V. Zum Schluss “Alle Menschen haben die Absicht sich glüklich zu machen” (FS 29). Diese Erwähnung in einer Tagebuchnotiz des Gymnasiasten Hegel zeigt klar das naive Motiv zu seinem späteren Philosophieren. Und der Jenaer Hegel erklärt in einer seiner ersten Vorlesungen, “das wahre Bedürfniß der Philosophie” richte sich darauf, “von ihr und durch sie leben zu lernen” (SE261). Das Philosophieren zum glückseligen Leben ist aber kein Novum von Hegel, sondern hat lange Tradition seit der Antike. Die Glückseligkeit liegt bei Aristoteles vor allem im guten Leben (το ευ ζην), 1 das in der unmittelbaren ungebrochenen Einheit mit dem Ganzen möglich ist. Die Bedingung für das gute Leben in der Neuzeit ersah Hegel aber in der Versöhnung und Harmonie des Zerspaltenen, was ihm bereits nicht nur aktuell und sozialpolitisch, sondern auch kognitiv und ontologisch gegeben war. Ein philosophischer Kristallisationspunkt dieser Versöhnung und Harmonie ist bekanntermaßen eben sein Sittlichkeitsbegriff, der bisher in Betracht gezogen ist. Das Gespaltene heute gilt aber als solches für die jetzige Modephilosophie, die den traditionellen Versuch der Versöhnung und der Einheit als das ratiozentralistische Konzept für die endgültige Herrschaft des zentralen Autors, Subjekts und Menschen u. a. bewertet und demgegenüber Getrenntsein bzw. Andersheit des Seienden im Horizont des reinen Dezentralismus belassen will. Für diese Philosophie tritt Hegel überhaupt als Vollender der Modernität und Beginner der Postmodernität auf. In ihrer Einschätzung spielt insbesondere Hegels dialektischer Begriff der Aufhebung eine wichtige Rolle, in dem Sinne, dass er einerseits die Logik der reduktiven Einheit ist und andererseits das Moment der Negation enthält. Während die Einheit des Getrennten durch die Aufhebung als die Reduktion des Anderen oder des Differenten auf das Selbst oder das Identische analysiert wird, wird die Negation im Grund genommen als die Selbstnegation wegen eigener Andersheit, also als ein positives Denken der Andersheit selbst geschätzt. Nach ihrer Dezentralisation ist die unreduzierbare reine Negativität, Andersheit, Differenz u. a. selbst eher die Bedingung, unter der das positive Setzen der Einheit, das herrschende Denken des Allgemeinen ermöglicht wird. Dafür gibt sie sich Mühe, jenen Horizont nicht begrifflich zu theoretisieren, sondern deskriptiv darzustellen. 2 In diesem dezentralen Horizont erhält jedes in erster Linie eine gleichwertige Egalität. Hier sind die Unterscheidungen des Wahren und Falschen, des 1 Aristoteles: Ethica Nicomachea, 1098b-1099a. Politica, 1257b-1258a, 1280a-1281a. Gute Beispiele dafür sind Levinas’ Andersheit, Bataille’ Tod, Derridas Différance u. a.. Ihre theoretische Arbeit ist nur für ihre rekonstruktive Destruktion gültig. Zum Einblick in die Rezeption der Hegelschen Philosophie in Frankreich siehe Williams, R. Robert: Hegel’s Ethics of Recognition, S. 10-13, 364-412. 2 344 Guten und Bösen, des Einzelnen und Allgemeinen u. s. f. von keinem Gewicht mehr. Jede bisherige wissenschaftliche Theorie ist lediglich eine begriffliche Textur, die vom Autor aus der Welt als dem Textnetz gewoben ist, und von nun an muss jede Schrift so geschrieben werden, dass zugleich das Selbst des Autors ausradiert wird und sein Text keine konstante Bedeutung hat, also ‘das Spiel der Spur’ wird.3 Der Maßstab der Beurteilung dieses philosophischen Atomismus liegt nicht zuletzt in der Präzision der Rekonstruktion als der ersten Stufe der rekonstruktiven Destruktion. Zumindest betreffs der Hegelschen Philosophie scheint ihre Rekonstruktion verfehlt zu sein. Die wahrhafte Aufhebung ist bei Hegel, wie schon gesehen, immer die Selbstaufhebung des geistigen Seienden. Lediglich das geistige Seiende kann sich selbst aufheben, während das Naturding nur das Andere als Anderes bleibt, daher nur vom Anderen aufgehoben werden kann. Die wahrhafte Selbstaufhebung ist also immer die Erhebung durch die Aufhebung der Einzelheit des Selbst auf das Allgemeine. Die wahre Einheit ist immer die Einheit mit dem Allgemeinen, in dem die Selbstheit oder Identität des Einzelnen aufgehoben und mit der Andersheit oder Nichtidentität versöhnt ist. Die schlechte Verallgemeinerung des Einzelnen, in der sich seine Einzelheit noch durchsetzt, analysierte Hegel bereits in der industriellen Arbeit, dem