Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch ♦ Vorlesung 6 Inzuchtdepression. Inzuchtdepression („inbreeding depression“) meint eine eintretende Verringerung des Mittelwerts eines Merkmals − meist eines, das die Fitness beeinflusst − in Folge von Inzucht. In einem frühen Laborexperiment zur Inzucht wurden Ratten von 1887 bis 1892 für etwa 30 Generationen ingezüchtet: Der Mittelwert der Wurfgröße fiel in dieser Zeit von etwa 8 auf 3 niedliche Babyratten; die Prozentzahl der Säuglingssterblichkeit und unfruchtbarer Nachkommen stieg von „kaum“ auf etwa 50%. Ein weiteres Beispiel (Jones 1924) in der Vorlesung waren Maispflanzen: Zwei relativ kleine Pflanzen repräsentierten 2 (homozygote) Inzuchtlinien. Eine Kreuzung dieser beiden ergab eine relativ große, „wüchsige“ Pflanze (Heterosiseffekt). Dieser Hybrid wurde dann über Generationen ingezüchtet, wobei die Pflanzen von Generation zu Generation wieder kleiner wurden. Erklärungen für die Effekte der Inzuchtdepression sind einerseits, dass durch fortschreitende Inzucht rezessive schädliche Allele homozygot werden können, also Nachteile entstehen („dominance hypothesis“) oder das andererseits („overdominance hypothesis“) auch ein Heterozygotenvorteil bestehen kann (s.u. Sichelzellanämie). Beide Thesen schließen sich natürlich nicht zwangsläufig aus. ♦ Darwin & Inzucht. Auch Darwin hat sich mit dem Phänomen der Inzucht befasst. Darwin (1862): Über die Einrichtungen zur Befruchtung britischer und ausländischer Orchideen durch Insekten und über die günstigen Erfolge der Wechselbefruchtung. Zitat hieraus: „Die Natur lehrt uns in der ausdrücklichsten Weise, dass sie vor beständiger Selbstbefruchtung zurückschreckt.“ Mehr als 10 Jahre lang hat Darwin an verschiedenen Pflanzenarten Selbst- und Kreuzbestäubungen durchgeführt und verglich akribisch die Eigenschaften der Nachkommen und beobachtete dabei natürlich auch Inzuchtdepressionen (1877: Die Wirkungen der Kreuz- und Selbst-Befruchtung im Pflanzenreich). Seine Erkenntnisse beschäftigen ihn auch sehr privat: Seine Ehefrau war eine Cousine ersten Grades. Die gesundheitlichen Probleme einiger seiner Kinder − drei starben im Kindesalter − waren für Darwin möglicherweise auf diese familiären Verhältnisse zurückzuführen. ♦ Genfluss. Genfluss („gene flow“ oder auch „migration“) ist die Aufnahme von Allelen in den Genpool einer Population aus einer oder mehreren anderen Population(en). Natürliche Populationen sind selten komplett isoliert. Es kommt dann also zu Genfluss, der somit zu einer Angleichung von Allelfrequenzen führt. Eine Abschätzung von Genfluss kann durch direkte Abschätzungen erfolgen, in dem man z.B. Organismenwanderungen beobachtet. Hier sind natürlich Überschätzungen möglich, da nicht jeder, der wandert, sich auch fortpflanzt (vgl. „Hänschen klein“, jedenfalls soweit bekannt). Bei Rückfangmethoden werden Tiere gefangen, markiert und wieder freigelassen. Diejenigen, die man dann später erneut fängt, zeigen an, wie weit Wanderungen erfolgt sind. Hier sind natürlich Unterschätzungen möglich, da die Tiere, die man nicht wieder einfängt, ja möglicherweise sehr weit weg gewandert sind. Dobzhansky und Wright haben 1943 Drosophila pseudoobscura-Mutanten mit orangen Augen − also genetisch markierte Tiere − freigesetzt und rückgefangen: Der Nachbarschaftsradius wurde auf etwa 250 m geschätzt, der aber wohl ausreicht, dass diese nordamerikanische Art gleichsam eine kontinuierliche Population darstellt. ♦ Genfluss bei Pflanzen. Bei Pflanzen kann Genfluss (mittelbar) durch die Ausbreitung von Samen (oder anderen Diasporen) oder unmittelbar durch Pollen erfolgen. Die Ausbreitungsradien von Samen können sehr verschieden ausfallen, von sehr lokal bis zu vielen 1000 Kilometern, insbesondere durch Ornithochorie. Eine solche