8. Medizinische Behandlung mit Cannabis Michael Karus, nova-Institut Hürth/Rheinland Viele der therapeutisch erwünschten Wirkungen des Hanfes (Cannabis sativa L.) sind an die psychisch aktiven Cannabinoide, vor allem das Delta-9-Tetrahydrocannabinol, kurz THC, gebunden. Die Einnahme von Cannabis führt zu Stimmungsveränderungen und intensivierter Wahrnehmung von Sinneseindrücken, zu Veränderung von Aufmerksamkeit, Denkabläufen und Zeitwahrnehmung. Der Rausch wird in der Regel als angenehm entspannter, euphorischer Zustand beschrieben. Medizinisch erwünschte Wirkungen von Cannabis sind die Lösung von muskulären Verspannungen, antiepileptische Effekte, Schmerzhemmung, Sedierung, Hemmung von Brechreiz und Übelkeit, Appetitanregung, Weitung der Bronchien, Senkung eines erhöhten Augeninnendrucks, Gemütsaufhellung. Darüber hinaus sind schlaffördernde, juckreizstillende, entzündungshemmende, antibiotische, gefäßerweiternde gerinnungshemmende, leicht verstopfende und fiebersenkende Eigenschaften bekannt. 8.1 Therapeutisch gewünschte Wirkungen 1.1 Spastik Bei muskulären Verspannungen und Krämpfen unterschiedlichster Ursache (Spastik bei Multipler Sklerose oder Querschnittserkrankungen, Menstruationsbeschwerden etc.) wirkt Cannabis entspannend und schmerzhemmend. Bei Bewegungsstörungen, die mit unkontrollierten Bewegungen einher gehen, kann der Bewegungsablauf harmonisiert werden. Die Wirkung ist von einigen Patienten bereits unterhalb der psychoaktiven Wirkkonzentration spürbar, anderer benötigen höhere Dosierungen. MS-Patienten berichten auch gelegentlich von einer Verbesserung anderer Symptome wie Tremor (Zittern) und eingeschränkte Blasenund Darmfunktion. 1.2 Schmerzzustände Bei Schmerzzuständen (z. B. Gelenkschmerzen, Migräne, Neuralgien) sind seit Jahrhunderten die positiven Wirkungen von Cannabis bekannt. Bei starken Schmerzen kann die Dosis von Opiaten oder anderen Schmerzmitteln bei gleichzeitiger Gabe von Cannabis reduziert werden. Günstig wirken oft weitere Effekte von Cannabis, wie etwa der muskelentspannende Effekt oder der brechreizhemmende Effekt. Opiate verursachen nämlich oft Übelkeit, die mit Cannabis bekämpft werden kann. Cannabis wirkt gut auf den Tiefenschmerz, während die Oberflächensensibilität gesteigert wird. Der schmerzhemmende Effekt von Cannabis ist mit dem Opiat-Effekt vergleichbar. Beide wirken auf das zentrale Nervensystem und die Schmerzbahnen im Rückenmark. Sie führen zudem über eine Stimmungsveränderung zu einer Distanzierung vom Schmerz, der dann nicht mehr als so dominierend und bedrohlich empfunden wird. Die Forschung befaßt sich zur Zeit intensiv mit den schmerzhemmenden Eigenschaften von Cannabinoiden. 1.3 Aids Aids-Patienten verlieren wegen Appetitlosigkeit und Unwohlsein oft in kurzer Zeit stark an Gewicht. Patienten berichten, daß sie nach Cannabiseinnahme zum ersten mal wieder richtig Appetit verspüren. Auch in der Aids-Behandlung eingesetzte antivirale Medikamente verursachen nicht selten schwere Übelkeit und Erbrechen, was die Gesundheit von Schwerkranken weiter beeinträchtigt. Gewichtszunahme bei abgemagerten Patienten kann Lebensverlängerung bedeuten. Durch die Einführung sehr wirksamer Kombinationstherapien mit antiviralen Medikamenten in den letzten Jahren konnten die Behandlungserfolge wesentlich verbessert werden. Oft konnte die Viruslast bis unter die Nachweisgrenze gebracht werden, so daß das HI-Virus faktisch nicht mehr im Körper nachweisbar war. Hier ist es wichtig, daß die Einnahme der vielen Medikamente gewährleistet ist und der Behandlungserfolg nicht durch Nebenwirkungen, die zum Therapieabbruch führen können, beeinträchtigt wird. Hier behält Cannabis eine wichtige Funktion. 