Bourdieus Kapitalsorten und die Auswirkungen auf schulische Bildung

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Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Sommersemester 2006
Institut für Bildungswissenschaft
Seminar: Theorie und Praxis der Schule
Seminarleiter: Dr. Gerstner
Bourdieus Kapitalsorten und die
Auswirkungen auf schulische Bildung
Jochen Storch
Gronauer Straße 87
64625 Bensheim
[email protected]
Politische Wissenschaft / Englische Philologie
Abschlussziel: Staatsexamen
Fachsemester: 3
Hochschulsemester: 6
Abgabedatum: 28.09.2006
3
Inhalt
1. Einleitung
3
2. Kapital bei Bourdieu
2.1 Ökonomisches Kapital
3
2.2 Kulturelles Kapital
4
2.2.1 Der inkorporierte Zustand
4
2.2.2 Der objektivierte Zustand
5
2.2.3 Der institutionalisierte Zustand
5
2.3 Soziales Kapital
6
3. Kritische Würdigung
7
4. Bibliographie
5. Plagiatserklärung
4
1. Einleitung
Die bildungspolitische Debatte der letzten Jahre kreist in Deutschland immer wieder
um die zentrale Problematik des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und
schulischen Erfolgschancen. Soziale Herkunft wird hier größtenteils als ökonomische
Komponente verstanden, berechnet in ökonomischen Maßen wie dem Einkommen
der Eltern der Schüler. Außer Acht gelassen wird hierbei allzu oft, dass das
ökonomische Setting einer Familie lediglich der Ausdruck einer anderen, nicht immer
in mathematischen Größen bezifferbaren „Kapitalsorte“ ist, nämlich des jeweilig
unterschiedlichen Bildungsniveaus des engsten sozialen Milieus der Kinder, der
Familie. Das Seminarthema „Theorie und Praxis der Schule“ nehme ich im
Folgenden zum Anlass, mit dem Soziologen Pierre Bourdieu einen der
bedeutendsten Theoretiker zu Wort kommen zu lassen; mit seinem wegweisenden
Beitrag zur Debatte löst er sich von einer rein ökonomischen Sichtweise auf den
Kapitalbegriff und erweitert ihn zu mehreren Ausformungen. Die Struktur dieser
Arbeit ist wie folgt: Zunächst werden anhand des ökonomischen, des kulturellen und
des sozialen Kapitals die 3 grundlegenden Züge der Kapitalsorten Bourdieus erklärt,
die Implikationen dieser Begrifflichkeiten für die Institution Schule und das Phänomen
der Chancenungleichheit erläutert, um schließlich eine kritische Würdigung des
Bourdieuschen Konzepts vornehmen zu können.
2. Kapital bei Bourdieu
Ökonomisches Kapital
Der Begriff „Kapital“ stammt aus der Ökonomie. Er meint die hier individuell wie
kollektiv akkumulierbare Aneignung von materiellen Dingen. Die ausschließlich
ökonomisch – materielle Dimension des Begriffs sieht Bourdieu grundsätzlich
problematisch, denn „[d]ieser wirtschaftswissenschaftliche Kapitalbegriff reduziert die
Gesamtheit der gesellschaftlichen Austauschverhältnisse auf den bloßen
Warenaustausch, der […] vom Eigennutz geleitet ist.“ 1 Sofern ausschließlich dieser
materielle Ansatz verfolgt wird, werden alle Austauschbeziehungen ignoriert, die von
nicht-materieller, uneigennütziger Natur sind. 2 Die Ökonomie vereinnahmt den
Kapitalbegriff insofern für sich, als dass der Warenaustausch als einzige Form
sozialen Austauschs gewertet wird und alle anderen Formen hier keine
Berücksichtigung finden. 3 Neben der Wirtschaftswelt sieht Bourdieu eine Welt, deren
„Güter“ nicht quantifizierbar und mit einem objektiven Preis auszeichenbar sind;
dennoch spiegeln diese Güter einen ebenso hohen Machtfaktor in sozialen
Beziehungen wider. Aus diesem Grund ist es nicht ausreichend, den Kapitalbegriff
zur Wirtschaft hin zu verengen; vielmehr ist es wichtig, soziale
Austauschbeziehungen in ihrer Ganzheit zu betrachten und „die Gesetze zu
bestimmen, nach denen die verschiedenen Arten von Kapital […] gegenseitig
ineinander transformiert werden. Von zentraler Bedeutung, insbesondere hinsichtlich
einer Analyse von sozialer Ungleichheit und schulischer Chancenungleichheit, ist der
Terminus des kulturellen Kapitals.
