Genetische Grundlagen nichtsyndromaler Hörstörungen

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M E D I Z I N
Christian Kubisch
Genetische Grundlagen
nichtsyndromaler Hörstörungen
Zusammenfassung
Erbliche Hörstörungen zählen zu den häufigsten monogenen Erkrankungen des Menschen. Durch die Funktionsbeeinträchtigung
eines zentralen Sinnessystems können sich in
Abhängigkeit von der Schwere der Symptome
und vom Zeitpunkt des Auftretens der Störung
schwerwiegende soziale und kognitive Probleme entwickeln. Deshalb sind eine frühzeitige
Diagnosestellung und medizinische Betreuung
wünschenswert. Die diagnostische Abklärung
von Hörstörungen wird durch eine ausgeprägte genetische Heterogenie und erhebliche klinische Variabilität kompliziert. Dennoch ermöglichte die ursächliche Aufklärung einer
großen Zahl monogener Hörstörungen in den
letzten Jahren, die differenzialdiagnostischen
Optionen und die humangenetische Beratung
betroffener Familien zu verbessern. Darüber
D
ie Erforschung erblicher Hörstörungen hat dazu beigetragen,
das Verständnis für den Hörvorgang und den molekularen Aufbau des
(Innen-)Ohrs zu verbessern. Grafik 1
zeigt die schematische Darstellung eines
Schnitts durch das Innenohr. Neben diesem grundlagenwissenschaftlichen Fortschritt können die genetischen Befunde
auch für den Patienten und dessen Familie direkte Konsequenzen haben
Im Folgenden soll versucht werden, eine orientierende Einführung in die Genetik der nichtsyndromalen Hörstörungen und die damit verbundenen Konsequenzen für den Patienten zu geben. Im
Einzelfall ist es oft zusätzlich sinnvoll,
dass eine betroffene Familie sich im Rahmen einer humangenetischen Beratung
über die individuellen Grundlagen der
Hörstörung und die diagnostischen Möglichkeiten informiert.
Ursachen und Häufigkeit von
Hörstörungen
Störungen des Hörens im Sinne einer
Schwerhörigkeit oder Taubheit stellen
beim Menschen eine der häufigsten Erkrankungen eines Sinnessystems dar.
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hinaus helfen die Forschungsergebnisse, die
Physiologie des Hörens beziehungsweise die
pathophysiologischen Grundlagen von Hörstörungen besser zu verstehen. Dieser Erkenntnisgewinn wird künftig hoffentlich zu einer weiteren Optimierung der medizinischen Betreuung führen.
Schlüsselwörter: Hörstörungen, Schwerhörigkeit, Taubheit, molekulare Medizin, Genmutation, Diagnosestellung
Summary
Genetic basis of non-syndromic hearing loss
Hereditary hearing loss ranks among the most
common monogenic disorders in man. Depending on the severity of symptoms and the
age of onset, the functional disturbance of this
Obwohl die Angaben über die Prävalenz
stark variieren und es abhängig von beispielsweise geographischen Faktoren
Unterschiede gibt, ist schätzungsweise
circa eins von 1 000 Kindern von einer
kongenitalen Taubheit betroffen (1).
Hiervon sind in hoch entwickelten Ländern mindestens 60 Prozent der Fälle genetisch verursacht,wohingegen maternofetale Infektionen, wie etwa Toxoplasmose, Röteln und Zytomegalie-Virus-Infektionen, oder perinatale Komplikationen seltener der Erkrankung zugrunde
liegen.
Die Auswirkungen der Hörstörung
sind sowohl für das Kind als auch für sein
Umfeld bedeutend. Das Kind ist aufgrund der beeinträchtigten Kommunikationsfähigkeit häufig in seiner kognitiven
und sozialen Entwicklung gestört. Dies
ist umso ausgeprägter, je stärker die Erkrankung mit einer Einschränkung der
Sprachentwicklung einhergeht. Sowohl
im Hinblick auf diese persönlichen Probleme als auch auf die Häufigkeit der Erkrankung ist es offensichtlich, dass eine
effektive und möglichst frühzeitige Diagnose ein primäres medizinisches Ziel
Institut für Humangenetik (Direktorin: Prof. Dr. rer. nat.