Fernausbreitung ist aber „nur“ der erste Schritt für „nachhaltigen“ Genfluss, da danach die genetische Drift überwunden werden muss. Genfluss durch Pollen scheint hingegen (generell) eine größere Bedeutung für Genfluss bei Pflanzen zu haben, obwohl Bestäuber zumeist eher lokal „unterwegs sind“. Auch bei windbestäubten Arten wurden (tendenziell) eher nur kürzere „Genflussdistanzen“ gefunden. Bateman (1947) untersuchte in welcher Distanz eine Vaterschaft von (an einem Locus) homozygot-dominanten Maispflanzen in einem Bestand von entsprechend homozygot-rezessiven Pflanzen nachzuweisen ist: In einer Distanz von nur etwa 13 m hatten weniger als 1% der Nachkommen die dominanten Allele. ♦ Genfluss − Indirekte Messungen. Häufiger wird Genfluss indirekt über Unterschiede von Allel- bzw. Haplotypfrequenzen zwischen Populationen abgeschätzt. Eine Ableitung ist mit Hilfe des Fixierungsindex FST möglich (Wright 1920er), ein Maß für Unterschiedlichkeit von Allelfrequenzen zwischen Populationen. Unter der Annahme, dass der Genfluss konstant ist und man nur von genetischer Drift selektionsneutraler Allele ausgeht, die mit dem Genfluss in einem Gleichgewicht steht (Inselmodell, Wright 1951) gilt FST = 1 / [4 Nm + 1]. Das kann man so umformen Nm = (1 / FST 1) / 4, wobei Nm die durchschnittliche Anzahl Immigranten in jede Population pro Generation ist. Bei 1 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch FST = 0 weisen die Populationen gleiche Allelfrequenzen auf (sind also gleichsam im Hardy-WeinbergGleichgewicht); Beim Maximalwert von FST = 1 sind die Allele in ihrem Vorkommen auf eine Population beschränkt, die Populationen also völlig ungleich. Je kleiner FST (im Nenner!), je „gleicher“ die Populationen also sind, desto größer wird Nm. Die Gebirgs-Taschenratte (Thomomys bottae, westliches N-Amerika) ist bekannt für eine große Anzahl von morphologisch und karyologisch unterscheidbaren lokalen Formen, was wenig Genfluss vermuten lässt. Umfangreiche Isoenzymuntersuchungen (Patton & Yang 1977, „Futuyma“: Abb. 10.16) sprechen für diese Vermutung. Sie ergaben einen relativ hohen (mittleren) FST von 0,412 und demzufolge einen Nm-Wert von nur 0,36 Individuen pro Population und Generation. Der extrem hohe Wert von Nm = 42, der für Miesmuscheln (Mytillus edulis) ermittelt wurde (Slatkin 1985), spiegelt die Biologie der Art wider, deren planktonische Larven naturgemäß „weit herumkommen“. Generell hat Genfluss aber in natürlichen Populationen wohl oft “erstaunlich” kurze Reichweiten. Das bedeutet, dass sich lokale Populationen durch Drift und/oder durch natürliche Selektion überhaupt differenzieren können (s.o. Ökotypen, s.u. Artbildung). ♦ Synthetische Evolutionstheorie − Beiträge der Populationsgenetik. Wie schon erwähnt, waren es insbesondere die Beiträge der Populationsgenetik, die halfen, die Dunkelzeit des Darwinismus (s.o.) zu überwinden, indem die Mendelgenetik in Einklang mit dem Darwinismus gebracht wurde. Die hier vorgestellten Grundlagen der Populationsgenetik wie das Hardy-Weinberg-Gesetz oder den theoretischen Überlegungen zur genetischen Drift basierten auf den Mendelschen Regeln (und Statistik). Schon die Ausführungen zur genetischen Drift machen deutlich, dass immer erst eine ganze Zeit (in Generationen) vergehen muss bis auch ein vorteilhaftes Allel in einer ganzen Population oder gar in einer ganzen Art fixiert ist und zu Adaptation führen kann, was seine Entsprechung im Darwinschen Gradualismus hat. (Die genetische Theorie zur natürlichen Selektion folgt später.) ♦ Neue Mutationen & genetische Drift. Die bisherigen Betrachtungen zur genetischen Drift gingen davon aus, dass während der „Drift-Vorgänge“ keine Allele neu durch Mutationen entstehen. Die mittlere Fixierungszeit (Erwartungswert) für neue Mutation − falls es