Kraus

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Die Bedeutung von Traumata
bei der Genese und im Verlauf schizophrener Psychosen
Eva Kraus
Seminar-Modul 6a
WS 2006/2007
Fachhochschule München
Fachbereich 11
Studiengang: Master of Mental Health
Dozentin : Dipl. Psych. Marion Krüsmann
Abgabedatum: 21.07.2008
Inhalt
EINLEITUNG.......................................................................................................... 1
1.
BEZÜGE ZWISCHEN PSYCHOSE UND TRAUMA.......................... 2
1.1
Psychose als Folge von Traumatisierung.......................................... 2
1.2
PTSD als Folge psychotischen Erlebens .......................................... 8
1.3
Sancutary Trauma – PTSD als Folge psychiatrischer Behandlung. 10
1.4
PTSD als Chronifizierungsfaktor für schizophrene Symptome........ 11
2. HERAUSFORDERUNGEN FÜR PSYCHIATRISCHE KLASSIFIKATION UND
DIAGNOSTIK ....................................................................................................... 12
2.1
Symptom Overlap............................................................................ 13
2.2
Komorbide Störungen oder diagnostische Artefakte? ..................... 14
2.3
Auswirkungen auf die Diagnostik .................................................... 16
3.
KONSEQUENZEN
FÜR
KONZEPTBILDUNG
UND
KLINISCH-
THERAPEUTISCHE PRAXIS............................................................................... 17
3.1
Erweiterung des Vulnerabilität-Stress-Modells................................ 18
3.2
Traumasensible und traumaspezifische Psychotherapie ................ 19
3.3
Psychiatrische Behandlung und Pharmakologie ............................. 22
4. SCHLUSSWORT ............................................................................................. 25
LITERATUR ......................................................................................................... 26
EINLEITUNG
Dass traumatische Erlebnisse gravierende psychische Folgen haben gehört zum
Alltagswissen und ist in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Wissenschaft und Praxis fast schon ein Allgemeinplatz. Welcher Art allerdings die
möglichen psychischen Folgen sind, wird in letzter Zeit wieder kontrovers
diskutiert. Dabei ist die Debatte um psychische Folgen psychotraumatischer
Erlebnisse keineswegs neu. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts setzte in
Deutschland OPPENHEIM mit seinem Konzept der
TRAUMATISCHEN
NEUROSE den
Anfangspunkt für einen theoretischen Diskurs (vgl. Berger 2004; Priebe et al.
2002).
Sein
Bemühen,
die
TRAUMATISCHE
NEUROSE
als
anerkanntes
eigenständiges Krankheitsbild zu etablieren scheiterte letztlich allerdings an der
Schwierigkeit einen kausalen Zusammenhang zwischen Trauma und psychischen
Folgebeeinträchtigungen
anatomisch
nachzuweisen,
an
der
mangelnden
Objektivierbarkeit der Symptome und an gegenläufigen (sozial-)politischen
Interessen1 (vgl. Priebe et al. 2002:3f.).
Wenngleich Arbeiten von Freud und Janet zu posttraumatischen Störungen von
Psychiatern nahezu unbeachtet blieben, verebbte in den folgenden Jahrzehnten in
Deutschland der Diskurs um posttraumatische psychische Folgen nicht gänzlich.
Z.B. fand durchaus, wenn auch eher partiell, eine wissenschaftliche Beschäftigung
mit den psychischen Folgen von KZ-Haft statt. Allerdings blieb diese eher
unspezifisch und es gingen daraus keine eigenständigen Trauma-Konzepte
hervor.
Im letzten Jahrzehnt wurde in Deutschland – angestoßen durch das in den USA
entwickelte Konzept der POSTTRAUMAISCHEN BELASTUNGSSTÖRUNG (posttraumatic
stress disorder, PTSD) – wieder ein intensiverer Diskurs angestoßen (vgl. Berger
1
OPPENHEIMER stütze sein Konzept zunächst vornehmlich auf Erfahrungen mit Opfern von
Eisenbahn- und Industrie-Unfällen, wodurch der Eindruck entstand, die TRAUMATISCHE NEUROSE
beträfe überwiegend die Arbeiterschaft. Da durch diese Diagnose die Möglichkeit der Berentung
eröffnet wurde, unterstellte ein Teil der begutachtenden Ärzteschaft den betroffenen Arbeitern
Simulantentum zum Zwecke der Berentung, was in Bezeichnungen wie „Begehrungsneurose“ oder
„Rentenneurose“ (Priebe et al. 2002: 4) zum Ausdruck kommt. Das ohnehin stark in Zweifel
gezogene Konzept wurde im Zuge des ersten Weltkrieges völlig an den Rande gedrängt: Anders
als in England oder Frankreich war es in Deutschland unerwünscht die individuellen psychischen
Folgen traumatischer Kriegserfahrungen (Kriegsneurosen) zu thematisieren und schließlich verlor
die TRAUMATISCHE NEUROSE ihren Status als rentenberechtigende Erkrankung (vgl. ebd.: 5).
1
2004:716 ff.; Priebe et al. 2002). Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in den
letzten
Jahren
eine
kontroverse
wissenschaftliche
Diskussion
bezüglich
traumatogener Aspekte bei Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis (vgl.
Dümpelmann 2003).
Ziel
der
vorliegenden
Arbeit
ist
es,
die
wesentlichen
Diskussionslinien
nachzuzeichnen und somit einen Überblick über den aktuellen Sachstand zum
Thema
zu
geben.
Die
verschiedenen
Bezüge
zwischen
Trauma
und
schizophrenen Psychosen werden herausgearbeitet (Kapitel 1), und die damit
implizierten Herausforderungen für psychiatrische Klassifikation und Diagnostik
verdeutlicht (Kapitel 2). Wenn Zusammenhänge zwischen Traumata und
Psychose
anerkannt
werden,
hat
dies
Konsequenzen
für
die
klinisch-
therapeutische Praxis. Diese werden am Ende der Arbeit skizziert (Kapitel 3).
1.
BEZÜGE ZWISCHEN PSYCHOSE UND TRAUMA
Die Lebenszeitprävalenz für PTSD bei schizophrenen Erkrankungen wird mit 29%43% angegeben und ist damit etwas geringer als bei anderen schweren
psychischen
Krankheiten
(z.B.
Depression),
aber
höher
als
in
der
Allgemeinbevölkerung (8 - 9%) (vgl. Vauth & Nyberg 2007, Vauth 2007). Dies lässt
auf Zusammenhänge zwischen Traumata und Psychose schließen. Dabei ist es
nahe liegend, Psychosen als eine mögliche Folge von Traumatisierungen zu
ergründen, wie dies auch in der Mehrzahl einschlägiger Studien geschieht.
Daneben gibt es weitere, möglicherweise unterschätzte, Bezüge zwischen Trauma
und Psychose, die nachfolgend ebenfalls skizziert werden.
1.1
Psychose als Folge von Traumatisierung
Bislang fokussieren Studien über schwere psychische Störungen infolge von
Traumatisierung
überwiegend
auf
Diagnosen
wie
Major
Depression,
Suchtmittelabhängigkeit, Angst- und Zwangstörungen. Über Zusammenhänge mit
Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis liegen bisher weniger Befunde
vor (vgl. Schäfer & Aderhold 2005; Read et al. 2005b:331). DÜMPELMANN (2003)
weist zu Recht darauf hin, dass in der deutschen Lehr-Psychiatrie die Rolle von
Traumata in der Vorgeschichte von Psychosen zumindest bis vor kurzem nahezu
2
ausgeblendet wurde2. Im Gegensatz dazu mehren sich in den letzten Jahren
allmählich Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen (v. a. frühen)
traumatischen Erfahrungen und schizophrenen Psychosen (vgl. Schäfer &
Aderhold 2005). Angestoßen wurde diese Entwicklung u. a. durch das
Forscherteam um READ (vgl. Gresch o. D.). Auf der Basis ihrer Analyse
einschlägiger, zwischen 1872 und 2005 publizierter Literatur kommen sie zu dem
Ergebnis, dass schwere psychische Traumatisierungen ein wesentlicher Faktor
bei der Genese schizophrener Erkrankungen sind.
Forschungs-Beispiele
Die meisten der bislang publizierten einschlägigen Arbeiten weisen hinsichtlich
ihres Forschungsgegenstandes zwei Gemeinsamkeiten auf: Erstens befassen sie
sich
überwiegend
mit
dem
gesamten
Spektrum
schwerer
psychischer
Erkrankungen, was neben Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis auch
Depression, Suchtmittelabhängigkeit und andere Diagnosegruppen einschließt3
(vgl. Schäfer & Aderhold 2005:58; Vauth & Nyberg 2007; Read et al. 2005b).
Zweitens werden fast ausnahmslos auf Erlebnisse vom TRAUMA-TYP II fokussiert4,
insbesondere auf mehrfachen sexuellen und/oder körperlichen Missbrauch in der
Kindheit, mitunter spezifisch auf Frauen bezogen (vgl. z.B. Rosenberg et al.
