Phänomenologie, Diagnostik, Epidemiologie & Verlauf Zwangsstörungen – WS 2007/2008 Zwangsstörungen Phänomenologie, Diagnostik, Epidemiologie & Verlauf Psychologisches Institut, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Seminar: „Zwangsstörungen“ Leiter der Veranstaltung: Dr. M. Backenstraß Referent: Patrick Schaller 1 Zwangsstörungen Gliederung • Historie • Phänomenologie • Diagnostik • Verlauf • Epidemiologie Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 2 Zwangsstörungen Historie • Historie • Phänomenologie • Diagnostik • Verlauf • Epidemiologie Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 3 Zwangsstörungen Historie Kurzer Abriss über die Historie: • Esquirol, 1838: Erste Beschreibung eines Patienten mit Zwangsstörung (Kontaktangst) • Morel, 1866: Herausarbeitung einiger wichtiger Charakteristika der Störung • Von Krafft-Ebing, 1867: Begriff „Zwangsvorstellung“ als Einfluss melancholischer Stimmungen auf die Vorstellung • Griesinger, 1868: Beschreibung von Zwangsvorstellungen • Westphal, 1877: Definition „Zwangsvorstellungen“, basierend auf Griesinger • Beginn 20. Jhd.: Unkontrollierte Ausweitung des Konzepts, u.a. bei Loewenfeld, Friedmann, Kraepelin & Bleuler • 20. Jhd., v.a. nach Jaspers & Schneider: Fokus v.a. auf die internationalen Klassifikationssysteme Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 4 Zwangsstörungen Phänomenologie • Historie • Phänomenologie • Diagnostik • Verlauf • Epidemiologie Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 5 Zwangsstörungen Phänomenologie Fallbeispiel: „(…) Auch Geldscheine mit derselben Kombination seien für sie nicht benutzbar, weil sich daraus ein nicht tolerierbares Risiko bei den nachfolgenden Unternehmungen ergebe. (…) ohne dabei Gefahren für die Menschen, die ihr wichtig seien, heraufzubeschwören. Ein Kleid, das sie getragen habe bei einem Streit mit einer lieben Freundin, könne sie nicht mehr anziehen. (…) Dann versicherte sie mir, jede der einzelnen Regeln, denen sie sich unterwerfe, indem sie die damit verbundenen Vorsichtsmaßnahmen ausführe, gelte für sie uneingeschränkt und sie könne sich nicht vorstellen, sie je aufzugeben oder sich darüber hinwegzusetzen. Doch alles in allem fühle sie sich in zunehmendem Maße eingeschränkt und habe immer mehr Mühe, den ganzen Komplex vor ihren nächsten Angehörigen geheim zu halten.“ Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 6 Zwangsstörungen Phänomenologie Zwangsgedanken Zwangshandlungen nach DSM-IV-TR 1. Wiederkehrende oder anhaltende Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die zeitweise während der Störung als aufdringlich und unangemessen empfunden werden und die ausgeprägte Angst und großes Unbehagen hervorrufen. 2. Die Gedanken, Impulse oder Vorstellungen sind nicht nur übertriebene Sorgen über reale Lebensprobleme. 3. Die Person versucht, diese Gedanken, Impulse oder Vorstellungen zu ignorieren oder zu unterdrücken oder sie mit Hilfe anderer Gedanken oder Tätigkeit zu neutralisieren. 4. Die Person erkennst, die Zwangsgedanken, -impulse oder –vorstellungen ein Produkt des eigenen Geistes sind (nicht von außen auferlegt wie bei Gedankeneingebung). Historie Phänomenologie Diagnostik 1. Wiederholte Verhaltensweisen (z.B. Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren) oder gedankliche Handlungen (z.B. Beten, Zählen, Wörter leise Wiederholen), zu denen sich die Person als Reaktion auf einen Zwangsgedanken oder aufgrund von streng zu befolgenden Regeln gezwungen fühlt. 