speichern Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.01.2012, Nr. 3, S. 28 Neue Sachbücher Das Selbstbewusstsein ist kein Schneckenhaus Was soll Hegels berühmte Geschichte von Herr und Knecht uns eigentlich sagen? Robert Pippin und Susan Buck-Morss versuchen des Rätsels Lösung auf recht verschiedenen Wegen. Manchmal sehnt man sich nach einer Nussschale. Nach jener sprichwörtlichen Nussschale, von der man sagen dürfte, dass die Weltprobleme in sie hineinpassten. Wunderbar übersichtlich wäre dies. Zwei schmale, spannende, sehr unterschiedliche Bücher sind nun erschienen, deren Autoren heureka! rufen. Sie haben einen Text gefunden, in dem die Probleme der Philosophie - also auch der Welt! - wie in einer Nussschale enthalten sind. Ihr Fundstück ist vierzig Seiten lang, heißt "Selbstbewusstsein" und firmiert als Kapitel in Hegels "Phänomenologie des Geistes". Es enthält - gewissermaßen als Nussschale in der Nussschale - einen Abschnitt zum Verhältnis von "Herrschaft und Knechtschaft". Fast hätte man gedacht, zu diesem Hegel-Hit, in dem der "Kampf um Anerkennung" verhandelt wird, sei alles gesagt. In ihrem Buch "Hegel und Haiti", einer Mischung aus Detektivgeschichte, Traktat und Pamphlet, behauptet nun Susan Buck-Morss, dass Hegel damit auf die Sklavenaufstände im damaligen Saint-Domingue anspiele und sein "Geistesblitz" Licht auf das Große Ganze werfe nämlich auf die "Universalgeschichte", die "neue Weltwirtschaft" und den "neuen Humanismus". Und was macht Robert Pippin? Er erklärt Hegels "Selbstbewusstseins"-Kapitel in seinem weniger exotischen, dafür aber äußerst eleganten Essay zu einem "Wendepunkt" der Philosophie überhaupt und traut ihm auch eine "außerordentlich machtvolle Wirkung außerhalb der Philosophie" zu. Hegel kommt jetzt aus Amerika - aus Cornell und Chicago. Form und Inhalt dieser zwei Bücher sind ziemlich unterschiedlich. Aber beide zeigen einen Hegel, der das Leben als Streben, Errungenschaft ("achievement") oder geschichtliches Projekt auffasst. "Nur durch Kampf kann also die Freiheit erworben werden", liest man bei ihm. Das Selbstbewusstsein entpuppt sich - mit Pippin - als "praktische" oder - mit Buck-Morss - als "politische" Angelegenheit. Buck-Morss ist darauf aus, den Hegelschen "Kampf" gegen den Verdacht zeitloser Spiegelfechterei in Schutz zu nehmen. Sie hält dafür, dass Hegel, als er 1807 den Kampf zwischen Herr und Knecht skizzierte und Letzterem den Sieg zusprach, bei dieser "vielleicht politischsten Stellungnahme seiner Karriere" ein Fallbeispiel vor Augen stand, auf das er in der Zeitschrift "Minerva" gestoßen war: der Aufstand in Saint-Domingue. Nach Buck-Morss kommt der Knecht von draußen rein - aus Westindien. Der "Enthusiasmus", mit dem Immanuel Kant auf die Französische Revolution reagierte, spiegelt sich ihr zufolge in Hegels Enthusiasmus über den Sklavenaufstand, den sie "als Moment in der Geschichte der universellen Verwirklichung der Freiheit" darstellt. Für Hegels staatstragende Revolutionskritik, für seine teilweise abfälligen Bemerkungen über die "Neger" ist sie nicht blind. Gleichwohl präsentiert Buck-Morss ihn als Vorboten einer Philosophie, die über den europäischen Tellerrand hinausblickt und sich des Themas der Humanität im Zeitalter von Hegemonie und Gewalt annimmt, welches mindestens - wie sie meint - bis "Osama bin Laden und George W. Bush" reicht. Buck-Morss hat für ihre Hegelinterpretation, die in den Vereinigten Staaten seit einiger Zeit kursiert, schon den einen oder anderen Verriss bezogen. Wer wie sie ein Detail unter das Vergrößerungsglas legt, vernachlässigt unweigerlich, was außerhalb des Blickfelds liegt. Vieles, was Hegel schreibt, passt hinten und vorne nicht mit "Haiti" zusammen. Die aufständischen Sklaven, die dort "Freiheit oder Tod" skandierten, haben eine andere Agenda als Hegels "Knechte", die die Freiheit aufgeben, um nur ihr Leben zu retten. Und doch hat die Kombination Hegel und Haiti ihren Reiz und ihre Berechtigung. Es ist bekannt, dass Hegel mit allen von ihm verwendeten historischen und literarischen Versatzstücken recht eigenwillig umging. So ist auch die Bezugnahme auf die haitianischen Sklaven alles andere als eine Solidarisierung - aber um eine Bezugnahme handelt es sich gleichwohl, und das allein ist bemerkenswert. Das Buch von Buck-Morss ist aufregend im besten Sinn. Es lässt uns teilhaben an der fast erhabenen Erfahrung, dass ein deutscher Provinzphilosoph um 1800 - das ist, nur zur Erinnerung, vor der