dazu kommt − ist 4 × die effektive Populationsgröße (Ne) Generationen (s.o.), also z.B. 4000 Generationen bei Ne = 1000 (= 2000 Genkopien bei Diploiden!). Unterdessen sind weitere Mutationen in diesem Allel möglich. Bei einem -9 Gen mit 1000 Basenpaaren (bp) Länge und einer Mutationsrate von 10 Mutationen pro Base, Gamet -9 und Generation ergeben sich 10 (Rate) × 1000 (bp) × 2000 (Genkopien) × 4000 (Generationen) = 8 neue Mutationen im Verlauf der 4000 Generationen. (Als Annahme wird hier das „infinitive allele model“ vorausgesetzt, d.h. jede Mutation führt zu einem neuen, einzigartigen Allel bzw. Haplotyp.) Wenn diese Allele selektionsneutral sind, also alle „gleich fit sind“, dann bedeutet das also, dass ständig Variation durch Mutationen erzeugt wird, die gleichzeitig durch die genetische Drift erodiert wird, weil eben zufällige Fixierungen bzw. Verluste erfolgen. (Die Fixierungswahrscheinlichkeit für ein neues Allel durch genetische Drift ist 1/ (2Ne), s.o.) Während dieses laufenden Prozesses ist der Locus dementsprechend polymorph. ♦ Polymorphe Loci. Vertreter der Synthetischen Evolutionstheorie (mit der ihnen eigenen Betonung des Selektionismus) gingen in den 1960er Jahren davon aus, dass verschiedene Allele (eher) nicht selektionsneutral sind. Mayr (1963): “It is altogether unlikely that two genes [Allele] would have identical selective values under all the conditions under which they may coexist in a population.” , “... cases of neutral polymorphisms do not exist,” und “it appears probable that random fixation is of neglible evolutionary importance”. (Die strikte neodarwinistische Vorstellung, dass im Wesentlichen nur die natürliche Selektion die Evolution vorantreibt wurde auch hin und wieder als „Panselektionismus“ bezeichnet.) Im Widerspruch dazu standen in gewisser Weise Ergebnisse (früher) Isoenzymuntersuchungen an natürlichen Drosophila-Populationen von Lewontin & Hubby (1966), die eine unerwartet und demnach zu erklärende hohe Zahl von polymorphen Loci nachgewiesen haben: “In particular, we will show that there is a considerable amount of genic variation segregating in all of the populations studied and that the real variation in these populations must be greater than we are able to demonstrate. This study does not make clear what balance of forces is responsible for the genetic variation observed, but it does make clear the kind and amount of variation at the genic level that we need to explain.“ ♦ Neutrale Theorie der molekularen Evolution. Der japanische Botaniker und Evolutionsbiologe Motoo Kimura (1924–1994) lieferte mit seiner 1968 in der Zeitschrift Nature publizierten Arbeit „Evolutionary Rate at the Molecular Level“, in der er seine „neutrale Theorie der molekularen Evolution“ vorstellte, eine Erklärung für die oben erwähnte zu erklärende hohe genetische Variation an den untersuchten Isoenzym-Loci. Diese „nur“ zweiseitige Arbeit finden Sie online hier: 2 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch http://www.blackwellpublishing.com/ridley/classictexts/kimura.asp. (Interessant ist hier auch ein tolles „zeitgeistiges“ Foto, das zum Artikel direkt nach Kimuras Arbeit gehört.) Kimuras Arbeit basierte auf (bereits vorhandenen) Proteinsequenzdaten, insbesondere von Hämoglobinen, genauer gesagt auf − mit Hilfe von Fossilien geeichte − Aminosäuresubstitutionsraten bei Säugetieren, die sich als konstant erwiesen (s.u. Pauling & Zuckerkandl: Molekulare-Uhr-Hypothese). Diese Raten würden (nach Kimuras Rechnung) bedeuten, dass in den Säugetiergenomen „verdammt schnell“, nämlich etwa alle 2 Jahre eine Nukleotidposition substituiert wird. Wenn man nun davon ausgeht, dass die Mehrheit der Substitutionen durch positive Selektion erfolgen, es also nur ein bestes Allel gibt und somit die anderen Allele