2. Die Verhaltensweisen oder gedanklichen Handlungen dienen dazu, Unwohlsein zu verhindern oder zu reduzieren oder gefürchteten Ereignissen oder Situationen vorzubeugen; diese Verhaltensweisen oder gedanklichen Handlungen stehen jedoch in keinem realistischen Bezug zu dem, was sie zu neutralisieren oder zu verhindern versuchen, oder sie sind deutlich übertrieben. Verlauf Epidemiologie Ende 7 Zwangsstörungen Phänomenologie Bsp. für Zwangsgedanken: Bsp. für Zwangshandlungen: • Zwanghaftes Zweifeln • Zwanghafte Impulse • Zwanghafte Vorstellungen / Bilder • • • • • • • Historie Phänomenologie Diagnostik Kontrollzwang Berührzwang Zählzwang Verbale Zwänge Waschzwang Reinlichkeitszwang Ordnungszwang Verlauf Epidemiologie Ende 8 Zwangsstörungen Phänomenologie 3 Stadien der Zwangsstörung: 1. Konfusion der Gefühle 2. Unvollständigkeit, Kontrolle und externale Regulierung 3. Selbstdissoziation und Reaktion auf Selbstdissoziation Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 9 Zwangsstörungen Phänomenologie 1. Konfusion der Gefühle: • Ausgangspunkt der Symptomatik oft eine i.d.R. unerwartete negative Emotion • Intensität & Konfusion der Gefühle • Äußerung oder Handlungskonsequenz aus Gefühlen entfällt (aufgrund innerer oder äußerer Bedingungen) • Am häufigsten genannte Gefühle: Schmerz, Trauer, Einsamkeit, Angst, Ekel, Wut, Verlassensein. Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 10 Zwangsstörungen Phänomenologie 2. Unvollständigkeit, Kontrolle und externale Regulierung • Gefühl der Unvollständigkeit → Sicherheitsbedürfnis • „Freeze“-Function / Coping entfällt • Statt innerer Verarbeitung treten Details der Außenwelt als Hauptinhalt in den Fokus der (Selbst-)aufmerksamkeit • Prinzip der „Preparedness“ • „Lösung“: Vermeidung entsprechender Objekte • Folge: künstliche Zergliederung der Innen- und Außenwelt Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 11 Zwangsstörungen Phänomenologie 3. Selbstdissoziation und Reaktion auf Selbstdissoziation • Ambivalenz bei Situationsdefinitionen: Bisherige Def. nach Erfahrung- und Wertsystemen ↔ zwangsbedingte Def. • Ambivalenz bei Aufmerksamkeit: Aufmerksamkeit auf alltägl. Aufgaben ↔ zwangsbed. (Hyper-)vigilanz • Ambivalenz des Bewältigungsbewusstseins: Keine Lösung durch Zwänge ↔ fehlende Alternativfunktionen • Historie → Rationalisierungsversuche/-prozess Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 12 Zwangsstörungen Diagnostik • Historie • Phänomenologie • Diagnostik • Verlauf • Epidemiologie Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 13 Zwangsstörungen Diagnostik Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 14 Zwangsstörungen Diagnostik DSM-IV-TR (300.3) ICD-10 (F.42.x) Diagnosekriterien Diagnosekriterien A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen. B. Zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf der Störung hat die Person erkannt, dass die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen übertrieben oder unbegründet sind. Beachte: Dies muss bei Kindern nicht der Fall sein. C. Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen verursachen erhebliche Belastung, sind zeitaufwendig (benötigen mehr als 1 Stunde pro Tag) oder beeinträchtigen deutlich die normale Tagesroutine der Person, ihre beruflichen (oder schulischen) Funktionen oder die üblichen Aktivitäten und Beziehungen. D. Falls eine Achse I-Störung vorliegt, so ist der Inhalt der Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen nicht auf diese beschränkt(…). E. Das Störungsbild geht nicht auf direkte körperliche Einwirkung einer Substanz (Droge, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück. • • Historie Mögl. Zusatz: „Mit geringer Einsicht“ Kann einhergehen mit bspw. Major Depression, Persönlichkeitsstörung, anderer Angststörung, Tourette Phänomenologie Diagnostik A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder beides) an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen. B. Die Zwangsgedanken (Ideen oder Vorstellungen) und Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgenden Merkmale (…). C. Die Betroffenen leiden unter den Zwangsgedanken und Zwangshandlungen oder werden in ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand. D. Ausschlussklausel: Die Störung ist nicht bedingt durch eine andere psychische Störung, wie Schizophrenie und verwandte Störungen (F2) oder affektive Störungen (F3). • Mögl. Ausprägungen: - vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang - vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale) - Zwangsgedanken und –handlungen, gemischt - sonstige Zwangsstörungen - nicht näher bezeichnete Zwangsstörung Verlauf Epidemiologie Ende 15 Zwangsstörungen Diagnostik Zwangsgedanken Zwangshandlungen nach DSM-IV-TR 1. Wiederkehrende oder anhaltende Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die zeitweise während der Störung als aufdringlich und unangemessen empfunden werden und die ausgeprägte Angst und großes Unbehagen hervorrufen. 2. Die Gedanken, Impulse oder Vorstellungen sind nicht nur übertriebene Sorgen über reale Lebensprobleme. 3. Die Person versucht, diese Gedanken, Impulse oder Vorstellungen zu ignorieren oder zu unterdrücken oder sie mit Hilfe anderer Gedanken oder Tätigkeit zu neutralisieren. 4. Die Person erkennt, dass die Zwangsgedanken, -impulse oder -vorstellungen ein Produkt des eigenen Geistes sind (nicht von außen auferlegt wie bei Gedankeneingebung). Historie Phänomenologie Diagnostik 1. Wiederholte Verhaltensweisen (z.B. Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren) oder gedankliche Handlungen (z.B. Beten, Zählen, Wörter leise Wiederholen), zu denen sich die Person als Reaktion auf einen Zwangsgedanken oder aufgrund von streng zu befolgenden Regeln gezwungen fühlt. 2. Die Verhaltensweisen oder gedanklichen Handlungen dienen dazu, Unwohlsein zu verhindern oder zu reduzieren oder gefürchteten Ereignissen oder Situationen vorzubeugen; diese Verhaltensweisen oder gedanklichen Handlungen stehen jedoch in keinem realistischen Bezug zu dem, was sie zu neutralisieren oder zu verhindern versuchen, oder sie sind deutlich übertrieben. Verlauf Epidemiologie Ende 16 Zwangsstörungen Diagnostik Häufige weitere Symptome: • Extrem hohes Angstniveau Meist sekundär: • Hohes Maß an depressiver Stimmung • Allgemeine Nervosität • Irritiertheit • Unruhe • Reihe körperlicher Beschwerden • Extreme Selbstunsicherheit Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 17 Zwangsstörungen Diagnostik Diagnostisches Vorgehen bei Zwangsstörungen: (nach Salkovskis & Kirk, 1996) 1. Einigung auf eine Liste von zu bearbeitenden Problemen 2. Herausarbeiten eines konzeptuellen, psychologischen Modells, welches genau auf das jeweilige Problem passt (dazu müssen prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren berücksichtigt werden) 3. Einschätzung, inwieweit eine psychologische Behandlung überhaupt indiziert ist 4. Anstoß eines kontinuierlichen diagnostischen Prozesses Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 18 Zwangsstörungen Verlauf • Historie • Phänomenologie • Diagnostik • Verlauf • Epidemiologie Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 19 Zwangsstörungen Verlauf Beginn & Verlauf: • Beginn: • 95% aller Störungen vor dem 40. Lebensjahr, nach 50. selten bis nie • Durchschnittsalter bei Beginn: gesamt: 23 Jahre, bei Männern: 20 Jahre, bei Frauen: 25 Jahre • Gipfel des Erstauftretensalters: • Historie bei Männern zw. 6 & 15 Jahren, bei Frauen zw. 20 und 29 Jahren Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 20 Zwangsstörungen Verlauf Einige