Brunhilde Wirth) des Klinikums der Universität zu Köln
important sensory system can result in considerable social and cognitive problems in the
affected person. Therefore, an early diagnosis
and adequate clinical support is desired. The
correct diagnosis of a distinct form of hearing loss is complicated by an extraordinary
genetic heterogeneity and clinical variability.
Nevertheless, the molecular elucidation of a
number of monogenic forms of hearing loss
enabled us to improve the diagnosis and genetic counselling of affected families. Furthermore, these results led to a better understanding of the molecular physiology of hearing
and the pathophysiology of deafness. This increasing knowledge will hopefully result in a
further optimization of clinical support in the
future.
Key words: hearing loss, deafness, molecular
medicine, genetic diseases
sein muss. Dies gilt auch deswegen, weil
hinsichtlich der pädaudiologischen Behandlung und Betreuung gute Optionen
existieren.
Der zweite Altersgipfel von Hörstörungen zeigt sich im fortgeschrittenen
Erwachsenenalter (2): Zwischen dem 40.
und 50. beziehungsweise zwischen dem
60. und 70. Lebensjahr leiden 0,3 Prozent
beziehungsweise 2,3 Prozent der Menschen an einer hochgradigen Schwerhörigkeit, das heißt einem Hörverlust
größer 65 dB. Betrachtet man die Altersgruppe zwischen dem 70. und 80. Lebensjahr, so liegt sogar bei mehr als 60 Prozent der Bevölkerung eine Hörminderung von mehr als 25 dB vor (Grafik 2).
Auch die Presbyakusis hat häufig Kommunikationsprobleme zur Folge, die bis
zum vollständigen Rückzug des Betroffenen aus seinem sozialen Umfeld führen
können.
Im überwiegenden Teil der Fälle ist
die Altersschwerhörigkeit allerdings
nicht monogen sondern multifaktoriell
bedingt. Neben Umweltfaktoren, wie etwa Lärm und ototoxische Medikamente,
spielen genetische Faktoren eine bedeutende Rolle. Hinsichtlich der Aufklärung
dieser beim Menschen bis jetzt nicht bekannten genetischen Prädispositionsfak-
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toren spekuliert man, dass insbesondere
die Gene, die monogene Hörstörungen
verursachen, gute Kandidatengene für
die Presbyakusis sind. Somit kommt der
Erforschung der frühkindlichen Formen
auch im Hinblick auf die Volkserkrankung „Altersschwerhörigkeit“ eine
große Bedeutung zu. Eine erste Bestätigung dieser These gelang im Mausmodell.Hier konnte gezeigt werden,dass ein
funktionell wirksamer Polymorphismus
im Cadherin-23-Gen, das im Fall eines
kompletten Funktionsausfalls zur Taubheit bei der Maus führt, für eine Prädisposition zur Altersschwerhörigkeit verantwortlich ist (3).
Klassifikation
Die Schwierigkeit für eine frühzeitige
genetische Diagnosestellung besteht in
der genetischen und klinischen Komplexität von Hörstörungen. Diese spiegelt
sich auch in der Vielzahl von Klassifikationsmöglichkeiten wider. Nach klinischen
Kriterien erfolgt die Einteilung hinsichtlich zum Beispiel:
Krankheitsbeginn
möglicher Progression
Qualität beziehungsweise Lokalisation (Schallleitungs- oder Schallempfindungsschwerhörigkeit) und
Ausmaß der Hörstörung gemessen
als Hörverlust in Dezibel (dB).
Genetisch werden beispielsweise syndromale von nichtsyndromalen Formen
unterschieden.
Bei den syndromalen Formen sind neben der Hörstörung noch weitere Anomalien und/oder Defekte anderer Organsysteme zu finden, wie etwa eine Retinitis pigmentosa beim Usher-Syndrom
oder eine spezielle Herzrhythmusstörung beim Jervell- und Lange-NielsenSyndrom. Mehrere hundert solcher Syndrome sind bekannt (4). Demgegenüber
spricht man von nichtsyndromalen Hörstörungen (NSHL, „non-syndromic hearing loss“), wenn es neben der Hörminderung zu keinen weiteren, mit der
Grunderkrankung in Zusammenhang
stehenden Symptomen kommt. Bei der
NSHL handelt es sich meistens um
Schallempfindungsschwerhörigkeiten.