1
Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA-Verlag, 1992, 50.
Ibid., 50-51.
3
Ibid., 51.
2
5
Kulturelles Kapital
Unter „Kulturellem Kapital“ versteht Bourdieu die Gesamtheit der individuell
akkumulierten kulturellen Inhalte, mit dem spezifischen Blick auf die Schule lässt sich
hier von Bildung sprechen. 3 Zustandsformen kulturellen Kapitals lassen sich nach
Bourdieu unterscheiden: Der inkorporierte, der objektivierte und der institutionalisierte
Zustand. 4
Der inkorporierte Zustand
In Abgrenzung an Theorien, die unterschiedlichen schulischen Erfolg entweder mit
unterschiedlichen wirtschaftlichen Investitionen („Humankapital-Schule“ 5 ) oder der
Verschiedenheit von Begabung und Fähigkeit erklären 6 , führt Bourdieu den Begriff
des inkorporierten, also „körpergebunden[en]“ kulturellen Kapitals ein. Das Kapital
wird über die Zeitinvestition in Bildung akkumuliert und ist an die Person gebunden,
die die Invesition „in sich“ vornimmt; somit ist der Erwerb dieser Form des Kapitals
nicht delegierbar. 7 Diese Besonderheit der Kapitalsorte lässt sie in den Vorzug
kommen, größtmöglichste Sicherheit vor Ausbeutungsversuchen durch die Eigner
ökonomischen oder sozialen Kapitals zu erlangen. Denn im Gegensatz zu einer
materiell übertragbaren Sache, die als Objekt durch ein Subjekt lediglich besessen
werden kann, verschmilzt in dieser Kapitalform das Subjekt mit dem Objekt zu einer
untrennbaren Einheit: „Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen
Bestandteil der Person, zum Habitus geworden ist; aus „Haben“ ist „Sein“
geworden.“ 8 Die Verinnerlichung kulturellen Kapitals verläuft durch Zeitinvestition,
wodurch die „Dauer des Bildungserwerbs“ 9 zum wichtigsten Indikator zur
Bestimmung der Kapitalform wird. Hinsichtlich der Schule attestiert Bourdieu dem
inkorporierten
kulturellen
Kapital,
wie
ein
natürlicher
vorschulischer
Selektionsmechanismus zu wirken: Kinder wachsen in verschiedenen familiären
Milieus auf, die Dauer, die Intensität und der Grad des Schulstoffbezugs der
vorschulischen Bildung prägt die Chancenungleichheit bereits am ersten Schultag.
An diesem Punkt, an dem Bourdieu den Ursprung der Ungleichheit umschreibt,
manifestiert sich seine Hauptthese: „In der engsten Beziehung zum Schulerfolg des
Kindes steht - mehr noch als die vom Vater erzielten Abschlüsse und mehr als des
von ihm absolvierten Bildungsgangs – das allgemeine Bildungsniveau der Eltern.“ 10
Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die Art der Weitergabe kulturellen
Kapitals: Sie läuft meist nicht intendiert, sondern im Hintergrund während der
Sozialisierung des Kindes ab. 11 Diese Tatsache ist ein entscheidender Grund für die
weitgehende Nichtberücksichtigung der Kapitalform. Je nach Stärke des
„Kulturkapitals“ 12
des
familiären
Umfelds
akkumulieren
Kinder
einen
4
Bourdieu (1992), 53.
Ibid., 54.
6
Ibid., 53.
7
Ibid., 55.
8
Ibid., 56.
9
Ibid., 56.
10
Bourdieu, Pierre: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Hamburg: VSA-Verlag, 2001, 2.
11
Ibid., 5.
12
Bourdieu (1992), 58.
