzustand. Die äußerlich gestohlene oder gemordete Ehre der Person selbst ist aber “nicht gekränkt”, insofern jeder “im Elemente des Anerkanntseyns lebt” und dies weiß. Die Person selbst, die reine Person, kann schlechterdings nicht verletzt werden. Denn die Negation derselben heißt nichts anderes als die Negation des Menschseins des Menschen, der allgemein wissender Wille oder allgemein wollendes Wissen ist. Die Person, die als anerkannt da ist, muss daher auch realiter nicht verletzt werden können. Ihr Dasein kann äußerlich beschädigt werden, aber ihre Ehre muss unverletzbar sein. Das sich wissende Verbrechen weiß auch dies Anerkanntsein der Person, die in ihrem äußeren Dasein verletzt ist. Das Selbstwissen des Verbrechens wird eben deshalb, wie nachher zu erklären ist, in der Strafrechtslehre Hegels als das Geständnis des Verbrechers notwendig beansprucht. Die Strafe stellt so das äußerlich verletzte Anerkanntsein der Person wieder her und bewahrt und garantiert wiederum das Dasein derselben. Nun ist das System der Entelechie des allgemeinen Willens, d. i. des realisierten Anerkanntseins der Person zu erläutern. Dies ist eben der objektive Grund für die Bestimmtheit des Verbrechens und die Gerechtigkeit des Zwangs. Der Zwang des Einzelnen im oberen Beispiel des Vertrags kann gründlich ungerecht sein, wie er auch immer auf dem allgemeinen Willen gründen mag. Er ist eher nur als Selbstzwang, als das Institut des Selbstzwangs, gerecht. Vor allem muss jeder vorstellen und wissen können, ob sein einzelner Wille, den er als den allgemeinen realisieren will, in Wahrheit realisierbar und dem Dasein des schon realisierten allgemeinen Willens entsprechend ist. Dieser ist bereits geschichtlich in der Gesellschaft realisiert und da. Jeder kann nun sein Anerkanntsein als durch seine Tätigkeiten realisiert vorstellen. Dies ist die Bedeutung der Entelechie des allgemeinen Willens als Gesetz, Institut, Staat, o. a. Hierin sind das bestimmte Dasein und der besondere Willen eines jeden enthalten, der also “in dem aufgeben seiner selbst, in seiner Aüsserung sich zu erhalten, seinen Willen zu behalten” 284 weiß. Denn die Verwirklichung des Allgemeinen ist meine Verwirklichung, und ich kann nur als ein Einzelnes des Allgemeinen da sein. Außerdem weiß jeder durch sein realisiertes Anerkanntsein auch, dass das “Zurükgehen in die Einzelnheit” zum Verbrechen führt (J III.236). Das System des realisierten Anerkanntseins der Person, das nun also mit der realen Gewalt für jeden wirkt und gilt, ist vor allen Dingen das Gesetz, das ein wirkliches Anerkanntsein der Person zu nennen ist. 2.4. Gesetz als wirkliches Anerkanntsein Das Gesetz ist nach dem gewöhnlichen Verständnis vom Recht als ‘Inbegriff der Gesetze’85 unterschieden. Aber das Recht ist bei Hegel das allgemeine Element des freien Seins der Person. Es wurde im Kampf um Anerkennung als das Anerkanntsein der Person erreicht und in der anerkennenden Beziehung der Gesellschaft als ihr daseiendes, unmittelbares Anerkanntsein entwickelt. Es ist in diesem Sinne der realisierte Begriff der freien und selbstbewussten Person. Aber diese Realisierung der Person ist noch eine begriffliche Realisierung, ihre interpersonelle als Begriff, also ist ihr realisierter Begriff, d. i. das Recht in den gesellschaftlichen Tätigkeiten noch als der Begriff des allgemeinen Willens wirklich wirksam. In diesem Sinne ist das Recht erst nur die begriffliche Wirklichkeit der Person. Es muss nun nicht als Begriff, sondern einen Schritt weiter gegenständlich, als das Objekt des Begriffs selbst realisiert werden, damit jede Person darin das wirkliche Dasein ihres Anerkanntseins erkennen kann. Vor allem ist der wahre Begriff das, was als sein Objekt selbst verwirklicht werden kann. Das Recht, das als sein Objekt realisiert ist, ist bei Hegel eben das Gesetz. In dieser Hinsicht ist es nicht nur die Gesamtheit der Gesetze, sondern auch der begriffliche Grund derselben. Dagegen ist das Gesetz die objektive Wirklichkeit des Rechts, die Entelechie seines Begriffes. Das Recht hat also die begriffliche Notwendigkeit der Person, während das Gesetz die phänomenale Adäquatheit des Rechtsbegriffes hat. Weil sich das Gesetz so in der Erscheinung darstellt, vermag es nach dem Naturrechtsaufsatz nicht, “das, was aufs genauste und ganz allgemein das vortrefflichste und gerechteste wäre, vollkommen vorzuschreiben” (JKS 452). Trotz dieser platonischen Beschränktheit muss das Gesetz aber als die Aristotelische Entelechie des Rechts 85 Maximilian, Herberger: Artikel Recht HWP 8, S. 223. Das Recht als ‘eine Sammelbezeichnung für den Inbegriff der Gesetze’ gehört Kaufmann zufolge zum nominalistischen Rechtsbegriff, nach dem ‘Recht nichts Wirkliches’ und ‘nur das Gesetz’ zwar ‘wirklich’, aber dem Inhalt nach ‘beliebig’ ‘im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung’ sei. Dagegen sei der realistische und inhaltliche Rechtsbegriff bisher noch nicht festgelegt und nach dem Gesichtspunkt jeder Rechtslehre verschieden, z. B. Hegels Recht als das Dasein des freien Willens. Kaufmann, Arthur: Grundprobleme der Rechtsphilosophie, S. 121-124. 285 immerfort und notwendig versucht und entwickelt werden. Denn nur der Begriff, der objektiv realisiert ist, kann endgültig wahr sein. Zudem erlangt das Recht als die begriffliche Wirklichkeit noch nicht die objektiv wirksame Kraft, die von allen Einzelnen als ihr realisiertes Anerkanntsein, also als die Gewalt aller vorgestellt wird. Das Gesetz ist eben die als solche Gewalt wirkende, reale Wirklichkeit des Rechts. Das Gesetz, das Hegel hier thematisiert, ist daher kein solches, das in der Erscheinung als Rechte in engerem Sinne dargestellt, also als positives Recht oder als Gewohnheitsrecht vorhanden ist, sondern in der Beziehung auf den Rechtsbegriff selbst als die objektive und reale Wirklichkeit desselben betrachtet wird. Als diese Wirklichkeit für den Einzelnen ist das Gesetz ferner die Vermittlung des Einzelnen mit seinem Rechtsbegriff. Es ist nämlich das nach seinem Begriff realisierte Recht, in dem sich jede Person in ihrer Wirklichkeit mit ihrem Rechtsbegriff vermittelt. In dieser Hinsicht lässt sich das Gesetz also auch mit dem Recht in weiterem Sinne, in seiner Realisierung vertragen. D. h. die Hegelsche Gesetzeslehre hier ist nicht juristisch, sondern philosophisch.86 Das Gesetz ist das realisierte Anerkanntsein der Person selbst, das sie durch ihre gesellschaftlichen Tätigkeiten als die objektive Grundlage derselben erreichte. In den vorigen gesellschaftlichen Tätigkeiten war die Person unmittelbar als daseiend anerkannt. Aber das Dasein der anerkannten Person trat noch in der äußeren Gestalt des Gegenstandes der Arbeit, des Tausches und des Vertrags auf. D. h. in ihrem äußeren Dasein war die Person als anerkannt idealiter da. Daher war mein Anerkanntsein mein Fürmichsein in meinem äußeren Dasein vermittels meines Seins für den Anderen. Nun ist das Gesetz das wirkliche Dasein der anerkannten Person selbst, in dem mein Selbst nach meinem Dasein und meinem Wissen enthalten ist. Es ist nämlich als das selbst vergegenständlichte Wesen der Person ein “intelligentes Anerkanntseyn”, nach dem ich als mein allgemeines Selbst da sein kann und soll und in dem ich das Allgemeine des Rechts und mich selbst darin weiß (J III.237). Es ist das Dasein und zugleich das Selbstwissen jeder Person als allgemeines Selbst. Jeder Einzelne in der Gesellschaft ist nun nach dem Gesetz Person und existiert auf das Gesetz gestützt als Person. D. h. das Gesetz ist “die Substanz der Person” (J III.236), und zwar “ihrer Existenz” in der Gemeinschaft. Das Gesetz als diese Substanz hat drei Momente nach der Existenzweise der Person. Die Person ist zuerst nur in einer “Gemeinschafft mit den andern” 86 Hegels Zurechnungslehre, die den allgemeinen und vernünftigen Willen des Einzelnen als des Verbrechers zur Voraussetzung hat, steht im Zusammenhang mit dem Recht der Person, aber nicht unmittelbar mit dem positiven Recht. Wie sie daher strafrechtsdogmatisch unmittelbar unbrauchbar ist, so ist auch die Gesetzeslehre hier nicht spezifisch juristisch, sondern rechtsphilosophisch, wie Schild auch bezüglich der Rechtsphilosophie die unjuristische, aber philosophische Bedeutsamkeit der Hegelschen Zurechnungslehre für die Strafrechtswissenschaft auslegt. Schild, Wolfgang: Der Strafrechtsdogmatische Begriff der Zurechnung in der Rechtsphilosophie Hegels. ZPF 35, S. 445-476. 286 unmittelbar als anerkannt da, insofern der Einzelne das geistige Anerkennen selbst ist und dies die Beziehung auf den Anderen voraussetzt. Die Gemeinschaft ist eben die Familie, und das Gesetz in seinem ersten Moment ist die Vermittlung der so unmittelbar daseienden Person mit der Person selbst, mit ihrem Rechtsbegriff. Der Einzelne ist eben darum als die anerkannte Person unmittelbar da, weil er in der Gemeinschaft besteht. Das unmittelbare Dasein der Person in der Gemeinschaft impliziert also auch “die absolute Nothwendigkeit” der Gemeinschaftlichkeit der Person selbst oder in ihrem Begriff. In der Gemeinschaft wird nicht der Einzelne, sondern werden alle als das Ganze allgemein besorgt, und jener für dieses aufgehoben und aufgeopfert. Das Gesetz in diesem Moment kommt als Familienrecht zum Vorschein. Zweitens hat der Einzelne das gesellschaftliche Dasein als Besitzer des Eigentums. Das Gesetz ist die Vermittlung der gesellschaftlich daseienden Person mit ihrem Rechtsbegriff. Die Person ist vor allem im Vertrag gesellschaftlich da und wird durch das Gelten des gemeinsamen Willens im Vertrag gesichert. Hier muss nicht der einzelne, sondern nur der gemeinsame Wille gelten, und durch diesen wird jener als Person garantiert. Das Gelten des gemeinsamen Willens nach dem Rechtsbegriff der Person ist eben “die Substanz des Vertrags”, nach der jeder als Person gesellschaftlich anerkannt ist. Das Gesetz hier tritt als “Gerechtigkeit” und “Macht” über die Lebenserhaltung eines jeden auf und wird zunächst als Eigentumsrecht gestaltet. Schließlich ist der Einzelne nun in der Gerechtigkeit des Gesetzes als die anerkannte Person da. Seine Existenz selbst ist also “das Werden an ihm selbst zum Allgemeinen” des Rechtsbegriffs. Das Gesetz in diesem dritten Moment drückt das Bestehen des Einzelnen im Allgemeinen oder das Werden jenes zu diesem aus. Aber das Einzelne eines jeden besteht nur als die rechtliche Bewegung, daher ist das Gesetz auch “die Bildung” des Einzelnen an ihm selbst zum Allgemeinen. Dies Gesetz tritt in der Gestalt der Rechtspflege und des Prozessrechts auf (J III.237). Zu achten ist hier vor allem darauf, dass Hegel de facto gar nicht für seine Gesetzeslehre, oder nur sehr selten für seine Anmerkungen die Termini der positiven Rechte unmittelbar benutzt. Hierfür lassen sich zwei Gründe nennen. Zunächst gelangte Hegel bereits im früheren Fragment, Verfassung Deutschlands, zur Einsicht, dass ‘die Einheit des bürgerlichen Rechts’ ‘nicht einmal’ genügend für die Konstitution eines Staates ist.87 Selbst ein vereinheitlichtes Recht kann, wie in der französischen Revolution, auch als Apparat der Kontrolle fungieren, der in alle Details des Lebens eingreift, aber keinen Raum für die freie Tätigkeit der Bürger gewährt. Das, was für die Organisation und Sicherheit der öffentlichen Gewalt nicht bestimmt nötig ist, muss also “der Freyheit der 87 HH, S. 105. 287 Bürger überlassen” werden (SE 175). Zweitens liegt Hegels Interesse nicht in der rechtswissenschaftlichen Behandlung von einzelnen Gesetzen, sondern in der philosophischen Begründung des gemäß dem Rechtsbegriff zu setzenden Gesetzes. Das Gesetz ist zwar die Substanz des Einzelnen als Person, aber das Leben dieser Substanz ist in erster Linie der Einzelne selbst. Das Gesetz ist, nach der Rechtsphilosophie, zwar das Gesetztsein des Rechts an sich als das objektive Dasein, aber das zu setzende Recht an sich oder der Rechtsbegriff ist nichts anderes als die Person selbst des Einzelnen. Nur in der “Identität des Ansichseins und des Gesetztseins” des Rechts kann das Gesetz die verbindende Kraft sein (GPR, § 211). Das Gesetz muss also “für den Einzelnen” vor allem “sein Wesen, sein Ansich” sein, das als “Gegenstand” realisiert und zu erkennen ist. Für den Einzelnen, der sich in dem Gegenstand nicht erkennen kann, ist das Gesetz freilich eine fremde Kraft. Aber selbst durch das passive Leben nach diesem Gesetz wird er jedoch auch “an ihm selbst das allgemeine” Bewusstsein, das aber allerdings selbst “das todte, stumpfe” ist, insofern es vom rechtlichen Selbst ohne Selbsterkennen geleitet wird. Dagegen wird er durch das Erkennen des gegenständlichen Ansich im Gesetz als des Selbst zum allgemeinen Selbst gebildet. Sein “gebildetes Bewußtseyn” erkennt und erhält “sich in seiner reinen Abstraction selbst”, in der reinen Allgemeinheit seiner Person, eben in seinem Ansich, das als Gegenstand, als Gesetz, gesetzt ist. Für ihn ist das Gesetz nun die selbst verbindende Kraft seiner reinen Person. Das Gesetz ist die Substanz der Person und die Person das Subjekt des Gesetzes. Die sich im Gesetz wissende und verbindende Person ist das sittliche Subjekt ihrer Substanz. Dieses Gesetz nach seinem Wesen ist nun in jedem Bereich zu erläutern. 2.4.1. Familiengesetz Zunächst kommt das Gesetz bezüglich der Familie in der Ehe, dem Familiengut und der Erziehung der Kinder zum Ausdruck. Diese Unterteilung ist bekanntlich die Wiederholung des Inhalts des totalen Bewusstseins und seiner Tätigkeit der Anerkennung in der Gesellschaft, aber nun als des wirklichen Anerkanntseins der Person, dessen Inhalt später auch einen Teil des Kapitels der Sittlichkeit in der Rechtphilosophie bildet. Insofern versichert das Gesetz das Bestehen des unmittelbaren Daseins des Einzelnen als der anerkannten Person. Aber der Einzelne, der unmittelbar da ist, ist einerseits zuerst “unmittelbar als natürliches Ganzes”, “als Familie”, aber noch “nicht als Person”. Sein unmittelbares Dasein als Person muss erst werden. Als die ganze Familie ist er aber andererseits zugleich durch die Liebe mit dem Anderen verbunden. Als dies Verbundene ist er ein “unmittelbares Anerkanntseyn”, und die 288 Verbindung durch die Liebe ist für ihn de facto sein Ganzes als Anerkanntsein. Die Verbindung tritt in concreto als viele Tätigkeiten in der Familie auf, die als einzelne immer für die Verbindung selbst, für das Ganze, durchgeführt werden. Das “einzelne ist in diesem Ganzen absorbirt”. Und das Einzelne, das für das Ganze als das Ganze ausgeführt wird, ist eben “für das Gesetz, für das Allgemeine”. D. h. der Einzelne, der für sein Ganzes, für seine Verbindung tätig ist, ist wirklich so für sein unmittelbares Anerkanntsein, für seine unmittelbar anerkannte Person in der Verbindung, für das, was nichts anderes als das Allgemeine des Gesetzes oder der Rechtsbegriff ist. Insofern er um der durch die Liebe verbundenen, ganzen Familie willen als dies Ganze da ist, ist er die anerkannte Person, die als unmittelbar daseiend wirklich geworden und realisiert ist. Und das Allgemeine, für das er als das Ganze tätig da ist, ist als Gesetz eben die “Ehe”. Die Ehe ist nicht einmal wegen eines bestimmten Zwecks, sondern für und “als das Allgemeine” der Person geschlossen, was vom Einzelnen in der Familie als sein Ganzes unmittelbar anerkannt und realisiert wird (J III.238). Daher, wie die Person selbst ganz und gar nicht zur Disposition gestellt werden kann, so kann die Eheschließung auch durchaus kein Kontrakt sein. Hier wiederholt sich wiederum Hegels heftige Kritik an der Ehevertragstheorie Kants, wie schon im Vorigen erwähnt.88 Über die Person und den Körper als ihre erste einzelne Existenz kann und soll gar nicht kontrahiert werden, weil dies ihrer Freiheit und ihrem freien Dasein schlechthin widerspricht. Die zum Kontrakt vorausgesetzte Handhabung der Person und des Körpers als Eigentum, als Sache könnte sogar “durch die Soldaten” “zusammengezwungen werden”. Dieser Gegengrund Hegels scheint auf den ersten Blick zwar banal und mangelhaft, aber gewinnt erheblich an Bedeutung, wenn der aus der Zwangsläufigkeit von beiden Seiten militärisch geschlossene Vertrag nach dem Krieg gültig ist. Ein Vertrag dieser Art würde die erzwungene Ehe als Geisel, ferner die Knechtschaft, ermöglichen. Hegel spricht des Weiteren gegen das positive Gesetz, das die Verwandtenehe in einem eingeschränkten Umfang erlaubt. Zuerst ist den Verwandtschaftsgrad zu bestimmen sehr beliebig, geradezu unbestimmt. Der Grad von etwas Gleichem kann nur als Gleiches bestimmt werden. Die gleiche Bestimmtheit ist Unbestimmtheit. Diese Unbestimmtheit ist auch “dem Begriff der Liebe entgegengesetzt”. Denn die Liebe ist die Vereinigung von beiden selbstständigen freien Einzelnen, die noch nicht im unmittelbaren Anerkanntsein gesetzt sind. Sie ist einerseits die Verbindung aus dem natürlichen Gefühl, andererseits die unmittelbare Wechselanerkennung von jedem getrennten Einzelnen, solange er für die Verbindung, für das Allgemeine da ist. Die Verwandten, d. i. schon Verbundenen, können weder verbunden noch können die schon unter sich 88 Siehe S. 184-185. Auch GPR, § 75, 161-169. HH, S. 386. 