Circa 70 Prozent der frühkindlichen
und wahrscheinlich nahezu 100 Prozent
der spät manifesten Hörstörungen zäh-
Grafik 1
Die angegebenen Spannungswerte der Scalae vestibuli, media und tympani sind gegen neutrale Referenzpunkte im Körper gemessen; der Perilymphraum (Scalae vestibuli und tympani) ist blau gekennzeichnet,
der Endolymphraum (Scala media) ist rot markiert. Aus: Kubisch C et al.: Genetik und molekulare Grundlagen der nichtsyndromalen Taubheit. In: Ganten D, Ruckpaul K, Hrsg.: Handbuch der Molekularen Medizin.
Band 7, Berlin/Heidelberg: Springer Verlag 2000; mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags.
Schematisierte Darstellung eines Schnitts durch den Ductus cochlearis mit dem Corti-Organ
len zu den nichtsyndromalen Formen.
Die Einteilung in nichtsyndromale und
syndromale Hörstörungen ist allerdings
nicht immer eindeutig. So sind Gene bekannt, deren Funktionsveränderung zu
einer syndromalen oder nichtsyndro-
malen Hörstörung führen kann. Exemplarisch sei hier die mögliche Allelie zwischen Formen der NSHL und dem Usher-, Pendred- und Wolfram-Syndrom
erwähnt. Das Usher-Syndrom zeigt dabei neben der Hörstörung noch eine Re-
Grafik 2
Links entsprechende Daten für das weniger stark betroffene Ohr, rechts Daten hinsichtlich des stärker hörgeschädigten Ohrs (Daten aus [2]). Aus: Kubisch C et al.: Genetik und molekulare Grundlagen der nicht-syndromalen Taubheit. In: Ganten D, Ruckpaul K, Hrsg.: Handbuch der Molekularen Medizin. Band 7, Berlin/Heidelberg: Springer Verlag 2000; mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags.
Prävalenz einer Hörstörung unterschiedlichen Ausmaßes (> 25 dB in rot, > 45 dB in blau und
> 65 dB in gelb) in Abhängigkeit vom Lebensalter.
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tinitis pigmentosa und gegebenenfalls
Gleichgewichtsstörungen, während das
Pendred-Syndrom zusätzlich eine Malformation des Innenohrs und eine Struma aufweist. Das Wolfram-Syndrom dagegen zeigt neben der Hörstörung eine
Optikusatrophie, einen Diabets mellitus
und einen Diabetes insipidus.
Erbgänge
Ein monogener Erbgang bedeutet, dass
eine spezifische Veränderung eines einzelnen Gens zur Ausprägung der Erkrankung führt, ohne dass weitere genetische
Veränderungen oder Umweltfaktoren
maßgeblich beteiligt sind. Es ist bekannt,
dass die monogenen Formen der NSHL
verschiedenen Erbgängen folgen können.Diese Tatsache ist von Interesse,weil
je nach vorliegendem Erbgang unterschiedliche Wiederholungswahrscheinlichkeiten für das Auftreten der Hörstörung bei weiteren Kindern oder Nachkommen gelten. Dies ist im Rahmen einer individuellen Beratung von entscheidender Bedeutung. Es gibt autosomal
dominante, autosomal rezessive, X-chromosomal rezessive und mitochondriale
Vererbungsmuster innerhalb von verschiedenen Familien.
Bei den frühkindlichen Formen der
NSHL werden 80 bis 85 Prozent autosomal rezessiv, circa 15 Prozent autosomal
dominant und 1 bis 3 Prozent X-chromosomal vererbt. Bei den später manifesten
Formen ist anzunehmen, dass der Anteil
der autosomal dominanten und mitochondrialen Formen höher ist.