gleichsam eine „genetische Bürde“ („genetic load“) darstellen (deren Träger nicht überleben bzw. nicht zur Reproduktion kommen), dann wäre die von ihm so bezeichnete „substitutional load“ (Substitutionsbürde) so groß, dass die Säugetiere eigentlich längst ausgestorben sein müssten (vgl. Haldanes „costs of natural selection“ s.o.). Wenn die Populationsgröße einer Art von z.B. ½ Mio. Individuen erhalten bleiben soll, müsste jeder Elter etwa 3.000.000 Mio. Nachkommen haben, damit ein Nachkomme überlebt und sich reproduzieren kann (unter der Annahme, dass die Generationsdauer sogar nur 1 Jahr beträgt). Kimuras Lösung für dieses „Dilemma“ bestand darin, anzunehmen, dass die Allele sich wohl (meist) überhaupt nicht fitnessrelevant unterscheiden, also selektionsneutral sind: “Calculating the rate of evolution in terms of nucleotide substitutions seems to give a value so high that many of the mutations involved must be neutral ones.” Davon ausgehend muss man folgern, dass dann die genetische Drift einen großen Einfluss haben muss: “ ... if the neutral or nearly neutral mutation is being produced in each generation at a much higher rate than has been considered before, then we must recognize the great importance of random genetic drift due to finite population numbers”. ♦ Neutralisten-Selektionisten-Kontroverse. 1969 veröffentlichten King & Juke im Fachblatt Science ihre Arbeit „Non-Darwinian Evolution“, in der sie zu gleichen Schlüssen gelangen wie Kimura: „Most evolutionary change in proteins may be due to neutral mutations and genetic drift.“ Die Hypothesen der neutralen Theorie führte nach ihrem Erscheinen zu einer (teils hitzigen) sogenannten NeutralistenSelektionisten-Debatte oder -Kontroverse, in der es insbesondere darum ging, wie groß denn der Anteil von selektionsneutralen zu nichtneutralen Allelen ist. Eine Frage, die eigentlich bis heute nicht klar beantwortet ist und vermutlich wohl auch nicht allgemeingültig und „eineindeutig“ für alle Genome zu beantworten ist. Tomoko Ohta (*1933), eine Schülerin Kimuras, erweiterte die ursprüngliche „strikte“ Theorie Kimuras durch ihre „nearly neutral theory of molecular evolution“ (1973, 1990, 1991): In kleinen Populationen unterliegen “nearly neutral mutations” stark der genetischen Drift in großen Populationen hingegen eher auch negativer bzw. positiver Selektion. Die SelektionismusNeutralismus-Debatte spiegelte wohl in gewisser Weise auch das “Organismenbild” der jeweiligen Vertreter wider: „Perfekt“ angepasste „hochgezüchtetste“ Maschinen, deren System bei einer kleinsten Änderung (Mutation) gleichsam zusammenbricht versus Organismen, die eher nicht „vollkommen“ sind und daher auch mal eine kleine Änderung „bequem wegstecken“ können und die auch Merkmale besitzen, die nicht wirklich alle „superadaptiv“, sondern evtl. einfach nur nicht nachteilig sind, sich also selektionsneutral verhalten. ♦ Hypothesen der neutralen Theorie der molekularen Evolution. Die neutrale Theorie der molekularen Evolution formuliert zwei Thesen: 1.) Nur wenige Allele unterliegen negativer oder positiver Selektion, die meisten Allele sind also (effektiv) neutral in Bezug auf Fitness und deren Fixierung erfolgt somit (allein) durch die genetische Drift. 