289 Anerkannten voneinander anerkannt werden. Diese strenge Verweigerung der Verwandtenehe, die bis heute noch nicht in Kraft gesetzt ist, müsste aber nicht als eine unrealistische, sondern als ein Hinweis auf die Grenze eines solchen positiven Gesetzes und als Nachdruck auf das Wesen der Ehe als des Gesetzes verstanden werden. Der Grund für die Ehe als das Gesetz liegt für Hegel nicht als Gesetzgeber, sondern als Philosophen, darin, dass sie die Vereinigung aufgrund der durch die Liebe motivierten, freiwilligen “Einwilligung” von beiden selbstständigen, also getrennten und ausschließlichen Personen ist, insofern die Personen selbst dadurch zu einem Ganzen, zu einem Allgemeinen, gelangen und als im Allgemeinen daseiend unmittelbar anerkannt werden. Dies unmittelbare Anerkanntsein ist der Rechtsbegriff oder Rechtsgrund, und dessen unmittelbares Dasein ist die geschlossene Ehe, deren Bestand eben vom Gesetz der Ehe versichert ist. Interessant ist, dass in der Einwilligung der beiden auch die Einwilligung ihrer Familien enthalten ist. Insofern jeder nach der Bewusstseinslehre nur in der eigenen Familie zur Person an sich geworden ist, braucht er zugleich als ein Familienmitglied auch die Einwilligung seiner Familie. Seine Familie charakterisiert sein natürliches Dasein als der Person. Die Ehe ist daher eben die “Vermischung der Persönlichkeit, und Unpersönlichkeit des Natürlichen”, gleich wie die Zweiseitigkeit der Verbindung durch die Liebe. Sie ist als Natürliches eine göttliche Vereinigung und als Persönliches eine geistige in ihrer Natürlichkeit. Sie ist nämlich zum einen eine “religiöse Handlung”, zum anderen “eine bürgerliche”. Und gerade aus diesem Grunde kann sie nicht nur vom Kirchenrecht abhängig sein. Als bürgerliche Handlung muss sie nicht zuletzt “vor das Gesetz” der Bürger treten, das seinerseits als ihr reiner Wille, als ihre Freiheit von aller Einzelheit und Natürlichkeit bestehen muss (J III.239). Also gelangt die freie Lebendigkeit ihrer Liebe durch das Wechselspiel mit dem reinen Gesetz zum reinen Wollen, die Ehe zu erklären. Sie vermitteln durchs Gesetz ihr unmittelbares Dasein mit ihren reinen Willen, mit ihrer Person selbst, eben mit ihrem Rechtsbegriff. Das Gesetz bezüglich der Ehe tritt zuerst von Seiten des reinen Wollens beider zwar als die Versicherung desselben auf, aber darf nicht bloß in dieser Reinheit bleiben, insofern ihr Leben, obzwar nach ihrem reinen Willen, doch realiter nach ihrer lebendigen Freiheit geführt wird. Das Gesetz, das lediglich am reinen Willen festhält und die Ehescheidung als nicht zu gestatten ansieht, ist bestenfalls nur einseitige und “unlebendige Allgemeinheit”. Im Eheleben können viele Probleme nach der Individualität eines jeden geschehen, also muss das einmal durch die Ehe erfüllte Gesetz auch die “freye Lebendigkeit” der Ehe berücksichtigen. Aber damit sind nicht gemeint die detaillierten Bestimmungen des Gesetzes über die konkreten Bedingungen des 290 Ehelebens, sondern es muss nur auf den positiven und aktuellen Willen eines jeden eingehen, seine Ehe bestehen oder nicht zu lassen. Wie die Ehe vor dem Gesetz nicht durch das Eheversprechen, den Beischlaf u. a., 89 sondern schlechthin “durch den erklärten Willen, das Aussprechen” geschlossen wird, so können “Ehbruch”, “bösliche Verlassung”, “Unverträglichkeit” der Gemütsart, “schlechte Wirtschafft”, u. a. kein direkter Grund für die Ehescheidung sein, sondern entscheidend ist eben der Wille der Eheleute, diese Elemente für einen solchen Grund zu halten und demnach ihre Ehe aufzulösen (J III.240). Das Gesetz muss hier nach ihrem Willen des Dafürhaltens auftreten und Rücksicht darauf nehmen, ob der Inhalt des Dafürhaltens realiter und an sich so oder nicht ist.90 Wie in Bezug auf die Ehe muss das Gesetz auch über das Familiengut den Willen des Einzelnen am meisten respektieren. Wie die Ehe selbst zweiseitig ist, so ist der Einzelne in der Ehe einerseits als unmittelbar anerkannt durch seinen Willen und seine Tätigkeiten für diese Verbindung, d. i. als Person, andererseits als unmittelbar lebend in der Familie, als natürliches Ganzes, d. i. als “nur eins mit der Familie”. Das Fundament seines unmittelbaren Daseins in der Familie ist das Eigentum, das aber nicht ihm als dem Einzelnen, sondern der Familie selbst gehört. Es ist das “Familiengut”, weil er nur in der Einheit mit der Familie als Person da ist. Die Familie ist notwendig für das Dasein des Einzelnen als der Person, während sein unmittelbares Dasein der Person zufällig für die Familie oder nämlich allein von seinem Willen für die Familie abhängig ist. Also, wenn er auch stirbt, bleibt die Familie, solange ein anderes Mitglied am Leben ist. Damit bleibt auch das der Familie gehörige Eigentum, das Familiengut, weiter bestehen. Das Familiengut in diesem Fall ist die “Erbschafft”, die über Geburt und Tod eines Einzelnen hinaus das Dasein aller als Person in der Familie objektiv garantiert. Den Grund des Erbens enthält Hegel zufolge das Familiengut selbst. Denn dies hat der Einzelne nach seinem reinen Willen für die Familie angeschafft. Es ist in diesem Sinne auch das Eigentum des Einzelnen als der reinen Person. Hierin ist sein Wille allgemein und gültig im Familiengut, ferner in der Erbschaft, obzwar der Einzelne stirbt. “Sein erklärter Willen” als der reinen Person über sein Eigentum oder Familiengut ist der Grund des Erbens (J III.241). Entscheidend ist es hier nicht, ob er am Leben oder tot ist, sondern lediglich sein reiner Wille, das Familiengut bestehen zu lassen. Er ist weiterhin gültig, gleichsam wie im Vertrag, der noch besteht, falls dessen Wille ohne sein Leben erfüllbar ist. Aber Hegel sieht, anders als in diesem Vertrag, das Leben des Empfängers 89 Siehe S. 189-190. Nach dem Zusatz von Eduard Gans zur Rechtsphilosophie müssen aber ‘die Gesetzgebungen’ andererseits die ‘Möglichkeit’ der Ehescheidung ‘auf höchste erschweren und das Recht der Sittlichkeit gegen das Belieben aufrechterhalten’. GPR, § 165, Zusatz. 90 291 als notwendig für die Erbschaft an. Im Vertrag kann die Stelle des toten Empfängers z. B. aufgrund seiner Identität mit der Familie von einem anderen Familienmitglied vertreten werden. Hingegen im Fall der Erbschaft macht die Abwesenheit des lebendigen Empfängers die Vermittlung der in der Familie anerkannten reinen Person mit ihrem unmittelbaren Dasein unmöglich. Die reine Person, die unmittelbar weder da noch realisiert ist, oder ihr reiner Wille ist gleich Unperson ohne Willen, und die Erbschaft, die das Dasein eines vorhandenen Mitgliedes nicht konstituiert, ist Gut ohne Familie oder gebundenes Ding ohne Herrn. Das Gesetz muss daher den Willen des Vererbers möglichst bestimmt konkretisieren lassen, möglichst streng ausführen, damit er realisiert und dadurch respektiert wird. Das Gesetz, das schließlich bezüglich der Kinder kurz gefasst ist, ist über den Inhalt des Willens “ebenso unbestimmt”. Denn das Kind selbst ist auch eben die Zweiseitigkeit von der Persönlichkeit und der natürlichen Unpersönlichkeit im Sinne des Werdens zur Person. Sein Wille ist also für es zugleich ein eigener unmündiger und ein noch zu bildender fremder, und die “Vermischung” dieser beiden ist hier das Gesetz. Also im Gesetz über Kinder muss zum einen “ihre Mündigkeit” bestimmt werden. Diese bestimmte Mündigkeit im positiven Gesetz ist angesichts des Abschlusszeitpunkts ihrer persönlichen Bildung noch “unbestimmter”. Zum anderen ist auch für ihre demnach bestimmte Unmündigkeitszeit “die Vormundschafft” im Gesetz zu bestimmen. Ihr erster Vormund ist allerdings ihre Familie, deren Unvollständigkeit durch “die Aufsicht des Gesetzes” ergänzt wird (J III.242). Die Aufsicht des Gesetzes hier heißt eben eine solche Aufsicht allein nach dem reinen Willen der Eltern darüber, ob dieser durch die Erziehungsanstalten des Staates u. a. richtig realisiert wird. Welche Anstalt, welches System u. a. auszuwählen ist, ist ganz zufällig und steht lediglich dem Familienwillen zur Verfügung. Hier wird nämlich der Familienwille bis zur Mündigkeit der Kinder auch am meisten respektiert. 2.4.2. Eigentumsgesetz Der zweite Bereich, in dem das Gesetz gesetzt wird, ist das Eigentum des Einzelnen in der Gesellschaft. Die Gesellschaft hat hier noch den Charakter der Volksgemeinschaft, aber das, was die Gemeinschaft begründet, wird nun nicht als Volk, sondern als Staat hervorgehoben. Der Volksbegriff, der im unteren dritten Bereich des Gesetzes nur einmal als “das lebendige Volk” ausgedrückt (J III.249-250) ist, ist de facto ‘durch den 292 Begriff des Staates abgelöst’,91 der schon in diesem zweiten Bereich erwähnt ist. Dies ergibt sich aus Hegels Reflexion, dass das Volk als die subjektive Grundlage der Gemeinschaft ohne politische Objektivierung des allgemeinen Willens, d. i. ohne institutionelle Entelechie nichts mehr als die natürliche, organische Substanz sein kann. Daher wird der Volksgeist, von dem im unteren Staatsteil der zweiten Geistesphilosophie noch gesprochen wird (J III.254), später in der Rechtsphilosophie den systematischen Ort völlig verlieren, stattdessen tritt der Geist als objektiviert im System des Staates auf.92 Damit wird der Volksbegriff in den Begriff des Bürgertums als der politischen Einheit des Staates absorbiert, die nicht den Sinn von bourgeois, sondern von citoyen hat, wie auch bereits in der zweiten Jenaer Geistesphilosophie betrachtet. Daher bleibt Hegels Gesellschaftsbegriff auch später noch ein Implikat der Volksgemeinschaft. D. h. die bürgerliche Gesellschaft des reifen Hegel bedeutet nicht nur société bourgeois im geschichtlichen Sinne, sondern auch nach ihrem Zweck die Gesellschaft von Bürgern als Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft, die zusammen den allgemeinen Willen bilden und ihn im Staat verwirklichen.93 In diesem Sinne bezieht sich das Gesetz über das Eigentum hier im Grunde genommen auf das Dasein des Einzelnen in der Gesellschaft im Sinne der Volksgemeinschaft, die dann ihrerseits selbst wiederum das Dasein im Staat hat, also auf das Gesetz über Rechtspflege, Prozess und Strafe bezogen wird. D. h. das Gesetz bezüglich des Eigentums ist die Vermittlung der gesellschaftlich daseienden Person mit der Person selbst oder ihrem Rechtsbegriff. Zu achten ist hier aber vor allem darauf, dass der Einzelne zu Beginn noch nicht als citoyen, sondern zunächst als unmittelbar anerkannt in der Familie, also als die ganze Familie, die für ihr wirkliches Dasein Eigentum braucht, zum Vorschein kommt. Das unmittelbare Dasein des Einzelnen in der Familie ist zufällig und vergänglich. Das Gesetz seines unmittelbaren Daseins als Anerkanntseins darin hingegen drückt nicht diese Zufälligkeit, sondern die geistige Notwendigkeit vom Willen des Einzelnen als der ganzen Familie, vom Willen der Eltern, also vom Familienwillen aus. Das Gesetz als dies Gesetz des Willens verschwindet nicht zusammen mit dem Tod der Eltern, die 91 HH, S. 171. HH, S. 390. Als Ursachen des Verzichtes auf den Volksgeistesbegriff zählt Jaeschke Hegels ‘systematische Orientierung am Willensbegriff statt am substantialen Sein’, die ‘stärkere Verrechtlichung’ und ‘organische Strukturierung’ ‘der politischen Sphäre’ und die ‘Distanz’ zur damaligen romantischen ‘Forderung nach einem Nationalstaat’ auf. 93 Weisser-Lohmann hebt zumeist die letztere Seite der bürgerlichen Gesellschaft hervor. WeisserLohmann, Elisabeth: „Divide et impera“, HS 28, S. 213. Aber die erstere Seite derselben zunächst als der Kampfplatz der egoistischen Einzelinteressen darf auch nicht vernachlässigt werden. In dieser Hinsicht ist sie ‘die geschichtliche Wirklichkeit’ des vom neuzeitlichen Naturrecht nur als fiktiv aufgefassten ‘Naturzustands’. HH, S. 387. 92 293 mündige und anerkannte Personen in der Familie sind. Sondern wie die Familie das Dasein ihrer reinen Person als das Eigentum hat, so wird das Gesetz ihres Willens positiv gesetzt und tritt dadurch “als das Daseyn auf”. Dies positive Dasein des Gesetzes ist eben vom “Staat” verbürgt. Das im Staat daseiende Gesetz ist nun “das wirkliche Gelten des Eigenthums, Element des wirklichen Daseyns, durch das Wollen aller”. Es ist das Gesetz des Willens aller, dass jeder auf sein eigenes Eigentum angewiesen wirklich da sein können muss. Wie die Familie “die Substanz und Nothwendigkeit” des Daseins des Einzelnen als Anerkanntsein ist, so garantiert das Gesetz auch dasselbe Dasein des Einzelnen in der Gesellschaft, und zwar, obwohl seine “Familie gestorben” ist. Das Gesetz ist die Familie jedes Einzelnen in der Gesellschaft, insofern er lediglich “als Einzelner auftritt”. Es ist “die bewußtlose Vormundschafft” dafür, dass der Einzelne in der Gesellschaft im gleichen Verhältnis zu seinem Eigentum, wie im Verhältnis der Familie zum Familiengut, als anerkannte Person wirklich da sein kann. Die Vormundschaft des Gesetzes ist aber zuerst bewusstlos, indem der Einzelne es noch nicht als die Entelechie seines allgemeinen Willens in der politischen Gemeinschaft, im Staat begreift, sondern nur in Bezug auf sein Eigentum einfach kennt. Das Gesetz in diesem Moment ist zunächst “das allgemeine Recht” jedes Einzelnen auf “das Eigentum überhaupt”, das “bey seinem unmittelbaren Besitz, Erbschafft und Tausch” unterschiedlich auftaucht. Und der Einzelne, der so als die ganze Familie sein Eigentum erwirbt, dafür arbeitet und tauscht, ist daher auch zuerst nicht citoyen, sondern Bürger im allgemeinen Sinne vom Eigentümer. Des Weiteren, weil er sein Eigentum realiter in verschiedener und ganz freier Weise bekommt, ist sein allgemeines Recht noch nur erst ein solches “formales”, “daß ihm gehört, was er bearbeitet, und was er eintauscht” (J III.242). Eben wegen dieser formalen Allgemeinheit seines Rechts auf Eigentum wird der Einzelne aber bei seinen rechtlich freien Erwerbstätigkeiten aufgeopfert und aufgehoben. Das Gesetz bezüglich des Eigentums ist das allgemeine Recht, das Vielfalt des Eigentums des Einzelnen formell als das Eigentum überhaupt garantiert. Es wird nicht von außen her in die Gesellschaft eingeführt, sondern ist selbst die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Daseins des Einzelnen als der anerkannten Person, indem er in der Gesellschaft nur von seinem Besitz abhängig da sein, d. i. leben, aber sein Besitz nicht in besonderer Gestalt von Grundstück, Produkten, Erbschaft u. a., sondern nur als Eigentum überhaupt von der reinen Person gesellschaftlich anerkannt werden kann. Der Einzelne in der Gesellschaft ist eine solche Person, die als auf ihr Eigentum im Allgemeinen angewiesen daseiend anerkannt ist. Aber die Notwendigkeit des Einzelnen ist zugleich die Notwendigkeit seiner Aufhebung. Denn er arbeitet nun nicht für die 294 Erlangung irgendeines bestimmten Gegenstandes, sondern seines allgemeinen Eigentums. “Das Allgemeine” seines Eigentums ist zum einen die “reine Nothwendigkeit” seiner Arbeit, zum anderen die “bewusstlose” Grundlage seiner gesellschaftlichen Existenz. D. h. die Gesellschaft, in der die Arbeit jedes Einzelnen für das Allgemeine ganz frei verrichtet wird, ist nun für ihn nichts anderes als “seine Natur”, deren Elemente als Arbeiten aller Anderen blind bewegend, daher unvoraussehbar sind. Das Allgemeine des Eigentums ist in concreto der Wert im Arbeitsprozess und die Arbeit dafür die “abstracte Arbeit”. Hieraus werden die vorher erläuterten, negativen Wirkungen wiederum erwähnt wie die Verringerung des Arbeitswertes gemäß dem Produktionsanstieg, die Arbeitsteilung und die Mechanisierung durch die Abstraktion der Arbeit, die einseitige Vereinfachung und Paralysierung der Menschenarbeit durch die Maschinenarbeit, die plötzliche Verelendung einer Arbeitermenge in einem gewissen Industriezweig wegen der neuen Mode oder wegen der Erfindung einer anderen Geschicklichkeit u. s. w. Bemerkenswert hier ist vor allem, dass Hegel die Seite des Konsums mit berücksichtigt. Die Arbeit ist im Wesentlichen die Tätigkeit für das Erwerben des begehrten Gegenstandes. Das Bedürfnis nach einem Gegenstand veranlasst nämlich die Arbeit. Aber nun wird diese Beziehung umgekehrt. Die Vermehrung der mannigfaltigen Produkte mit dem erniedrigten Preis macht auf der einen Seite den Kauf und Gebrauch immer leichter, “vervielfältigt” demnach Bedürfnisse. Andererseits führt die Arbeitsteilung auch die Teilung des begehrten Gegenstandes, einen neuen begehrten Gegenstand der Teilarbeit herbei. Z. B. für den gut mit einem Korken verschlossenen Wein ist ein guter Korkenzieher nötig. Auf diese Weise wird jedes einzelne Bedürfnis “in mehrere abgetheilt”, und damit wird der Geschmack vom komplexen Gebrauch “verfeinert”. Dies motiviert die Produktion eines neuen Anhängsels für den leichteren Gebrauch des zuerst begehrten Gegenstandes, und dieser Prozess wiederholt sich unablässig. Der Einzelne wird dadurch von einem nur natürlich Genießenden zum Konsumenten gebildet, und auch durch den freien und zufälligen Gebrauch relativ vieler Einzelner wird “die Mode” erzeugt. Diese Einsicht Hegels gibt einen reichen Wink für die Beförderungsmöglichkeit der Produktion und der Kapitalzirkulation durch die künstliche Manipulation von Bedürfnis und Konsum. 94 Ihm zufolge ist die 94 Auch Marx sieht die Konsumtion als Produktion ein, nicht nur als die der Arbeitskräfte und des Bedürfnisses nach neuer Produktion, sondern auch als ein Teil der Produktion selbst, die die Konsumtion, d. i. Gegenstand, Weise und Trieb der Konsumtion, produziert. Aber die Konsumtion in dieser Hinsicht ist in seinem Kapital nicht unmittelbar werttheoretisch analysiert, sondern nur erst als die Mittel der Kapitalzirkulation, als ‘der abschließende Akt’ der Produktion des Produkts durch Produzenten behandelt. Über diese erst heute verschärfte, produktive Funktion der Konsumtion, deren Analyse mit dem Begriff nicht vom rein ökonomischen, sondern vom sozial-ökonomisch-politischen Wert, wie von Prestige, 295 Verfeinerung des Geschmacks de facto nur die Vereinfachung durch Zerlegung in dessen Teile, die der Abstumpfung des Einzelnen durch die Abstraktion der Arbeit entspricht. Der Konsum ist nur eine freie und formelle Verknüpfung der vereinfachten Teilgeschmacksrichtungen. Das “erfüllte selbstbewußte Leben” oder die “Krafft des Selbsts”, das seinen begehrten Gegenstand völlig beherrschen und umfassen kann, darf nicht von einem solchen Konsum abhängen, sonst würde das Selbst damit immer mehr auf die Konsumfähigkeit eines Teiles des Gegenstandes beschränkt oder lediglich erst als Gesamtheit dieser Fähigkeiten bestehen können. Sein Leben würde nach der Mode des Konsums die leere und formelle Verbindung der Konsumtionen sein, deren er fähig ist. Aber die Mode ist nichts mehr als “die Freyheit im Gebrauche” nicht des begehrten Gegenstandes selbst, sondern nur “der Formen” desselben. Diese Formen sind unbeständig, zufällig und ihrem Gegenstand akzidentiell zugehörig. Die Mode ist nur untergeordnete Schönheit, die ihren Gegenstand verziert und Trieb, Begierde danach reizt. Die zugehörige Schönheit als “die Zierrath eines Andern” ist “keine freye Schönheit” im wahren Sinne (J III.244). Hierauf kann das gesellschaftliche Dasein des freien Einzelnen ganz und gar nicht beruhen. Dennoch kann der Einzelne auch nicht mühelos aus diesem Verhältnis der formalen Verallgemeinerung heraustreten. Außerdem ist auch darauf zu achten, dass Hegel gegenüber der Polarisierung von Reichtum und Armut das Eingreifen der Staatsgewalt unter der Versicherung der “Freyheit des Gewerbes” für unausweichlich hält. Wegen der zufälligen Faktoren oder der feineren Arbeitsverteilung wird der Reichtum immer mehr auf einen Punkt angehäuft, damit gerät die sonstige Bevölkerung in hilflose Armut. Diese notwendig bewirkte Ungleichheit ist für den Einzelnen völlig zufällig, zerreißt seinen Willen im höchsten Maß und ruft “innre Empörung und Haß” in ihm hervor. Dies bedeutet nichts anderes als die völlige Zufälligkeit des gesellschaftlichen Daseins des Einzelnen. Dies entspringt zum einen daraus, dass der Einzelne sich selbst, also seine Arbeit als unmittelbar anerkannt in der Gesellschaft ebenfalls unmittelbar verallgemeinert. Die unmittelbare Verallgemeinerung eines Einzelnen kann nichts anderes als die Verallgemeinerung durch die Abstraktion vom Einzelnen selbst sein. Der Einzelne wird mit dem Verlust seiner konkreten Eigenschaften in ein Allgemeines nivelliert und als ein Teil des Allgemeinen quantifiziert, weil das in dieser Weise durchschnittliche Allgemeine nichts außer dem quantitativen Begriff sein kann. Also wird die konkrete Arbeit des Einzelnen in die abstrakte, der Gebrauchswert seiner Produkte in den Tauschwert verwandelt. Insofern der Einzelne als anerkannt auch gesellschaftlich da Zeichen, Kredit u. s. w. versucht wird, siehe Baudrillard, Jean: The Consumer Society, insbesondere S. 49-98. Marx, Karl: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie MEW 13, S. 622-626. 