2001:1454). Etwas seltener wird psychischer Missbrauch (z.B. extreme Vernachlässigung, Parentifizierung) und mitunter Traumatisierung durch Kriegserlebnisse
2
Schlägt man in klassischen Lehrbüchern unter ‚Posttraumatischer Belastungsstörung’ nach, so
wird dort zwar auf die Vielfältigkeit physischer und psychischer Trauma-Reaktionen hingewiesen
jedoch werden Psychosen als mögliche Folgen nicht aufgeführt. Umgekehrt werden als mögliche
auslösende bzw. begünstigende Faktoren für das ‚Störungsbild Schizophrenie’ zwar psychischer
Stress – so z.B. Familienklima (Expressed Emotion), sozialer Status, Life Events – benannt und
kritisch diskutiert. Die Rolle von Traumata wird in diesem Faktorenbündel, wenn überhaupt, am
Rande und dann lediglich in Zusammenhang mit psychischem Stress als möglichem Auslöser für
Psychosen erwähnt (vgl. z.B. Berger 2004, Davison & Neale 2002, Tölle & Windgassen 2006,
Vetter 2001).
3
Eine Ausnahme hiervon ist INGO SCHÄFER (2007), der im Rahmen eines Projektes an der Uniklinik
in Hamburg schizophrene PatientInnen zu frühen traumatischen Erfahrungen interviewt hat.
4
Eine Ausnahme ist die Studie von NORTH ET AL. (2008) zu psychischen Belastungen bei Opfern
des HURRICANE KATRINA. Sie werteten die über 2 Wochen hinweg dokumentierten Kontakte einer
‚Krisenstation’ in Dallas aus. Insgesamt sind 503 Kontakte bei 421 PatientInnen dokumentiert.
Neben den dominanten Diagnosen wie Depression und Suchtmittelabhängigkeit wurde immerhin
bei 7,1% eine Psychose diagnostiziert. Die Autoren geben zwar zu bedenken, dass es sich bei den
Opfern des HURRICANE KATRINA um eine besonders vulnerable Bevölkerungsgruppe handelt, was
die hohe Prävalenzrate erklären könnte. Gleichwohl tut sich die Frage auf, ob nicht die Bedeutung
von Traumata des Typ I (gegenüber Typ II) für die Entstehung und den Verlauf von Psychosen
unterschätzt wird.
3
bei älteren Psychose-PatientInnen untersucht (vgl. Schäfer & Aderhold 2005:60;
Read et al. 2005b:331).
GOODMAN
ET
AL.
(1997) fanden als Ergebnis einer Übersicht über 13
Untersuchungen bei als psychotisch diagnostizierten Menschen eine Prävalenz für
sexuellen Missbrauch bzw. Misshandlung zwischen 42% und 92%5 (vgl. Schäfer &
Aderhold 2005).
Noch höher liegt die Prävalenzrate bei der häufig zitierten (von GOODMAN
ET AL.
nicht einbezogenen) Untersuchung von Mueser et al. Von den befragten
schizophrenen und anderweitig als psychotisch diagnostizierten Menschen
berichteten 98% über traumatische Ereignisse in der Vorgeschichte (vgl. Gunkel
2005:14).
Weit darunter liegen die von SCHÄFER (2007) angegebenen Prävalenzraten. Er
befragte 107 Personen mit diagnostizierten Psychosen aus dem schizophrenen
Formenkreis zu frühen Traumatisierungen und differenzierte dabei zwischen
sexuellem Missbrauch und körperlicher Misshandlung. Bei 35% der Befragten
(33% Männer, 38% Frauen) fand sich mindestens eine Form traumatischer
Erfahrung.
Ebenfalls niedriger als in der o. g. Übersicht, aber höher als bei SCHÄFER liegen die
Prävalenzraten einer 2001 publizierten Studie von GOODMAN ET AL. (vgl. Schäfer &
Aderhold 2005). Zugrunde liegt dieser Untersuchung eine relativ große Stichprobe
(N=752) sowie strenge diagnostische Kriterien. GOODMAN
ET AL.
fanden in der
Vorgeschichte psychotischer PatientInnen frühen sexuellen Missbrauch bei 49%
der Frauen und 29% der Männer. Über körperliche Misshandlungen im Kindesalter
berichteten 54% der weiblichen und 58% der männlichen Patienten.
Ähnliche Ergebnisse lieferte ROSS 1992 mit einer Untersuchung in der
Allgemeinbevölkerung (vgl. Read et al. 2005b:336). Bei 46% der Personen mit drei
oder mehr Schizophrenie-Symptomen lag ein sexueller und/oder körperlicher
Missbrauch in der Kindheit vor; dagegen nur bei 8% der Personen ohne
Schizophrenie-Symptome.
5
Die große Varianz der Ergebnissen wird auf methodische Unterschiede, z. B verschiedene
Erhebungsinstrumente, qualitative und quantitative Unterschiede in den Stichproben etc.
zurückgeführt (vgl. Dümpelmann 2003, Vauth & Nyberg 2007).
4
Auch die Ergebnisse der von JANSEN
ET AL.
2004 in den Niederlanden
durchgeführte prospektive NEMESIS-STUDIE weist auf einen Zusammenhang
zwischen frühen Traumatisierungen und Psychosen hin (vgl. Read et al. 2005b:
31; Schäfer & Aderhold 2005). In einer Bevölkerungsstichprobe von 4045
Personen wurde prospektiv das Auftreten von (späteren) psychischen Störungen
bei Kindesmissbrauch untersucht. JANSEN
ET AL.
fanden ein ca. 7fach erhöhtes
Risiko psychotische Symptome zu entwickeln bei Menschen, die als Kinder
sexuell missbraucht wurden. Ein interessantes Ergebnis ist der so genannte
„dose-effect“ (Read et al. 2005b:339) für diese Zusammenhänge: Je schwerer
(qualitativ und quantitativ) der Missbrauch war, umso höher war das Risiko
psychotische Symptome zu entwickeln6.
Ein
weiterer
interessanter
Befund
stammt
aus
der
bereits
erwähnten
Untersuchung von GOODMAN ET AL. (vgl. Schäfer & Aderhold 2005; Gunkel 2005).
Personen
mit
Psychosen,
die
in
ihrer
Lebensgeschichte
durch
Missbrauch/Misshandlung traumatisiert wurden, waren einem deutlich erhöhten
Risiko für erneute Viktimisierung im Erwachsenen-Alter ausgesetzt. So berichteten
20% der weiblichen und 8% der männlichen Patienten im letzten Jahr (vor der
Befragung) Opfer sexueller Übergriffe gewesen zu sein. Opfer physischer Gewalt
waren 25% der weiblichen und 34% der männlichen Patienten.
Schließlich sei noch die 2002 publizierte Studie von NERIA
ET AL.
(vgl. Schäfer
2007:13) erwähnt, die explizit auf PTSD-Symptomatik bei psychotischen
PatientInnen fokussiert. Von 426 Personen, die erstmalig aufgrund einer
psychotischen Erkrankung stationär aufgenommen wurden, wiesen 14% eine
akute PTSD auf, die sehr häufig in Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch in
der Kindheit stand.
Verschiedene Autoren weisen zudem auf inhaltliche Zusammenhänge zwischen
traumatischen Erlebnissen und psychotischen Symptomen hin (vgl. Read et al
2005a; Schäfer 2007). So enthalten Wahninhalte und Halluzinationen häufig
(jedoch nicht zwingend) konkrete Details der traumatischen Erfahrung. Diese sind
6
JANSEN ET AL. unterschieden drei ‚Schweregrade’ des Missbrauchs. Personen mit ‚Schweregrad 1’
waren einem 2fach höherem Risiko ausgesetzt psychotische Symptome zu entwickeln; Personen
mit ‚Schweregrad 2’ hatten bereits ein 10,6fach erhöhtes Risiko und Personen mit ‚Schweregrad 3’
ein 48,4fach höheres Risiko.
5
z.B. sexuell getönte Wahninhalte bei Frauen mit Inzesterfahrungen oder die
Stimme des Täters, die zu selbstschädigendem Verhalten auffordert.
Wenngleich die oben genannten Studien teilweise zu recht unterschiedlichen
Ergebnissen kommen, so zeigt sich doch insgesamt die deutliche Tendenz einer
erhöhte
Prävalenzrate
für
sexuellen
Missbrauch/Misshandlungen
in
der
Lebensgeschichte psychotischer Menschen gegenüber der Allgemeinbevölkerung,
die zum Teil auch eine PTSD nach sich ziehen7.
Studien
zu
Traumatisierung
durch
Krieg
und
Gewaltherrschaft
in
der
Vorgeschichte psychotischer Menschen sind weniger zahlreich vorhanden. Es
lassen sich aber auch hier ähnliche Tendenzen aufzeigen. So wurde z.B. bei
Kriegsgefangenen aus dem Zweiten Weltkrieg eine markante Häufung von
schizophrenen Psychosen konstatiert, bei einem Fünftel von untersuchten KriegsFlüchtlingen aus Somalia eine Psychose diagnostiziert oder bei Flüchtlingen aus
Kambodscha die Koexistenz von PTSD und Psychosen festgestellt (vgl. Read et
al. 2005b: 333).
BÖWING
ET AL.