2.) DNA-Substitutionen erfolgen annähernd mit einer konstanten Rate (pro Zeit), so dass DNA-Sequenzunterschiede als molekulare Uhren („molecular clocks“) dienen können, um z.B. das Alter einer Gattung abzuschätzen. ♦ Neutrale Theorie der molekularen Evolution − „Um das mal klarzustellen“. Entscheidend für ein Verständnis der neutralen Theorie der molekularen Evolution (oder kurz „Neutralitätstheorie“) ist, dass sich diese Theorie „nur“ auf die molekulare Ebene bezieht. Die Theorie meint also nicht (!), dass adaptive Merkmale durch genetische Drift entstehen; (diese entstehen durch natürliche Selektion). Weiterhin geht die Theorie „natürlich“ auch davon aus, dass es schädliche Mutationen gibt, die dann auch ausselektiert werden (negative oder reinigende Selektion). Die neutrale Theorie geht ebenfalls davon aus, dass auch einige (!) DNA-Positionen unter natürlicher, auch positiver Selektion stehen. Der Punkt ist aber, dass viele andere Variationen aber wohl keinen (bzw. nur sehr wenig) Einfluss auf den Phänotypen und seine Fitness haben und diese Veränderungen sich dann eben selektionsneutral verhalten. ♦ Stille Mutationen. Wenn eine DNA-Punktmutation aufgrund des degenerierten genetischen Codes nicht zu einem Aminosäureaustausch im Protein führt, ist das eine sogenannte synonyme Substitution (stille Mutation). (Der Begriff „Substitution“ hier nun also im „biochemischen“ und nicht im 3 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch populationsgenetischen Sinne für Allelfixierungen!) Die Aminosäure Arginin hat z.B. 6 synonyme Codons (CGT, CGC, CGA, CGG, AGA, AGG). ♦ Neutrale Mutationsrate. Ein Anteil (fo) der Mutationsrate (uT) pro Gamet und Generation ist effektiv selektionsneutral, die resultierenden Allele werden in ihrer Frequenz also nur durch die genetische Drift beeinflusst. Die neutrale Mutationsrate (uo) ist dann also = fo × uT. Wenn es doch einen kleinen Fitnessunterschied (s) zwischen Allelen gibt, hängt es von der Populationsgröße ab (s.o. „nearly neutral theory“), wie groß der Einfluss der natürlichen Selektion ist: Natürliche Selektion ist vernachlässigbar, wenn s sehr viel kleiner als 1 / (2Ne) ist. Wenn der Unterschied der relativen Überlebensrate s z.B. 0,1% beträgt, dann würde in einer Population mit Ne deutlich kleiner als 500 faktisch nur genetische Drift wirken, bei Ne =5000 würde hingegen die natürliche Selektion einen größeren Einfluss als die genetische Drift haben. Die neutrale Mutationsrate (uo) hängt von funktionalen Zwängen („constraints“) ab: Wenn in einem Protein kaum Aminosäureaustausche möglich sind, ohne dass darunter die Funktion „leidet“, werden die meisten Mutationen schadhaft und uo entsprechend klein. Sind die Aminosäurenaustausche weniger Zwängen unterworfen, ist uo größer, insbesondere an der dritten Base eines Codons (s.o. stille Mutation). Dass uo eher groß ist erwartet man dann insbesondere bei „zwanglosen“ Introns oder Pseudogenen (nichtfunktionelle Mitglieder von Genfamilien). Hinweis: In der Neutralitätstheorie nimmt Ne immer Bezug auf die Populationsgröße der gesamten Art und also nicht − wie sonst − zu einer lokalen Population! ♦ Neutrale Mutationsrate & die molekulare Uhr. Die Anzahl neuer neutraler Mutationen ist uo × 2Ne (2Ne = Anzahl der Genkopien in Population aus Diploiden). Die Wahrscheinlichkeit einer Fixierung einer neuen Mutation durch genetische Drift entspricht der Allelfrequenz p = 1 / (2Ne), s.o. Die Anzahl neutraler und durch Drift fixierter Mutationen ist dann also (uo × 2Ne) × (1 / (2Ne)) = uo. Das bedeutet also, die Allelsubstitutionsrate ist (theoretisch) konstant und entspricht der neutralen Mutationsrate: Die theoretische Basis der molekularen Uhr! Die Populationsgröße Ne kürzt sich raus und spielt also hier „faszinierenderweise“ keine Rolle: In großen Populationen mit „langsamer“ genetischer Drift gibt es halt mehr Mutationen als in kleineren Populationen mit „schneller“ genetischer Drift. Letztendlich beruht auch die besondere Qualität von Stammbaumrekonstruktionen auf der Basis von molekularen Merkmalen auf dieser (theoretischen) zeitlichen Konstanz der Fixierung selektionsneutraler Mutationen. Hier mal ein Zitat aus der deutschen Ausgabe von Kimuras Buch zur Neutralitätstheorie (s.u.), in der er individuelle Mutationen/Substitutionen klar den Substitutionen in Populationen (bei ihm Arten s.o.) herausarbeitet: „Auch die Unterscheidung von Genmutationen auf individueller Ebene und Substitutionen der mutanten Form auf Populationsebene muß klargestellt werden. Nur die Substitutionen von mutanten Formen in der Population steht in direkter Beziehung zur molekularen Evolution. Zu oft werden in Diskussionen diese Unterscheidungen außer acht gelassen. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, daß für positive Mutationen die Rate der evolutiven Allelsubstitutionen auch von der Mutationsrate, aber vorwiegend von der Populationsgröße und dem Ausmaß des selektiven Vorteils bestimmt wird, wie ich im vorhergehenden Abschnitt gezeigt habe. Trotzdem richten einige Biochemiker, die sich mit der molekularen Evolution beschäftigen, ihre ganze Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Mutationsrate.“ ♦ Molekulare Uhr − Divergenzzeiten. Die Theorie der molekularen Uhr (s.o.) sollte es also erlauben, auf der Basis von Basenpaarunterschieden zwischen zwei Arten D (für Differenz) die verstrichene Zeit seit ihrer Entstehung aus dem letzten gemeinsamen Vorfahren zu ermitteln. Es gilt: D = 2 × uo × t (t hier in Generationen, aber s.u.), was man dann nach t umformen kann. (Faktor 2 weil jede Art „auf ihrem eigenen Weg“ Substitutionen angehäuft hat.) Zu beachten ist hierbei allerdings, dass es hier − je weiter zeitlich die Trennung zurückliegt − zu Sättigungen kommt und der gemessene Unterschied gar nicht mehr (linear) der „wahren Unterschiedlichkeit“ dieser DNA-Position entspricht: Eine Base ist unter Umständen während einer langen Trennungszeit mehrfach mutiert („multiple hits“), z.B. von A zu C zu G zu T und dann wieder zu A („Futuyma“: Abb. 10.11). (Dieses Verrauschen durch „multiple hits“ ist auch einer der Gründe, warum man einen molekularen Marker, der z.B. innerhalb einer Blütenpflanzengattung „gut funktioniert“ nicht auch gleichzeitig sinnvoll dazu verwenden kann, um einen Stammbaum für alle Angiospermen zu rekonstruieren.) ♦ Neutrale Theorie der molekularen Evolution – „Heterozygotie-Gleichgewicht”. Durch Mutation entstehen (konstant) neue selektionsneutrale Allele. Durch genetische Drift gehen einige davon schnell wieder verloren, andere „verweilen“ länger im Genpool der Population und werden evtl. auch fixiert. Da ein Locus so ständig polymorph ist, gibt es heterozygote Genotypen. Die Heterozygotenfrequenz H hängt dabei von der Populationsgröße ab [H = 4Neuo / (4Neuo +1)]: Je größer die Population, desto größer H („Futuyma“: Abb. 10.12). In der neutralen Theorie ist 4 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch Heterozygotie also ein zwangsläufiges evolutionäres Durchgangsstadium (versus Konzept eines „grundsätzlichen“ Heterozygotenvorteils, s.u.). ♦ Test auf Nichtneutralität von DNA-Sequenzen − „Zu einfache Variante“. Wie erwähnt, geht die neutrale Theorie davon aus, dass molekulare Variation zu einem Großteil wohl selektionsneutral ist. Ein einfacher („überholter“) Test darauf, ob ein Gen eventuell doch positiver bzw. negativer Selektion unterliegt, beruht auf einem Vergleich der nichtsynonymen und der synonymen Substitutionsrate dN bzw. dS. Eine nichtsynonyme Substituton bedeutet, dass ein Basenaustausch zu Aminosäureaustausch im Protein führt: z.B. AAA (Lysin) → AAT (Asparagin). Eine synonyme Substitution hingegen bedeutet, dass ein Basenaustausch nicht zu einer veränderten Aminosäure führt: z.B. AAA (Lysin) → AAG (Lysin). Man vergleicht nun also zwei DNA-Sequenzen und bestimmt die Rate von nichtsynonymen und synonymen Substitutionen und vergleicht: Falls dN / dS > 1 bedeutet, die Austausche sind vorteilhaft, dN / dS < 1 die Austausche sind schädlich und bei dN / dS = 1 würden die Austausche selektionsneutral sein. Dieser einfache Test gilt allerdings als zu konservativ, weil nichtsynonyme