296 sein muss, ist dieser Prozess des Gewerbes für sein Dasein notwendig. Diese Notwendigkeit ist zugleich die Zufälligkeit seines Daseins und “ebenso die erhaltende Substanz desselben”. Zum anderen ist dieser Widerspruch auch der Widerspruch des Gesetzes über das Eigentum als Gesetz seines Daseins. Dies Gesetz als das allgemeine Recht auf das Eigentum überhaupt gewährleistet das gesellschaftliche Dasein des Einzelnen als der anerkannten Person. Aber es ist nur ein formales Recht auf das gerecht erhaltene oder erhältliche Eigentum, nicht auf das Erhalten des Eigentums selbst. Es versichert nicht unmittelbar das gesellschaftliche Dasein der Person, sondern lediglich dessen Möglichkeit, die durch das freie Gewerbe eines jeden realisiert wird. Es ist daher selbst unvollkommen und ungenügend für die Stabilität des gesellschaftlichen Daseins eines jeden, ferner der Gesellschaft im Ganzen. Gerade aus diesen Gründen muss die Staatsgewalt möglichst ohne “Schein der Gewalt” “ins Mittel treten”, “daß jede Sphäre” der Gesellschaft “erhalten werde” (J III.244). Als mögliche Maßnahmen zählt Hegel einerseits das Aufsuchen des neuen Absatzgebietes, das Behindern oder Handikapen einer zu sehr betonten Profitabilität für das faire Geschäft, andererseits Armentaxen, Armenanstalten usf. auf.95 Nicht nur für diese ordnenden Rollen, sondern auch für die Erhaltung einer solchen Staatsgewalt selbst sind ferner Abgaben als “ein allgemeines Gut” “des Ganzen” nötig. Für das Abgabensystem zieht Hegel den direkten Abgaben über den festen Privatbesitz wie Grundstücke oder Domänen die “allenthalben” und “unscheinbar” eintreibbaren indirekten, vor. Dieses Eingreifen der Staatsgewalt scheint von Hegel äußerlich eingeführt zu sein.96 Aber betont ist hier nicht sowohl der Staat als vielmehr dessen Gewalt als die Macht des Rechts. Das Gesetz muss das Gesetz des gesellschaftlichen Daseins der Person nach ihrem Rechtsbegriff sein. Das Gesetz bezüglich des Eigentums garantiert zwar die Möglichkeit ihres Daseins nach ihrem freien Willen, aber nicht die Wirklichkeit dieses Daseins selbst. Nur auf das Eigentumsrecht angewiesen kann nicht jede freie Person zum wirklichen Dasein gelangen. Das Gesetz muss daher auch eben das Gesetz dieses wirklichen Daseins der 95 Hegel ist ‘kein Anhänger einer aus „abstrakt” liberalen Grundsätzen abgeleiteten unbeschränkten Gewerbefreiheit’. Lübbe-Wolff, Gertrud: Hegels Staatsrecht als Stellungnahme im ersten preußischen Verfassungskampf. ZPF 35, S. 495. Er ist auch kein Anhänger allseitiger Planwirtschaft, um das Besondere des individuellen Lebens unter die Allgemeinheit des Ganzen zu subsumieren. Losurdo, Domenico: Logik, Politik und soziale Frage: Hegelsche „Rechte“und Hegelsche „Linke“ in Die Folgen des Hegelianismus, S. 280-285. 96 Riedel sieht den Staat hier als ‘Deus ex machina’ eingeführt an. Riedel, Manfred: Zwischen Tradition und Revolution, S. 135-136. Aber dieser als die Gewalt erscheinende Staat ist eben der “Not- und Verstandesstaat”, der in der Rechtsphilosophie als das bürgergesellschaftliche System allseitiger und äußeren Abhängigkeit mit den Aufgaben der Aufsicht über dieses System, der Rechtspflege und der Polizei auftritt. Schon nach den Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft (1817/18) soll der Fichtesche Notstaat mit der übermäßigen Polizeigewalt in Schranken gehalten und in die Substanz des innerlich konstituierten, sittlichen Staates zurückgeführt werden. GPR, § 183. VNS, § 119, 128. 297 Person sein. Dafür kann es nicht umhin, selbst das wirkliche Dasein zu werden, das eben das allgemeine Gut des Ganzen aus Abgaben ist. Dies Gesetz gründet sich zum einen auch auf dem Rechtsbegriff, dass jede freie Person gesellschaftlich da sein können muss. Als dies Gesetztsein des Rechts selbst muss es, zum anderen, das selbst wirkende Gesetz sein. Die Wirkung des Gesetzes ist unmöglich außer in der Gestalt der Gewalt, die aber nicht von Einzelnen, sondern vom allgemeinen Willen aller herkommt. Die Gewalt des Gesetzes kann für den Einzelnen nicht anders als die Staatsgewalt erscheinen. Nur in diesem Sinne redet Hegel vom Eingreifen der Staatsgewalt, dessen Zweck lediglich in der Versicherung des wirklichen Daseins der Person nach ihrem Recht selbst liegt. Und gerade deshalb muss das Eingreifen ihm zufolge möglichst unscheinbar und allgemein, möglichst nicht vom Besitz der Privatperson, sondern aller abhängig sein.97 In der Gesellschaft ist der Einzelne noch nicht zum Allgemeinen des Rechts gebildet. Er will nur nach seinem Recht frei, d. i. nach dem gemeinsamen Willen im freien Tausch, Vertrag u. a., bestehen. Aber dieser einzelne Wille, nach der Allgemeinheit des formalen Rechts als anerkannt zu bestehen, enthält bekanntlich Momente der Aufhebung des Einzelnen selbst. Die daraus herbeigeführte allseitige Instabilität des Daseins aller in der Gesellschaft leitet jeden zum Wollen des Daseins nicht des Einzelnen als Allgemeinen, sondern des Allgemeinen aller Einzelnen. Als das Bestehen dieses Allgemeinen tritt eben die Staatsgewalt auf. Diese ist nicht Gewalt vom Staat her, sondern Gewalt des allgemeinen Willens aller bis zum Staat. Die hier erwähnte Staatsgewalt lässt sich daher schließlich auch als ein Ausdruck der Bildung des Einzelnen zum Allgemeinen des Rechts innerhalb der Gesellschaft selbst ansehen. Diese Bildung wird auch vor allem in der Rechtspflege und dem Prozess durchgeführt, wo das gesellschaftlich nicht beachtete und realisierte Recht selbst durch und als die Gewalt des Staates durchgesetzt wird. 2.4.3. Gesetzliches Bestehen des Einzelnen 2.4.3.1. Privatrechtsstreit Das dritte und letzte Moment des Gesetzes ist das Bestehen oder Werden des Einzelnen in oder zu der Gerechtigkeit des Gesetzes. Dies Bestehen bzw. Werden muss auf der einen Seite vom Einzelnen selbst erwiesen werden, andererseits muss das Gesetz selbst 97 Rosenzweig sieht Hegels ‘Forderung des steuerpolitischen Liberalismus’ bereits im System der Sittlichkeit. HStaata, S. 152-153. SE, S. 355-356. Rosenkranz berichtet auch über Hegels Interesse in der Frankfurter Zeit an der Armentaxe in England. HLeben, S. 85. 298 auch als der Maßstab des Erweises, nämlich als Vielfalt von positiven Rechten98 da sein. Denn das gesellschaftliche Dasein des Einzelnen mit Besitz, Geschicklichkeit, Verstand u. a. ist sehr zufällig, und seine Vermittlung mit dem Recht selbst bei Arbeit, Tausch, Vertrag u. a. ist daher auf diese Zufälligkeit beschränkt. Der Einzelne aber nimmt dem Wesen nach auch “als allgemeiner”, als anerkannte Person an diesen zufälligen Tätigkeiten teil. Er hat da “als Eigenthum überhaupt besitzend” das allgemeine, aber formale und “abstracte Recht” darauf (J III.245). Aber weil die Vermittelung der einzelnen und zufälligen Tätigkeiten mit dem abstrakten Recht also manchmal unvollkommen sein kann, entsteht unvermeidlich der Rechtsstreit. Der Einzelne muss seine konkrete Anwendung des Rechts auf seine gesellschaftliche Tätigkeit als rechtlich beweisen können, und dieser Beweis muss auch objektiv beurteilbar sein. Der Beweis von seiten des Einzelnen wird durch das Gesetz über den Prozess gewährleistet, und das Urteil von seiten des Gesetzes selbst als die Rechtspflege gefällt. Das Urteil ist die Anwendung des Gesetzes durch das Gesetz selbst auf die Tätigkeit des Einzelnen. Dafür muss das Gesetz ebenfalls auch selbst als das wirkende Dasein, d. i. in der Gestalt der Gewalt bestehen. Diese Gewalt des Gesetzes ist eben “die richterliche Gewalt”, die auch als Staatsgewalt auftritt.99 Sie setzt sich aus zwei Hauptelementen, d. i. Rechtspflege und Prozess, zusammen. Hegel scheint hier plötzlich bezüglich der Vertragslehre den Staat als die Grundlage der richterlichen Gewalt zur Darstellung zu bringen. Aber während die richterliche Gewalt die Gewalt des wirkenden und anwendenden Gesetzes ist, ist das darin angewendete Gesetz doch nicht einfach das Gesetz selbst als das positive Recht, sondern nach seinem Wesen, nach dem Recht an sich. Also muss das 98 Aber die Kodifikation besteht bei Hegel nicht allein aus positivem Recht, sondern auch aus Gewohnheitsrecht. Sie ist einerseits zwar notwendig für den Ausdruck des Daseins des sich in der Geschichte entwickelnden Volksgeistes als Recht, d. i das Selbstbewusstsein des Volksgeistes, aber das Recht zum Ausdruck zu bringen gehört andererseits zur empirischen Bearbeitung. Eben deshalb ist kein Gesetzbuch vollkommen und unabänderlich. Vor allem wichtig für Hegel ist die ‘förmliche Erhebung des Rechtes zum Gesetz’ als die größte Wohltat der Herrscher. Aber weil diese Erhebung gemäß der Entwicklung des Volksgeistes empirisch und abänderlich durchgeführt wird, thematisiert er sie rechtsphilosophisch nicht ausführlich. HH, S. 389, 391-392. Jaeschke, Walter: Die Vernünftigkeit des Gesetzes HR, S. 246-256. GPR, § 214. Siehe auch Aristoteles: Politica, 1269a. Aus diesem Grunde ist auch darauf zu achten, dass Hegels Beispiele des Rechts in seiner rechtsphilosophischen Darstellung, insbesondere die Todesstrafe für den Mord als ein Beispiel für das Vergeltungsmoment des Strafrechts, weder im zu strengen Sinne noch im Kontext der realen Gesetzgebung interpretiert werden darf. 99 Die richterliche Gewalt, die später in Hegels Gewaltenteilungslehre als der ausübenden Gewalt der Regierung zugehörig aufgestellt wird, hat aber Siep zufolge auch Unabhängigkeit von äußeren Einwirkungen durch viele Maßnahmen, wie für die Rechtsprechung die ‘wissenschaftliche Ausbildung, die Zugehörigkeit zu einem Stand’ ‘der Allgemeinheit’, ‘eine vertikale Gewaltenteilung bei der Einsetzung von Richtern’, deren einer Teil zumindest ‘durch Kommunen und Bürger selber bestimmt werden’ soll, und für die Rechtspflege ‘Geschworenengerichte, Öffentlichkeit, Mehrheit der Instanzen, Kollegialität sowie funktionale und materielle Unabhängigkeit der Richter’, u. a. Siehe Siep, Ludwig: Hegels Theorie der Gewaltenteilung, HR, S. 395-396. 299 Recht selbst auch als Macht bestehen, um die rechtliche Anwendung des Gesetzes selbst zu versichern. Daraus wird die Notwendigkeit des Staates als der Macht des Rechts hergeleitet. Aber das Bewusstsein der Einzelnen in der Gesellschaft ist noch nicht zu einer solchen Notwendigkeit gelangt. Diese ist allein die bestehende Notwendigkeit für die richterliche Gewalt. Nur in dieser Hinsicht redet Hegel hier vom Staat. Der Einzelne bezieht sich dagegen nur auf die richterliche Gewalt. Durch diese Beziehung wird der Staat auch zur Notwendigkeit des Bewusstseins. Die richterliche Gewalt ist das wirkende Dasein des Gesetzes nach seinem Wesen, dem Recht. Der Staat ist eben die daseiende “Macht des Rechts” selbst. Und wenn das Recht jedes Bürgers das Dasein seines frei wissenden Willens oder frei wollenden Wissens als die anerkannte Person ist, ist nun die Gewalt, in der dies Dasein selbst als das Gesetz unmittelbar wirkt, die richterliche Gewalt, und die Macht als die Wirklichkeit dieses Daseins eben der Staat. Mit einem Wort ist der Staat die daseiende Macht des Rechts der Bürger. Diese Macht des Rechts in der Anwendung durch die richterliche Gewalt ist z. B. “das Halten des Vertrags” oder “die daseyende Einheit des Worts, des ideellen Daseyns und der Wirklichkeit, so wie die unmittelbare Einheit des Besitzes und Rechts” oder das anerkannte “Eigentum” überhaupt “als allgemeine Substanz” in dem Sinne, dass der rechtlich anerkannte Besitz, d. i. die unmittelbare Einheit des Besitzes und Rechts, eben das Eigentum ist.100 Im Grunde genommen, auf die allgemeine Substanz angewiesen, erhält und behält der Einzelne als ihr Akzidentielles einen Besitz als sein unmittelbares Eigentum. Die allgemeine Substanz hat als die daseiende Macht des Rechts ein zweiseitiges Attribut. Sie ist zum einen als das Dasein der Macht “das unmittelbare Bestehen” jedes Eigentums, zum anderen als die daseiende Macht das wirkende, “allgemeine Gesetz” oder Recht selbst. Das allgemeine Gesetz ist für den Einzelnen zwar abstrakt, aber von ihm selbst als notwendig gewusst und gewollt. Das Wirken dieses Gesetzes heißt also “das Festhalten” des Gesetzes als “dieser Abstraction” für den Einzelnen “gegen den Einzelnen” selbst, “seine gewusste und gewollte”, aber noch leere, also durchzusetzende “Nothwendigkeit gegen ihn” und demnach selbst auch “die versuchte Ausgleichung dieser leeren Nothwendigkeit und seines Daseyns”. Die allgemeine Substanz ist als das Dasein der Macht also “das Bestehen” oder “der Schutz des unmittelbaren Eigenthums” jedes Einzelnen, d. i. das 100 Begrifflich zusammengefasst, auf der Seite des Ansich ist das Dasein des freien Willens das Recht, das wirkliche Dasein desselben mit der Macht oder das Dasein des Rechts als Macht der Staat, auf der Seite des Gesetztseins das Gesetztsein des Rechts das Gesetz, das wirkende Gesetz als das Gesetztsein der Staatsmacht die Gewalt des Gesetzes oder die richterliche Gewalt als eine Staatsgewalt, genauer gesagt eine Gewalt der Regierung. Wenn die daseiende Macht des Rechts als der Staat die allgemeine Substanz ist, hat sie das zweifache Attribut des unmittelbaren Bestehens des Gesetzes als der Gewalt und des unmittelbaren Wirkens desselben als des Allgemeinen. 300 Dasein selbst des allgemeinen Willens, und als die daseiende Macht eben “die Kraft aller Einzelnen”, d. i. des allgemeinen Willens selbst. Sie ist des Weiteren als die Einheit ihrer Zweifachheit auch “der Schutz des Vertrags, des erklärten gemeinsamen Willen” überhaupt bzw. “das Band des Wortes und der Leistung”. Und wenn das Wort nicht geleistet wird, tritt die richterliche Gewalt des Gesetzes als die Tätigkeit der allgemeinen Substanz bzw. der daseienden Macht auf, um dem Wort das Leisten folgen zu lassen. Die richterliche Gewalt ist die Anwendung oder Realisierung der daseienden Macht des Rechts, d. i. der Staatsmacht im Einzelnen. Daher ist zuallererst wichtig für sie die Erfüllung des Vertrags, während im Vertrag vor allem der einzelne Wille, einen gemeinsamen Willen zu bilden, wesentlich ist. Durch die einzelnen Willen entsteht zwar der Vertrag, dessen Wesen aber für die richterliche Gewalt ihr gemeinsamer Wille selbst ist. Im Vertrag gilt zwar nur der einzelne Wille selbst zum Leisten, der also noch nicht geleistet hat, “von der Unmittelbarkeit des Leistens” getrennt ist, aber für die richterliche Gewalt ist dies Dasein des einzelnen, kontraktlich besonderen Willens lediglich sein “unmittelbares”, mit dem Recht noch “nicht vermitteltes” Dasein. Dies Dasein des einzelnen Willens im Vertrag ist Sollen, das als Sollen selbst anerkannt ist. “Die Zweydeutigkeit des Sollens”, dass geleistet werden soll, also zuerst noch nicht geleistet, jedoch als solches anerkannt ist, verschwindet aber vor der richterlichen Gewalt. Denn während jeder Einzelne im Vertrag sich nur “seines gemeynten Rechts” auf ein Eigentum “entaüssert” hat, also die reale Überlieferung des Eigentums nach dem entäußerten Recht als ein Sollen, ein Gebot gilt, ist dieses Sollen, das nicht mehr als ein unvermitteltes Dasein ist, für die richterliche Gewalt nicht mehr gültig. Sondern gültig ist für sie vielmehr eben das mit dem Recht vermittelte Dasein des einzelnen Willens, das Vorhandensein des gemeinsamen Willens selbst. Dies ist nichts anderes als das Gesetz, weil das Gesetz das Gesetztsein des Rechts an sich im objektiven Dasein ist, nämlich das objektive Dasein, in dem das Recht an sich realisiert und gesetzt, oder das mit dem Recht an sich vermittelt und realisiert ist. Daher ist das, was im Vertrag das Sollen bzw. Gebot ist, für die richterliche Gewalt eben das “Gesetz, das Gewalt hat”, das wirkende Gesetz, um zu werden, was es ist (J III.246). Die Gewalt des Gesetzes ist zwar für den Einzelnen eine Strafe, aber für die richterliche Gewalt schlechthin nur die Verwirklichung des Gesetzes selbst. Diese ist nichts anderes als die Verwirklichung der Bedeutung des gemeinsamen Willens im Vertrag. Ich bin im Vertrag vom Anderen anerkannt, aber nicht nur als der einzelne Wille, sondern zugleich als der gemeinsame Wille selbst, als die reine Person, meinen Willen als den gemeinsamen zu setzen, weil dies Setzen bekanntlich unmöglich ist, außer dass ich selber zuerst der gemeinsame 301 Wille bin. Die Bedeutung des gemeinsamen Willens im Vertrag ist eben meine innere “reine Person”, die nach dem allgemeinen Willen als anerkannt da sein können muss. Diese reine Person ist eben das Gesetz, und deren Verwirklichung eben der Gegenstand der richterlichen Gewalt. Die Bedeutung des gemeinsamen Willens in allen Verträgen, ferner in allem gesellschaftlichen Verkehr ist die reine Person, deren Dasein als Anerkanntsein der allgemeine Wille ist. Das Gesetz erzwingt die Verwirklichung der reinen Person eben nach dem allgemeinen Willen, nach dem Recht der Person. Der Zwang des Gesetzes ist also nicht bloß Zwang gegen das Dasein des Einzelnen, sondern wesentlich gegen seine reine Person als Grund seines Daseins, oder gegen sein Dasein, insofern dies mit seiner reinen Person nicht vermittelt ist.101 Der Zwang des Gesetzes ist darüber hinaus nicht Zwang zur Verletzung, sondern zur Verwirklichung meiner Person, und sogar Zwang “meiner gegen mich selbst”. Er enthält nicht meine Unterwerfung, sondern nur “das Verschwinden” “meiner als Besondern, gegen mich selbst als Allgemeinen”, “als Macht des Gesetzes, das ich anerkenne”. Er ist die Erhaltung meiner Person “nicht nur in meinem Gedanken”, “sondern auch in meinem Seyn”. Aber damit der negative Zwang auf mich von mir als die positive Verwirklichung meiner selbst aufgenommen und gewusst wird, ist auch “die Bildung” nötig, mich im Allgemeinen des Gesetzes anzuschauen (J III.247). Diese Bildung wird einerseits durch die Erziehung der Familie und der Gesellschaft durchgeführt, andererseits auch vom Einzelnen selbst eben in der Rechtspflege und dem Prozessgang. Die Notwendigkeit der Rechtspflege und des Prozesses entspringt aus der trotz des Zwangs des Gesetzes entstehenden Zufälligkeit des zu leistenden Inhalts. Der Zwang des Gesetzes überwindet nur die Zufälligkeit des Leistens selbst durch den Einzelnen. Doch die Zufälligkeit des zu leistenden Inhalts lässt sich Hegel zufolge in drei Hinsichten nicht völlig überwinden. Der Inhalt kann und muss zunächst nicht durch das abstrakte Gesetz selbst, sondern dessen vereinzeltes Gesetz konkret bestimmt werden. Das “Allgemeine” des Gesetzes ist “hier unmittelbar aufs Besondere” des Leistungsinhalts so angewendet, “daß das letztere bestehen soll”. Daraus entsteht aber “die schlechte Unendlichkeit” unausweichlich. Denn wenn die einzelnen Gesetze immer bestimmter werden, werden sie immer mannigfaltiger, demnach muss ein konkreter Fall “um so mehr zerlegt” werden. Umgekehrt, wenn sie möglichst vereinfacht werden, damit sich ein Fall auf nicht zu viele Gesetze bezieht, werden sie eher unbestimmter. Insofern die analytische Abstraktion der einzelnen Arbeit und die Vermannigfaltigung 101 Z. B. in der Todesstrafe als dem höchsten Zwang des Gesetzes wird also alle Zweiheit des gesellschaftlichen Daseins und der reinen Person als dessen Bedeutung aufgehoben. Die Todesstrafe ist die völlige Durchsetzung der reinen Person in ihrem Dasein, die insofern im Tod endet, als die Person des Einzelnen in ihrer Reinheit das Nichtdasein der Person selbst will. 302 des Vertrags unvermeidlich sind, bleibt dieses Dilemma bestehen. Außerdem erschwert die vergrößerte Mannigfaltigkeit der Gesetze das Wissen der Bürger davon. Und zwar ist dies noch schwieriger für die Richter, die alle Sachen der Bürger behandeln müssen. Letztlich ist auch die Fähigkeit der Richter, Gesetze immer angemessen anzuwenden, der Zufälligkeit ausgesetzt. Aus diesen Gründen ist die Einführung der Rechtspflege und des Prozessganges notwendig. Diese sind “die Ausführung des Rechts” selbst, in der jeder nötigenfalls sich im Allgemeinen des Gesetzes, in seinem Recht anschauen und verteidigen kann. Die Rechtspflege ist der “Schutz der Ausführung des Rechts” beider Parteien, und der Prozessgang die unmittelbare Ausführung des Rechts durch beide Parteien. Insbesondere der Prozessgang ist in einem gewissen Punkt “noch wesentlicher fast als die Gesetze selbst”, dass der Einzelne selbst in mannigfaltigen Gesetzen ein seinem Recht Angemessenes herausfindet und vertritt. Der Prozessgang, der zuerst hier im bürgerlichen Sinne erwähnt ist, muss aber nicht nach der Strenge des Gesetzes, sondern nach dem Willen des Einzelnen zum Prozess in Angriff genommen werden. Denn sonst würden eine Verlängerung der Prozessfrist und eine Vergrößerung der Kosten verursacht, welcher der Einzelne nicht gewachsen ist, und zuletzt würde der Prozess selbst unmöglich. Deshalb bringt Hegel auch die Beförderung der spontanen “Vergleiche” und die Einrichtung der “Vergleichscommissionen” in Vorschlag (J III.248) und hält auch eine Strafe für Prozesssüchtige und Rabulisten für nötig. 