(2007) befassten sich mit der Frage, ob kriegstraumatisierte
gerontopsychiatrische PatientInnen die Kriterien für eine ‚late onset PTSD’
erfüllen. In diesem Zusammenhang stießen sie auf die Häufung psychotischer
Symptome bei traumatisierten PatientInnen (bei 13 von 33 untersuchten Fällen),
was sie zu einer Folgeuntersuchung (vgl. Böwing et al. 2008) veranlasste.
7
Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle die in Australien durchgeführte prospektive Studie
von SPATARO ET AL. genannt, die eine solche Tendenz nicht bestätigt (vgl. Read et al. 2005b: 337
f.). Untersucht wurden 1612 dokumentierte Fälle sexuellen Kindes-Missbrauchs (gemeldet beim
VICTORIAN INSTITUTE OF FORENSIC MEDICINE) hinsichtlich der Frage, ob bei den Opfern später eine
behandlungsbedürftige psychische Störung diagnostiziert wurde. Im Vergleich dieser Gruppe mit
der Allgemeinbevölkerung zeigte sich kein signifikanter Unterschied: missbrauchte Männer wurden
lediglich 1,3 mal häufiger wegen Schizophrenie behandelt, missbrauchte Frauen 1,5 mal häufiger.
Allerdings weist die Studie erhebliche methodische Einschränkungen auf, die z. T. von den
Forschern selbst kritisch reflektiert wurden. Z.B. lag das Durchschnittsalter der untersuchten
Gruppe bei 20 Jahren (das der Allgemeinbevölkerung lag höher); das Risiko an einer
schizophrenen Psychose zu erkranken besteht aber durchschnittlich erst in einem höheren
Lebensalter. Zudem ist davon auszugehen, dass nach dem Bekanntwerden des Missbrauchs (die
Fälle waren ja dokumentiert) entsprechende Interventionen stattfanden, der Missbrauch also nicht
fortgesetzt werden konnte und die traumatischen Erlebnisse möglicherweise bereits aufgearbeitet
werden konnten. Insgesamt waren die methodischen Unwägbarkeiten in dieser Studie so
dominant, dass sogar für den allgemein gut belegten Zusammenhang zwischen sexuellem
Missbrauch und Alkohol-/Suchtmittelmissbrauch keine Hinweise gefunden wurden.
6
Ein bemerkenswertes Ergebnis dieser Untersuchung ist unter anderem der enge
inhaltliche Bezug von Psychosen und erlebten Traumata:
„Eine nicht seltene Kombination besteht aus Vergewaltigung und Schwangerschaftswahn
[…]. Optische Halluzinationen in Form junger Männer, welche die Patientinnen verfolgen,
von außen durchs Fenster ins Zimmer blicken oder gar in ihrem Bett liegen, können in
diesen Zusammenhang gestellt und so verständlich werden“. (vgl. Böwing et al. 2008:78)
Diskussion
Ergebnisse von Studien, die Psychosen als eine mögliche Folge traumatischer
Erfahrungen
konstatieren
–
insbesondere
Untersuchungen
zu
sexuellem
Missbrauch/Misshandlung in der Kindheit und Psychose – werden z. T. sehr
kritisch hinterfragt. Die hauptsächliche Kritik richtet sich gegen die große Varianz
der Ergebnisse (s. o.), die vor allem auf methodische Differenzen und
‚Schwächen’ zurückgeführt wird, so z.B. Inhomogenität des untersuchten
Personenkreises oder zu kleine Stichproben. Zudem mangele es mitunter an
anerkannten zugrunde gelegten Definitionen und etablierten diagnostischen
Instrumenten (vgl. Schäfer & Aderhold 2005:63; Vauth & Nyberg 2007:469).
Darüber hinaus wird die Einengung der Forschungsfragen auf Traumata durch
sexuellen und körperlichen Missbrauch im frühen Kindesalter problematisiert (vgl.
Schäfer & Aderhold 2005:63). Dies verweist auch auf die moralische Dimension
entsprechender
Untersuchungen
bzw.
Diskussionen.
Befürchtungen,
die
Angehörigen psychotischer Menschen könnten unter „Generalverdacht“ (Schäfer
2007:9) geraten, ähnlich wie es beim – überwundenen – Konzept der
„schizophrenogenen Mutter“ (ebd.) der Fall war mögen hier eine Rolle spielen (vgl.
auch Read et al. 2005b:331).
Nicht zuletzt wird die Reliabilität der Untersuchungen in Frage gestellt. Studien,
die nach frühen Traumatisierungen fragen, basieren häufig auf Aussagen und
Erinnerungen der betroffenen Menschen. Gerade bei psychotischen Menschen
wird die Zuverlässigkeit dieser Erinnerungen immer wieder angezweifelt (vgl.
Rosenberg et al. 2001:1456). Verschiedene Autoren (z.B. Read et al. 2005b:334;
Vauth & Nyberg 2007:470) halten solche Einwände nicht für gerechtfertigt und
verweisen auf Befunde, die die Reliabilität von Selbstauskünften bzgl. sexuellem
Missbrauch in der Kindheit belegen: sie liege sowohl bei psychisch kranken
Menschen als auch in der Allgemeinbevölkerung zwischen 74% bis 82%.
7
Abschließend sei erwähnt, dass auch diejenigen Autoren, die einen deutlichen
Zusammenhang
von
traumatischen
Erfahrungen,
PTSD
und
Psychose
postulieren, Traumata lediglich als einen möglichen Faktor für die Entstehung von
Psychosen sehen:
„It is also important to remember that there are multiple pathways to psychosis, and while
trauma is clearly involved for some people with psychosis, there are many others with no
history of trauma.“ (Read et al. 2005a:328)
1.2
PTSD als Folge psychotischen Erlebens
Dass schwere körperliche Krankheiten oder Unfallverletzungen traumatische
Qualität haben und behandlungsbedürftige psychische Folgen wie z.B. PTSD
nach sich ziehen können ist mittlerweile recht gut belegt (vgl. Gunkel 2005:9ff.).
Inwiefern dies auch auf psychotische Krankheiten übertragbar ist, wird aktuell
wieder diskutiert.
Bereits vor über 30 Jahren konstatierte JEFFRIES, dass Menschen im Anschluss an
akute Psychosen Beschwerden entwickeln können, die phänomenologisch der
heutigen Beschreibung einer PTSD gleichen (vgl. Schäfer & Aderhold 2005:61).
Dies führte zu der Annahme, dass im Rahmen einer Psychose die von den
Betroffenen als real erlebten Halluzinationen und Wahninhalte ihr Selbst- und
Weltbild gleichermaßen erschüttern können, wie dies für reale Traumata
beschrieben wurde. Diese Annahme wird allerdings nicht von allen Fachleuten
geteilt. Kritiker wie z.B. BOTTLENDER (2007) sind der Ansicht, die inneren Erlebniswelten im Rahmen einer Psychose seien nicht mit realen Traumata vergleichbar
und erfüllten v. a. nicht die geforderten Trauma-Kriterien nach DSM IV8:
„Hier möchte man einwenden, dass zwischen beiden Arten traumatischer Ereignisse (real
vs. psychotisch) wie auch zwischen den subjektiven Erlebens- und Verarbeitungsmodi
beider Traumata so erhebliche qualitative Unterschiede bestehen, dass es fraglich
erscheint, ob diesbezüglich eine Gleichsetzung ohne weiteres möglich ist“. (Bottlender
2007:56)
8
Im Kriterium A1 der DSM IV wird das traumatische Erlebnis definiert als „Ereignis, das mit
plötzlichem, unerwarteten oder gewaltsamen Tod Nahestehender verbunden oder für den
Patienten selbst lebensbedrohlich war, eine schwere Verletzung oder andere Bedrohung der
körperlichen Integrität darstellte“ (Vauth & Nyberg 2007: 468)
8
Selbst wenn man dies bejahe, so stelle sich die Frage „warum nicht auch andere
schwere psychische Erkrankungen oder z. B. auch Albträume zu PTSD führen
können“ (ebd.). Diesem Einwand stehen jedoch empirische Belege entgegen (vgl.
Gunkel 2005:16 ff.):
So „kann die paranoid-halluzinatorische Psychose wegen damit einhergehender subjektiv
penetranter Symptome geradezu als Prototyp eines Psychotraumas gesehen werden.[…]
Für viele Betroffene ist das […] psychotische Angsterleben derart leibnah und echt, dass
sie
in
solchen
Situationen
sogar
aus
Verzweiflung
einen
‚Selbstmordversuch’
unternehmen, um einem quälenden Gedanken oder einer vermeintlichen Todesgefahr zu
entkommen.“ (ebd.:18f.)