Verbrechen, vor allem dem Kampf um Anerkennung. Es besteht in seiner dialektischen Entwicklung keine auf Herrschaft ausrichtende Zentralisation. Die kursierende Frage über den Grund dafür, dass das, was auf der höchsten Ebene erreicht werden muss, das Wahre, das Gute, die Identität der Identität und der Nichtidentität, die positive Einheit der Einzelheit und der Allgemeinheit, die allgemeine Selbstheit des Selbst und des Anderen usf. ist, ließe sich nur ontologisch beantworten, obwohl selbst die ontologische Argumentation für den Dekonstruktivismus nicht plausibel ist. Was ist, kann und muss nur nach seinem Wesen sein und so berücksichtigt werden. Die modische Betrachtung des nicht seienden Seins, des unwesentlichen Wesens, der mittelpunktlosen Peripherie, der nichtidentischen Identität u. a. könnte höchstens nur die Bestimmtheit als Unbestimmtheit bleiben. Wo das Begreifen ein Spiel wird, wird alles zum Mittel der Macht. Noch schlimmer ist, dass die sozialpolitische Widerspiegelung des egalitären Atomismus die freiwillige Wahl des Populismus durch die Bürger sein kann, die insbesondere die politische Freiheit gerade erworben haben. Wenn das musterhafte Allgemeine keine Anwendung mehr findet, kann der Maßstab der sozialpolitischen Bewertung nur die Gemeinschaft der populären Interessen sein. Aber all dies kann hier nicht in der gebotenen Ausführlichkeit behandelt werden. Vielmehr lässt sich zum Schluss nur noch eine Bilanz der drei Bedeutungen der 3 Derrida, Jacques: Margins of Philosophy, S. 22. 345 Hegelschen Sittlichkeit für die Gegenwart ziehen. Mit vollem Nachdruck zu sagen ist in erster Linie, dass jeder Mensch als Person seinen Zweck nur insofern wollen und realisieren kann und muss, als dieser kognitiv verallgemeinerbar und zugleich praktisch zu verwirklichen ist. Dafür ist daher notwendig das Erkennen dessen, was, ähnlich wie sein Zweck, bereits objektiv als Allgemeines verwirklicht ist. Dies ist nichts anderes als das Erkennen der sozialpolitischen Ontologie des Menschen. Eben hierauf gründet Hegels Sittlichkeit. Seine Sittlichkeit geht deshalb über die Moralität hinaus, die nur subjektiv-epistemologisch verallgemeinerbar ist und die sich selbst zuliebe konsequent zu legitimieren also jeder vernünftige Einzelne fähig ist. Diese Gewalt der Moralität muss durch den Denkhorizont der Sittlichkeit filtriert, ergänzt und erweitert werden. Das Moralgesetz am bestirnten Himmel ist idealiter in mir und realiter nicht außer mir. Alles Erreichen von Zwecken wird daher zweitens durch die realistische Verallgemeinerung eines jeden Selbst ermöglicht, in der seine eigene Einzelheit aufgehoben, nämlich geopfert ist. Ohne diese Selbstopferung kann das Allgemeine im wahren Sinne keineswegs vom Einzelnen fortschreitend realisiert werden. Die Verallgemeinerung enthält die Aufhebung der Einzelheit in sich. Solange sich jeder Einzelne verallgemeinert, weiß er bereits aus eigenem Antrieb zu sterben. Dies aber nimmt keinen einseitigen Verzicht auf die reale Existenz des Einzelnen in Anspruch. Es heißt eher, das Leben eines jeden als das Allgemeine ist nur möglich mit Bezugnahme auf das Element des freiwilligen Todes, also die Selbstaufhebung bzw. Selbstaufopferung. Diese ist für die einzelne Existenz des Allgemeinen selbst, also für die Regierung, nicht ausgenommen. Die Individuen “nehmen am Allgemeinen keinen Anteil, wenn sie nicht ihren Eigennutz darin haben”, insofern dieser verallgemeinert ist (VNS § 132).4 Hegels Sittlichkeit besteht daher eben darin, dass jeder Einzelne selbst auf Grund des wahren Allgemeinen seine einzelne Existenz erhält. “Die wahre Freiheit” ist “die Sittlichkeit” in diesem Sinne (E II. § 469). Das wahre Allgemeine liegt in dem, was nach dem Wesen ist. Die sittliche Welt beinhaltet die versittlichte Natur durch den Menschen, wie sie dem Wesen nach ist. Hegels Sittlichkeit besteht daher schließlich nicht einfach darin, Naturhaftes zu beherrschen oder bewältigen, sondern im Grunde genommen, die Natur jedes Seienden so sein zu lassen, wie sie gemäß dem Wesen ist. Wenn all dies vergessen wäre, würde der Mensch erneut als Herr der Welt in den schonungslosen Kampf eintreten. 4 Vgl. Aristoteles: Politica, 1261b, ‘Vielmehr für das Eigne sorgt man vorzugsweise, für das Gemeinsame aber weniger oder doch nur so weit es den Einzelnen berührt’. 346