2.4.3.2. Strafrecht Das Gesetz, das nach dem Recht jedes Einzelnen wirkt, ist nun nichts anderes als die Macht des Rechts, das “als rein allgemeiner Willen” jedes Einzelnen wirklich da ist. Das Gesetz ist die “absolute Macht selbst” über das Leben jedes Einzelnen, durch die jeder zwar als ein besonderes Leben verschwindet, aber als ein Allgemeines, als ein Mitglied des allgemeinen Lebens beständig besteht. Jeder ist daher das sittliche Subjekt, das selber sich selbst mit dem Allgemeinen des Gesetzes vermittelt. Das Leben eines jeden selbst steht nun unter der Gewalt des Gesetzes. Diese Gewalt des Gesetzes in Hinsicht seiner absoluten Macht über das Leben selbst ist eben “die peinliche Rechtspflege”. Die peinliche Rechtspflege ist die Ausführung des Rechts als der Macht über alles, was das Bestehen selbst des Einzelnen bedingt und charakterisiert. Das Gesetz hier ist “das reine Leben”, das das Leben jedes Einzelnen ermöglicht, gründet und mit seiner Gewalt schützt. Es ist also “Meister” “über das Böse”, das das Leben verletzt und verunmöglicht. Es ist in seiner Wirkung aber auch “die Befreyung vom Verbrechen und die Begnadigung” für ein neues allgemeines Leben des Verbrechers. 303 Das wirkende Gesetz in der peinlichen Rechtspflege ist das Strafrecht, und das Subjekt, das sich mit dem Gesetz vermitteln muss, der Verbrecher. Der Verbrecher ist freilich nicht sittlich, aber nicht unrechtlich. Er ist eher ein solches Subjekt, das seine Vermittlung mit dem Gesetz durch seine völlige Aufhebung durchführt. Hier kommt Hegels große Einsicht in den objektiven Grund des Verbrechens ans Licht. Wenn der Zwang des Rechts, wie oben gesehen, die innere Quelle des Verbrechens ist, ist das Gesetz als die nach dem Recht wirkende Gewalt selbst bereits auch die objektive Quelle desselben. D. h. das Gesetz selbst kann nicht nur der Grund für die Sittlichkeit, sondern auch für die Unsittlichkeit sein. Daher kann die Gesetzlichkeit bzw. Rechtlichkeit oder, Kantisch gesagt, die Selbstgesetzgebung nach dem Gesetz des freien Willens kein alleiniger Grund für die Sittlichkeit sein. Hierfür ist also noch das Moment der wahren Wirklichkeit der Sittlichkeit notwendig. Denn das Verbrechen kommt Hegel zufolge eben von der rechtlichen Person her. Jeder Einzelne ist die “rechtliche Person”, d. i. die Person, die eigenes Recht nach dem Wesen des Rechts hat. Nach dem Recht besteht der Einzelne als sein besonderer Wille, einen Vertrag über die Entäußerung seines gemeinten Rechts auf sein Dasein zu schließen. Insofern die richterliche Gewalt als die Bewegung dieser Entäußerung das Recht der Person schützt und realisiert, wird auch sein besonderer Wille als das Recht befolgend respektiert. Des Weiteren, indem der Einzelne “sein Meynen von Recht”, sein eigenes Recht “an das Allgemeine” des Gesetzes, an das Recht jeder Person aufgegeben und diesem Folge geleistet hat, gilt er auch “als reine Person”. Jeder Einzelne in der Gesellschaft befolgt auf irgendeine Weise das Allgemeine des Gesetzes und ist daher zugleich als eine konkrete Person mit den besonderen Willen und als die reine Person mit dem reinen Willen, dem Allgemeinen des Gesetzes zu folgen. Aber eben in diesem Moment seines Seins kann er auch das Böse werden, wenn er lediglich “als reine Person, als reiner Wille sich vom allgemeinen” des Gesetzes abtrennt (J III.249). Er ist nicht mehr die reine Person, das allgemeine Dasein aller freien Willen als Person zu wollen, sondern selbst die allgemeine Person werden zu wollen, nicht mehr der reine Wille, das Allgemeine des Gesetzes, das Recht zu befolgen, sondern selbst dieses Allgemeine zu werden. Im bürgerlichen Streit tritt er nicht als der reine Wille, sondern als der besondere Wille nach seinem gemeinten Recht gegen das Allgemeine des Gesetzes auf, sich als diesem Allgemeinen angemessen zu behaupten. Das Allgemeine des Gesetzes, das Recht selbst, umgeht hier seinen besonderen Willen. Aber die wirkende Gewalt des Gesetzes besteht im Grunde genommen in keinem bloß äußeren Zwang, sondern eben im Selbstanschauen oder Selbstwissen des Einzelnen im Allgemeinen des Gesetzes. Jeder Einzelne in der Gesellschaft unter der Gewalt des Gesetzes ist dieses Wissens 304 fähig, trotz des Gradunterschiedes. Er kann daher auch ein solcher reiner Wille sein, sich als das Allgemeine des Gesetzes zu wissen und zu benehmen. Die unmittelbare Äußerung dieses reinen Willens des Einzelnen ist eben das Verbrechen. Das Verbrechen entspringt einerseits aus dem sich als allgemein wissenden, reinen Willen des Einzelnen, andererseits aus dem nur rein als Allgemeines bestehenden Gesetz. Eben wegen der gleichen Reinheit des Willens des Einzelnen und des Allgemeinen des Gesetzes, des Rechts selbst lassen sich beide gleichsetzen. In der Reinheit ist das Gesetz das Gute und zugleich das Böse. Eben dies ist der Einzelne in der Reinheit seines Willens. Aber die unmittelbare Äußerung dieser Reinheit ohne Vermittlung mit der Einzelheit ist das begangene Böse, d. i. das Verbrechen. Die Entstehung des Verbrechens lässt sich nun folgendermaßen resümieren. Ein Einzelner gibt sein gemeintes Recht auf sein besonderes Leben auf, sei es wegen seines wertlosen Lebens, sei es nur aus seinem reinen Willen. Durch die ideale Aufhebung seiner Besonderheit stellt er sich als ein reines Anerkanntsein der Person dar. Diese Selbstdarstellung impliziert, dass er sich bereits gemäß dem Gesetz denkt und rechtfertigt. Denn das Gesetz ist eben auch unter der Bedingung der Aufhebung der Besonderheit das Gesetztsein des Rechts aller, als die anerkannte Person zu sein. Das Gesetz ist als Gewähr für das Anerkanntsein der Person das reine Anerkanntsein derselben und als Gewähr für das Dasein der anerkannten Person das reine Sein derselben. Der Einzelne hat daher ebenfalls diese zwei Seiten des Gesetzes. Zuerst als ein reines Anerkanntsein ist er, wie durch das Gesetz, “geschützt gegen Gewalt” des fremden Willens “über sein Eigenthum und Thun, und sein Leben überhaupt”. Oder nach seinem gesetzlichen Denken sind seine Person und deren Dasein unverletzbar. Dann ist er ein reines Sein, dessen besonderes Leben aufgegeben ist, oder ein reiner Wille, durch Verzicht auf sich allein allgemein zu sein. Er ist “nicht mehr ein Meynen von seinem Rechte” auf sein besonderes Leben, sondern “die Abstraction des reinen Seyns” davon. Er ist gerade “ein lebloses”, insofern ein Leben nur durch die gesetzliche Realisierung der gemeinten reinen Rechte geführt wird. Der Einzelne, der sein besonderes Leben mit dem Allgemeinen des Gesetzes nicht wiederum vermittelt, sieht sein gesetzliches Allgemeines nur im Gegensatz zu seinem Leben, und ferner sieht er dies Allgemeine, worin sein Leben aufgegeben und er also nur die “reine Abstraction” ist, als sein Wesen an, das von ihm selbst anerkannt ist. Wie Richter über das gemeinte Recht urteilen, so verurteilt er sich “über sein reines Seyn” zum Verzicht auf dessen Leben. Und wie das Allgemeine des Gesetzes in der Wirkung “die absolute Macht über das Leben” ist, ist sein Allgemeines für ihn auch eine solche Macht. Eben in seinem Allgemeinen, seinem anerkannten Wesen weiß er nun “sich positiv”. Er tritt daher als 305 die “absolute Macht für sich” auf oder ist “für sich absoluter unendlicher Willen”, dessen Leben aufgehoben, also gleichgültig ist. Als der einzig absolute Wille mit der absoluten Macht hebt er einen anderen absoluten Willen zum Leben auf. Außerdem kann er mit der Macht das Leben selbst des Anderen realiter aufheben, weil dies gemäß seinem reinen abstrakten Sein nichts als ein Sein ist, das einfach durch ein anderes Sein, ein physisches oder listiges Mittel, “quantitativ” “bestimmbar” und beschränkbar ist. Diese quantitative Behandlung des Lebens selbst ist eben das Verbrechen, das als Betrug, Diebstahl, Raub, und Mord auftritt. Es ist nun das Böse, das in die Tat umgesetzt ist. Der Verbrecher ist, kurz gesagt, Vollstrecker seines verabsolutierten reinen Willens, mit der Gewalt oder List gemäß dem reinen Sein seines völlig aufgegebenen und aufgehobenen Lebens auch das Leben des Anderen unmittelbar quantitativ zu beschränken. Der Einzelne begeht nur als die rechtliche Person Verbrechen, schlechterdings insofern er in der Gesellschaft da ist. Das Gesetz ist für ihn auch als sein gesetzliches Denken, als ein reines Anerkanntsein seiner Person. Aber das Gesetz als das wirkende ist nun selbst auch “die wirkliche Straffe”. Das Allgemeine des Verbrechers, das nicht mit seinem Leben vermittelt, also nur als reines der Grund für die reale Aufhebung des anderen Lebens war, wird nun als das Allgemeine des Gesetzes durch das wirkende Gesetz mit seinem Leben selbst vermittelt. Das wirkende Gesetz ist die Realisierung seines Allgemeinen in seinem Leben, aber weil dies Allgemeine nicht realisierbar ist, endgültig gleichfalls die reale Aufhebung seines Lebens selbst. Das Gesetz als die Strafe ist daher “die Umkehrung” seines Begriffs, dass er nach seinem Allgemeinen, nach seinem reinen Sein das andere Leben realiter aufheben kann und aufhebt. Das andere Leben, das er realiter aufgehoben hat, ist nichts anderes als sein Leben, das durch dessen ideale Aufhebung von ihm als unverletzbar gedacht wurde. Das, was er realiter aufgehoben hat, ist de facto das besondere Leben überhaupt, das als das Leben selbst gleich ist und erst durch die Vermittlung mit dem Allgemeinen des Gesetzes besteht. Er hat eben “sich selbst umgebracht”. Das Allgemeine, das sich nicht mit dem Leben vermitteln lässt, sondern dies eher vernichtet, ist an sich das Böse. Als dies Allgemeine des Verbrechers realisiert und befriedigt das Gesetz seinen Begriff in ihm selbst. Das wirkende Gesetz hier ist die “Straffe als Straffe”, “nicht als Rache” des anderen Einzelnen, “als Böses” überhaupt “gegen das Böse” des Verbrechers. Das Gesetz führt eben das “reine Recht” des Verbrechers auf das reine Sein oder das Leben überhaupt in ihm selbst aus. Das reine Recht des Verbrechers kann von ihm bei Gelegenheit in mannigfaltigen Gestalten der Gewalt geäußert werden. Das Gesetz ist als das reine Recht aller, das es 306 anwenden und realisieren muss, ebenso auch die Abstraktion, deren Realisierung der Zufälligkeit ausgesetzt ist. Aber nach der Eigenschaft der Gewalt muss das Gesetz Hegel zufolge nach vier Seiten berücksichtigt und vereinzelt werden. Vor allem muss es “den Willen als solchen” jedes Einzelnen beschützen (J III.250). Repräsentativ für die Gewalt gegen den Willen selbst ist zuerst “die Betrügerey” im Vertrag zwischen Bürgern. Aber es ist de facto schwer zu bestimmen, wo im einzelnen Vertrag die Gewalt angefangen hat, weil der Zweck des Vertrags währenddessen vom Kontrahenten geändert oder verborgen werden kann. Und sogar der Kontrahent kann zum Glauben an die Erreichung seines realiter zerstörten Zweckes verleitet werden. Gegen die große Läsion, die trotz Abwesenheit der eigentlichen und unmittelbaren Gewalt im Vertrag entstanden ist, muss das Gesetz “den eigentlichen Zweck” des Geschädigten oder “die innre Bedeutung” des Vertrags in Schutz nehmen. D. h. in diesem Fall muss der besondere Wille des Einzelnen geschützt werden, gegen den gemeinsamen Willen, der im Vertrag zwar wesentlich erklärt, aber an einer Stelle betrügerisch manipuliert ist. Dann kann die Gewalt unmittelbar geschehen, als “Diebstahl”, der den Willen des Einzelnen in einem bestimmten Dasein seines Eigentums ohne sein Wissen verletzt, oder als “Raub”, der alle beide, d. i. seinen Willen und sein Wissen zugleich, verletzt. Weil die Gewalt hier nicht den absoluten Willen zum Leben, sondern den Willen zu einem bestimmten Ding für das Dasein des Lebens verletzt, muss das Gesetz gleichfalls darauf nicht absolut, sondern relativ, nämlich als Freiheitsstrafe oder Leibesstrafe rückwirken. Aber für die Gewalt der Art, die “die öffentliche Sicherheit” “zu sehr compromittirt”, muss auch “die Todesstraffe” möglich sein, weil Diebstahl oder Raub de facto einen solchen Willen teilweise verletzt, der wesentlich nur als ein reiner Wille zum Leben ein einzelner Wille zu einem bestimmten Ding ist und daher durch die äußerste Gewalt der Art eben als der reine Wille verletzt wird. Aber es ist auch hier schwer, den Grad des Verbrechens und dessen angemessene Strafe zu bestimmen. Drittens ist das Verbrechen als das Böse selbst eben der eigentliche “Mord” (J III.251). Aber nicht die zufällige, wie im Unfall, sondern nur die absichtliche Tötung ist strafbar. Jedoch ist auch hier schwer, die innere Absicht zu vernehmen, da sie sich aus den äußeren Umständen nur unvollständig folgern lässt. Deshalb hat das Gesetz das “Geständniß des Verbrechers” zur Bedingung seiner Strafe.102 Aber das Gesetz muss auch darauf achten, dass der “Eigensinn” selbst des Verbrechers, der ein Geständnis abgelegt hat, dennoch vom Gesetz nicht zwanghaft überwunden wird. Auch der 102 Die Erforderung des Geständnisses des Verbrechers ist nach den Heidelberger Vorlesungen “auch eine Ehre für die Vernünftigkeit”, in dem Sinne, dass “der Verbrecher selbst als Richter gegen sich den Spruch” ausspricht. VNS, § 110. Siehe auch GPR, § 227 Zusatz. 307 Verbrecher, wie das Gesetz, hat bekanntlich gemäß seinem gesetzlichen Denken Gewalt angetan. Das Gesetz muss nicht zuletzt nur die reale, also nichtige Realisierung seines Willens selbst sein. Viertens und schließlich muss das Gesetz sich selbst in der an sich seienden Nichtigkeit des Bösen erkennen. “Das Böse ist das an sich nichtige” wegen des reinen Wissens von sich selbst (J III.252). Das Verbrechen ist die gewaltsame Äußerung des sich selbst nur rein wissenden, absoluten Willens oder des Bösen als des Willens. Der absolute Wille als dies reine Selbstwissen ist dem Gesetz nicht fremd, weil das Gesetz eben das Gesetztsein des absolut freien Willens jedes sich selbst rein als Person wissenden Einzelnen heißt. Rein Absolutes, das weder mit dem Einzelnen vermittelt, noch im Einzelnen realisiert ist, ist lediglich abstrakt Allgemeines. Dessen unmittelbare Anwendung auf das Einzelne ohne Rezeptivität vom Einzelnen her ist nichts anderes als die reine Gewalt oder Vernichtung dem Sein des Einzelnen gegenüber. Das Gesetz ist an sich oder als vor und zu der Vermittlung mit dem konkreten Leben des Einzelnen bestehend selbst ebenfalls nichtig. Und “das daseyende” Gesetz oder das Böse hat “als solches keine Wahrheit” für das konkrete Leben oder die Tat (J III.249). Erst wenn das Gesetz als das reine Leben im konkreten Leben des Einzelnen realisiert wird, ist es wahrhaft Allgemeines. Es ist auf diesem Standpunkt die Wahrheit des vorhandenen Lebens. Aber die Ausführung des Allgemeinen, das nicht im Einzelnen realisierbar und konkretisierbar ist, ist schlechterdings nichts anderes als der Erweis des an sich Nichtigen als des realen Nichts. Das Gesetz ist auf dieser Seite die Selbstrealisierung des daseienden Bösen in ihm selbst als das Böse im Allgemeinen, daher die Selbstvernichtung desselben als das realiter Nichtige. Dies ist eben der Grund für die Strafe des Gesetzes, der in der Identität des Gesetzes und des Bösen auf dem Standpunkt der an sich seienden Nichtigkeit liegt. Die Strafe als diese Selbstrealisierung des daseienden Bösen ist des Weiteren die Selbstopferung des Gesetzes als des reinen Lebens gegenüber dem Bösen, also die Versöhnung des Lebens in der Reinheit mit dem Leben. Das Gesetz ist nun vom Jenaer Hegel eben als das Prinzip der Versöhnung selbst begriffen. Dagegen war das Gesetz in der Frankfurter Zeit fast gleich mit dem Gesetz der objektiven Natur, das vom Leben des Subjekts abgetrennt ist. Deshalb war die Strafe nach dem Gesetz der Kausalität nur die Rückwirkung der Verletzung des Lebens als objektiven auf das Leben des Verletzers. Denn die geschehene Tat als schon objektiviert lässt sich nach dem Geist des Christentums und sein Schicksal gar nicht ungeschehen machen, sie muss daher als objektives selbst der Kausalität folgen. Die Tat war also “die Strafe in sich selbst” (N 392). Das Gesetz als die Strafe hatte dort letztlich nur die 308 Vernichtung des Lebens des Verletzten und des Verletzers, nicht die Versöhnung desselben zur Folge. Hierfür musste Hegel ein anderes Prinzip der Versöhnung ausarbeiten. 103 Aber nun ist das Gesetz als das reine Leben das Gute des es realisierenden Lebens und zugleich das Böse des Lebens, das es nicht realisieren kann. Das Gesetz als die Strafe kann und muss nun das daseiende Böse “als sich selbst erkennen”, ihn als allgemeinen “verzeihen” oder “als That”, als dessen Selbstrealisierung “ungeschehen machen”. Denn die “einzelne Tat” ist nichts als “ein Tropfen”, der im Allgemeinen des reinen Lebens “absorbirt ist”. Das selbstrealisierte Nichts der Tat ist schlechterdings nur nichts oder “Ungeschehenes”, und das Gesetz besteht als das reine Leben aller weiter, die es als eigenes Leben realisieren (J III.252). Das Leben gemäß dem Gesetz ist hier in der Reinheit mit dem einzelnen Bösen oder Tod versöhnt. Es ist in der Allgemeinheit das Leben des Geistes als eins mit dem Anderssein seiner selbst, und in der Realität das Zusammenleben aller, d. i. das Gemeinwesen des Volks als die sittliche Entelechie des Geistes. 2.4.3.3. Gesetz im Leben des Volks Das Gesetz als das reine Sein bzw. Leben jeder anerkannten Person wirkend ist daher die “Macht über alles Daseyn, Eigenthum und Leben, und eben so den Gedanken, das Recht und das Gute und Böse” (J III.249). Und die Entelechie der Macht ist eben “das Gemeinwesen, das lebendige Volk” (J III.249-250). Das wirkende Gesetz ist nämlich die Wirklichkeit des Geistes, dass das Leben des Einzelnen nur durch das Leben aller oder ein Leben nur im Zusammenhang mit einem anderen möglich ist. Der Einzelne ist, nach einer späteren rechtsphilosophischen Vorlesung, immer “Sohn seines Volks” (VNS § 129). Und das Leben des Volks ist eben die Wirklichkeit des wirkenden Gesetzes. Dieses wirkliche Gesetz als das Leben des Volks ist daher selbst ein “vollkommenes, lebendiges selbstbewußtes Leben” des Volks “als der allgemeine Willen” (J III.250). Jedes selbstbewusste Mitglied, das sein einzelnes Leben als auf dem Gesetz des allgemeinen Willens gegründet führt, erfasst diesen allgemeinen Willen in aller gemeinschaftlichen Wirklichkeit und weiß ihn als die darin tätige, allgemeine Macht aller lebendigen Mitglieder, aller ihrer begrifflichen Bestimmungen und aller ihrer geschaffenen Wesen. Das Gesetz ist als ein wirkliches Leben also auch dies Selbstwissen des allgemeinen Willens durch die Mitglieder der Volksgemeinschaft. Das Gesetz als die absolute Macht wirkt des Näheren in den drei Momenten des Lebens 103 Siehe S. 61-65. 