Auch VAUTH & NYBERG (2007:465) kommen zu dem Schluss, dass psychotisches
Erleben wie Verfolgungswahn oder das Hören imperativer Stimmen durchaus
Gefühle akuter Lebensbedrohung auslösen kann. Selbst wenn das psychotische
Erleben streng genommen das A1-Kriterium nach DSM IV nicht erfüllt sei zu
bedenken, dass die DSM IV (im A2 Kriterium) explizit die Subjektivität des
traumatischen Erlebens (Ängste, Kontrollverlust) berücksichtigt (vgl. hierzu auch
Priebe et al. 2002:6). Generell plädieren VAUTH & NYBERG (ebd.) dafür, das A1Kriterium nicht über zu bewerten, sofern die übrigen Kriterien erfüllt sind. Dies sei
bei präpsychotischen PatientInnen z.B. bzgl. der PTSD typischen Meidung
erinnerungsprovozierender Situationen zu beobachten, was wiederum (so das
Ergebnis einer 2004 publizierten Studie von HARRISON & FOWLER) nicht selten zu
Ablehnung psychiatrischer Behandlung führt (vgl. Gunkel 2005:18). Auch könne
die
Krankheitsverarbeitung
mit
Gefühlen
extremer
Identitätsbedrohung
einhergehen, die ebenfalls zum Störungsbild der PTSD gehöre (vgl. Vauth &
Nyberg 2007:465).
Zusammenfassend
kann
festgehalten
werden,
dass
die
publizierten
Untersuchungen zu Fragen nach ‚psychoseinduzierter PTSD’ qualitativ und
quantitativ noch unzureichend sind und es an empirisch hinreichend gesicherten
Erkenntnissen fehlt (ebd.:468). Kritisiert wird unter anderem, dass zu wenig
zwischen ‚psychoseinduzierten’ und iatrogenen traumatisierenden Effekten
differenziert wurde (vgl. Bottlender 2005). Dies wird sich allerdings auch über
methodisch elaboriertere Untersuchungen kaum bewerkstelligen lassen, da
psychotisches Erleben und psychiatrische Behandlung in einer „komplexen und
9
intensiven Gesamterfahrung“ (Gunkel 2005:17) münden. Gleichwohl ist es sinnvoll
diese beiden Aspekte zumindest theoretisch voneinander zu trennen, weshalb im
nachfolgenden Kapitel traumatische Qualitäten psychiatrischer Behandlung
gesondert diskutiert werden.
1.3
Sancutary Trauma – PTSD als Folge psychiatrischer
Behandlung
Spätestens seit der PSYCHIATRIE-ENQUETE ist bekannt, dass psychiatrische
Behandlung traumatisierende Qualitäten haben kann. Fraglos wurde seitdem
Vieles zu Gunsten der PatientInnen verbessert: Restriktionen wurden abgebaut,
Rahmenbedingungen und Möglichkeiten stationärer psychiatrischer Behandlung
verbessert. Gleichwohl können insbesondere psychotische PatientInnen durch
psychiatrische Behandlung traumatisiert werden und psychische „iatrogene
Schäden“ (Gunkel 2005:25) erleiden (vgl. z.B. Bottlender 2005; Schäfer &
Aderhold 2005; Vauth & Nyberg 2007), was unter dem Begriff des SANCTUARY
TRAUMA9 diskutiert wird. Dies ist bei psychotischen PatientInnen durch ein
‚doppeltes Ausgeliefertsein’ gekennzeichnet, nämlich sowohl an die Krankheit als
auch an die psychiatrische Behandlung (vgl. Gunkel 2005:25). Zu nennen sind
neben der Bedrohung durch schwer gestörte und aggressive Mitpatienten bis hin
zu sexueller Gewalt (vgl. Rosenberg et al. 2001:1454) insbesondere mit
physischer und psychischer Gewalt verbundene Maßnahmen wie Unterbringung
durch Polizei, Fixierung, Isolierung und Zwangsmedikation, die – verstärkt durch
psychotisches Erleben – zu Todesängsten führen können. Exemplarisch
beschreibt GUNKEL (2005:25 ff.) sehr plastisch, wie von PatientInnen im
Zusammenhang mit Fixierungen Ärzte als Folterer, Vergewaltiger, Organdiebe
und Beruhigungsspritzen als Todesspritzen ‚identifiziert’ wurden. Nicht selten
kommt es dabei zur Reaktualisierung früherer realer traumatischer Erlebnisse (vgl.
ebd.:29).
9
Der Begriff wurde zuerst von Silver (1986) in Zusammenhang mit kriegstraumatisierten
Vietnamheimkehrern verwendet, die in auf ‚Heilung’ ausgerichteten amerikanischen Einrichtungen
„Erfahrungen von Ungastlichkeit, Unsicherheit und Despektierlichkeit“ (Gunkel 2005:27) machten.
10
Für einen beträchtlichen Teil der PatientInnen sind die mit psychiatrischer
Hospitalisierung verbundenen Erlebnisse so erschütternd, dass sie zu einer PTSD
führen, was verschiedene Untersuchungen belegen (vgl. Schäfer & Aderhold
161f.). So fanden z.B. MC GORRY
ET AL.,
die 36 ersterkrankte Psychose-
PatientInnen untersuchten, 4 Monate nach der Entlassung bei 46% die Kriterien
für eine PTSD erfüllt. Etwa ein Jahr nach der akuten Episode waren es noch 36%
(vgl. Schäfer & Aderhold 161f.; Vauth & Nyberg 2007:465). FRAME & MORRISON
kommen zu etwas höheren Werten: 67% der PatientInnen erfüllten nach 4
Monaten PTSD-Kriterien und noch 50% nach 6 Monaten (vgl. ebd.). Zu ähnlichen
Ergebnissen kommen SHAW
ET AL.
(PTSD bei 52% von 45 PatientInnen) sowie
PRIEBE ET AL. (2002; PTSD bei 51% von 105 PatientInnen in stationärer Therapie).
Lediglich MEYER
ET AL.
kommt zu weitaus niedrigeren Zahlen: 8 Wochen nach
stationärer Aufnahme erfüllten 11% der PatientInnen die Kriterien einer PTSD.
Dabei war der Zusammenhang von PTSD mit der psychiatrischen Behandlung
weniger virulent als der Zusammenhang mit der Psychose selbst. Möglicherweise
ist
dieses
abweichende
Ergebnis
auf
die
stark
selektierte
Stichprobe
zurückzuführen: viele PatientInnen, die Zwangsmaßnahmen erlebt hatten,
verweigerten ihre Teilnahme an der Untersuchung (vgl. Schäfer & Aderhold 161f).
Insgesamt
lassen
die
exemplarisch
genannten
Untersuchungen
auf
ein
SANCTUARY TRAUMA bei einem erheblichen Teil der PatientInnen schließen,
wenngleich auch hier wieder angemerkt werden muss, dass die Untersuchungen
teilweise methodische Schwächen aufweisen und meist auf eher geringe
Stichproben basieren.
1.4
PTSD
als
Chronifizierungsfaktor
für
schizophrene
Symptome
Ein eher indirekter komplexer Zusammenhang zwischen Trauma und Psychose
wird hergestellt, wenn PTSD typische Syndrome als wesentlicher Chronifizierungsfaktor für schizophrene Symptome gewertet werden (vgl. Vauth 2007;
Vauth & Nyberg 2007). Erstens, so wird vermutet, könne das mit einer PTSD
einhergehende anhaltende Hyperarousal bei gleichzeitig vorliegender Psychose
zu Chronifizierung und Intensivierung der Positivsymptomatik beitragen, was u. a.
11
bei psychotischen Kriegsveteranen mit diagnostizierter PTSD beobachtet wurde.
Zweitens sei der häufig mit PTSD einhergehende soziale Rückzug als Risikofaktor
für Rückfälle und Rehospitalisierung einzuschätzen, da er mit Mangel an sozialer
Unterstützung, an Überprüfung eigener Einschätzung und an Stimulation
verbunden sei. Drittens trage die Vermeidung trauma-assoziierter Erlebnisse,
Gedanken und Erinnerungen zu einem auf Leugnung ausgerichteten „Sealing over
-Stil der Krankheitsverarbeitung“ (Vauth 2007:55) bei und erschwere die
Compliance.
Dies
wiederum
sei
mit
unzureichender
Inanspruchnahme
psychiatrischer, therapeutischer und psychosozialer Hilfen verbunden, wodurch
sich insgesamt nicht nur das Risiko einer Chronifizierung sondern auch das Risiko
der
Entwicklung
sekundärer
Störungen
wie
Depressionen
und
Substanzmissbrauch erhöht. Letzteres wiederum könne „im Sinne eines Circulus
vitiosus“
(Vauth
&
Nyberg
2007:466)
indirekt
die
Vulnerabilität
für
Retraumatisierung steigern, da z.B. durch noradrenerg stimulierende Substanzen
das Risiko von Intrusionen erhöht wird
VAUTH
UND
NYBERG (ebd.:267) geben zwar zu bedenken dass für die oben
beschriebenen Zusammenhänge bislang keine ‚harten’ empirischen Belege
vorliegen,
sondern
entsprechende
Ergebnisse
meist
auf
retrospektiven
Querschnitts-Studien beruhen. Gleichwohl konstatieren sie insgesamt eine hohe
Plausibilität der Zusammenhänge und regen an, diese zukünftig in prospektiven
Längsschnitt-Studien zu überprüfen.
2.