Erfindung des Internets - umgetrieben war von Geschehnissen, die mehr als eine Tagesreise oder einen Gedankensprung entfernt waren. Vor allem aber entdeckt Buck-Morss in Hegels philosophischer Nussschale ein Problem, das jeden Leser heute umtreibt. Denn wie in der Geschichte der Sklaverei, so ist auch in der Geschichte der Emanzipation, die Hegel erzählt, die Politik - also die Ambition auf "Freiheit" - eng verknüpft mit der Ökonomie, also der Sorge um das "Leben". Liest man Robert Pippins Buch "Hegel on SelfConsciousness" nach jenem von Buck-Morss, so ergeht es einem wie jenem Monopoly-Spieler, der gerade die EreignisKarte "Gehen Sie zurück auf Los" gezogen hat. Er fängt von vorn an. Die Enttäuschung allerdings weicht bald der Erbauung. Pippin enthält sich kolonialhistorischer Exkurse und politischer Spekulationen, übt sich in der langsamen Arbeit des Begriffs und nimmt dann doch tüchtig Fahrt auf. Er setzt ein bei einem Punkt, der die Hegelforscher in jüngster Zeit schier um den Verstand gebracht hat. Wie kann es sein, dass inmitten eines Kapitels, das eigentlich nur dem reinen "Selbstbewusstsein" gewidmet ist, ein Abschnitt vorkommt, in dem so Fernliegendes verhandelt wird wie das Verhältnis zwischen Herr und Knecht? Früher haben sich die Interpreten um diese Frage einfach nicht geschert und die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft kurzentschlossen politisch ausgeschlachtet. Unterdessen ist man vorsichtiger geworden. Manche verlagern die Szene ganz weg vom Schauplatz der Interaktion und hinein ins innere Theater des Subjekts. Demnach soll es Hegel um eine innere Erfahrung gehen, in der das Bewusstsein allein mit sich selbst als Objekt zu tun hat. Die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft ist nach dieser Lesart nichts als eine Metapher dafür, dass die "Begierde" des Selbstbewusstseins, sich selbst und sein Objekt im Griff zu haben, auf Widerstand stößt. Dieser Deutung von Knechtschaft als innerem Erlebnis widmet Pippin eine subtile Kritik. Er zeigt, dass bei Hegel jede Selbstverständigung, jeder Selbstbezug immer schon nach "draußen" gerichtet ist, dass die Gesellschaftlichkeit schon in jene Prozesse hineinspielt, in denen ich nur sage, was ich denke oder begehre. Das Selbstbewusstsein hat kein Schneckenhaus, in dem es sich zur Ruhe setzen kann, es betrachtet sich nicht nur, sondern "positioniert sich" nach Pippin immer wieder neu in der Welt. Es muss - wie es bei Hegel heißt - in "Bewegung" sein. Diese elementaren Überlegungen werfen ein neues Licht auf Freiheit und auch auf Knechtschaft. Bei Pippin erscheint Hegel als eigentlicher Urheber der Lehre, dass es sich bei der Freiheit nicht um irgendeine "metaphysische Eigenschaft" des Menschen handele, sondern um eine "historische und soziale Errungenschaft". Freiheit erfährt nur derjenige, der sich befreit. Aus der Geschichte der modernen Gesellschaft ist dieses Gefühl des Tatendrangs, des Aufbruchs, des Übergangs nicht wegzudenken. Und wie steht es mit der Knechtschaft? Pippin findet den Knecht nicht in Haiti, sondern in der Heimat. Wer, so fragt er, verhält sich eigentlich wie ein Knecht, sieht also im bloßen "Leben" schon einen "Wert", begnügt sich mit dem Behagen und steht der Freiheit ziemlich gleichgültig gegenüber? Dieser Typ, so Pippins Antwort, ähnelt auf vertrackte Weise dem "Bourgeois". Er spielt die Rolle des Saboteurs in der Geschichte der Freiheit. Robert Pippin gelingt das Kunststück, den Leser wohlbehalten durch die Eiswüste der Hegelschen Abstraktion zu leiten und ihm gleichzeitig tüchtig einzuheizen. Es gibt übrigens einen grandiosen Einwurf zum Thema Herrschaft-Knechtschaft, der seltsamerweise kaum je - auch nicht von Buck-Morss und Pippin - zitiert wird. Es handelt sich um eine Frage, die Hegels Freund Hölderlin 1799 in seinem "Hyperion" aufwirft: "Herrn und Knechte siehst du, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld?" DIETER THOMÄ Susan Buck-Morss: "Hegel und Haiti". Für eine neue Universalgeschichte. Aus dem Englischen von Laurent Faasch-Ibrahim. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 221 S., br., 16,- [Euro]. Robert B. Pippin: "Hegel on Self-Consciousness". Desire and Death in the "Phenomenology of Spirit". Princeton University Press, Princeton/Oxford 2011. 103 S., geb., 24,99 [Euro]. Alle Rechte vorbehalten © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main Vervielfältigungs- und Nutzungsrechte für F.A.Z.-Inhalte erwerben Sie auf www.faz-rechte.de