Substitutionen wohl nur dann überwiegen, wenn die positive Selektion äußerst stark war. Dieser einfache Ansatz lässt außer Acht, dass man aufgrund des degenerierten genetischen Codes erwarten muss, dass synonyme Substitutionen (stille Mutationen) eigentlich „immer“ häufiger sein sollten als nichtsynonyme Substitutionen. ♦ Test auf Nichtneutralität von DNA-Sequenzen − McDonald-Kreitmann-Test. Ein sensitiveres Verfahren um DNA-Sequenzen auf Neutralität zu testen, ist die 1991 von McDonald & Kreitmann vorgestellte Vorgehensweise, die folgende Basis hat: Wie oben zur neutralen Theorie ausgeführt, ist die Allelsubstitutionsrate als auch die Heterozygotenfrequenz H proportional zur neutralen Mutationsrate uo. Das bedeutet also, dass die innerartliche Variation (in Form von Heterozygotie) und Unterschiede von Allelen zwischen Arten − neutrale Evolution vorausgesetzt − sich entsprechen sollten, ungeachtet davon, ob z.B. DNA-Positionen innerhalb des Gens unterschiedlichen Zwängen ausgesetzt sind (z.B. dritte versus zweite Base) und demnach unterschiedliche Subsitutionsraten aufweisen. Im Nature-Artikel “Adaptive protein evolution at the Adh locus in Drosophila” verglichen McDonald & Kreitmann (1991) Alkoholdehydrogenase-DNA-Sequenzen und bestimmten den Anteil von nichtsynonymen Substitutionen zu allen vorhandenen Substitutionen innerhalb und zwischen drei Drosophila-Arten: Innerhalb der Arten waren 4,5% aller vorhandenen Substitutionen mit einem Amionosäureaustausch verbunden, zwischen den Arten 29% („Futuyma“: Tab. 12.2). Dass diese Verhältnisse signifikant verschieden sind und somit nicht mit der neutralen Theorie vereinbar sind, spricht dafür, dass der Adh-Locus unter positiver Selektion gestanden hat. Die jeweiligen Ausprägungen des Adh-Gens in den jeweiligen Arten sind also vermutlich Anpassungen an die jeweiligen verschiedenen Lebensräume der untersuchten Arten. ♦ DNA-Sequenzdaten & neutrale Evolution. Es gibt unterdessen eine ganze Reihe von Studien, die einen Einfluss von positiver Selektion für bestimmte Gene in bestimmten Gruppen nachgewiesen haben. Generell sprechen die Daten aber dafür, dass wohl der weit überwiegende Teil der DNAEvolution selektionsneutral verlaufen ist: Die synonyme Substitutionsrate (stille Mutationen) sind meist, wie zu erwarten (s.o.), größer als die nichtsynonymen Substitutionsraten und Gene bzw. Genbereiche haben generell, je nach ihren funktionellen Zwängen unterschiedlich große Substitutionsraten. Die Substitutionsraten sind in Introns und Pseudogenen größer als im kodierendem Gen („Futuyma“: Abb. 10.14). Der Befund, dass die Evolutionsraten also generell höher sind, je „unwichtiger“ die entsprechenden DNA-Positionen sind, spricht stark für die neutrale Theorie der molekularen Evolution. Eine „panselektionistische“ Erklärung für diesen Befund müsste sein, dass für eine schnelle Anhäufung von Mutationen ja eigentlich eine besonders starke positive Selektion erforderlich ist. Diese Annahme ist insbesondere für die (funktionslosen) Pseudogene mit ihren vergleichsweise hohen DNA-Substitutionsraten aber natürlich „faktisch“ nicht einzusehen. ♦ Aufgaben ♦ Wie viele Kinder Darwins hatten keine Nachkommen? Wie viele gehörten der Royal Society (britische Gelehrtengesellschaft) an? ♦ Erläutern Sie folgende Aussage: „Wenn man von selektionsneutraler molekularer Evolution ausgeht, dann sollte der Heterozygotiegrad eines Locus positiv mit der Evolutionsrate dieses Gens korrelieren“. ♦ Studieren Sie die Seiten 257 bis 267 im „Futuyma“. 5 Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch ♦ Was ist im Sinne der neutralen Theorie der molekularen Evolution der Unterschied zwischen der Mutations- und der Substitutionsrate? ♦ Recherchieren Sie: Wie viele Pseudogene gibt es im menschlichen Genom? ♦ 6