HERAUSFORDERUNGEN
FÜR
PSYCHIATRISCHE
KLASSIFIKATION UND DIAGNOSTIK
Angesichts der im vorherigen Kapitel dargestellten Bezüge zwischen Trauma,
PTSD und schizophrenen Psychosen stellt sich die Frage, inwiefern dies
Implikationen für die aktuelle (klinisch-psychiatrische, therapeutische, psychosoziale, versicherungsrechtliche) Versorgungspraxis hat, die ja wesentlich auf
Klassifikation und differenzialdiagnostische Zuordnung von Symptomen zu einem
der beiden Störungsbildern basiert. Der Erörterung dieser Frage wird ein kurzer
Abriss über Symptomüberschneidungen bei beiden Störungsbildern voran gestellt.
12
2.1
Symptom Overlap
Nicht selten erhalten PatientInnen verschiedene psychiatrische Diagnosen, z.B.
‚Schizophrenie’, bevor ihnen eine PTSD attestiert wird. Dies verweist unter
anderem
auf
Ähnlichkeiten
bzw.
Symptom-Überschneidungen
in
den
Störungsbildern, die aktuell unter dem Begriff SYMPTOM OVERLAP erforscht und
diskutiert werden (vgl. Schäfer & Aderhold 2005: 60f; Streeck-Fischer 2000; Vauth
& Nyberg 2007; Rosenberg et al. 2001:1554).
„Epidemiologisch betrachtet weisen rund ein Zehntel (10,9%) aller Personen mit manifester
PTSD gleichzeitig auch eine schizophrenieforme oder schizophrene Erkrankung auf [...],
während bei klinischen Stichproben ratsuchender PTSD-Patienten etwa ein Drittel (28%40%) auch psychotische Symptome berichtet.“ (Gunkel 2005:5).
Phänomenologisch werden insbesondere akustische Halluzinationen und
Störungen von Selbst-, Affekt und Impulsregulation beschrieben, die sich einem
Positiv- oder Negativ-Cluster zuordnen lassen (vgl. Schäfer & Aderhold 2005: 60f).
Bei Menschen mit einer PTSD sind z.B. Betäubung, Apathie, Rückzug,
Vermeidung von Reizen entsprechend der ‚Minus-Symptomatik’ bei Schizophrenie
beobachtbar sowie Übererregungszustände, Schlafstörungen und paranoide
Ideen entsprechend der ‚Plus-Symptomatik’ (vgl. Streeck-Fischer 2000:55 f.). Die
im
Rahmen
einer
PTSD
auftretenden
dissoziativen
Zustände
grenzen
phänomenologisch an floride psychotische Symptome (vgl. Gunkel 2005:5).
Aus psychodynamischer Sicht lässt sich sowohl für PTSD als auch für
schizophrene Psychosen eine gravierende Destabilisierung der Subjekt-ObjektGrenze und damit eine Störung im Erleben einer eigenen individuellen Identität
beschreiben (vgl. Dümpelmann 2003).
Auf neurobiologischer Ebene sind sowohl bei Menschen mit PTSD als auch bei
Psychotikern gesteigerte Aktivitäten dopaminerger und serotonerger Transmitter
sowie
der
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse
beobachtbar.
Weiter werden Veränderungen der auditorischen Reizschwelle und der langsamen
Augenfolgebewegungen sowie Hirnhemisphärengröße und -Funktion genannt,
sowie Ventrikelerweiterungen und ein erhöhter Kortisol-Spiegel (vgl. Dümpelmann
2003:2; Schäfer 2007:11; Vauth & Nyberg 2007:467).
13
2.2
Komorbide Störungen oder diagnostische Artefakte?
Der SYMPTOM OVERLAP bei schizophrenen Störungen und PTSD mag ein
wesentlicher Faktor dafür sein, dass nicht wenige Menschen im Verlauf ihrer
‚Krankenkarriere’ eine Reihe psychiatrischer Diagnosen erhalten, worin sich auch
die prinzipielle Schwierigkeit einer differenzialdiagnostischen Zuordnung zu einem
der Störungsbilder zeigt10. Man könnte ganz grundsätzlich die Frage stellen, ob es
sich in solchen Fällen um Fehldiagnosen, um ‚echte’ Komorbiditäten oder schlicht
um durch Klassifikationssysteme konstruierte Unzulänglichkeiten handelt.
In der Argumentation von SCHÄFER & ADERHOLD (2005:60) findet sich eher die
Annahme von Fehldiagnosen und subtil auch die der diagnostischen Artefakte
wieder. Sie weisen darauf hin, dass bei „positiver Traumaanamnese“ (ebd.)
psychotischer PatientInnen häufig eine Um-Interpretation der Symptome in
ohnehin empirisch umstrittene Konstrukte wie z.B. „Pseudohalluzination“ (ebd.)
statt findet (vgl. auch Read et al. 2005b). Eine analoge Symptom-Deutung findet
bei PatientInnen mit Erstdiagnose PTSD statt. SCHÄFER & ADERHOLD (2005:61)
merken hierzu kritisch an, dies geschehe „nicht aufgrund phänomenologischer
Kriterien, sondern ausgehend von der Annahme, dass sie [die Symptome] bei
Vorliegen einer offensichtlichen posttraumatischen Symptomatik nicht anders zu
deuten seien“.
Während SCHÄFER & ADERHOLD den Schluss ziehen, dass aufgrund diagnostischer
Unzulänglichkeiten bei PatientInnen mit einer PTSD eine gleichzeitig vorhandene
Psychose häufig nicht erkannt werde, argumentiert BOTTLENDER (2007:56)
umgekehrt: auch er konstatiert eine „Überlappung der i. R. einer Schizophrenie
typischerweise
vorkommenden
psychotischen,
negativen
und
depressiven
Symptome mit jener Symptomatik, die im Kontext einer PTSD zu erwarten ist“.
Somit sei eine „reliable Zuordnung der Symptomatik“ zu einer der in Frage
10
U. a. Vauth & Nyberg (2007) schlagen vor als differenzialdiagnostisches Kriterium den
inhaltlichen Bezug von Halluzinationen bzw. Intrusionen zum traumatischen Erlebnis
heranzuziehen (inhaltlicher Bezug vorhanden = PTSD; inhaltlicher Bezug nicht vorhanden =
Psychose). Streeck-Fischer (2000: 52) hält dem entgegen, dass im Rahmen einer PTSD
charakteristischerweise konkrete Erinnerungen als Folge von Amnesien und Dissoziationen
verloren gehen und im Rahmen von Psychosen Halluzinationen verzerrt sein können. Ebenso wird
der Vorschlag Ich-Störungen und Denkstörungen hinsichtlich des Selbst, der Zeit und des Ortes,
als differenzialdiagnostisches Kriterium für ‚echte’ Psychosen in Abgrenzung zu traumatisch
bedingten ‚Pseudopsychosen’ heranzuziehen (vgl. Vauth & Nyberg 2007:464) von Streeck-Fischer
als empirisch nicht haltbar zurück gewiesen (vgl. ebd.:56).
14
stehenden Diagnose nicht möglich. Vor diesem Hintergrund kritisiert BOTTLENDER
die Forschungsergebnisse der Studien zu PTSD bei Schizophrenie als konzeptuell
einseitig: gehe man von der Annahme aus, dass „eine Psychose ein Trauma in
der Konzeptualisierung der PTSD darstellt“ und betrachte man die Symptome
losgelöst vom Kontext der Schizophrenie, so ließen sich die Symptomkriterien für
eine PTSD ebenso leicht erfüllen wie für andere komorbide Störungen:
„So können sich aufdrängende, belastende Gedanken an die Psychose im Sinne intrusiver
Gedanken
interpretiert
werden.
Ebenso
sind
Erinnerungslücken
oder
bestimmte
Übererregungssymptome und insbesondere Vermeidungsverhalten oder emotionale
Taubheit im Sinne einer Affektverflachung Symptome, die bei einer Schizophrenie häufig
beobachtet werden können“. (Bottlender 2007:56)
Aufgrund der Komplexität des schizophrenen Erscheinungsbildes könnten neben
einer PTSD zahlreiche weitere komorbide Störungen diagnostiziert werden, was,
so BOTTLENDER, in der Praxis auch häufig geschieht11. Angesichts der aktuell
favorisierten „rein deskriptiven, atheoretischen und im Prinzip anosologischen
Diagnostik“ und der empirisch nicht ausreichend gesicherten Krankheits-Konzepte
warnt er jedoch vor „zu ausufernder Polydiagnostik komorbider Erkrankungen und
spekulativen Interpretationen“ (ebd.). Vielmehr sei diagnostische Bescheidenheit
geboten.
DÜMPELMANN (2003) konstatiert bei der Diagnostik von PTSD und schizophrenen
Störungen einen „paradigmatischen Filter“ (ebd.:1), der dazu führe entweder eine
„echte“ oder eine „hysterische“ (ebd.) Psychose zu diagnostizieren und die jeweils
andere Möglichkeit auszublenden. Den Grund hierfür sieht er in der erzwungenen
kategorialen Trennung gängiger psychiatrischer Klassifikationssysteme, die ihrem
Anspruch rein deskriptiv und theoriefrei zu sein nicht gerecht werden. So wird z.B.
in der ICD-10 differenziert zwischen „biologisch gedachten psychotischen (Gruppe
F2) und neurotischen Krankheitsbildern (Gruppe F4), zu denen auch dissoziative
Symptome bis hin zu den so genannten hysterischen Psychosen gerechnet
werden“ (ebd.). Diese Trennung hat, so Dümpelmann weit reichende Folgen für
11
Dasselbe gilt bei der ‚Hauptdiagnose’ PTSD: Neuere Untersuchungen geben komorbide
Störungen, insbesondere Major Depression, Angststörungen und Substanzmissbrauch mit 80% an
(vgl. Priebe et al. 2002: 7).