1.4 Krebsbehandlung Eine Chemotherapie kann heute einige früher unheilbare Krebsarten in einem hohen Prozentsatz heilen. Die dabei verwendeten starken Zellgifte verursachen bei einem großen Teil der Patienten unter der Behandlung starke Übelkeit und Erbrechen. Einem Teil dieser Patienten kann durch die konventionellen, oft sehr teuren und mit potentiell schweren Nebenwirkungen behafteten brechreizhemmenden Medikamente nicht befriedigend geholfen werden. Übelkeit und Erbrechen können so stark sein, daß sie den Therapieerfolg gefährden können. Wiederholt wurde die Wirksamkeit von THC und auch von Cannabis in dieser Situation nachgewiesen. Die Bedeutung von Cannabis bzw. THC bei der Krebschemotherapie hat jedoch in den letzten Jahren mit der Einführung anderer wirksamer Medikamente, den Serotonin (5HT3 )Antagonisten, deutlich nachgelassen. Auch bei anderen Ursachen für Übelkeit und Erbrechen wie unstillbarem Schwangerschaftserbrechen (Hyperemesis gravidarum) kann Cannabis eine günstige Wirkung zeigen. 1.5 Glaukom Cannabis senkt einen erhöhten Augeninnendruck um bis zu mehr als 50 %, im Durchschnitt um 20-30 %. Konventionelle Mittel gegen das Glaukom (grüner Star), das zur Erblindung führen kann, werden von den Patienten oft schlecht vertragen. Operationen zum Erhalt der Sehfähigkeit sind nicht immer möglich bzw. erfolgreich. Der erste Patient, der vor ca. 20 Jahren in den USA aus medizinischen Gründen legales Marihuana erhielt, war ein Mann, der am grünen Star litt. Nach einem langwierigen Kampf und mehreren fachärztlichen Untersuchungen und Tests erhielt er diese Ausnahmegenehmigung, da ihm kein Präparat besser vor der drohenden Erblindung schützen konnte als Marihuana. Auch einige deutsche Glaukom-Patienten verwenden Cannabis und sind damit sehr zufrieden. 1.6 Asthma Cannabis hat einen bronchienerweiternden Effekt. In Untersuchungen konnte gezeigt werden, daß THC bei Gesunden und Asthma-Kranken die Bronchien so gut erweitert wie bekannte Asthmamittel. Die Wirkung setzt etwas später ein als bei Beta-Sympathomimetika, wie etwas Salbutamol, hält dafür aber länger an. Die schleimhautschädigende Wirkung schränkt den Gebrauch durch das Rauchen allerdings ein. THC-haltige Aerosole sind hier besser geeignet und wurden bereits in wissenschaftlichen Untersuchungen erfolgreich erprobt. 1.7 Weitere Anwendungsgebiete Weitere Anwendungsgebiete für den medizinischen Cannabisgebrauch stellen leichte Schlafund Unruhestörungen und reaktiv depressive Zustände in der Folge schwerer Erkrankungen dar. Auch bei Depressionen anderer Ursachen wurden gute Wirkungen gesehen. Cannabis kann Entzugserscheinungen beim Absetzen anderer Drogen (Medikamente, Alkohol) bei vorliegender Suchtkrankheit dämpfen. Sucht ist allerdings keine Erkrankung, die durch Medikamente, sondern im wesentlichen durch psychosoziale Maßnahmen geheilt werden kann. Medikamente wie Cannabis oder Methadon machen Sinn in einem entsprechenden therapeutischen Gesamtkonzept. Viele der erwünschten und unerwünschten Wirkungen sind individuell unterschiedlich stark ausgeprägt. Auch die Schwelle für das Auftreten von psychischen Nebenwirkungen ist individuell verschieden. Sie liegt bei den meisten Menschen zwischen 0,20 und 0,30 mg THC pro kg Körpergewicht (dies entspricht bei einem angenommenen Körpergewicht von 50 bis 80 kg etwa 10 bis 25 mg THC) bei oraler Gabe mit Pflanzenöl. Nach dem Rauchen treten psychische Wirkungen allerdings bereits bei niedrigerer Dosierung auf. 8.2 Unerwünschte Wirkungen 2.1 Nebenwirkungen des Cannabiskonsums Cannabis ist im allgemeinen gut verträglich. Akute unerwünschte Wirkungen sind Herzschlagbeschleunigung, Blutdruckabfall, Mundtrockenheit und Bindehautreizung, eventuell Übelkeit und Erbrechen. Die Schädigung der Atemwege durch eine Marihuanazigarette entspricht der durch zwei bis vier Tabakzigaretten. Beim Cannbiskonsum wird im allgemeinen tiefer inhaliert und der Rauch länger einbehalten, um eine optimale Aufnahme der Cannabinoide durch die Lungenschleimhaut zu gewährleisten. Bei medizinischem Gebrauch werden 0,5 bis 3 Joints pro Tag geraucht - je nach gewünschter Dosierung und Marihuana-Qualität, so daß sich bei medizinischem Marihuanakonsum eine deutlich geringere Schädigung ergibt als bei einem mäßigen Tabakkonsum. Von einem Teil der Patienten werden die psychischen Nebenwirkungen, die bei einer relativen Überdosierung zu erwarten sind, als unangenehm empfunden. In seltenen Fällen treten -- abhängig von den äußeren Umständen, der inneren Haltung und der Dosis -- Angstund Panikzustände auf. Für den geübten Anwender und in geringer Dosierung spielt diese Nebenwirkung keine Rolle. Diese Veränderungen klingen nach wenigen