Die autosomal rezessiven Formen
sind meist schwerer und stellen einen
Großteil der kongenitalen Fälle. Demgegenüber sind die meisten autosomal dominanten Formen durch eine spätere
Manifestation – oft im frühen Erwachsenenalter – und einen progredienten Charakter gekennzeichnet, wenngleich auch
hier schwere, nichtprogrediente und kongenitale Formen vorkommen. Dies ist
zum Beispiel bei den Formen DFNA3
und DFNA8 bekannt. „DFNA“ steht dabei für einen autosomal dominanten Locus einer nichtsyndromalen Hörstörung;
entsprechendes gilt für DFNB als Abkürzung für eine autosomal rezessive und
DFN für eine X-chromosomal rezessive
Form. Die nachfolgende Zahl beschreibt
einen spezifischen Locus. Die LocusNummern werden chronologisch nach
der Erstbeschreibung vergeben, das
heißt, beim Locus DFNA3 handelt es
sich um den drittbeschriebenen Locus ei-
Grafik 3
Loci, die kartiert wurden und für die das verantwortliche Gen noch nicht identifiziert worden ist, sind nicht dargestellt. Autosomal dominante Loci (DFNA)
sind rot, autosomal rezessive Loci (DFNB) blau und ein X-chromosomaler Locus
(DFN) ist grün gekennzeichnet. Die verantwortlichen Gene sind jeweils in
schwarz unter der Locusbezeichnung angeführt. Es zeigt sich in einigen Fällen,
dass mehr als ein NSHL-Gen für einen Locus gefunden wurde. Das heißt, dass
hier zwei NSHL-Gene nahe zusammen liegen, zum Beispiel bei DFNA2 auf
Chromosom 1. In anderen Fällen wurde für zwei Loci lediglich ein Gen identifiziert. Das bedeutet, dass zwei Loci, die als ursprünglich separat betrachtet
wurden, doch überlappen und dasselbe NSHL-Gen beinhalten, beispielsweise
DFNA6 und DFNA14 auf Chromosom 4. In einigen Fällen können Veränderungen eines Gens sowohl eine autosomal dominante als auch rezessive NSHL
verursachen, zum Beispiel DFNB2 und DFNA11 mit MYO7A-Mutationen auf
Chromosom 11. (Stand Januar 2005)
Bekannte Gene und zugehörige Loci der nichtsyndromalen Hörstörungen (NSHL) im menschlichen Genom, dargestellt anhand von Ideogrammen
menschlicher Chromosomen und einer schematisierten Zeichnung des mitochondrialen Genoms
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auf die meist fehlenden medizinisch-klinischen Konsequenzen nicht sinnvoll. Die umfassende Darstellung aller Gene/Genprodukte und Loci findet man auf der „Hereditary
Hearing Loss Homepage“
(webhost.ua.ac.be/ hhh/).
Für die Grundlagenforschung bedeutet die Identifizierung der NSHL-Gene jedoch eine enorme WissenserEine homozygote Mutation des Myosin VIIA bei der Shakerweiterung. Der Aufbau des In1-Maus führt zur Disorganisation der Stereozilien, sowohl
der äußeren als auch inneren Haarzellen, und damit zur
nenohrs sowie die Physiologie
Taubheit. Der Balken in b) entspricht 5 µM. Aus: Self T, Mahdes Hörens sind kompliziert
ony M, Fleming J, Walsh J, Brown SD, Steel KP: Shaker-1 muund nicht abschließend vertations reveal roles for myosin VIIA in both development
standen. Die Erkenntnisse aus
and function of cochlear hair cells. Development 1998; 125:
der genetischen Forschung ha557–66; mit freundlicher Genehmigung der Company of Biologists Ltd., Cambridge, Großbritannien.
ben maßgeblich dazu beigetragen, ein genaues Bild über die
Elektronenmikroskopische Aufnahme der Oberfläche des molekularen Grundlagen der
Corti-Organs von b) Shaker-1-Mäusen und a) gesunden
Systeme zu erhalten, die soKontrolltieren am dritten Tag nach der Geburt
wohl für die spezifische Entwicklung als auch die Funktiner autosomal dominanten NSHL. Auch onsweise des Ohrs notwendig sind. Hierhinsichtlich der Klassifikation nach vor- bei wird die Komplexität des Ohrs durch
liegendem Erbgang muss eine Ein- die genetischen Befunde reflektiert, woschränkung gemacht werden. Es gibt bei die Forschung erst am Anfang eines
inzwischen mehrere Beispiele dafür, etwa bei den Genen MYO7A oder GJB2,
Grafik 5
dass Mutationen eines Gens in einigen
Familien zu einer autosomal rezessiv
vererbten Hörstörung führen, wohingegen andere Mutationen desselben Gens
in anderen Familien eine autosomal dominant vererbte Form bedingen.