15
die Entwicklung diagnostischer Instrumente, therapeutischer Verfahren und für die
Versorgungspraxis sowie für die wissenschaftliche Forschung.
READ
ET AL.
(2005a:328), weisen auf die Subgruppe von PatientInnen mit
drogeninduzierten Psychosen und PTSD hin. READ ET AL. werten sowohl PTSD als
auch Substanzmittelmissbrauch und sekundär Psychosen als „response of
trauma“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund sei die klassifikatorische Konzeption von
Psychosen zu überdenken und hinsichtlich traumatischer Wirkungen zu erweitern.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in der aktuellen Diskussion
um PTSD und Schizophrenie einerseits PTSD als komorbide Störung bei
PatientInnen mit Psychosen aufgefasst wird. Andererseits werden psychotische
Syndrome als eine von vielen möglichen Reaktionen auf Traumatisierung (u. a.
neben PTSD) postuliert. Dabei entsteht der Eindruck, dass die komplexen
Störungsbilder mit den vorhandenen Klassifikationen und Konzepten nicht
hinreichend erfasst werden können (vgl. Priebe et al. 2002).
2.3
In
Auswirkungen auf die Diagnostik
engem
Zusammenhang
mit
der
zugrunde
gelegten
psychiatrischen
Klassifikation steht die Frage der Diagnostik, wie bereits in Kapitel 1.2 bezogen
auf ‚psychoseinduzierte PTSD’ deutlich wurde. Zugespitzt könnte man fragen: Darf
es eine ‚psychoseinduzierte PTSD’ nicht geben (obwohl empirische Befunde dafür
sprechen), weil sie nicht ‚sauber’ diagnostiziert werden kann, so lange
entsprechende Kriterien in DSM IV oder ICD10 dafür fehlen? Und wie ist im
diagnostischen Prozess mit solchen ‚Unschärfen’ umzugehen? VAUTH & NYBERG
(2007) warnen indirekt vor einer allzu starren Anwendung von KlassifikationsKriterien. Sie könne mitunter dazu führen, dass den PatientInnen, die nicht ‚ins
Raster passen’ die adäquate Hilfe versagt bleibt.
16
In ähnlicher Weise kritisieren READ ET AL. – hier im Zusammenhang mit sexuellem
Missbrauch in der Vorgeschichte von Psychosen – psychiatrische Klassifikationen:
„If we where not constrained by the need for a diagnostic nomenclature we might not need
to separate abuse sequelae into seemingly discrete categories such as PTSD, dissociative
dissorders, schizophrenia, borderline personality disorder etc. We might be able to
understand all these abuse-related symptoms, scattered throughout our diagnostic
manuals as related components.” (Read et al. 2005b:340)
Aus dieser Perspektive sollte der diagnostische Prozess, so fraglos eine
Klassifikation heutzutage u. a. versorgungsrechtlich notwendig sein mag, nicht von
dieser dominiert werden. Vielmehr gilt es das Bemühen um ein Verständnis der
Gesamtzusammenhänge in den Vordergrund zu stellen.
Dazu gehört es auch, in der diagnostischen Abklärung schizophrener Störungen
regelhaft mögliche Traumatisierungen im Blick zu haben, um zu prüfen ob gezielte
therapeutische Interventionen angebracht sind. Dies gilt insbesondere für
PatientInnen mit mangelnder Compliance, häufigen Rückfällen, Positivsymptompersistenz und Suchtstörungen (vgl. Vauth & Nyberg 2007; Vauth 2007:56).
3.
KONSEQUENZEN
FÜR
KONZEPTBILDUNG
UND
KLINISCH-THERAPEUTISCHE PRAXIS
„It is important that policy makers services system administrators and providers recognize
the prevalence and impact of trauma in the lives of people who have severe mental illnes.“
(Rosenberg et al. 2001:1459)
Es wird eine systematische Berücksichtigung von Traumatisierungen bei
psychotischen Menschen sowohl in der Konzeptbildung als auch in der klinischen
Praxis gefordert (vgl. Schäfer 2007). Dies scheint besonders notwendig,
angesichts der Tatsache, dass sich die Psychiatrie offensichtlich wieder in
Richtung biologischer Modelle entwickelt, weniger nach psychosozialen und noch
weniger nach lebensgeschichtlichen Einflüssen fragt (vgl. Schäfer 2007:14;
Gresch o. D.; Dümpelmann 2003).
17
3.1
Erweiterung des Vulnerabilität-Stress-Modells
In ätiologischen Psychose-Modellen wurden Traumatisierungen bis vor kurzem
überwiegend als Faktoren betrachtet, die zwar zur Exazerbation einer Psychose,
nicht aber zu ihrer Entstehung beitragen können. So gelten im Rahmen des
Vulnerabilitäts-Stress-Modells (auch Diathese-Stress-Modell12) die Symptome
einer
PTSD
wie
z.B.
flash-backs
und
Intrusionen
oder
die
ständige
Alarmbereitschaft des anhaltend erhöhten Erregungsniveaus als unspezifische13
interne Stressquelle (vgl. Schäfer & Aderhold 2005:60; Vauth & Nyberg 2007:464).
Neuerdings wird eine Erweiterung des Vulnerabilitäts-Stress-Modells angemahnt,
in dem Sinne, dass Vulnerabilität nicht nur als biologisch, sondern auch als
traumatisch erworben aufgefasst wird (vgl. z.B. Schäfer 2007; Schäfer & Aderhold
2005:59 f; Dümpelmann 2003). SCHÄFER (2007:11) verweist auf psychologische
und biologische Auswirkungen von Beziehungs-Traumatisierungen, die sich
weitgehend mit der Konzeptualisierung von Vulnerabilität decken:
„Dazu zählen kognitive Schemata, Selbstwert, Kontrollüberzeugungen und Attributionsstile
oder auch die Regulation von Affekten. Auf neurobiologischer Ebene können […] frühe
Erfahrungen
anhaltende
Effekte
auf
die
sog.
‚Hypothalamus-Hypophysen-
Nebennierenrinde-Achse’ haben, die eine wesentliche Rolle bei der Stress-Regulation
spielt.“ (ebd.)
Es scheint zu kurz gegriffen, traumatische Erfahrungen rein als Stressoren – also
Psychose auslösende Faktoren – zu betrachten.
12
Das von ZUBIN & SPRING, CIOMPI, NUECHTERLEIN u. a. publizierte Modell basiert auf der
Annahme, dass bei der Entwicklung einer schizophrenen Störung Diathese und Stress
zusammenwirken: gefährdete Personen zeichnen sich durch eine besondere Vulnerabilität aus,
was bei akut auftretenden Stressoren oder chronischer Belastung zum Ausbruch einer Psychose
führt.
13
Unspezifisch insofern, als der moderierende Einfluss von Umweltfaktoren (z. B. unterstützendes
soziales Umfeld, psychiatrische und psychotherapeutische Hilfen), Attributions- und
Bewältigungsmuster für den weiteren Verlauf eine Rolle spielen (vgl. Vauth 2007: 55f.)
18
Vielmehr sei davon auszugehen, dass bereits der ‚Boden’ – die Vulnerabilität –
durch
Traumata
entstehen
kann,
die
somit
ein
Faktor
im
möglichen
Ursachenbündel für Psychosen darstellen14:
“Negative beliefs about self, world an others (such as ‚I am vulnerable’ and ‘Other people
are danerous’) have been shown to be associated with the development of psychotic
experiences. ” (Read et al 2005a)
Mit dem Vorschlag, das Vulnerabilitäts-Stress-Modell in diesem Sinne zu erweitern
ist die Intention verbunden der Interaktion biologischer, psychischer und sozialer
Faktoren eine weitere Perspektive hinzu zu fügen, damit überwiegend biologisch
fundierte Annahmen zu relativieren, ohne genetische Krankheitsfaktoren auszublenden. Vielmehr geht es um die Frage „what type of realationship genes and
environment may have in shaping the risk for psychosis“ (Read et al. 2005b:344).
‚Neu’ an diesem Zugang ist der konkrete und direkte Bezug zur Lebensgeschichte
traumatisierter und psychotischer Menschen (vgl. Dümpelmann 2003:4). Dies
bedeutet eine Abkehr von „Neuro- oder Psychomythen“, die das „Eigentliche von
Krankheitsursachen […] hinter und unter den Dingen oder in der Tiefe“ (ebd.)
verorten.
3.2
Traumasensible und traumaspezifische Psychotherapie
Offensichtlich wird in der Behandlung und Therapie psychotischer PatientInnen
möglichen traumatischen Erlebnissen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt (vgl.
z.B. Schäfer & Aderhold 2005:60; Read et al 2005a; Gunkel 2005:40 f.). So ergab
eine Untersuchung von RESNICK
ET AL.
dass ein Drittel der von ihnen befragten
PatientInnen im Interview zum ersten Mal über ihre Traumatisierung gesprochen
haben. 36% hatten darüber nie mit der Familie oder im Freundeskreis, 38%
darüber nie mit ihren TherapeutInnen gesprochen (vgl. Vauth & Nyberg 2007:469).