Stunden von selbst ab. Fahrtüchtigkeit, die Fähigkeit zum Bedienen von Konzentrationsfähigkeit werden durch Cannabis herabgesetzt. Maschinen und die Bei latenten Ängsten können diese manifest werden. Bei latenter Psychose kann die Krankheit ausbrechen. Insbesondere vor der Pubertät kann das komplexe hormonelle Zusammenspiel - allerdings reversibel - gestört werden. Cannabis ist plazentagängig und findet sich in der Muttermilch. Folgende Personengruppen sollten vorsichtig sein und nur geringe Mengen oder gar kein Cannabis konsumieren: Schwangere. Nach der gegenwärtigen Kenntnislage besitzt Cannabis vermutlich nur eine geringe Potenz, embryonale und fetale Schädigungen zu verursachen. Möglicherweise besteht hier auch keinerlei Gefahr. Das Wissen ist hier noch sehr beschränkt. Schwangere sollten grundsätzlich unnötige Drogen (Medikamente, Alkohol, etc.) meiden. Stillende Mütter. Etwa 10-20% der Blut-THC-Konzentration findet sich in der Muttermilch. Herzkranke. Cannabis führt zur Herzschlagbeschleunigung, so daß bei einer Herzkranzgefäßverengung eine relative Minderversorgung des Herzmuskels mit Sauerstoff auftreten kann. Hohe Dosierungen sollten daher beim Erstgebrauch vermieden werden. Gegen die Herzfrequenzsteigerung entwickelt sich eine Toleranz. Psychisch Kranke und Suchtkranke: Bei latenter Psychose können Halluzinogene den Ausbruch der Erkrankung initialisieren. Bei manifester Psychose kann ein psychotischer Schub provoziert werden. Cannabis besitzt ein Suchpotential. 2.2 Nebenwirkungen der Illegalität Die wichtigsten Nebenwirkungen medizinischen Cannabisgebrauchs sind heute auf die rechtliche Situation, die Illegalität des Cannabiskonsums zurückzuführen. Sie beziehen sich nicht nur auf die mit der Kriminalisierung verbundene Stigmatisierung des Konsumenten, sondern auch • auf die Reinheit des am illegalen Markt erworbenen Produkts, • auf die Dosierbarkeit des medizinisch gewünschten Effektes, • auf die Entwicklung geeigneter Applikationsformen, • auf die systematische Erforschung möglicher Anwendungsbereiche und • auf die Pflanzenzüchtung für einen bestimmten pharmakologisch gewünschten Effekt. Die der Erkrankung angemessene Dosisfindung und richtige Dosierung sind Voraussetzungen für den therapeutischen Erfolg. Marihuana bzw. Haschisch, das am illegalen Markt gekauft wird, weist unterschiedliche THC-Konzentrationen auf. So ist es für den Verbraucher bzw. die Verbraucherin oft schwer, die Menge der aufgenommenen Droge richtig zu dosieren. Nicht selten wird so ungewollt eine Dosis aufgenommen, die zu psychischen Effekten führt, während der Patient bzw. die Patientin möglicherweise nur den muskelentspannenden Effekt wünschte, der oft bereits unterhalb der zu psychischen Nebenwirkungen führenden Dosierung spürbar ist. 8.3 Beschaffungs- und Behandlungsmöglichkeiten Grundsätzlich bestehen folgende Möglichkeiten einer Behandlung mit Cannabis bzw. Cannabinoiden. - Behandlung mit Nabilon oder Dronabinol. Nabilon und Dronabinol (Delta-9-THC) sind nach Anlage III des deutschen Betäubungsmittelgesetzes vom Arzt bzw. Ärztin verschreibbare Cannabinoide, allerdings in Deutschland im Gegensatz etwa zu den USA, Kanada und Großbritannien nicht in den Apotheken erhältlich. Die Präparate liegen in Kapselform vor, Nabilon unter dem Warennamen Nabilone“, das bisher einzige DronabinolPräparat unter dem Warennamen Marinol. In Deutschland sind diese Präparate über eine langwierige Import- und Genehmigungsprozedur erhältlich. Der Import von Nabilon aus Großbritannien dauert 6 bis 10 Wochen. Zum Import von Dronabinol, welches aus den USA oder Kanada importiert werden muß, liegen noch keine Erfahrungen vor, da die Einstufung von Dronabinol als verschreibbares Medikament in Deutschland erst zum 1. Februar 1998 erfolgte. - Beschaffung von Haschisch oder Marihuana am illegalen Markt und Selbsttherapie. - Eigenanbau von Cannabispflanzen im Freien oder drinnen. Dieser Eigenanbau ist ebenfalls illegal. - Eine hinsichtlich rechtlicher Konsequenzen ungefährdete Erprobung von Cannabis ermöglicht ein Besuch in Holland. Die niederländische Regierung toleriert ca. 1.000 sogenannte Coffee-Shops, in denen Cannabisprodukte verkauft werden.