309 des Volks. Es ist zuerst als die wirkliche Basis für das Zusammenleben “der allgemeine Reichthum” und dessen “allgemeine Nothwendigkeit”, die als solche objektiv gewusst wird (J III.251-252). D. h. nach der allgemeinen Notwendigkeit des allgemeinen Reichtums erhalten alle durch ihre Tätigkeit ihre Existenz. Aber die allgemeine Notwendigkeit wird ab und zu auch vom Einzelnen mit Wissen für den Reichtum überhaupt als die einzelne Notwendigkeit seines Erwerbes erkannt, also ihm als “diesem Bösen geopfert”, insofern der allgemeine Reichtum dadurch in ihm allein konzentriert wird. Diese Notwendigkeit der Ungleichheit des Reichtums ist aber wiederum nach ihrer Allgemeinheit zugleich die Notwendigkeit eines Abgabensystems, das allseitige Instabilität des Bestehens wegen der absoluten Armut mildert. Die Abgaben sind keine karitative, sondern notwendige Aufopferung der Reichen, denen der allgemeine Reichtum als das Gesetz des Zusammenlebens bereits geopfert ist – ebenso wie der Verbrecher, dem das Gesetz des reinen Lebens schon durch seine Tat geopfert ist, ohne Selbstopferung, d. i. ohne Selbstrealisierung, als das Böse nicht als eine anerkannte Person in die Gesellschaft zurückkehren kann. Die Anhäufung des Reichtums ist freilich nicht Verbrechen, aber ein gesellschaftlich erscheinendes, ontologisches Böses aus der Endlichkeit des der Allgemeinheit inadäquaten Einzelnen.104 Und wie der Verbrecher, der sich der Strafe des Gesetzes widersetzt, der unmittelbaren Gewalt des Anderen ausgesetzt ist, so stehen Reiche, für Hegel insbesondere “Aristokraten, die keine Abgaben bezahlen”, “in der grösten Gefahr mit Gewalt” ihren Reichtum zu verlieren. Denn das Gesetz ist wesentlich das Recht jedes Einzelnen auf das Dasein als Person, das als Aufgehobensein vom Anderen anerkannt wird. Also würde das Dasein meiner Person, das das Dasein der anderen Person verunmöglicht, ohne meine Selbstaufhebung zum Naturzustand nach dem natürlichen Gesetz, d. i. nach dem Naturrecht des freien Menschen, führen. Nach dem Gesetz, das das Dasein jeder durch die Selbstaufhebung anerkannten Person garantiert, müssen die Abgaben daher weder als eine feudalistische Erkaufung des gesicherten Laisser-faire noch als eine nur vom guten Gemüt abhängige wohltätige, sondern als die notwendige Aufopferung zum Zusammenleben eingetrieben werden. Sonst könnte die Regierung für das Gewährenlassen des Einzelnen den eingetriebenen Reichtum nach Belieben verschleudern. 104 Dieses “Böse als Nothwendigkeit der endlichen Natur, Eins mit dem Begriff derselben”, aus dem erst auch das moralische Böse, das Verbrechen entspringt, setzt Hegel in Glauben und Wissen dem Naturbegriff als dem im absoluten Gegensatz ununterbrochen zu vernichtenden Bösen bei Kant und Fichte entgegen. Für die Notwendigkeit der endlichen Natur muss “eine ewige, d. h. nicht in den unendlichen Progreß hinaus verschobene und nie zu realisirende, sondern wahrhaft reale und vorhandene Erlösung” dargestellt und “der Natur, insofern sie als endliche und einzelne betrachtet wird, eine mögliche Versöhnung” dargeboten werden, deren Möglichkeit auch in dieser sittlichen Konstruktion der Welt besteht. JKS, S. 407. 310 Diese Macht des Gesetzes über alles Sittliche ist nun die “StaatsMacht” (J III.252). Die Staatsmacht ist als ein Pleonasmus eben die daseiende Macht des Rechts als der Staat. Diese Staatsmacht wird als Gewalt der Regierung in die Wirklichkeit umgesetzt. Aber die Regierung in ihrer Rechtshandlung ist für die Einzelnen noch abstrakt. Die Gewalt der Regierung wird nämlich zweitens von ihnen als ihr gedachtes Wesen, aber abstrakt angeschaut und respektiert, weil sie nun durch die Gewalt des Gesetzes ihr Recht, d. i. sich ebenfalls als Personen, als Bürger respektiert wissen. Aber die Person als Rechtsperson ist erst abstrakt allgemein. Also kann ein solches Wissen eines jeden auch nur eine Meinung sein. Denn die Regierung in ihrer Wirksamkeit ist für ihn noch nicht verwirklichter Gegenstand oder konkrete Entelechie seiner Person selbst. In der unmittelbaren Beziehung des Rechts auf die Einzelnen stellt die Regierung dennoch sie ihrer freien Bildung, also hin und wieder dem Betrug, aus ihrem abstrakten Wissen ihr Recht zu erlangen, anheim, und hat aufgrund ihrer Achtung lediglich “die Güte”, ihr “Recht durch Vergleich und Billigkeit zu corrigiren”. Denn die Gewalt der Regierung als die abstrakt allgemeine für die Einzelnen darf nicht unmittelbar ihr Erkennen, ihr gemeintes Recht, kontrollieren. Sonst würde die Gewalt Zwang bzw. Gewalttätigkeit des Staates im Namen des Gesetzes. Die Gewalt der Regierung als das Dasein der Staatsmacht ist noch diese “abstracte Allgemeinheit”. Die Gewalt der Regierung ist aber nicht nur für die Einzelnen abstrakt. Sie hat dem Wesen nach für sich auch die Abstraktheit der Staatsmacht. Die Staatsmacht als “die Macht über Leben und Tod” erscheint also drittens für die Einzelnen als “das Furchtbare” eines Einzelnen, der als im Griff der Macht vorgestellt wird. Diese Furcht ist insofern auch die Ehrfurcht, als die Staatsmacht “Meister” “über das reine Böse” ist. Die Staatsmacht als die Macht des Gesetzes ist “der göttliche Geist”, der bekanntlich das Böse, d. i. das absolut Andere, in seinem Gedanken eben “als sich selbst weiß” (J III.253). Dies besagt nicht, dass die Staatsmacht oder deren Inhaber der unmittelbare Geist Gottes, wie in der Providenz der königlichen Gewalt, sondern, dass sie als der sich in der Selbstbeziehung realisierende Geist des Rechts des Menschen zwar absolut ist, aber nach der Vorstellung des gemeinen Einzelnen als abstrakt und göttlich erscheint. Sie ist noch das abstrakt Allgemeine, das ununterbrochen in mannigfaltigen Gestalten konkretisiert und entwickelt werden muss. Ihre konkretisierte Gestalt ist eben die Regierung und ihre konkrete Wirkung die Gewalt der Regierung. Der Staat ist immer da als die mit Gewalten ausgestattete Regierung. Die neuzeitliche Organisation der Regierung durch die geteilten Gewalten ist nun notwendig, aus dem Grunde, dass die Staatsmacht in ihrer Wirkung nach dem Recht der Person auf verschiedene Weise auftreten muss. D. h. sie muss, wie vor kurzem gesehen, den 311 allgemeinen Reichtum verwalten, das Recht zum verwirklichten Gegenstand der Person selbst, nämlich zu positiven Rechten machen und korrigieren und selbst als die Furchtbarkeit nicht für den Einzelnen, sondern als Persönlichkeit aller vertretenden Einzelnen verkörpert werden. Diese Momente bilden das Hegelsche Modell der Gewaltenteilung in exekutive, gesetzgebende und monarchische Gewalt aus. Die mit der ersten Gewalt ausgestattete Regierung ist hier die Regierung im engen Sinne. Und die Organisation der Regierung im weitesten Sinne eines Regimes durch ihre Gewalten ist eben die Konstitution des Staates, die nun zuletzt darzulegen ist. 3. Staat “Die peinliche Gerichtsbarkeit” der Staatsgewalt zeigt das Maximum derselben als die absolute Macht über Leben und Tod, die sich ihrerseits aber auf “das Allgemeine” als “die gewußte und gewollte Substanz” des Einzelnen gründet. Das Allgemeine, von dem als seiner Substanz der Einzelne völlig abhängt, ist eigentlich durch die Selbstentäußerung des Einzelnen gewollt und so gewusst. Daher liegt der Grund der Staatsgewalt im Ganzen eben in dieser Selbstentäußerung und der Verzichtleistung des Einzelnen auf sein Recht. Sein aufgegebenes Recht ist das gemeinte Recht auf sein Selbst, dessen Leben und Willen er damit auch “in die Gewalt des Staats gegeben” hat. Aber der Einzelne ist als das Subjekt dieses Verzichtes andererseits nur “abstractes allgemeines” und durch den Verzicht bzw. die Entäußerung nur “reiner Wille” oder “reine Person”. D. h. die Basis der Staatsgewalt ist noch das abstrakte Allgemeine, das als Gesetz des reinen Willens oder der reinen Person des selbstentäußerten Einzelnen realisiert, und als solches also nichts anderes als das Böse ist. Das Dasein des Einzelnen hängt ganz von diesem Gesetz als dem abstrakten Allgemeinen ab, dessen Gewalt eben die Staatsgewalt ist. Insofern ist der Staat mit dieser Gewalt dem Leben und Dasein des Einzelnen gegenüber noch abstrakt und äußerlich. Aber der Einzelne als die Person hat nicht nur sein Dasein, sondern auch sein Sein und Denken “allein im” und gemäß dem “Gesetze”, insofern das Gesetz sein Dasein als Person selbst ist. Das Gesetz ist ihm also nicht bloß äußerlich vorgegeben, sondern es weiß durch jeden Einzelnen sich als solche absolute Gewalt, die als der allgemeine Reichtum das Recht und Leben eines jeden beschützt. Der Staat mit dieser Gewalt des Gesetzes oder als der allgemeine Reichtum ist daher “das Aufgehobenseyn” nicht nur “des vereinzelnten Daseyns” der Person, sondern ferner “des Ansichs im Daseyn” und “des reinen Ansichseyns” derselben (J III.253). Im Staat ist jede Person als der einzeln daseiende Eigentümer, Kontrahent u. a., nämlich als die Person an sich dieses 312 daseienden Einzelnen und auch als die von ihm an sich gedachte, reine Person aufgehoben. Darin realisiert ist das wirkende Gesetz als das Fürsichsein jeder Person selbst. Jeder weiß das Gesetz nun als die absolute Gewalt. Oder das Gesetz ist der “Geist” eines jeden, der sich als “die absolute Macht” weiß. Es ist eben der sich so wissende Geist des Volks. Dieser Geist lebt überall in sich selbst, insofern er die absolute Macht über Leben und Tod ist. Er muss sich nun über das Selbstwissen als die absolute Macht hinaus eben “die Anschauung seiner selbst als dieses” Lebens geben. D. h. er muss nicht lediglich als die absolute Macht über das Leben jedes Volksmitgliedes bleiben, sondern darüber hinaus sich als das Leben des Volks selbst organisieren und anschauen können. Der Staat als die absolute Gewalt105 des Gesetzes ist also auch “die Organisation” des gemeinschaftlichen Lebens durch den “Geist eines Volks, der sich selbst beabsichtigt” und organisiert. Dieser Staatsbegriff Hegels deckt sich offensichtlich nicht mit der neuzeitlichen Auffassung, dergemäß der Staat mechanisch als eine Maschine, naturrechtlich als ein Zusammenhang von Schutz und Gehorsam oder transzendentalphilosophisch als Vereinigung einer Menschenmenge unter Rechtsgesetzen definiert wird. Sein Staatsbegriff ist freilich auch weder im spiritualistischen Sinne von Geist noch im nationalistischen Sinne von Volk zu verstehen. Er zielt ferner keineswegs auf die rechtfertigende Anpassung an den vorhandenen Staat,106 sondern auf das Wesen des 105 Beide Begriffe, Macht und Gewalt, die hier in der Hinsicht der Absolutheit zusammen gebraucht sind, sind aber, wie schon erwähnt, bei Hegel begrifflich unterschieden. Nach der Wissenschaft der Logik ist die “Gewalt” “die Erscheinung der Macht oder die Macht als äusserliches” (WL I.405). Bienenstock zufolge erscheine dies Begriffspaar bereits beim Frankfurter Hegel, aber habe von Beginn an keine politische Bedeutung. Die Macht als ‘potentia’ oder ‘power’ werde eben in der Jenaer Zeit mit dem Begriff des Geistes als Totalität des Volkslebens verbunden, dadurch als die vernünftige Macht des das Staatsleben organisierenden Geistes verstanden, demnach werde auch die Gewalt als ‘potestas’ oder ‘the authority to give orders’ im Unterschied von ihrem anderen Sinn von ‘violentia’ die Gewalt des Staates, die die Äußerung der Macht des Geistes sei. Diese vernünftige Macht des Geistes, der das Selbsterkennen durch die Bildung des Volks zur Bedingung seiner Realisierung habe, könne gar nicht als die Verherrlichung des späteren Machtstaates Preußen angesehen werden. Bienenstock, Myriam: „Macht” and „Geist” in Hegel’s Jena writings, HS 18, S. 139-172. Siep definiert die Gewalt noch spezifischer als ‘die Durchsetzbarkeit eines Willens’, die also auch in den kontinuierlichen Zusammenhang mit dem anderen Sinn von violentia oder Verbrechen als dem inneren Moment der Staatsgewalt gebracht werden könnte. Siep, Ludwig: Hegels Theorie der Gewaltenteilung HR, S. 390-391. 106 Diese Hegel-Kritik, die seit Rudolf Haym immer wieder auflebt, verfehlt zumeist, dass das, was ist, bei Hegel nur durch dessen Verstehen dem Wesen nach auch erst frei kritisiert und verbessert werden kann. Daher ist der Staat nicht unbedingt die objektive und reale Absolutheit des absoluten Geistes, wie Haym dafürhält, sondern lediglich so nach seinem Wesen. Die ‘sittliche Wirklichkeit des Staatslebens’ lässt sich ebenso nicht ‘als das absolut-Absolute’, ‘als das Göttliche’, charakterisieren. HZeit, S. 162-163. Über diese Polemik um die Rechtsphilosophie nach Hegels Tod, Pöggeler, Otto: Hegels Option für Österreich, HS 12, S.107-116. Lucas, Hans-Christian: „Wer hat die Verfassung zu machen, das Volk oder wer anders?“ Zu Hegels Verständnis der konstitutionellen Monarchie zwischen Heidelberg und Berlin HR, S. 177-195. Theunissen, Michael: Die Verwirklichung der Vernunft, S. 2-28. Jaeschke, Walter: Urmenschheit und Monarchie, HS 14, S. 73-107. HH, S. 525-529. Bezüglich des Marxismus, siehe 313 Staates. Der Staat nach dem Wesen darf nicht mit einzelnen Staaten verwechselt, sondern muss als ‘ihre Gattung’ angesehen werden, 107 obzwar er institutionelle Elemente der damaligen Staaten in sich einschließt. Wie sich das allgemeine Wesen immer als Einzelnes verwirklicht, so ist Hegels Anliegen eben die einzelne und institutionelle Realisierung des Staates nach dem Wesen. Der Staat ist wesentlich die daseiende Macht des Rechts, das sich aus der Notwendigkeit des allgemeinen Bewusstseins aller ergibt, dass für das Recht jeder Person das gemeinte Recht des Einzelnen aufgegeben und entäußert werden muss, so wie sich der Einzelne, um anerkannt zu werden, zuerst aufheben musste. Und insofern die Macht des Rechts immer in einem Staat wirksam ist, ist das allgemeine Bewusstsein der wirkliche Geist eines Volks. 108 Der Staat beruht daher dem Wesen nach auf Selbstaufhebung und Selbstentäußerung aller Einzelnen. Insofern der Staat sein Wesen besorgen und realisieren muss, ist der Zweck der Staatsgewalt “nur der Einzelne”, der sich aufhebt und zum Allgemeinen erhebt. Aber das, was dadurch gestaltet ist, ist der Staat erst nur als die Macht des Rechts über das Leben, nicht als die Erhaltung des Lebens nach dem Recht. Die Staatsgewalt, die das Leben des Einzelnen beschützt, ist für den Einzelnen noch abstrakt. Die Selbsterhaltung des Einzelnen kann nicht nur von der Gewalt über sein Leben abhängen. Seine Selbsterhaltung liegt wesentlich eher in der “Organisation seines Lebens” selbst. Die Staatsgewalt muss also auch die organische Konstruktion des Lebens aller Einzelnen nach dem Recht sein. Der Einzelne ist, naturphilosophisch gesagt, die organische Einheit der natürlichen allgemeinen Elemente durch seine Lebenskraft. Diese Lebenskraft aber ist vor allem geistig und frei. Der Staat muss auch sich als die absolute Macht des Rechts von freien Einzelnen ebenso organisch konstruieren. 109 Diese Konstruktion des Staates ist gerade die Konstitution bzw. Verfassung, die eigentlich vom physiologischen Kontext in den sozialpolitischen Bereich übertragen ist. Die Konstitution, die von Hegel hier entfaltet wird, ist die politische Konstitution des Staates mit den Gewalten als Momenten seiner Macht, die nichts anderes als der Geist des Volks ist. Der Staat, der mit den Gewalten konstituiert wird, ist der vereinzelte Staat, der sich nämlich als die Regierung im weitesten Sinne Mayinger, von Josef: Hegels „Rechtsphilosophie” S. 98-167. 107 Fulda, Hans Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, S. 212. 108 In diesem Sinne ist ‘die Rationalität des Staates für Hegel keine Forderung mehr’, sondern ‘eine Wirklichkeit’, ‘kein Ideal’ seiner Zeit ‘mehr, sondern ein historisches Ereignis’. Bobbio, Noberto: Hegel und die Naturrechtslehre MR, S. 95. 109 Das Übergehen des freien Einzelnen, der auch allgemein verfahren kann, nämlich das Ignorieren von dessen Geistigkeit lässt Hegels Staat, der auch seinerseits den sich nur differenzierenden Einzelnen züchten und bilden muss, lediglich als einen ‘organischen Nationalismus’ erscheinen, den Durst beim früheren Hegel einseitig bemerkt. Durst, David C.: Zur politischen Ökonomie der Sittlichkeit bei Hegel und der ästhetischen Kultur bei Schiller, S. 176-183. 314 organisiert.110 Der Verfassungsbegriff war zu Hegels Zeit ein Inbegriff, der ‘die Gesamtheit der landrechtlichen und altständischen Sozial- und Herrschaftsordnung so gut’ ‘wie provinzielles oder lokales Herkommen’ umschließt und zugleich durch die Entstehung der schriftlich verfestigten Verfassungen allmählich ‘zum Kollektivsingular’ ‘als Begriff der politischen Gesamtordnung’ gerinnt. Um sich von diesem Begriff abzuheben, wurde für ‘den Plan einer gewaltenteiligen Verfassung’ der Begriff der „Konstitution“ oder der Ausdruck einer „konstitutionellen Verfassung“ gebraucht. 111 Eben in diesem Sinne spricht Hegel hier von der Konstitution, und später in der Rechtsphilosophie auch von der politischen Verfassung. Aber nicht zuletzt ist zu berüchsichtigen, dass die Konstitution Hegel zufolge nicht von außen her rechtlich oder politisch gemacht wird, 112 sondern selbst die rechtliche und politische Organisation des lebendigen Volksgeistes ist, der bereits als die absolute und allgemeine Macht des Rechts vorhanden ist. Sein Konstitutionsbegriff enthält in dieser Hinsicht auch den traditionellen Begriff der Verfassung im Sinne der Gesamtordnung der Gemeinschaft. Die konstitutionelle Konstruktion eines Staates ist daher nichts als die rechtliche und politische Reorganisation seines Volksgeistes, die eben alles ist, was über die Konstitution künstlich hergestellt werden kann. Dagegen ist die Konstitution oder Verfassung selbst immer schon geschichtlich vorgegeben und gesellschaftlich 110 Die Regierung als ein bestimmtes Regime muss von der Regierung als einer der geteilten Gewalten unterschieden werden. Jene ist der nach seinem Wesen in der Erscheinung vereinzelte Staat, und diese ist eine Teilgewalt der Verfassung des vereinzelten Staates. Diese Unterscheidung ist auch in Fuldas Interpretation der Enzyklopädie beachtet. Fulda, Hans Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, S. 227228. Dagegen wird in Sieps Darlegung der Hegelschen Gewaltenteilung die erstere Regierung als ‘die Gesamtgewalt des Staates’ mit der letzteren identifiziert. Siep, Ludwig: Hegels Theorie der Gewaltenteilung HR, S. 392-393. 111 Koselleck, Reinhart: Preußen zwischen Reform und Revolution, S.163-165. Begriffsgeschichten, S. 365-382. Dazu, HStaatb, S. 134-136. 112 Diese These, die erst in Hegels Vorlesungen über Naturrecht und Staatsphilosophie (1817/18) zum ersten Mal formuliert wird (VNS § 131, 134), ist in der zweiten Jenaer Geistesphilosophie nur ansatzweise lesbar, der zufolge die Konstitution eben durch das “Constituiren des allgemeinen Willens”, also des Volksgeistes, gegeben ist (J III.257). Das Subjekt des Volksgeistes ist nach Lucas’ Analyse der Heidelberger und Berliner Vorlesungen aber nicht unmittelbar das Volk selbst, obwohl dies Träger der bestimmten Entwicklungsstufe des Weltgeistes sei. Hierfür sei die Bildung des Volks auch nötig, dessen Geist zuerst ‘durch (philosophische) Intellektuelle’ zum Selbstwissen bzw. Selbstbewusstsein gelange. Auch der Geber der politischen Verfassung, wie der König oder Held in der Geschichte, sei ‘quasi Geburtshelfer’ der Verfassung, die bereits ‘als Resultat der Fortbildung des Volksgeistes hervorgegangen’ sei. Lucas, Hans-Christian: „Wer hat die Verfassung zu machen, das Volk oder wer anders?“ Zu Hegels Verständnis der konstitutionellen Monarchie zwischen Heidelberg und Berlin HR, S. 200-220. Siehe auch Fulda, Hans Friedrich: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, S. 226. HH, S. 393-394. Dagegen kommt Hans Boldt, der im Voraus die Verfassung voreingenommen nur als ‘schriftlich fixierte Staatsgrundgesetze’ ‘seit der amerikanischen und französischen Revolution’ definiert, über jene Hegelsche These zur Missdeutung, dass Hegel ‘eine konstitutionelle Monarchie ohne „Konstitutionen“’ denke. Boldt, Hans: Hegel und die konstitutionelle Monarchie, HSB 42, S. 167-209. 