Es
wird
daher
gefordert,
therapeutische
14
Angebote
für
Menschen
mit
Hierzu wird angemerkt, dass es zwar noch an einschlägigen prospektiven Studien fehle und die
meisten bisherigen Befunde als Korrelationen zu verstehen sind. Somit sei ein stringenter oder gar
monokausaler Zusammenhang zwischen Trauma bzw. PTSD und Psychose nicht nachweisbar
(vgl. Vauth & Nyberg 2007: 465; Dümpelmann 2003: 3). Allerdings gebe es vielfache Belege dafür,
dass „Traumatisierungen die psychische Entwicklung erheblich stören und auch arretieren können,
[…] gerade auch die Entwicklung solcher Funktionen, die für Entstehung und Verlauf psychotischer
Störungen relevant sind und deshalb deren Auftreten wahrscheinlicher machen“ (Dümpelmann
2003: 3).
19
schizophrenen Psychosen generell „traumasensibler“ (Schäfer 2007:14) zu
gestalten. Erstens sollen alle therapeutischen und psychiatrischen Interventionen
so gestaltet werden, dass, wo immer möglich, eine Retraumatisierung vermieden
wird (vgl. auch Kapitel 3.3). Zweitens sollte das therapeutische Setting
ausreichend äußere und innere Sicherheit bieten, z.B. durch die Übernahme von
Eigenverantwortung bei Therapie-Entscheidungen oder das setzen von Grenzen
sowie die Ermöglichung von Rückzug. Drittens sollten in diesem Rahmen
Therapeutinnen
und
ÄrztInnen
systematisch
Gesprächsangebote
zu
traumatischen Erfahrungen machen (vgl. hierzu auch Read et al 2005a). Die
Berücksichtigung der „Traumaperspektive“ (Schäfer 2007:14) in der Therapie
ermöglicht es den Betroffenen, ihre Symptome besser zu verstehen und ihre
Selbstwirksamkeit zu erhöhen15 (vgl. Read et al. 2005a:328). Den Profis hilft es zu
einer
differenzierteren
Interpretation
und
besseren
Orientierung
an
den
Bedürfnissen der Betroffenen.
Verhaltenstherapeutische Programme
„There is a consensus, that the field needs to develop evective interventions for people
who have severe mental illnes and a history of trauma.“ (Rosenberg et al. 2001:1458)
Verschiedene Autoren weisen auf die Notwendigkeit hin, neben traumasensibler
Behandlung auch traumaspezifische Angebote – z.B. verhaltenstherapeutisch
orientierte Verfahren – für psychotische Menschen mit PTSD zu entwickeln und zu
evaluieren. Es gebe bislang keine Belege dafür, dass diese bei Menschen mit
schweren psychischen Erkrankungen generell riskant oder nicht einsetzbar sind16
(vgl. Schäfer 2007:15; Vauth & Nyberg 2007:467; Rosenberg et al. 2001:1457).
Zwar liegen bislang keine evidenzbasierten Programme für traumatisierte Psychotiker vor (vgl. Gunkel 2005:42). Allerdings finden sich Ansätze für entsprechende
15
READ ET AL. (2005b: 344) merken hierzu an, dass nicht jeder traumatisierte/psychotische Mensch
psychotherapeutische Unterstützung braucht oder wünscht. In diesem Fällen könnte es einen
erheblichen positiven Effekt haben, jenseits von Psychotherapie, die Symptome vor dem
Hintergrund der Lebensgeschichte verständlich zu machen.
16
VAUTH & NYBERG (2007: 467) und GUNKEL (2005: 41 f.) weisen allerdings darauf hin, dass die
Trauma-Exposition therapeutisch sehr vorsichtig eingesetzt werden soll, da diese meist eine
psychische bzw. affektive Destabilisierung mit sich bringt. Bei schweren Depressionen, massiven
Ängsten, genereller Verunsicherung (z.B. Umbrüche in Lebenssituationen) sollte deshalb ihrer
Ansicht nach auf eine Trauma-Exposition verzichtet werden. Auch massive formale Denkstörungen
könnten den therapeutischen Prozess erschweren.
20
therapeutische Angebote z.B. in dem Programm TERM, das auf Stabilisierung und
Aufbau von Bewältigungsstrategien, v. a. bei früh Traumatisierten ausgerichtet ist
(vgl. Schäfer 2007:15). Ein anderes Beispiel ist das von FRUEH ET
AL.
entwickelte
Manual, von dem allerdings bislang bei Menschen mit Psychosen nur einzelne
Bausteine evaluiert wurden. Das gesamte Programm erstreckt sich mit 30 bis 40
Sitzungen
über
9
bis
12
Monate
und
umfasst
Psychoedukation,
Angstbewältigungs- und soziales Kompetenztraining sowie eine traumaspezifische
Expositionsbehandlung. Mit Ausnahme der Expositionsbehandlung, die am Ende
der Behandlung steht, sind die Bausteine gruppentherapeutisch ausgerichtet (vgl.
Vauth & Nyberg 2007:467). READ ET AL. (2005a:328) erwähnen zudem den Einsatz
von
„voice
diaries“
mit
Coping-Strategien
zum
rationalen
Umgang
mit
Halluzinationen.
Psychoanalytische Ansätze
DÜMPELMANN (2003) und STREECK-FISCHER (2000) befassen sich mit der Frage der
Konsequenzen für die psychoanalytische Therapie, wenn anerkannt wird, dass
viele psychotische Menschen in ihrer Lebensgeschichte interpersonale Traumata
erlebt haben und dies in Zusammenhang mit der Psychose steht. Ausgangspunkt
der Überlegungen von DÜMPELMANN ist das KONZEPT
DER
KONTINGENZ-
ERFAHRUNGEN:
„Kontingenzen sind prozedurale Schemata, die Ursache-Wirkungs-Relationen folgen […].
Was ist passiert, was habe ich erlebt, wie habe ich gehandelt, wenn mein Gegenüber so
agiert hat? Und wie war es umgekehrt? Der Akzent liegt auf dem konkreten Ablauf des
Handlungs- und Affektdialogs, nicht auf psychodynamischen Annahmen zur Verarbeitung“
(ebd.:7f.)
Anhand von Fallbeispielen beschreiben DÜMPELMANN und STREECK-FISCHER, wie
sich im Falle früher Traumatisierungen ungünstige frühkindliche Handlungsdialoge
manifestieren,
(Dümpelmann
zu
„massiven
2003:6)
führen
Störungen
und
damit
der
Subjekt-Objekt-Grenzen“
Psychosen
begünstigen.
Zum
Verständnis der psychotischen Symptome sei daher weniger tiefenpsychologische
Interpretation gefragt als vielmehr ein empathisches Begreifen im konkreten
Bezug auf die Lebensgeschichte mit dem Ziel „traumatische Kontingenzen“ (ebd.)
zu erfassen und „eine Symbolwelt zu schaffen, die das Unfassbare fassbar macht
21
und in der die Patienten ihr Weiterleben zurechtrücken können“ (Streeck-Fischer
2000:68).
Eine solche psychoanalytische Herangehensweise bedeutet nicht nur die
Relativierung klassischer libidotheoretischer und struktureller Konzepte. Sie
erfordert von den TherapeutInnenen auch die Konfrontation mit „Anstößigem und
Abschreckendem“ (Dümpelmann 2003:4) auszuhalten und zu akzeptieren, dass
„Erlebnisse von seelischem Tod, Zerfall, Auflösung und Vernichtung in vielen
Fällen eben kein ‚Nichts’, sondern erlebte Geschichte sind“ (ebd.:10) 17.
3.3
Psychiatrische Behandlung und Pharmakologie
In Kapitel 1.3 wurde (stationäre) psychiatrische Behandlung als Risikofaktor für die
(Re-)Traumatisierung psychotischer PatientInnen beschrieben. Folgerichtig zielen
Empfehlungen zur ‚traumasensiblen’ psychiatrischen Behandlung vorrangig auf
Maßnahmen zur Vermeidung von SANCTUARY TRAUMA. In diesem Zusammenhang
wird auch der Einsatz ‚erinnerungsmodifizierender’ Substanzen diskutiert.
Vermeidung von SANCTUARY TRAUMA
Psychiatrische Interventionen sollen so gestaltet werden, dass, wo immer möglich,
eine (Re-)Traumatisierung der PatientInnen vermieden wird (vgl. Schäfer 2007:14;
Read et al. 2005a:328). Dies beginnt bei der „Gewaltprophylaxe“ (Gunkel 2005:33)
sowohl auf Seiten der PatientInnen als auch auf Seiten des Personals.
Angesprochen sind hier in erster Linie Rahmenbedingungen, die ein positives und
gewaltfreies Behandlungsklima in psychiatrischen Kliniken ermöglichen. Dazu
gehört ein ausreichender Personalschlüssel, die Vermeidung von Überbelegung
(insbesondere auf Akutstationen) sowie die Qualifizierung und Sensibilisierung
des Personals, z.B. durch Deeskalations-Trainings (vgl. ebd. 33 ff.; Schäfer
2007:15).