5
6
unterschiedlichen Grad an vorschulischer Bildung. Im Idealfall ist nach Bourdieu die
„gesamte Zeit der Sozialisation zugleich eine Zeit der Akkumulation.“ 13 Die Tatsache,
dass die Stärke der Akkumulation in verschiedenen familiären Umfeldern
unterschiedlich ist, weist auf einen ersten Ursprung der Chancenungleichheit der
Kinder. Die Zeitkomponente verbindet den Ansatz des ökonomischen mit dem des
kulturellen Kapitals; so ist es in verschiedenen wirtschaftlichen Konstellationen
entweder möglich oder unmöglich, dem Kind Zeitressourcen zur Akkumulation
kulturellen Kapitals zur Verfügung zu stellen. 14 Die Persistenz dieser strukturellen
Chancenungleichheit ist nach Bourdieu eine der entscheidenden Probleme und lässt
sich auf ein ihr innewohnendes Charakteristikum zurückführen: Ihre
Reproduktionsfähigkeit. Ein Ausbruch aus dem Kreislauf der strukturellen
Ungleichheit wird dann schwer möglich, wenn die jeweiligen Sozialmilieus ihre Kinder
mit ihren spezifischen Erwartungshorizonten und Zielvorstellungen prägen, und zwar
bevor die Schule ihr Potential als homogenisierende Institution ausspielen kann; wie
es Girard und Bastide treffend formulieren: „Die Pläne der Familien reproduzieren
gleichsam die soziale Stratifikation, die sich im Übrigen in den verschiedenen
Schularten wiederfindet.“ 15
Der objektivierte Zustand
Das objektivierte kulturelle Kapital gewinnt seine Bedeutung aus seiner ambivalenten
Rolle als Teilaspekt des Objekts, dass allerdings nur über die entsprechende
Existenz inkorporierten kulturellen Kapitals zur Entfaltung kommen kann. Als
Beispiele für die Kapitalsorte lassen sich Güter wie Bücher, Lexika, Instrumente oder
Maschinen anführen. 16 Der Eigner ökonomischen Kapitals, beispielsweise in Form
eines Computers, kann die Funktionslogik seines Guts nicht verstehen und somit
dessen Potentiale nicht ausschöpfen, wenn ihm das entsprechende Wissen, die
entsprechende Theoriekenntnis fehlt, er nicht über das notwendige objektivierende
Kulturkapital verfügt. In dieser Zustandsform erschließt sich das Objekt dem Subjekt
in seiner Ganzheit. 17 Hier wird der Unterschied zwischen materieller Übertragung
und symbolischer Aneignung kulturellen Kapitals deutlich. In materieller,
ökonomischer wie juristischer Hinsicht kann eine Übertragung eines Guts problemlos
von statten gehen, indem nach Zahlung des Kaufpreises ein neuer Eigentümer im
rechtmäßigen Besitz des Gegenstands ist. Die Einzigartigkeit des kulturellen Kapitals
besteht nun aber gerade in der Schwierigkeit seiner Übertragung. Aus dieser
besonderen Problematik folgert Bourdieu die Uneindeutigkeit gesellschaftlicher
Rollenverteilung; in einer Gesellschaft, in der die Besitzer ökonomischen Kapitals,
also beispielsweise Produktionsmittel, nicht über das nötige inkorporierte kulturelle
Kapital zum Verständnis des jeweiligen Guts verfügen, aber gleichzeitig die Besitzer
dieses Kapitals nicht die Besitzer des Guts sind, drängt sich eine Frage auf: Wer ist
Herrscher, wer ist Beherrschter? 18 Nichtsdestotrotz erkennt Bourdieu das
ökonomische Kapital als die dominante Kapitalsorte an, wodurch sich für die
Bildungsinstitutionen wie die Schule ein enormer Konkurrenz- und im gleichen
Atemzug Selektionseffekt einstellt, dergestalt dass der Wettlauf um Arbeitsplätze ein
13
Ibid., 58.
Bourdieu (1992), 59.
15
Bourdieu (2001), 6.
16
Vgl. Bourdieu (1992), 53.
17
Vgl. Bourdieu (1992), 60-61.
18
Vgl. Bourdieu (1992), 60.
14
7
Wettlauf um inkorporiertes kulturelles Kapital wird – ein Rennen, das, wie bereits im
letzten Kapitel analysiert, mit ungleichen Startvoraussetzungen beginnt.