315 vorhanden, insofern jeder Einzelne immer lediglich als Mitglied seines Volks auf dessen Geist angewiesen denkt, spricht und lebt. Das Volk ist die konstitutive Einheit einer Gesellschaft. Insofern das Volk immer durch ein allgemeines Bewusstsein seiner Mitglieder, durch seinen Geist besteht, ist die Gesellschaft immer bereits rechtlich und politisch verfasst. Eben das Vorhandensein dieser sozialpolitischen Verfassung muss vor allem erkannt und als institutionellpolitische Verfassung konkretisiert werden. Dies ist einzige Bedeutung davon, eine Konstitution zu machen. Die Bearbeitung einer Konstitution kann also keineswegs rein juristisch sein, sondern muss vor allem Rücksicht auf die rechtliche Wirklichkeit und den Geist des Volks nehmen. Eben diese Konstitution des Staates gemäß dem Geist des Volks bringt Hegel auch hier zur Entfaltung. Der Geist des Volks ist nun “die Natur” und die “unmittelbare Substanz” der gebildeten Individuen, die durch die Selbstaufhebung und Selbstentäußerung das Allgemeine erreichen können und, insofern sie dies wollen und dafür arbeiten, ferner die notwendige Bewegung der unmittelbaren Substanz. Der Volksgeist ist ebenso “ihr im Daseyn persönliches Bewußtseyn, wie ihr reines Bewußtseyn ihr Leben, ihre Wirklichkeit”, insofern sie durch ihr Bewusstsein “den allgemeinen Willen” wissen, der nichts anderes als der Volksgeist ist. Ihr Wissen vom allgemeinen Willen ist daher das Selbstwissen des Volksgeistes. Dies Wissen der Individuen lässt sich Hegel zufolge in drei Arten unterscheiden, durch die auch dreierlei Bewegung der Gewalten unterschieden werden kann. Des Weiteren werden auch drei Arten der Konstitution je nach der Hervorhebung einer der drei Gewalten unterschieden. Daher steht bei Hegel die Gestaltung der Gewalt gemäß dem Wissen der Individuen vom allgemeinen Willen im engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Konstitution, die ihrerseits auch drei Gewalten elementarisch in sich einschließt. Die Individuen können nun erstens den allgemeinen Willen “als ihren besondren” entäußerten Willen, zweitens “als ihr gegenständliches Wesen”, und schließlich “wie in ihrem Wissen” wissen. Der allgemeine Wille wird zunächst von ihnen als der durch die allgemeine Entäußerung ihres eigenen Willens erreichte, als der allgemein einzelne, in diesem Sinne als ihr besonderer gewusst. Demnach ist die Gewalt auch “als geworden durch die Entaüsserung” ihres besonderen Selbst angesehen (J III.254). Diese Entäußerung ist nichts anderes als das Setzen ihres Selbst “auf die Seite der Allgemeinheit”. Die Gewalt des Allgemeinen ist nämlich die Gewalt des Selbst aller Individuen, das durch ihre Entäußerung als Allgemeines gesetzt ist, d. h. die Gewalt ihres allgemeinen Selbst, weil das Allgemeine ohne Selbstheit nur “todter Buchstabe” wäre. Das Leben des Allgemeinen ist eben “das Selbst der Individuen” (J III.255). Eben die Individuen sind 316 die Gewalt des Allgemeinen. Ohne Wissen hiervon helfen sie alle bei alledem dem Allgemeinen, insofern dies jedenfalls als ihr entäußerter Wille gewusst wird. Aber ihr entäußerter Wille, der ohne ihr Selbstwissen darin von ihnen nur für den allgemeinen gehalten wird, erscheint ihnen zuerst als Träger der äußeren Gewalt, d. i. als Tyrann. Der allgemeine Wille wird dann von ihnen als ihr gegenständlich bestehendes Wesen gewusst, d. i. als “ihre reine Macht, die an sich ihr Wesen ist”. Ihn wissen sie nun als die Macht ihrer selbst, in der ihr Wesen an sich vergegenständlicht ist. Er ist das Allgemeine der Einzelnen, ihr einzeln Allgemeines. Seine Gewalt besteht daher als das “Wissen der Einzelnen” von ihrem Selbst in ihm (J III.254). Sie wissen sich als den Ursprung seiner Gewalt und verhalten sich nicht mehr als Objekt, sondern als Subjekt derselben. Denn “ihr reines Wissen” von ihrem entäußerten Selbst gehört dem allgemeinen Willen an, den sie eben als ihr Wesen, als ihre Macht wissen. Ihr gegenständliches Wesen als vorhanden ist nichts anderes als “ihre Sitte” (J III.255), und seine Macht erscheint als die “öffentliche Gewalt” (J III.256). Schließlich wissen sie den allgemeinen Willen “wie in ihrem Wissen”. Das, was sie als besondere Selbste über den allgemeinen Willen wissen, d. i. der allgemeine Wille in ihrem Wissen, ist gleich eben dem allgemeinen Willen als ihrem gegenständlichen Wesen. Sie sind nun nicht nur das Subjekt, das die öffentliche Gewalt als sein gegenständliches Wesen weiß oder dies als jene Gewalt vergegenständlicht, sondern ferner dasjenige, das den allgemeinen Willen verwaltet und realisiert, wie es ihn weiß. Denn die Gewalt des allgemeinen Willens besteht nun nicht nur gegenständlich, sondern auch subjektiv als ein “allgemeines Wissen” (J III.254). Gemäß diesem Wissen werden die Einzelnen und ihr besonderes Selbst “erhalten” (J III.255). Und insofern jeder sein Selbst so durch und als das Allgemeine realisiert, ist er “Regent” (J III.256). Das dreiseitige Wissen der Einzelnen vom allgemeinen Willen zeichnet so die drei Existenzweisen der Gewalt und deren politische Subjekte aus. D. h. aus dem Wissen der Einzelnen werden die Gewalten. Dies Wissen heißt nichts anderes als je eine “Bildung überhaupt” des Volksgeistes. Deshalb ist das “Werden der Gewalten” zwar unmittelbar “die Entaüsserung”, aber diese Entäußerung ergibt sich nicht aus einer blinden Notwendigkeit, wie in der Naturrechtslehre zum Schutz und Rechtszustand der Einzelnen ihnen äußerlich aufgeladen wird, sondern sie wird vermittels ihres Wissens von ihnen selbst durchgeführt, weil sie “die Gewalt des Allgemeinen” aus ihnen her “als Wesen” wissen (J III.254). Die nach diesem Wissen gestaltete Gewalt ist schon in sich verfasst und charakterisiert damit auch das Subjekt der Gewalt. Die so in sich verfasste Gewalt des Staates erscheint jeweils als Gewalt von Tyrannei, Demokratie und Monarchie u. a.; demnach wird auch der Träger der Staatsgewalt bestimmt. Jeder 317 Einzelne entäußert sich daher nicht wegen dieses Trägers, der ihn beschützt. Er entäußert sich freilich oberflächlich gegen diesen oder jenen Träger der Gewalt, aber wesentlich eben gegen die Gewalt des Allgemeinen selbst “in der Form seines reinen Wissens, d. h. seiner als eines Entaüsserten, oder seiner als Allgemeinen”. Diese allgemeine Form seines Wissens ist allerdings nichts anderes als das Niveau der Bildung überhaupt seines Volks, die das Werden des gebildeten Einzelnen zum Allgemeinen und damit das “Werden des Allgemeinen” zeigt.113 Eben aus diesem Grunde ist auch kein von Hegel erklärtes Staatswesen auf die Rechtfertigung desselben und seines heroischen Trägers114 zurückzuführen. Von ihm erklärt ist vielmehr der wesentliche Bestandsgrund eines geschichtlich auftretenden Staatswesens, der eben darin liegt, wie die Einzelnen ihren allgemeinen Willen wissen und zu einer Staatsgewalt und deren Träger ausbilden. Hier lässt sich nichts sagen über die Rechtfertigung dessen, was ist, also auch z. B. über seine angebliche Verteidigung der späteren Restauration Preußens. Sondern eher handelt es sich um das vernünftige und wesentliche Verstehen dessen, was gewesen ist und nun ist. 115 Jede vorhandene Staatsgewalt gründet demnach wesentlich auf der Selbstentäußerung nach dem allgemeinen Wissen jedes Einzelnen, der “sich selbst Zweck” ist. Dieser Selbstzweck war bereits causa efficiens für das Interesse und die Handlung jedes Einzelnen. Aber jeder handelt nicht nur nach seinem einzelnen, sondern auch nach dem allgemeinen Wissen vom Selbst aller, d. i. dass das Selbst nur als das Allgemeine aller erreicht werden kann, weil der Wille jedes Einzelnen, er selbst zu sein, allgemein ist. Hierfür ist die Selbstentäußerung notwendig. In der Gewalt als Resultat dieser Entäußerung ist daher das Selbst jedes Einzelnen nicht verwischt, sondern als das Allgemeine realisiert. Dies ist das Wesen der Staatsgewalt. 113 Eben deshalb ist in Hegels ‘Begriff des sittlichen’ Staates ‘der des Kulturstaates analytisch enthalten’, wie Jaeschke den Begriff des Berliner Hegel im Vergleich zur Politik Preußens auslegt. Jaeschke, Walter: Politik, Kultur und Philosophie in Preußen, HSB 22, S. 29-48. 114 Siehe S. 171-172. Über die Beschreibung des Sokrates als des Hegelschen Helden, der nicht Träger einer neuen Sittlichkeit, sondern zum Märtyrer dafür wird, siehe Lamb, David: Hegel on civil disobedience, HS 21, S. 151-166. 115 Das Verstehen dieser Art lässt sich ganz und gar nicht auf die ‘Affirmation’ der vorhandenen Verhältnisse reduzieren, insofern das Vorhandene immer in der Diskrepanz zwischen seiner Erscheinung und seinem Wesen stehen kann. Es muss nicht deshalb so verstanden werden, um ‘revolutionär denken zu können, ohne politisch handeln zu müssen’ und um dadurch ‘die gegenwärtige Gesellschaft gegen jede wirkliche politische Veränderung zu immunisieren’, wie Kirn Hegels Sozialphilosophie einschätzt. Vielmehr ist sehr schlagend, dass die Revolution mit dem vernünftigen Verstehen dessen, was bereits objektiv revolutionär geworden und da ist, und die Revolution ohne es einen großen Unterschied machen. Kirn, Michael: Der Begriff der Revolution in Hegels Philosophie der Weltgeschichte, HSB 11, S. 339-363. Die ungerechte Interpretation des Hegelschen Motivs gibt die Grundlage der marxistischen Hegelkritik her, die ihm vorwirft, die Rechtslehre ‘als eine Wissenschaft des wirklichen Staats’ zu entfalten und ‘Norm und Faktum’ gleichzumachen. Brandt, Reinhard: Dichotomie und Verkehrung, HS 14, S. 225-242. 318 “Daß ich mein positives Selbst in dem gemeinsamen Willen” zu einer konkreten Handlung der Entäußerung habe, ist “Anerkanntseyn als Intelligenz, als von mir gewußtes”. Weil der gemeinsame Wille eben “durch mich gesetzt ist”, weiß ich mich positiv als darin anerkannt. Mein Anerkanntsein im gesellschaftlichen Verkehr ist nämlich mein Wissen von meinem positiven Selbst im gemeinsamen Willen. Für dieses mein Anerkanntsein weiß ich andererseits auch, dass der gemeinsame Wille auf dem allgemeinen Willen oder auf dem Allgemeinen des Selbst mit der Macht basieren soll. Nach dieser Notwendigkeit entäußere ich mich meiner selbst und erreiche meine allgemeine Macht oder das Allgemeine als “das negative meiner” selbst (J III.255). Mein Anerkanntsein im gesellschaftlichen Verkehr wird lediglich durch diese Macht meines negierten Selbst im allgemeinen Willen gesichert. Hierin habe ich auch das Bewusstsein meiner selbst als eines Entäußerten, als eines Anvertrauten und als eines Wirklichen. Das Allgemeine, das die daseiende Macht des reinen Willens über mein Leben ist, ist zuerst als “das unmittelbare Andersseyn” meines entäußerten Selbst eben “Herr”, dem “nur als meinem negativen Wesen” gegenüber ich “Furcht” habe. Das Allgemeine ist die “unmittelbare Einheit” “des reinen Willens und des Daseyns” oder “des reinen Bewußtseyns” des Allgemeinen und “meiner selbst” als des Entäußerten. Als diese unmittelbare Einheit ist es mein Herr. Ich habe ferner “Vertrauen” zum Allgemeinen, das “unmittelbar mein Willen ist” und mit meinem Willen übereinstimmt. Das Allgemeine, dem mein Selbst ganz frei vom Dasein und völlig anvertraut ist, ist dann als die daseiende Macht in der Übereinstimmung mit meinem Willen zum Allgemeinen die “öffentliche Gewalt”. Das Allgemeine ist also schließlich nichts anderes als mein Selbst, das als das Entäußerte wirklich besteht und als die Macht meines Willens wirkt. Das Allgemeine als “mein wirkliches Selbst” ist, oder ich selber bin nun eben “Regent” (J III.256). Diese dreierlei Gewalten des Allgemeinen, die nach meinem Wissen davon gestaltet werden, implizieren daher den Grad meines Bewusstseins vom Selbst. Oder mein Wissen vom Allgemeinen, nach dem die Gewalten werden, ist eben mein Bewusstsein vom Selbst im Allgemeinen meines entäußerten Selbst. Dies Verhältnis jedes Einzelnen zum Allgemeinen und dessen Gewalt ist nichts anderes als das Verhältnis des Volks zum allgemeinen Willen und dessen Gewalt. Die drei Gestalten der Gewalt als Gewalt des allgemeinen Willens des Volks bestimmen daher zum einen je nach ihrer Konstruktion oder Hervorhebung eben das konstitutionelle Staatswesen des Volks in der Geschichte. Sie sind zum anderen auch Konstituentien der Macht des entwickelten Staats in der Neuzeit. Hegel bringt zunächst hier die Konstitutionen der geschichtlich auftretenden Staatswesen zur Darstellung. Die 319 Konstitution eines Staates stützt sich ihm zufolge eben auf das “Constituiren des allgemeinen Willens” durch das Volk. Das Konstituieren ist bekanntermaßen durch die Selbstentäußerung der Volksmitglieder nach ihrem Wissen als Bildung überhaupt des Volks vollzogen. Diese Entäußerung ist von ihnen als notwendig idealiter gewusst und realiter ausgeführt, aber nicht einmal kontraktualistisch. Diesbezüglich unterscheidet sich Hegel wiederum von der Vertragstheorie, nach der durch die Stimmgebung aller Bürger “die Mehrheit den allgemeinen Willen mache”, weil der allgemeine Wille nach dem von allen stillschweigend bewilligten, ursprünglichen Vertrag bereits als der Wille aller ausgebildet, daher nun im Willen der Mehrheit enthalten sei. Der allgemeine Wille solle daher vertragsmäßig im Willen jeder konkreten Stimmenmehrheit vorausgesetzt werden.116 Diese kontraktualistische Vorstellung ist Hegel zufolge in zwei Hinsichten fehlgeschlagen. Zuerst: In Hinsicht des allgemeinen Willens ist das Machen desselben durch die Stimmmehrheit nur unter der Voraussetzung möglich, dass der allgemeine Wille schon als der Wille aller durch den ursprünglichen Vertrag erreicht ist. In der Mehrheit ist also der allgemeine Wille, dessen Werden erklärt werden soll, bereits vorausgesetzt. Der Wille der Mehrheit ist der allgemeine, zu dem sich der Einzelne, insbesondere auch die Minderheit, durch Selbstnegation, “durch sich Aufgeben” “machen müsse”. Aber hier ist nur die Tatsache gesetzt, dass sich jeder aufgeben muss, aber nicht erklärt, warum und wie. Hierfür führt die Vertragstheorie den fiktiven Naturzustand ein, der allerdings dem Werden des allgemeinen Willens äußerlich ist. In diesem Sinne ist es nicht die Erläuterung des Willens der Mehrheit, sondern gerade die Rechtfertigung desselben als des allgemeinen, zu der die Vertragstheorie beiträgt. In Hinsicht der Menschenmenge stellt die Vertragstheorie die Menge etwas “wirklicher” auch “als das Gemeinwesen constituirend” vor. In dieser Konstitution tritt jeder Einzelne als wirklicher auf und will seinen Willen nur als positiv konstitutiv für den allgemeinen Willen wissen. Die Einzelheit seines Willens ist hier weder entäußert noch negiert, sondern lediglich positiv. Aus dieser Einzelheit ergibt sich Hegel zufolge keine wahre Allgemeinheit. Denn dann wäre die Allgemeinheit eine generelle Summe der Einzelheiten. Die Position ohne Negation ist nur das bloße Setzen, ponere. Bloß daraus, 116 Über diesen Standpunkt von Emmanuel Sieyès, auf den sich Hegel hier bezieht, J III., Anhang, S. 345-346. Auch Kant zufolge gilt: Wenn das Zusammenstimmen zum Gesetz ‘von einem ganzen Volk nicht erwartet werden darf, mithin nur eine Mehrheit der Stimmen und zwar nicht der Stimmenden unmittelbar (in einem großen Volke), sondern nur der dazu Delegierten, als Repräsentanten des Volks, dasjenige ist, was allein man als erreichbar voraussehen kann, muss doch selbst der Grundsatz, sich diese Mehrheit genügen zu lassen, als mit allgemeiner Zusammenstimmung, also durch den Kontrakt, angenommen, der oberste Grund der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung sein’. Kant: Über den Gemeinspruch, A248-249. Zum Vergleich von Sieyès als Volkssouveränitätstheoretiker mit Hegel als Staatssouveränitätstheoretiker siehe Thiele, Ulrich: Gewaltenteilung bei Sieyès und Hegel, HS 37, S. 139167. 320 dass diese Föhre, jene Eiche, u. a. grün ist, lässt sich nicht das Grün als das allgemeine Wesen des Baums überhaupt herleiten. Jenes empirische Grün ist de facto zufällig für dies allgemeine Grün des Baums, das nur durch die Aufhebung der Einzelheit wesentlich denkbar ist. Sogar der geistig Einzelne, um nicht nur das Konstituens, sondern ferner das wahre Subjekt des Allgemeinen zu sein, muss sich selbst vor allem seinerseits aufheben und entäußern. Die Mehrheit der Einzelnen, deren Einzelheit im allgemeinen Willen nicht aufgehoben, sondern lediglich als positiv gesetzt und gewusst ist, ist nichts mehr als das zufällige Konglomerat für das Allgemeine. Ihr Konstituieren ist gar nicht ihr Nachweis, sondern nur Selbstbehaupten als des Allgemeinen. Hier wäre wiederum nur der Kampf um Anerkennung zwischen denjenigen Einzelnen möglich, deren Wille als positiv konstitutiv für den allgemeinen Willen, und denjenigen, deren Wille als negativ gegen den allgemeinen Willen angesehen wird. Denn im Allgemeinen der Mehrheit, in dem also ihre Einzelheit weiter besteht, liegt “keine Notwendigkeit” dafür, dass alle es wollen müssen, und “keine Verbindlichkeit, daß die Minderheit sich der Mehrheit unterwerfe”. Und der Anerkennungskampf ohne Selbstaufhebung hätte nur entweder Niederdrückung des einen oder die Flucht des anderen zur Folge. Hegel akzeptiert auf der einen Seite freilich die Einsicht der Vertragstheorie in die Fähigkeit der Menge zur Konstituierung des Gemeinwesens. Diese Einsicht ist noch “wirklicher” als das Verstehen der Einzelnen im Naturzustand. Aber obzwar die Vertragstheorie richtig voraussetzt, dass die Einzelnen “an sich allgemeiner Willen seyen”, versteht sie ihre Fähigkeit nur als das positive Moment des kontraktlich ausgebildeten, allgemeinen Willens (J III.257). Hegel lehnt also andererseits das Konstituieren des allgemeinen Willens durch den Vertrag schlechthin ab. 117 Die Fähigkeit der Einzelnen für das Allgemeine kommt gänzlich von ihrer Geistigkeit her. Insofern sie das Allgemeine wissen und wollen können, können sie auch über ihre eigene Einzelheit hinausgehen. Die Aufhebung und Entäußerung ihrer Einzelheit hat daher innere und freiwillige Notwendigkeit nach ihrem Wissen und Wollen vom 117 Schnädelbach fasst Hegels Kritik an der Vertragstheorie in der Rechtsphilosophie mit drei Argumenten gut zusammen: Sie richtet sich gegen ‘die Einmischung des ‘Vertragsverhältnisses’ über das Privateigentum ‘in das Staatsverhältnis’, gegen die Unaufhebbarkeit der Einzelheit im Vertrag, also die Möglichkeit allein der jeweiligen ‘Gemeinsamkeit’ derselben, und gegen die Rekonstruktion der Verfassung und/oder des Staatsrechtes ‘nach privatrechtlichen Mustern’. Dagegen beansprucht ihm zufolge Hegels Erwähnung von der ‘Existenz einer transsubjektiven sittlichen Macht’ als Grundlage der nicht gemachten Verfassung mehr als die Vertragstheorie, zu deren Figur Schnädelbach also letztlich sich neigt. Schnädelbach, Herbert: Hegel und die Vertragstheorie, HS 22, S. 111-128. Aber die sittliche Macht bei Hegel ist nicht so transzendent, sondern im konkreten sittlichen Leben des Volks enthalten, in dem der private Vertrag statt seiner unrealistisch unmittelbaren Anwendung auf das Staatsrecht konkret und wirklich entsteht, und dessen Reflexion das Selbstbewusstsein des Volksgeistes, also die Bildung des allgemeinen Willens für die Gesetzgebung herbeiführt. 