17
Streeck-Fischer (2000: 53 ff.) wertet die klassisch psychoanalytische Interpretation unerträglicher
Schilderungen von PatientInnen als Abwehrversuch der TherapeutInnen: „Wir reagieren mit
Seelenblindheit und Betäubung, um Verwirrung, Grauen und Erschütterung zu entgehen, ähnlich
wie die Patienten selbst“ (ebd.:53). Dabei bedienten sich TherapeutInnen theoretischer Annahmen
als „Schutzschild gegen Unbekanntes und Beängstigendes“ (ebd.:54). Diese Reaktion sei zwar
verständlich, verhindere letztlich aber ein tieferes Verständnis traumatisierter Menschen sowie
adäquate therapeutische Interventionen.
22
Gleichwohl lassen sich im klinischen Behandlungsalltag mit Gewalt verbundene
Maßnahmen nur bedingt vermeiden, insbesondere dann, wenn sie dem Schutz
anderer
PatientInnen
dienen.
Belastende
oder
potenziell
traumatische
Interventionen sollten später mit den Betroffenen thematisiert und aufgearbeitet
werden, sofern und sobald diese hierzu in der Lage und bereit sind.
In diesem Zusammenhang kommen Behandlungsvereinbarungen eine wichtige
präventive Funktion zu. In der gemeinsam von BehandlerIn und PatientIn
ausgehandelten
insbesondere
Vereinbarung
mit
Zwang
werden
verbundene
zukünftige
Interventionen
Maßnahmen.
Dadurch
geregelt,
werden
Interventionen für den/die PatientIn einschätzbarer und das traumatische
Potenzial zumindest gesenkt (vgl. Gunkel 2005:35 f).
Spezifische
Empfehlungen
werden
in
Bezug
auf
sexuell
traumatisierte
Patientinnen formuliert, die im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung nicht
selten der Gefahr einer Retraumatisierung aufgrund (angedrohter oder tatsächlich
ausgeübter) sexueller Übergriffe durch männliche Mitpatienten ausgesetzt sind
(vgl. Rosenberg et al. 2001:1454). Hier gilt es u. a. besondere Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die den Frauen einen Schutzraum ermöglichen. Eine
sehr vulnerable Patientengruppe sind gerontopsychiatrisch erkrankte kriegstraumatisierte Frauen, die ihre traumatischen – häufig in Zusammenhang mit
Vergewaltigung stehende – Erlebnisse wahnhaft verarbeiten. Hier soll v. a. beim
Pflegepersonal eine Sensibilisierung herbeigeführt werden, da z.B. Waschungen
im Genitalbereich als Teil der Pflege zum Trigger für das traumatische Erlebnis
und zum Auslöser psychotischer Erregungszustände werden können (vgl. Böwing
et al. 2008:78).
Pharmakologische Behandlung
Empfehlungen zur spezifischen medikamentösen Behandlung von Menschen mit
Psychose und PTSD sind insgesamt nicht sehr zahlreich vorhanden. VAUTH &
NYBERG (2007:467) schlagen eine neuroleptische Basistherapie (z.B. Risperidon)
vor, da dies sowohl auf psychotische als auch auf PTSD-Symptome ‚dämpfend’
wirkt. Verwiesen wird auch auf positive Erfahrungen mit dem Einsatz atypischer
Neuroleptika zur Verminderung der PTSD-Symptomatik. Allerdings beschränken
23
sich die bisherigen Befunde rein auf PatientInnen mit diagnostizierter PTSD (vgl.
ebd.).
Eine breitere Diskussion hat sich unter dem Stichwort THERAPEUTIC FORGETTING
(vgl. Davis o. D.) um den Einsatz von Propranolol und Cortisol und deren
moderierende Wirkung auf die Qualität traumatischer Erinnerungen entfacht. Im
Zusammenhang mit invasiven medizinischen Eingriffen, der Behandlung von
Angsterkrankungen
und
PTSD
bei
Kindern
und
Kriegsveteranen
wurde
festgestellt, dass durch die Zuführung dieser Substanzen eine Reduktion der
Symptome bei traumatischen Belastungsstörungen erreicht, insbesondere die
Intensität traumatischer Erinnerungsfragmente abgeschwächt werden kann18.
Bezogen auf ‚behandlungsinduzierte’ PTSD stellt sich die Frage, nach dem
Einsatz von Propranolol und Cortisol sozusagen als Sekundärprävention bei
schizophrenen PatientInnen (vgl. Gunkel 2005:36). Mit anderen Worten: Durch
medizinische Strategien könnte die ‚Heftigkeit’ einschießender Erinnerungen
abgepuffert, somit die Ausbildung von Stress-Symptomen und letztlich das Risiko
der Exazerbation von Psychosen ebenso wie das einer Chronifizierung der
Schizophrenie reduziert werden.
Allerdings sind mit solchen ‚Behandlungsstrategien’ ethische Fragen verbunden,
da es sich dabei um einen tief greifenden Eingriff in die Persönlichkeit handelt und
das ‚Recht auf Erinnerung’ tangiert ist. Auch ist es durchaus kritisch zu werten,
wenn die Folgen iatrogener Traumatisierungen – vielleicht sogar vom selben
Personal, das an der Traumatisierung beteiligt war – mittels der angesprochenen
Substanzen abgemildert werden und somit z.B. Zwangsmaßnahmen im
Nachhinein
von
PatientInnen
als
weniger
drastisch
erinnert
werden.
Möglicherweise behindert dies eine kritische Auseinandersetzung mit und die
oben angemahnte Weiterentwicklung von stationären Behandlungssettings.
18
Die hirnorganischen Wirkzusammenhänge werden u. a. bei Gunkel (2005:36) skizziert.
24
4. SCHLUSSWORT
In dieser Arbeit wurden verschiedene, zum Teil gegensätzliche, Diskussions- und
Argumentationslinien zum Themenkomplex ‚Psychose und Trauma’ aufgegriffen.
Dabei wurde deutlich, dass im aktuell geführten Diskurs zwar plausible
Zusammenhänge und Vorschläge eingebracht werden, diese jedoch überwiegend
noch zu wenig auf gesicherten empirischen Erkenntnissen fußen. Wie bereits
mehrfach erwähnt weisen die bisherigen Studien häufig methodische Schwächen
auf und beruhen meist auf kleinen, teilweise stark selektierten Stichproben.
Hieraus ergeben sich Anforderungen an zukünftige Forschungsvorhaben in
verschiedener Hinsicht. Methodisch sollte u. a. die Homogenität des untersuchten
Personenkreises sicher gestellt, etablierte diagnostische Instrumente eingesetzt
(vgl. Schäfer & Aderhold 2005:63) und unterschiedliche Behandlungs-Settings
(ambulant, stationär) berücksichtigt werden (vgl. Vauth & Nyberg 2007).
Konzeptionell scheint ein hoher Bedarf an prospektiven Längsschnitt-Studien zu
verschiedenen Forschungsfragen zu bestehen, z.B. zu möglichen Zusammenhängen zwischen Suchterkrankungen schizophrenen Störungen und PTSD (vgl.
Vauth 2007: 56). Insgesamt wird die Überwindung der Einengung auf Traumata
durch sexuellen und körperlichen Missbrauch im frühen Kindesalter angemahnt.
Vielmehr sollte das gesamte Spektrum möglicher Traumatisierungen in den Blick
genommen werden (vgl. Schäfer & Aderhold 2005: 63), wozu auch Erlebnisse des
Trauma-Typ I zählen. Ein Forschungsdesiderat besteht im Bereich der Prävention.
Forschungsfragen sind z.B. ob frühe Intervention bei sexuellem Missbrauch
präventive Wirkung gegenüber schizophrener Psychosen haben (vgl. Read et al.
2005b:331) oder ob behandlungsbedingte Traumata durch Krisendienste oder den
vorrangigen Einsatz von Atypika sowie Verhaltenstherapie in der Akutbehandlung
reduziert werden können (vgl. auch Read et al. 2005a: 328).
Nicht zuletzt besteht Bedarf an fundierten Erkenntnissen über spezialisierte
Interventionen für Menschen mit schizophrenen Psychosen und PTSD. Diese
sollten über Praxisforschung zukünftig (weiter-)entwickelt und evaluiert werden
(vgl. Schäfer & Aderhold 2005:63; Rosenberg et al. 2001:1454).
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Erklärung
Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig verfasst und außer den
angeführten keine weiteren Hilfsmittel benutzt habe.
Soweit aus den im Literaturverzeichnis angegebenen Werken einzelne Stellen
dem Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen sind, sind sie unter Angabe der
Entlehnung kenntlich gemacht. Dies bezieht sich auch auf die in der Arbeit
enthaltenen Tabellen und Abbildungen.
Ich versichere, dass diese Hausarbeit bis jetzt bei keiner anderen Stelle
veröffentlicht wurde.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass ein Verstoß hier gegen zum Ausschluss von
der Prüfung führt oder die Prüfung ungültig macht.
München, .2008
.........................................................................
(Eva Kraus)
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