Der institutionalisierte Zustand
Als Antwort auf die Eigenart des inkorporierten Zustands kulturellen Kapitals, das
körpergebunden an den Eigner ein biologisch bedingtes Ende zu erwarten hat, hat
sich die institutionalisierte Form, wie der Name bereits erkennen lässt,
„institutionalisiert“, d.h. juristisch abgesichert und von Person zu Person übertragbar
gemacht. Als klassisches Beispiel fungiert hier der amtliche Titel: „Durch den
schulischen oder akademischen Titel wird dem von einer bestimmten Person
besessenen Kulturkapital institutionelle Anerkennung verliehen.“ 19 Die eigentlich
nicht exakt bestimmbare Akkumulation kulturellen Kapitals wird in diesem Prozess
standardisiert, d.h. es werden Standards zur Abgrenzung der Titel festgelegt, „relativ
unabhängig […] von dem kulturellen Kapital, das dieser tatsächlich zu einem
gegebenen Zeitpunkt besitzt.“ 20 Diese Standardisierung hat zur Folge, dass dem
natürlichen Kontinuum des Grads kulturellen Kapitals die Vorstellung einer
stufenweisen Ausprägung dieses Kapitals entgegengesetzt und legitimiert wird:
Minimale Leistungsunterschiede ziehen maximale Konsequenzen für die schulische
Laufbahn nach sich. 21 Ein weiteres Wesensmerkmal der Kapitalsorte liegt in ihrer
wechselseitigen Umwandelbarkeit in ökonomisches Kapital: Einem schulischen Titel
kann ein Geldwert zugewiesen werden. 22
Soziales Kapital
In Abgrenzung zum ökonomischen wie zum kulturellen Kapital ist die Kapitalsorte
„Soziales“ Kapital“ zwar auch individuell akkumulierbar, jedoch ohne den
Kollektivzusammenhang nicht zu denken. Bourdieu definiert den Terminus als „die
Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines
dauerhaften Netzes von […] institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen
Kennens oder Anerkennens verbunden sind.“ 23 Mit dem institutionalisierten
kulturellen Kapital verbindet ihn der Aspekt der Institutionalisierung, z.B.
gekennzeichnet durch die Übernahme eines gemeinsamen Namens. Der Grad des
Sozialkapitals bestimmt sich nicht nur aus der Größe des eigenen
Personennetzwerkes, sondern auch im Besonderen aus der Größe des sozialen
Kapitals des oder der Bekannten. Zu unterscheiden sind hierbei 2 verschiedene
Profite, die aus einer sozialkapitalbasierten Austauschbeziehung gewonnen werden
können, nämlich materielle wie symbolische. 24 Die symbolischen Profite ziehen ihre
große Bedeutung aus der Tatsache, dass das eigene Prestige mit von dem der
Gruppenmitglieder abhängt; so kann besonders viel Sozialkapital aus der
Bekanntschaft mit Mitgliedern einer „erlesenen und angesehenen“ 25 Gruppe
19
Bourdieu (1992), 62.
Ibid., 61-62.
21
Ibid., 62.
22
Ibid., 62.
23
Ibid., 63.
24
Ibid., 65.
25
Ibid., 65.
20
8
gewonnen
werden.