321 Allgemeinen. Eben wegen dieser Fähigkeit sind sie bereits an sich der allgemeine Wille. Aber dies “Ansich ist ein anderes als ihr wirklicher” Wille in der Arbeit, im Tausch, im üblichen Vertrag u. a. um ihrer Einzelheit willen. Insofern ihnen nur ihre Einzelheit im allgemeinen Willen gilt, in dem ihr Wille “noch nicht entaüssert” ist, anerkennen sie den allgemeinen Willen als solchen nicht. Insofern sind sie weder wahres Element noch Subjekt des allgemeinen Willens. Trotzdem sind sie dessen fähig. Der allgemeine Wille ist “ihr Ansich”, und “er ist da” (J III.258). Eben das Dasein des allgemeinen Willens belegt die Wirklichkeit ihrer Fähigkeit. Er ist immer in der Gestalt der Gewalt wirklich da. Allein weil sie nicht von Anfang an ihr Selbst in der Gewalt erkennen, erscheint er ihnen nur als die äußere Gewalt, also zuerst als Tyrannei. Es dreht sich hier nicht um die ideelle oder apriorische Entäußerung in der Vertragstheorie. Insofern die Gewalt wirklich da ist, muss ihre Entäußerung auch real und wirklich sein. Es geht vielmehr darum, ob sie durch die freiwillige Entäußerung ihrer selbst das Allgemeine als ihre Gewalt ausbilden können oder, ob die Gewalt als auf ihrer Entäußerung beruhend, also als ihnen gehörig gestaltet ist. Kurz gesagt, geht es um das Selbstbewusstsein der Einzelnen in der Gewalt ihres Gemeinwesens118, in der der allgemeine Wille da ist. Ohne das Selbstbewusstsein tritt das Verhältnis zwischen den Einzelnen und ihrer Gewalt äußerlich auf. Insofern scheint ihre Entäußerung von der Gewalt zwanghaft gefordert zu sein. Dies Verhältnis liegt bereits in der Tyrannei. Hier beabsichtigt Hegel den Nachweis der Wirklichkeit des allgemeinen Willens, der sich nach dem Bildungsniveau der Einzelnen in ein mannigfaltiges Gewand der Gewalt kleidet. Dadurch, dass ein Wesen als der Existenzgrund seines Phänomens bestätigt wird, wird die Wirklichkeit des Wesens nachgewiesen. Und insofern die Bestätigung nicht nur für uns, sondern auch für die geistig Einzelnen selbst im Phänomen entsteht, sind diese zumindest das kognitive Subjekt des sich in der Wirklichkeit entwickelnden Wesens. Auch für den allgemeinen Willen gilt diese Betrachtungsweise, wodurch dann die Fiktivität der Vertragstheorie überwunden wird. Das erste Allgemeine der Einzelnen besagt, dass sie in einem Gemeinwesen, in einem Volk zusammenleben. Ihr Allgemeines ist also zuerst das “Volk” als ihr “daseyendes Ganzes” oder ihre “allgemeine Gewalt”, in der jeder “nach seinem Anerkanntseyn” seine Stärke hat. Die Stärke jedes Einzelnen im Volk ist eben die Stärke “des Volks” als 118 Avineri zufolge ist Hegels Staat in der Rechtsphilosophie ‘die Verkörperung des menschlichen Selbstbewußtseins’ in diesem Sinne. Avineri, Schlomo: Der Staat – das Bewußtsein der Freiheit MR, S. 397-399. Auch Dieter Henrich kommt in seiner Analyse der Enzyklopädie zum gleichen Schluss, dass Hegels Staat ‘auf dem Selbstbewußtsein’ der ‘verwirklichten’ freien ‘Subjektivität beruht’, in dem Sinne, dass das subjektive Einzelne das Prinzip der Einheit in der Hegelschen ‘monistischen Ontologie’ ist. Henrich, Dieter: Logische Form und reale Totalität. HPR, S. 428-450. 322 der allgemeinen Gewalt. Gerade hierin liegt der “Begriff der Constitution”. Aber die Stärke bzw. Gewalt des Volks ist als solche “wirksam nur insoweit sie in ein Eins verbunden ist”. Sie ist nämlich nur als ein Wille “Aller und Jeder” die Lebendigkeit des Volks. Dieser eine Wille ist eben der allgemeine Wille, der immer nur als “ein Eins” die Gewalt ausüben kann. Er ist als daseiend “schlechthin nur dieses Selbst” aller Einzelnen (J III.256). Dieses Selbst, d. i. dieses bzw. die Einzelheit des Selbsts aller ist die Einheit des Wirkens des allgemeinen Willens als eines Eins. Der allgemeine Wille hat sich also “in dieses Eins zusammen zu nehmen”, und insofern er “zuerst aus dem Willen der Einzelnen” entspringt, sich als ihr allgemeiner “zu constituiren”. Eben hierin liegt das Prinzip der Konstitution. Dies heißt nicht, dass der allgemeine Wille selbst sich konstituiert; es heißt nur das Konstituieren des allgemeinen Willens durch die Einzelnen. Nicht im spiritualistischen, sondern im subjektivitätsontologischen Sinne konstituiert sich der allgemeine Wille lediglich als der Wille aller und jeder. Dies bedeutet ferner, dass das Allgemeine ontologisch für seine Wirksamkeit als der realen Existenz seinerseits auch das Moment der Einzelheit braucht. Das Allgemeine ist das Wesen der Einzelnen. Das Einzelne ist aber die Wirklichkeit des Allgemeinen. Das Allgemeine ist dem Wesen nach früher als die Einzelnen. Aber das Einzelne ist der Zeit nach Träger des Allgemeinen. Hegel denkt in dies Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und Einzelnen den berühmten Satz des Aristoteles hinein, ‘das Ganze ist der Natur nach eher als die Teile’.119 Das Allgemeine als das Wesen der Einzelnen ist schon als ihr Ganzes, als das Volk, da. Der allgemeine Wille ist bereits “absolut da” für die Einzelnen, insofern sie nur in einer Gemeinschaft als Volk zusammenleben können und wollen. Aber er ist noch nicht wirklich wirksam, insofern sie nur als die einzelnen Willen um ihrer selbst willen “gar nicht unmittelbar derselbe” sind (J III.257). Um sich zum allgemeinen Willen zu machen, brauchen sie allerdings ihrerseits die Bildung als Fähigkeit für die Selbstentäußerung. Eben hierdurch wird der allgemeine Wille als ein wirklich wirksamer Wille aller konstituiert. Aber davor tritt lediglich das äußere Verhältnis zwischen dem allgemeinen Willen und den Einzelnen auf. Der allgemeine 119 Also ist ‘der Staat der Natur nach mit Klarheit eher als die Familie und der Einzelne’. Aristoteles: Politica, 1253a, 1288a. Den Staat (πολις) in diesem Satz liest Hegel im Naturrechtsaufsatz als “das Volk”. JKS, S. 467. Insofern der Staat als das Ganze aus Gesetzen seiner Natur besteht und diese Gesetze von den Sitten und Gebräuchen herkommen, ist die Verfassung des Staates bei Aristoteles auch vom sittlichen Leben des Volks (ηθος) abhängig. Bienenstock zufolge ist es deshalb auch für Aristoteles ‘nicht entscheidend’, ‘ob die „Gesetze“ geschrieben oder ungeschrieben sind’, sondern die Sitten des Volks als die Grundlage der Gesetze, gleich wie in Hegels Stellung zur Konstitution, die überhaupt nicht künstlich gemacht werden kann. Bienenstock, Myriam: Die „Ungeschicklichkeit, die wahrhaften Sitten in die Form von Gesetzen zu bringen“, ist „das Zeichen der Barbarey“: Hegels Kodifikationsforderung um 1802, HSB 42, S. 89-92. Über die Gesetzgebung bei Aristoteles, siehe Ritter, Joachim: Metaphysik und Politik, S. 106-132. Siehe auch Aristoteles: Politica, 1269a. 323 Wille wird also zuerst durch einen Einzelnen konstituiert, der wegen seiner allgemeinen Gemütsanlage die Gewalt des allgemeinen Willens zu tragen bekommt, aber dessen Gewalt allen anderen äußerlich ist. Ein solcher Einzelner, der die Gewalt des allgemeinen Willens trägt, ist Hegel zufolge der Tyrann. Er kommt als “der grosse Mensch” zum Vorschein, der das Ansich der Einzelnen, d. i. ihren unmittelbar reinen Willen als seinen Willen hat. Der große Mensch bedeutet bei Hegel weder einfach die physische Stärke noch die Vortrefflichkeit seiner Persönlichkeit oder Bildung. Seine Größe liegt eher “in seinen Zügen”, den an sich allgemeinen und bereits absolut daseienden Willen der Einzelnen als seinen Willen “zu wissen” und “auszusprechen”. Alle Staaten wurden zu Beginn “durch die erhabne Gewalt” dieses großen Menschen gestiftet, dem sich die Einzelnen wider ihren bewussten und wirklichen Willen zu gehorchen nicht entziehen können. Auf der ungebildeten oder unaufgeklärten Stufe tritt der allgemeine Wille nämlich als der Wille eines so bestimmten Einzelnen auf, der als der große Mensch mit erhabener Gewalt angesehen wird. Seine Gewalt ohne Selbstbewusstsein der Einzelnen ist für diese äußerlich und entsetzlich. Sie müssen ihm dennoch Folge leisten, insofern sein Wille als ihr Ansich mit der Gewalt erscheint. Ihre Selbstentäußerung ist also zwanghaft und unfreiwillig. Die Einzelnen wie auch der große Mensch wissen den zwanghaft entäußerten Willen der Einzelnen noch nicht als das Wesen der äußeren Gewalt. D. h. bei den Einzelnen sind ihr wirklicher und ihr zu entäußernder Wille getrennt. Jedoch ist der Grund für ihren Gehorsam im Wesentlichen nicht der äußere Träger der Gewalt, sondern eben der allgemeine Wille, der als der einzelne Wille des Trägers zum Ausdruck und in Gang gebracht wird. Der einzelne Wille des großen Menschen ist der allgemeine Wille aller, aber ohne ihr Selbstwissen. Die Gewalt des ersteren basiert also auf der Geeignetheit seines einzelnen Willens für das Allgemeine aller. Seine Gewalt in diesem Sinne ist die “Tyranney” als die “reine entsetzliche Herrschaft”, nicht einmal die Herrschaft des Despoten, der umgekehrt seinen einzelnen und willkürlichen Willen als den allgemeinen gewaltsam durchsetzen will. Der Despotismus bei Hegel ist wie die Pöbelherrschaft oder Autokratie kein wesentliches Moment für die Gestaltung der Gewalt. Mangelhaftes oder Verdorbenes kann nie für das Wesen konstitutiv sein. Dagegen ist die Tyrannei wegen der Repräsentativität ihrer Gewalt für den allgemeinen Willen notwendig für die Konstitution des Staates. Hegels Einschätzung der Tyrannei lässt sich in drei Hinsichten resümieren. Die Tyrannei eines großen Menschen ist in erster Linie “nothwendig und gerecht, insofern sie den Staat als dieses wirkliche Individuum constituirt, und erhält”. Sie ist die erste Konstitution, in der der Staat als die daseiende Gewalt gestaltet wird. Die Gewalt des 324 Staates wird hier von einem Einzelnen getragen. Aber der Wille dieses Einzelnen kommt vom allgemeinen Willen aller her. Im Tyrann steht der allgemeine Wille nämlich in der Beziehung auf sich selbst als Einzelnes, auf seine Wirklichkeit. Der tyrannisch konstituierte Staat ist daher “der einfache absolute Geist, der seiner selbst gewiß ist, und dem nicht bestimmtes gilt, als er selbst”. Er ist der einfache Geist, insofern der Geist des Volks seine Existenz bloß in einem Einzelnen findet. Er ist dennoch der absolute Geist, weil der Volksgeist erst in der Beziehung auf sich als verwirklicht steht. Hierin ist nichts als er selbst bestimmtes oder bestimmend. Der tyrannische Staat ist die erste, politisch verfasste, Wirklichkeit des sich selbst wissenden Volksgeistes. Das phänomenale Subjekt dieses Selbstwissens ist allerdings der Tyrann, der am Anfang als der große Mensch mit einem solchen Wissen den Staat errichtete. Nur in diesem Sinne ist die Tyrannei notwendig und gerecht. Damit ist von Hegel keine Legitimation des Bestandes der Tyrannei gemeint, sondern lediglich die gerechte Notwendigkeit der konzentrierten Gewalt für die Stiftung des Staates. Als Beispiele hierfür führt Hegel Theseus von Athen und die fürchterliche Gewalt in der französischen Revolution an. Diese Gewalt lässt sich zum einen nicht einfach moralisch bewerten. Denn der Volksgeist, der sich als solche Gewalt realisiert, kennt “keine” moralischen “Begriffe von gut und schlecht, schändlich” o. a. Entscheidend ist hier allein die Selbstdurchsetzung des Volksgeistes als wirkliche Gewalt. In diesem Geist ist “das Böse” “mit sich selbst versöhnt”. Diese Eigenschaft der staatsbildenden Gewalt der Tyrannei sah Hegel zufolge vor allem Machiavelli ein. In “der Constituirung des Staats überhaupt” haben alle bösen Handlungen, wie “Meuchelmord, Hinterlist, Grausamkeit u. s. w.” “keine Bedeutung”, insofern das Land noch kein selbstständiger Staat, sondern von der fremden Macht oder von den sich als souverän behauptenden, einzelnen Inhaber von Privilegien verheert und zerspalten ist (J III.258). Solche bösen Mittel werden gegen diesen bösen Zustand, in dem das Land steht, unumgänglich angewendet, und nur in diesem Sinne sind sie gerecht und notwendig. Gegen die behaupteten Souveränitäten der privilegierten Einzelnen, die zur Zertrennung des Landes und zum Tod des Volksgeistes führen, können nur die Maßnahmen für den Tod der Einzelnen oder der Schrecken ihres Todes wirksam sein. Hegel bemerkte bereits in den Fragmenten über die Verfassung Deutschlands die Ähnlichkeit der Machiavellischen Situation mit der deutschen, in der das deutsche Reich seit dem Westfälischen Frieden “in unabhängigen Staaten” aufgelöst nur als die Summe dieser Staaten, daher nur als “Gedankenstaat”, besteht120 (SE 105, 120 Das “Princip der absoluten Einzelnheit”, welches Hegel nicht nur hier, sondern an vielen Stellen als das Prinzip des Nordens, also auch “der Teutschen” erwähnt, ist ein solches, das deswegen einerseits ein anderes Prinzip der mächtigen Einheit braucht und andererseits als das Prinzip der Freiheit zugleich jede 325 131, 194). Aber er beabsichtigt damit nicht die bloße Einführung der Schreckensherrschaft in Deutschland. Die konzentrierte Gewalt ist lediglich für die Konstitution des vereinigten Staates notwendig, muss aber danach auch aufgehoben und zu einem Moment der Staatsgewalt werden. Denn eine solche Gewalt ist zum anderen jedenfalls das mit sich selbst versöhnte Böse selbst. Und wie sich das Böse vernichtet, so hebt sich die tyrannische Gewalt folgendermaßen auf. Gegen “die Einzelnen als solche, die ihren unmittelbaren positiven Willen absolut behauptet wissen wollen”, kann der allgemeine Wille nicht umhin, zuerst als “Herr, Tyrann”, als die “reine Gewalt” aufzutreten, die für sie fremd und tyrannisch verfährt. Durch diese Tyrannei werden die Einzelnen aber des Weiteren zur Entäußerung und Befolgung gebildet. Der wirkliche und einzelne Wille jedes Einzelnen wird unmittelbar und wirklich entäußert, und das Allgemeine dieses entäußerten Willens, also der allgemeine Wille wird nun eher der wirkliche Wille eines jeden. Diese “Bildung zum Gehorsam” ist eben die zweite Bedeutung der Tyrannei (J III.259). Jeder Einzelne wird zuerst von der tyrannischen Gewalt gezwungen, sich seines wirklichen Willens zu entäußern. Dies Element des Zwangs des Einzelnen ist notwendig für die “Bildung, sich im Allgemeinen anzuschauen”, insbesondere falls sich der Einzelne gegen das Allgemeine durchsetzen will (J III.247). Aber die wahre Bildung macht den Zwang zum Selbstzwang des Einzelnen. Sie endet nicht in der Abnötigung des Allgemeinen gegenüber dem Einzelnen, sondern zielt auf das Selbsterkennen des Einzelnen im Allgemeinen. Und dies ist schon in der Tyrannei möglich, insofern hier die wissende Beziehung des entäußerten einzelnen Willens auf den allgemeinen besteht. Der allgemeine Wille ist nun der Wille, dessen sich jeder entäußerte und der nun für jeden wirklich ist. Der Gehorsam gegenüber dem allgemeinen Willen ist daher der Gehorsam jedes Einzelnen gegenüber dem entäußerten Selbst. Aufmerksamkeit ist darauf zu richten, dass der Tyrann nur das Subjekt der Unterwerfung, nicht der Bildung zum freiwilligen Gehorsam ist. Der Tyrann unterwirft andere, nicht deshalb, weil er gebildeter oder selbstbewusster ist, sondern weil er das Ansich der Einzelnen als seinen Willen wissen und ausführen kann. Er ist nur das Mittel, durch das der an sich allgemeine Wille als die gegenständliche Einzelheit in der Welt realisiert und erkannt wird. Er ist freilich als ein bewusstes Subjekt das Mittel des allgemeinen Willens. Aber sobald die Einzelnen durch seine Ausübung der unterwerfenden Gewalt hindurch den in ihm vergegenständlichten allgemeinen Willen nun als ihren entäußerten Willen für sich zu wissen gebildet werden, wird die Tyrannei tyrannische und autoritäre Gewalt auflöst. J III., S. 259. Dazu, FN, S. 53. JKS, S.316. SE, S. 110. GPR, § 358. VPW IV., S. 763. 326 “überflüssig”, und damit tritt “die Herrschaft des Gesetzes” ein. Eben in dieser notwendigen Selbstauflösung liegt die dritte Bedeutung der Tyrannei. Die Gewalt des Tyrannen ist die Gewalt des allgemeinen Willens, der durch die Entäußerung aller nur als der Wille des Tyrannen kristallisiert wird, daher als die Beziehung des Willens eben “die Gewalt des Gesetzes, an sich” (J III.259). Entscheidend sind nun eben die Willen der Einzelnen, die sie als ihren allgemeinen Willen durch die Entäußerung bilden. Herrschen kann daher nicht ein einzelner Tyrann als der Träger des allgemeinen Willens, sondern ein formaler Vertreter lediglich gemäß dem allgemeinen Willen, dessen bildendes Subjekt die Einzelnen selbst sind und der also als ihr Gesetz auftritt. Hierin liegt eben der Grund für den Umsturz der Tyrannei bei vielen Völkern. Der allgemeine Wille wird von den Einzelnen als ihr entäußerter Wille gewusst und gebildet. Insofern ist dessen tyrannischer Träger nicht mehr nötig. Der weise Tyrann, der diese Bildung seines Volks erfasste, würde selbst Verzicht auf seine Tyrannei leisten. Sonst müsste sein nur “seiner selbst gewisser Geist”, gleichsam wie der Gott, der kein bewusstes Volk haben will und dessen Göttlichkeit also “nur die Göttlichkeit des Thiers” sein kann, in “die blinde Nothwendigkeit” seines Umsturzes geraten. Der Tyrann als das bewusste Medium des allgemeinen Willens ist letztlich ein solcher absoluter Geist, der einfach nur darin seiner selbst gewiss ist, dass er “auf Undank seines Volkes gefaßt” ist und also nach der ihm blinden Notwendigkeit zu Grunde geht. Die Herrschaft des Gesetzes beruht nun nicht auf der Gesetzgebung jenseits der Einzelnen, sondern auf der “Bewegung der zum Gehorsam gebildeten gegen das Gemeinwesen”. Dies Gemeinwesen ist ihr daseiendes Wesen, in dem jeder sein Selbst als erhalten findet. Das Verhältnis des Gehorsams der Einzelnen gegenüber dem Gemeinwesen ist daher das Verhältnis des Vertrauens, in dem das Gesetz “nicht mehr die Gestalt des einzelnen Willens” eines Tyrannen, sondern “des eignen” Willens eines jeden hat, obzwar sie zunächst freilich die Art und Weise der Herrschaft des Gesetzes nicht wissen (J III.260). Das Gesetz kommt hier als die unmittelbare Einheit des gegenständlichen Allgemeinen mit dem Selbst der Einzelnen vor. Es ist nämlich noch kein Selbstgegebenes der Einzelnen, sondern besteht nur als die Negation der tyrannischen Gewalt. Im Gesetz ist aber auch das Selbst eines jeden erhalten. Das Allgemeine als das Gesetz hat daher unmittelbar die doppelseitige Bedeutung der Negation der Gewalt des einen Einzelnen und der Position der Selbsterhaltung aller Einzelnen. Das Allgemeine braucht freilich für seine Realisierung das Einzelne. Aber das Allgemeine muss nicht als dem Einzelnen gehörig, sondern in der negativen Beziehung des Einzelnen auf sich realisiert werden. Denn es muss das Bestehen aller Einzelnen ermöglichen. Ebenfalls, insofern sich der allgemeine Wille aus der 327 Entäußerung aller Einzelnen ergibt, muss er sich seinerseits entäußern und ihr Erhalten zum Zweck haben. Daher entsteht die Einheit des Allgemeinen mit den Einzelnen als die daseiende Gewalt des Gesetzes auch “auf die gedoppelte Weise”, d. i. im Extrem des Allgemeinen und im Extrem der Einzelnen. Beide sind nur zwei Seiten der gleichen Einheit. Sie alle sind nun die Einheit des Begriffs und der Existenz, d. h. sie alle existieren zum einen realiter in der Individualität und bezwecken zum anderen idealiter das Allgemeine. Die Einheit im Extrem des Allgemeinen ist zuerst als die Gewalt eines einzelnen Trägers von den Einzelnen negiert und gestürzt. Alles, was existiert, existiert jedoch nur als ein Einzelnes. Das Extrem des Allgemeinen, das zwar selbst wiederum als Individualität existiert, aber keinem Einzelnen gehört, ist eben die “Regierung”. Die Regierung ist das Allgemeine als die allgemeine Einheit der Einzelnen, die selbst eine Individualität ist. Diese Individualität hat nur “das Allgemeine als solches zum Zwecke”, weil sie ihre Existenz nur als Vertreter des Allgemeinen hat. Dagegen ist die Gestaltung des Allgemeinen als der Einheit völlig auf die Einzelnen angewiesen, die sich im Extrem der Einzelheit entäußern. Die Einzelnen im Extrem der Einzelheit oder Individualität haben aber zuerst “das Einzelne zum Zweck”. D. h. es ist gerade um seiner selbst und seiner Familie willen, worum jeder Einzelne arbeitet, tauscht, Verträge schließt u. s. w. Jeder ist tätig, doch zugleich verallgemeinernd, also “auch für das Allgemeine”. Insofern dieses Allgemeine als das Selbst aller zum Bewusstsein kommt, hat jeder “dieses zum Zwecke”. In dieser Hinsicht wird das Allgemeine im Extrem der Individualität als die Einheit derselben gestaltet. Derselbe Einzelne ist also Hegel zufolge als tätig um seiner selbst willen “bourgeois” und als auf das Allgemeine zielend “citoyen”(J III.261). Diese zwei Begriffe, die bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts den Bürger einer Stadt, d. i. cité oder bourg zusammen, bezeichneten, sind schon zur Zeit Hegels durch den gesellschaftlichen und politischen Umschwung differenziert.121 Hegel benutzt zum ersten Mal hier diese Termini als Begriffspaar im neuzeitlichen Sinne. In der späteren Rechtsphilosophie wird noch geschickter der bourgeois als die Privatperson, der es vor allem um “ihr eigenes Interesse” geht, vom citoyen als Staatsbürger unterschieden (GPR § 187). Der Bürger als bourgeois ist daher bei Hegel kein Stadtbürger im traditionellen Sinne, wie ihn Kant noch versteht, 122 sondern der Wirtschaftsbürger, der mit der ökonomischen Selbstständigkeit sein eigenes Leben in der Gesellschaft führt. Dagegen ist der Bürger als citoyen der Staatsbürger, der um das staatliche Allgemeine als Bedingung für sein Leben bestrebt ist. Aber bemerkenswert ist 121 122 Riedel, Manfred: Zum Artikel Bürger, bourgeois, citoyen HWP1, S.964-966. Kant: Über den Gemeinspruch, A245. 