Eckdaten: • Häufigste Zwänge: Wasch- und Kontrollzwänge • ¾ der Waschzwänge entstehen plötzlich, ⅔ der Kontrollzwänge allmählich • 85% der Zwangsstörungen verlaufen chronisch, 10% mit stetiger Verschlechterung • 5% zeigen einen episodischen Verlauf • 15% zeigen eine progrediente Verschlechterung in berufl. & soz. Fähigkeiten • Ambulante Behandlung im Durchschnitt nach 7 Jahren Stationäre Behandlung im Durchschnitt nach 10 Jahren ab Beginn der Störung (Grund bspw. Verheimlichung der Störung) • 5% der Eltern von Zwangspatienten leiden ebenfalls unter Zwängen • Diskussion um „Crictical Life Events“ • Langfristige Besserungsrate von ca. 50% Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 21 Zwangsstörungen Verlauf Prognostische Faktoren Positive Faktoren • Eigenmotivation Negative Faktoren • Lange Krankheitsdauer zu Beginn der Behandlung • Episodischer Verlauf Irrelevante Faktoren • Alter des Patienten • Geschlecht des Patienten • nur Zwangsgedanken • guter prämorbider Zustand • kurze Krankheitsdauer zu Beginn der Behandlung • depressive Symptomatik • Intellektuelle Fähigkeiten des Patienten • „Overvalued Ideas“ • Zwangsrituale in der Kindheit • Therapeutische Faktoren Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 22 Zwangsstörungen Verlauf Beispiel für Stationen auf dem Weg zur Therapie Historie 14 Jahre: Beginn eines massiven Waschzwangs 22 Jahre: Hausarzt 22 Jahre: 1. stationärer Aufenthalt, Nervenklinik, Medikation 24 Jahre: 2. stationärer Aufenthalt, Nervenklinik, Medikation 29 Jahre: Ambulante Psychotherapie / 1 Jahr analytische Behandlung 30 Jahre: 3. stationärer Aufenthalt / Vorschlag einer Lobotomie 38 Jahre Aufenthalt in Kurklinik (ein halbes Jahr) 41 Jahre: Aufenthalt in Kurklinik (ein halbes Jahr) ca. 45 Jahre: Beginn einer ambulanten klinisch psychologischen Langzeitbehandlung Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 23 Zwangsstörungen Epidemiologie • Historie • Phänomenologie • Diagnostik • Verlauf • Epidemiologie Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 24 Zwangsstörungen Epidemiologie Prävalenzen: • • bei Erwachsenen: • Lebenszeitprävalenz: 2,5% • 1-Jahres-Prävalenz: 0,5 - 2,1% bei Kindern und Jugendlichen: • Lebenszeitprävalenz: 1 - 2,3% • 1-Jahres-Prävalenz: 0,7% • Schätzungen erschwert durch Verheimlichung, Behandlungsverzögerung etc. • Häufigste Zwänge: Wasch- und Kontrollzwänge Frauen sind bei Waschzwängen, Männer bei Kontrollzwängen überrepräsentiert • Historie 5% der Eltern von Zwangspatienten leiden ebenfalls unter Zwängen Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 25 Zwangsstörungen Epidemiologie Geschlechterverteilung bei Zwangsstörungen 45% Männer Frauen 55% Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 26 Zwangsstörungen Epidemiologie Klinische Stichprobe, n = 616 Untergruppenverteilung bei Zwangsstörungen 12% 25% 21% Zwangsgedanken Waschzwänge Kontrollzwänge Wasch- und Kontrollzwänge 42% Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 27 Zwangsstörungen Ende Quellangaben: • • Literatur: • Ambühl, H. (1998). Psychotherapie der Zwangsstörungen. Thieme: Stuttgart. • Bürgy, M. (2005). Psychopathology of Obsessive-Compulsive Disorder: A Phenomenological Approach. Psychopathology, 38, 291-300. • Dilling, H. (2001). Taschenführer zur ICD-10 Klassifikation psychischer Störungen. Bern: Huber. • Reinecker, H. (1994). Zwänge. Bern: Huber. • Saß, H. (2003). Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe. Internet: • Historie http://de.wikipedia.de/wiki/zwangsstörung/ Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 28 Zwangsstörungen Ende Vielen Dank für die Aufmerksamkeit ! Historie Phänomenologie Diagnostik Verlauf Epidemiologie Ende 29