Im
Gegensatz
zur
Familie,
die
zu
den
„Verwandtschaftsbeziehungen“ 26 zählen, konstituiert sich die soziale Gruppe
bewusst
in
einem
institutionalisierten
Prozess,
den
„Institutionalisierungsriten“ 27 Kennzeichnend für diesen Prozess ist die Umwandlung
von Zufallsbeziehungen in dauerhafte Beziehungsgeflechte, die mit der Zeit ein
Gefühl der Verpflichtung entstehen lassen, entweder basierend auf „subjektiven
Gefühlen“ 28 , oder „institutionellen Garantien“ 29 . In Form der Gruppe wird soziales
Kapital reproduziert, ein Phänomen, das wir bereits bei der Analyse des kulturellen
Kapitals kennen gelernt haben. Nachdem sich die Gruppe institutionalisiert, erfolgt
ihre Reproduktion über die Austauschbeziehungen, „der Austausch macht die
ausgetauschten Dinge zu Zeichen der Anerkennung […].“ Im selben Maße wie sich
die Gruppe konstituiert und reproduziert, achtet sie auf die Einhaltung der Grenzen
der Austauschbeziehungen. So ist jedes Neumitglied eine potentielle Gefahrenquelle
für den Gruppencharakter. 30
Der Beitrag des Konzepts des sozialen Kapitals zur Problematik der
Chancenungleichheit lässt sich, ähnlich dem Konzept des kulturellen Kapitals,
anhand der Reproduktionsfähigkeit erkennen. Kinder aus familiären Milieus mit
einem geringen Bildungsniveau werden somit beispielsweise nicht den gleichen
Zugang zu symbolischem Sozialkapital haben wie solche aus einem bildungsstarken
familiären Umfeld. Denn der Theorie Bourdieus folgend, ist nicht nur die Weite des
Netzwerks, sondern insbesondere das Prestige der einzelnen Mitglieder des
Netzwerks entscheidend für die Akkumulation von Sozialkapital. Wenn man diesen
Gedanken zu Ende denkt und den Begriff „Gruppe“ auf gesellschaftliche Klassen
bzw. Schichten abstrahiert, wird der Zusammenhang zwischen kulturellem und
sozialem Kapital deutlich: Ein hoher Grad an institutionalisiertem kulturellen Kapital in
Form von Titeln führt zu einem hohen Prestige, wodurch es den Eignern wiederum
leicht fällt, ihr Sozialkapital zu erhöhen, getreu dem Motto „Wer hat, dem wird
gegeben“: „[d]er Ertrag der für die Akkumulation und Unterhaltung von Sozialkapital
erforderlichen Arbeit [ist] umso größer […], je größer dieses Kapital selber ist.“ 31
3. Kritische Würdigung
Bourdieus Beitrag zur Debatte um den Ursprung der Chancenungleichheit der
Schüler ist ohne Zweifel als bedeutend zu bezeichnen, vor allem weil er durch die
theoretische Darlegung der verschiedenen Kapitalsorten die Perspektive auf die
Problemlage fruchtbar erweitert. Er befreit sich von einem Kapitalbegriff, der
ausschließlich von der Ökonomie bestimmt wird und legt durch die Analyse anderer
Kapitalformen, insbesondere durch die Entfaltung des kulturellen Kapitals den
eigentlichen Kern des Themas frei: Die wichtigste Ursache der Ungleichheit ist weder
in unterschiedlichen Begabungen, noch in unterschiedlichen Geldinvestitionen,
sondern in der Chancenungleichheit zu suchen, der die Kinder bereits vor dem
Eintritt in die Schule ausgesetzt sind. Die Diskrepanz zwischen den Chancen erklärt
sich größtenteils aus den unterschiedlichem Vorraten kulturellen Kapitals innerhalb
26
Ibid., 65.
Ibid., 65.
28
Ibid., 65.
29
Ibid., 65.
30
Vgl. Bourdieu (1992), 66.
31
Ibid., 67.