328 nicht zuletzt, dass Hegel beide Termini nicht in der abgeschnittenen Trennung, sondern als zwei Charakteristika des gleichen Bürgers in einer Kontinuität auffasst. D. h. dem Staatsbürger liegt der Wirtschaftsbürger zugrunde, dieser wird eben durch die Bildung mit jenem vermittelt. Diese Bildung ist bekanntlich seinen sich immer mehr verallgemeinernden gesellschaftlichen Tätigkeiten und seiner politischen Erfahrung mit der Tyrannei immanent. Und eben aus diesem Grunde ist der Bürger als citoyen bei Hegel nicht nur der Staatsbürger, sondern im Voraus auch der Bildungsbürger,123 der später in der politischen Modernisierung Deutschlands eine Hauptrolle spielte. Die Einzelnen als diese Bürger gestalten nun im Extrem der Individualität den allgemeinen Willen, der der individuellen Regierung im Extrem der Allgemeinheit als Zweck auferlegt wird. Aber der allgemeine Wille wird bei seiner Gestaltung zuerst von den Einzelnen nicht als ihr begriffenes Allgemeines, sondern als ihre “Mehrheit” “durch das bestimmte Aussprechen und Stimmen” ausgebildet, und demnach wird auch die Regierung konstituiert, die eben die “Demokratie” ist. Das Prinzip der Demokratie besagt, dass alle der Majorität als ihrem allgemeinen Willen Folge leisten sollen. Dies bedeutet aber keinen Zwang für die Minderheit, ihre Überzeugung aufzugeben. Die Überzeugung kann nur äußerlich unterworfen, aber als Grundrecht der Freiheit ganz und gar nicht bezwungen werden. Das demokratische Verhältnis der äußeren Unterwerfung impliziert daher das Recht, die innere “Überzeugung zu verwahren”, ferner “zu protestiren”, was aber unter der wirklichen Herrschaft der Mehrheit machtlos und “abgeschmackt” bleibt. Daraus entstehen Probleme der Demokratie auf zwei Standpunkten. Zunächst kann der Einzelne auf dem Standpunkt der Minderheit immer nur auf seiner Überzeugung insistieren. Diese “Zähigkeit an der Überzeugung”, die auch zur Abtrennung von der realen Herrschaft der Mehrheit führt, ist aber nichts anderes als der “Eigensinn des abstracten Wollens, des leeren Rechts”, das sich nicht zur eigenen Gewalt kristallisieren, sondern nur als Kraft der Spaltung bleiben kann. In dieser Hinsicht ist sie für Hegel auch das Problem des schon ziemlich vereinzelten Deutschlands. Jedoch ist damit nicht die Bedeutungslosigkeit des Rechts der Bürger auf den Protest gemeint, sondern es wird dessen Unwirksamkeit in der Demokratie kritisiert, wenn der allgemeine Wille noch im Verhältnis des äußeren Gehorsams besteht. Deshalb zieht Hegel dem unbeschränkten Erlauben des Protestrechts aus der eigenen Überzeugung die Institutionalisierung desselben als einer organischen Instanz124 in der 123 Dieser Terminus, den Hegel nicht kannte und der erst im frühen 20. Jahrhundert entstand, ist Koselleck zufolge aber nicht geeignet für den allgemeinen Ausblick der geschichtlichen Phänomene, daher wird er auch hier nur für die Bezeichnung des bestimmten Bürgerbegriffs Hegels benutzt. Über den deutschen Bildungsbegriff im 19. Jahrhundert, Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten, S. 105-158. 124 Diese wäre mannigfaltige Beratungs- oder Kollegialinstanz im ständischen Repräsentativsystem der 329 Regierung vor. Hingegen wird auf dem Standpunkt der Mehrheit der allgemeine Wille auch nicht als notwendig gestaltet, weil sich “der Willen des einzelnen” dafür “noch zufällig” “als Meynung überhaupt” entscheidet. Das, dem gehorcht werden muss, ist gerade die Majorität der Meinungen, die zufällig in Übereinstimmung stehen; daher kann diese die Notwendigkeit des allgemeinen Willens nicht bestätigen. Außerdem ist der so als der allgemeine gestaltete Wille de facto als der wirklich wirksame Wille auch “selbst einzeln”. D. h. er muss sich als der einzelne Wille der Regierung durchsetzen, demzufolge setzt er für seine Ausführung realiter “das willenlose wirkliche Gehorchen” aller. Dieser Zwang zum Gehorsam ist also in Wirklichkeit die Bedingung für die Ausführung des Willens der Mehrheit. Schließlich sind die Inhalte dieses Willens, d. i. “die Beschlüsse, Gesetze” bezüglich “nur auf besondre Umstände”, also auch “selbst zufällig” zu bestätigen, obwohl ihr Zusammenhang mit dem Allgemeinen von allen Einzelnen eingesehen wird (J III.261). Z. B. ist die Wahl der Beamten durch die Gemeinde nicht mehr als “ein Zutrauen”, das aber erst durch den zufälligen Erfolg nach den Umständen gerechtfertigt wird.125 Hegel bewertet hier nicht die moderne Demokratie, die bis zur heutigen Gestalt erneut erdacht und entwickelt wird, sondern die unmittelbare Anwendung der traditionellen Demokratie in der Neuzeit. Diese Anwendung kann im höher entzweiten Volk der Neuzeit keineswegs erfolgen. Denn sie ist nicht frei vom Zwang der bloß auf der Mehrheit beruhenden Pöbelherrschaft und vom darauf folgenden Protest. Daher differenziert Hegel zuerst die Demokratie im streng traditionellen Sinne. Das “Reich der Sittlichkeit”, wo der allgemeine Wille nur durch die Wahl unmittelbar bestätigt wird, war möglich lediglich in der griechischen Antike, weil hier jeder Einzelne selbst “Sitte, unmittelbar eins mit dem Allgemeinen”, war. Das Volk im Ganzen war zugleich “Bürger” im Einzelnen und “das Eine Individuum, die Regierung”. Die Wahl war also die unmittelbare Bestätigung des Einzelnen als des verwirklichten Allgemeinen und insofern “die schöne glükliche Freyheit” jedes Einzelnen. Weil jeder “sich unmittelbar als allgemeines” wusste, war “die Entaüsserung der Einzelnheit des Willens” die “unmittelbare Erhaltung desselben” durch sich selbst. Hierfür war also kein Protestieren nötig. Aber diese Unmittelbarkeit gründet Hegel zufolge auf einer höheren Abstraktion bzw. einem größeren Gegensatz. D. h. jeder war von seiner Einzelheit oder späteren Rechtsphilosophie. Trotzdem sind der Protest und dessen Unterdrückung immer möglich, solange der Nachteil dieser demokratischen Entscheidung nicht völlig beseitigt werden kann. 125 Dieses Zutrauen, das durch eine Entzweiung des unmittelbaren Vertrauens in die Abstraktion des Rechts des Einzelnen auf sein Selbst wieder erreicht ist, ist nichts anderes als “das absolute Mistrauen” (JIII.266), das im modernen Staat ein ‘institutionell gehegtes’ ist und also ‘die individuelle Freiheit’ ermöglicht. Schnädelbach, Herbert: Hegels praktische Philosophie, 137-138. 330 Besonderheit so sehr abstrahiert oder im zu großen Gegensatz zum Allgemeinen, um seine Besonderheit “als solche, als dieses Selbst, als das Wesen zu wissen”. Er verzichtete also unverzüglich auf seine Eigenschaft, wusste sich unmittelbar nur abhängig vom Allgemeinen oder allein als das Allgemeine. Hier war der Volksgeist “ein tieferer Geist”, der den um die Vermittlung nicht wissenden Einzelnen zur unmittelbaren Identifikation mit dem Allgemeinen bildet. Dieser Geist ist in der höheren Entzweiung der Neuzeit nicht mehr präsent. Daher ist auch die Demokratie als seine Entelechie nun nicht mehr möglich. Insofern “jeder vollkommen in sich zurükgeht, sein Selbst als solches, als das Wesen weiß”, lässt sich der allgemeine Wille im Extrem der Einzelheit nun nicht mehr ohne das Selbstwissen jedes Einzelnen oder im äußeren Verhältnis zum Selbstwissen ausbilden.126 Das äußere Verhältnis des Gehorsams vermehrt eher die Latenz der Zerspaltung und die schlechte Unendlichkeit der Wahl gemäß verschiedenen Umständen. Aber damit behauptet Hegel nicht die völlige Abschaffung der Demokratie. Sondern er verweist vielmehr auf die Notwendigkeit der in einer eigenen Weise modernisierten Demokratie, nach der der allgemeine Wille als eine solche Gewalt bestehen kann, in der das Selbstwissen jedes Einzelnen anwesend ist. Die Demokratie dieser Art entwickelt er eben als die erbliche Monarchie. Hierfür braucht der demokratisch gestaltete, allgemeine Wille wiederum im Extrem der Allgemeinheit die Individualisierung als das Selbst aller. Die Schwäche der Demokratie besteht darin, dass der allgemeine Wille im äußeren Verhältnis des Gehorsams ausgebildet wird. Der allgemeine Wille muss sich also des Weiteren ins innere Verhältnis des Selbstgehorsams verwandeln. Er muss dafür vor allem das sich wissende Selbst aller sein, das selber vergegenständlicht ist, also von allen bestätigt werden kann. Seine Individualisierung als das Selbst nimmt daher das Selbst jedes Einzelnen zum Vorbild. Aber das Selbst des Einzelnen, der völlig in sich zurückgegangen ist, steht in der höheren Entzweiung vom Allgemeinen. Bezeichnend für das Selbst des Einzelnen ist Hegel zufolge eben die ideelle Absolutheit. Sogar selbst gegen das Allgemeine, das bereits von allen ausgebildet ist, entäußert sich niemand seines Selbst. Das Selbst ist ein der freien Person in der Neuzeit ganz und gar unveräußerliches. Eher bleibt es, obzwar “vom daseyenden Allgemeinen abgetrennt”, im Eigensinn, “doch absolut zu seyn”. Jeder will immer “in seinem Wissen sein 126 Hier ist eben die erste Abschiedsstelle des jugendlichen Ideals Hegels. HH, S. 172. Die griechische Sittlichkeit ist von nun an nicht mehr wünschbar, weil in ihr vor allem die Form der Selbstüberzeugung des Einzelnen in seinem Bewusstsein fehlt, wie auch Rameil bezüglich der späteren Rechtsphilosophie und der Vorlesungen darüber darlegt. Rameil, Udo: Sittliches Sein und Subjektivität, HS 16, S. 139-162. Hegel ist zu seiner Einsicht in die Beschränktheit der für den kleinen Freistaat geeigneten Demokratie nach dem Bericht von Rosenkranz bereits vor der Jenaer Zeit gelangt. HLeben, S. 520. 331 Absolutes” Selbst “unmittelbar” “besitzen”. Das, was er entäußert, ist nur allein sein wirklicher Wille. Für den Verzicht auf seine Wirklichkeit will er sich immer “nur in seinem Wissen” gelten. Sein Bestehen als das absolute Selbst im Wissen ist zugleich die Entäußerung der Wirklichkeit seines Willens. Realiter kommt “nur diese Entaüsserung selbst überhaupt zum Vorschein”. Das so ausgebildete Allgemeine ist das vom Einzelnen freie und Wirklichkeit habende Allgemeine. Jeder Einzelne hat idealiter die “vollkommene Selbstständigkeit in sich”, und deren Wirksamkeit realiter im wirklichen Allgemeinen. D. h. die Wirklichkeit des Selbst, das in seinem Wissen allgemein gilt, liegt im von ihm freigelassenen Allgemeinen. Dies freie und wirkliche Allgemeine ist daher “der Punkt der Individualität” als das Selbst aller. Das Wissen jedes Einzelnen vom gültigen Selbst ist mit anderen Worten gerade die “öffentliche Meynung”, auf die die wirkliche Allgemeinheit angewiesen ist, und das Selbst jedes Einzelnen im Wissen ist eben die Individualität, die die Wirklichkeit des wirklichen Allgemeinen gestaltet (J III.262). Aber insofern diese Wirklichkeit von allen Einzelnen aufgegeben und freigelassen ist, ist sie als die Individualität frei vom Wissen aller und wird deshalb nicht durch alle konstituiert. Vom Wissen aller abhängig konstituiert wird lediglich die Allgemeinheit des freien wirklichen Allgemeinen. Der Träger des allgemeinen Willens, dessen Individualität frei vom Wissen aller, aber dessen Allgemeinheit abhängig vom Wissen aller ist, ist Hegel zufolge eben “der erbliche Monarch”. Der erbliche Monarch ist im Extrem der Allgemeinheit, d. i. der Regierung, die wirkliche Individualität, die nur das Allgemeine selbst zum Zweck hat. Seine Erblichkeit ist zum einen die unmittelbare Natürlichkeit, die vom Wissen aller unabhängig ist. Wenn der allgemeine Wille als ein bestimmtes Individuum gemäß dem Wissen aller konstituiert werden sollte, wäre dies Individuum de facto jeweils nichts mehr als ein Vertreter für ein bestimmtes Allgemeines nach dem Wissen der Mehrheit. Dies wäre kein Überwinden, sondern nur das Festhalten des Problems der Demokratie als die Wahl des zufälligen Vertreters aufgrund der Gewalt der Mehrheit. Zum anderen ist die Monarchie die individuelle Wirklichkeit des allgemeinen Willens, der durch den Monarchen erst als die Gewalt in Wirksamkeit tritt. Ohne dieses Moment würde der durch das Wissen aller ausgebildete, allgemeine Wille nur ideell bleiben. Der erbliche Monarch ist mit einem Wort das wirkliche Dasein des allgemeinen Willens als das Selbst aller. Sein eigenes Selbst muss also nur rezeptiv für das Allgemeine sein, das jeweils durch das Selbstwissen aller ausgebildet wird. Er ist wegen seiner natürlichen Erblichkeit die selbstständige Wirklichkeit des allgemeinen Willens selbst und setzt als Monarch zuerst das jeweilige Allgemeine in die Tat um. Diese von Hegel verteidigte erbliche Monarchie ließe sich durch seine geschichtliche 332 Bedingtheit erklären. Aber sein Konzept ist nicht sowohl zeitlich bedingt als vielmehr auf einer exakten Diagnose über seine Zeit gegründet, in der das demokratisch ausgebildete Allgemeine es nötig hat, mit der stark zentralisierten Macht verbunden zu werden. Dass später eben durch diese Macht von Bismarck die Vereinigung Deutschlands erreicht wird, ist sehr vielsagend.127 Und zwar gehört die Macht des Monarchen nicht einmal zu seiner Alleinherrschaft, sondern sie ist innerhalb der Konstitution der Regierung funktionell eingerichtet. In diesem Sinne eröffnet sein Konzept der Monarchie eine Vergleichbarkeit mit der Kanzlerschaft oder Präsidentschaft heute.128 Vor allem ist seine Monarchie als Ergänzung und zugleich Vollendung der Demokratie konzipiert. Der Monarch ist ihm zufolge ein solches Individuum, das von Geburt an allein für den allgemeinen Willen bestimmt ist. Er kann nicht nach seinem eigenen einzelnen, sondern nach dem allgemeinen Willen an der Macht sein. Hierfür muss er als ein Einzelner höchstwahrscheinlich auch seinerseits gebildet werden.129 Er ist nur als “der feste unmittelbare Knoten des Ganzen” mächtig. Seine Gewalt ist zweitens auch nicht willkürlich und autoritär, sondern funktionell und autoritativ. Er lebt nur “in der Execution aller Befehle”, die als der allgemeine Wille entschieden und erklärt sind. Er ist die natürliche Festigkeit und treibende Kraft des bereits erklärten allgemeinen Willens. Und diese Erklärung kommt ursprünglich eben von der öffentlichen Meinung her. Wenn der Monarch der natürliche Festpunkt des Ganzen ist, ist die öffentliche Meinung das “geistige Band” aller, daher ist nur das hierauf beruhende, legislative Korps wahr, wie z. B. die “Nationalversammlung”.130 Eine gesetzgebende Instanz ohne solche Basis der öffentlichen Meinung wäre nichts als 127 HH, S. 104. HH, S. 393. 129 Aber diese Bildung des Fürsten braucht nach den Heidelberger Vorlesungen keine spezielle Erziehung zu sein, weil der Fürst bereits “durch die Natur” der Geburt “der Erste und so über alle Zwecke der Besonderheit hinausgesetzt” ist. Der Fürst sieht nach der optimistischen Erklärung des reifen Hegel also nur “mit einfach gebildetem Verstand” alle Angelegenheiten unbefangen an, für deren vernünftigen Inhalt andererseits nur das Ministerium Verantwortung übernimmt. VNS, § 140. 130 Siep im Gegenteil interpretiert die Nationalversammlung als ‘von Hegel ausdrücklich abgelehnt’. Siep, Ludwig: Hegels Theorie der Gewaltenteilung HR, S. 396. Ebenso Eichenseer, Georg: Die Auseinandersetzung mit dem Privateigentum im Werk des jungen Hegel, S. 111. Aber vom Text her gesehen ist es eher unklar, ob eine solche Instanz selbst negiert oder nicht ist. Gewiss ist nur, dass der institutionelle Versuch, ohne Bezug auf die öffentliche Meinung Gesetze künstlich zu verbessern, also vielleicht die von privilegierten Interessen vertretene Nationalversammlung wie die Assemblée nationale während der französischen Revolution, von Hegel verweigert werden müsste, wie auch Otto Pöggeler den Wandel der Abschätzung Hegels gerade in Bezug auf die ‘Représentation nationale’ des revolutionären Frankreich erblickt. Dagegen konzipiert Hegel “das wahre legislative Korps” freilich hier noch elementar, aber doch mit Sicherheit als eine der “Gewalten”. Pöggeler, Otto: Hegels Option für Österreich, HS 12, S. 116-123. Über die öffentliche Meinung, die in der Hinsicht der demokratischen Mehrheit, wie oben erwähnt, beschränkt, daher zweideutig ist, siehe zum Vergleich S. 14-15. Siep, Ludwig: Was heißt: „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ in Hegels Rechtsphilosophie?, HS 17, S. 92-93. 128 333 unnütze Künstelei. Dieses repräsentative Element konstruiert auch die Regierung. Der Monarch allein kann nicht verwalten; für die reale Durchführung des allgemeinen Willens werden ferner “die Regierungsbeamte”131 gewählt, die “in der Verwaltung ihrer besondren Angelegenheiten” jede Sphäre der öffentlichen Meinung vertreten. Sie ändern und leiten umgekehrt auch wirkliche Willen und wirkliches Tun der Einzelnen durch die Vermittlung mit dem Allgemeinen zum Allgemeinen des Ganzen. Alles dies aber lässt sich durch die Überzeugung des erklärten allgemeinen Willens in Angriff nehmen. Der Monarch ist drittens also eben “der letzte”, “der überzeugt” davon ist (J III.263). Von seiner Überzeugung geht die Verwaltung aus, die den erklärten allgemeinen Willen anwendet und verwirklicht. Hier ist die reale Rolle des Monarchen daher, obzwar noch nicht deutlich, aber doch de facto als ziemlich begrenzt dargestellt. Dementsprechend wird der Monarch später in der Rechtsphilosophie als “die Persönlichkeit des Staats” definiert, durch die der allgemeine Wille zur Gewissheit seiner selbst als des objektiven und zur Realisierung gebracht wird. Nämlich durch das Raten und Abwägen beschließt er in der Form des “„Ich will“” den auszuführenden allgemeinen Willen (GPR § 279). Er ist daher die letzte Instanz der Überzeugung des zu realisierenden allgemeinen Willens und zugleich der Anfangspunkt von dessen Realisierung. Diese funktionelle Rolle ist noch heute nicht fremd.132 Hegels konstitutionelles Konzept ist nun als ein Versuch einzuschätzen, die höhere Entzweiung der Neuzeit selbst als “das höhere Princip” der Sittlichkeit zu entwickeln. 131 Das Staatsbeamtentum, dessen Bedeutsamkeit Hegel bereits in den Fragmenten über die Verfassung Deutschlands betonte und dessen Bildung er in der Rechtsphilosophie betont forderte, spielte Koselle