27
9
der verschiedenen familiären Milieus. Doch wer hieraus schlussfolgert, dass
Bourdieu die Schule von der Schuld an der Problematik befreit, sieht sich getäuscht;
er kritisiert die Institution Schule aufs Schärfste, gerade weil sie eine wesentliche
Mitverantwortung für die Reproduktionsfähigkeit bestehender sozialer Strukturen der
Ungleichheit trägt. Getreu dem Titel seines Aufsatzes „Die konservative Schule“ wirft
Bourdieu der Schule vor, die Chancenungleichheit zu konservieren, zu wahren,
anstatt Schülern die Chance zu ermöglichen, sich aus ihrem sozialen Milieu zu
befreien. Das Ideal der „formalen Definition schulischer Gerechtigkeit“ 32 führt somit
zu einer Aufrechterhaltung der Ungleichheit: […] [I]ndem das Schulsystem alle
Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie
Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit
gegenüber der Kultur.“ 33 Eine gute Pädagogik dagegen müsste es als oberstes Ziel
ansehen, die vorschulischen Unterschiede im kulturellen Kapital zu kompensieren,
und somit „allen die Mittel an die Hand zu geben, all das zu erwerben, was unter dem
Anschein der „natürlichen“ Begabung nur den Kindern der gebildeten Klassen
gegeben ist.“ 34 Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma der sich reproduzierenden
sozialen Strukturen könnte dann entstehen, wenn Eltern aus einem bildungsarmen
Milieu ihren Kindern den Zugang zu den höheren Schulzweigen ermöglichen. Doch
Bourdieu betrachtet diese Option als unrealistisch. Nach ihm werden die sozialen
Strukturen in ihrer Ungleichheit sowohl von der Gesellschaft wie von der Schule in
der Gestalt bewahrt, dass die sozial niederen Klassen ihren Erwartungshorizont an
die aktuelle Struktur anpassen, ohne sich eine Befreiung zuzutrauen: „So trägt alles
dazu bei, diejenigen, die, wie man sagt, „keine Zukunft haben“, zu „vernünftigen“
oder, […], zu „realistischen“ Erwartungen, was sehr oft heißt, zum Verzicht auf das
Hoffen anzuhalten.“ 35
Fraglos zielt Bourdieu darauf ab, den Begabungsmythos, mit dem allzu oft der wahre
Ursprung der Ungleichheit verschleiert wird, zu entkräften. An diesem Punkt kann ich
zwar seine Argumentation nachvollziehen, jedoch komme ich nicht zu derselben
extremen Folgerung, dass die soziale Ungleichheit überhaupt keinen relevanten
Bezug zu unterschiedlichen Fähigkeiten oder Begabungen besitzt. Die Kinder sind
beim Eintritt in die Schule meiner Ansicht nach nicht das ausschließliche Produkt des
Grads an kulturellem Kapital innerhalb ihrer familiären Umfelder; Bourdieu übersieht
an diesem Punkt, dass Kinder sehr wohl unterschiedliche Begabungen aufweisen,
und das unabhängig von ihrer sozialen Disposition. Nichtsdestotrotz stimmte ich
vollkommen überein, dass die Schule nicht nur das Potential, sondern auch die
Pflicht hat, die Strukturen der Ungleichheit zu zerbrechen, anstatt sie zu
konservieren. Ihr kommt „faktisch und von Rechts wegen […] [die Erfüllung der
Funktion zu], […] unterschiedslos allen Mitgliedern der Gesellschaft die Befähigung
zu den kulturellen Praktiken zu geben, die der Gesellschaft als die nobelsten
gelten.“ 36
Alles in Allem ist festzuhalten, dass Pierre Bourdieu mit seinen bildungstheoretischen
Beiträgen ein hochaktuelles Thema berührt. Seine Theorie ist gekennzeichnet durch
seine Konstruktivität, sie entlarvt bisherige Mythen, aber verharrt nicht in dieser
destruktiven Position, sondern zeigt Lösungswege auf.
32
Bourdieu (2001), 10.
Ibid., 10.
34
Ibid., 10.
35
Bourdieu (2001), 8.
36
Ibid., 18.
33
10
Plagiatserklärung
Folgende Erklärung ist ab sofort allen
Hausarbeiten beizulegen:
Von Plagiat spricht man, wenn Ideen und Worte anderer als eigene ausgegeben
werden. Dabei spielt es keine Rolle, aus welcher Quelle (Buch, Zeitschrift,
Zeitung, Internet usw.) die fremden Ideen und Worte stammen, ebenso wenig, ob
es sich um größere oder kleinere Übernahmen handelt oder ob die Entlehnung
wörtlich oder übersetzt oder sinngemäß ist. Entscheidend ist allein, ob die Quelle
angegeben ist oder nicht. Wird sie verschwiegen, liegt ein Plagiat, eine
Täuschung, vor.
In solchen Fällen kann keine Leistung des Studierenden anerkannt werden: Es
wird kein Leistungsnachweis (auch kein Teilnahmeschein) ausgestellt, eine
Wiederholung der Arbeit ist nicht möglich und die Lehrveranstaltung wird in der
Institutskartei als "nicht bestanden (P)" registriert.
Ich erkläre hiermit, diesen Text zur Kenntnis genommen und in dieser Arbeit kein
Plagiat im o.g. Sinne begangen zu haben.
Datum, Unterschrift
11
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