Grafik 4
Prozesses steht, der langfristig zu einem
nahezu vollständigen Verständnis der
molekularen Embryologie und Physiologie des Hörens führen kann. Einige dieser „physiologischen Systeme“ zeichnen
sich inzwischen klar ab.
Dazu zählen:
die transkriptionelle Steuerung der
Innenohrentwicklung
der Energiehaushalt im Innenohr
der spezifische Aufbau der Extrazellulärmatrix und Zytoskeletts
die endocochleäre Ionenhomöostase.
Mutationen in Genen für Transkriptionsfaktoren werden in Formen der
NSHL und noch häufiger bei den syndromalen Hörstörungen gefunden. Da bei
Letztgenannten meist morphologische
Auffälligkeiten vorliegen, ist dieser Befund nicht unerwartet. Exemplarisch seien hier nur Mutationen von PAX3,MITF
und SOX10 erwähnt, die bei verschiedenen Formen des Waardenburg-Syndroms zu finden sind (6). Das Waardenburg-Syndrom ist neben einer variablen
Hörstörung unter anderem durch Pigmentierungsstörungen, faziale Charakte-
Genetische Veränderungen
bei nichtsyndromalen
Hörstörungen
Die NSHL ist durch eine außergewöhnliche genetische Heterogenie gekennzeichnet, das heißt,Veränderungen in unterschiedlichen Genen können zu einem
vergleichbaren Krankheitsbild führen.
Schätzungen zufolge können Mutationen in bis zu 100 Genen für die Entwicklung der NSHL verantwortlich sein (5).
Es ist im Wesentlichen durch so genannte
positionelle Klonierungsansätze gelungen, eine Reihe dieser Gene zu identifizieren. Die zurzeit bekannten NSHLGene und ihre chromosomale Lokalisation sind in Grafik 3 dargestellt (Stand Januar 2005). Eine detaillierte Präsentation
jedes einzelnen Gens ist im Hinblick
Aus: Kubisch C et al.: Genetik und molekulare Grundlagen der nicht-syndromalen Taubheit. In: Ganten D,
Ruckpaul K, Hrsg.: Handbuch der Molekularen Medizin. Band 7, Berlin/Heidelberg: Springer Verlag 2000;
mit freundlicher Genehmigung des Springer Verlags.
Schematisierter Schnitt durch die Cochlea und farbliche Kodierung ausgewählter Strukturen/Zellen, die an der Kaliumhomöostase im Innenohr beteiligt sind und deren Störungen zu verschiedenen Taubheitsformen des Menschen führen. (Bezeichnung der Strukturen siehe Grafik 1)
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ristika und ein mögliches MeGrafik 6
gakolon gekennzeichnet.
dB HL (ISO 389–1991)
Aufgrund des hohen Ener0
giebedarfs des Innenohrs kann
10
eine mitochondriale Funktionsstörung zu Hördefiziten
20
führen. Mitochondriale Muta30
tionen in tRNA- und rRNA40
Genen werden bei der NSHL
relativ selten gefunden, sind
50
jedoch aufgrund pharma60
kogenetischer Implikationen
70
wichtig. Bekanntermaßen können Aminoglycosid-Antibioti80
ka wie beispielsweise Strep90
tomycin, unter anderem eine
100
irreversible Ototoxizität mit
Degeneration der sensorischen
110
Haarzellen verursachen. Diese
120
Nebenwirkung tritt familiär
125
250 500 1 000 2 000 4 000 8 000
Hertz
gehäuft auf, wobei in einigen Fällen eine maternale (mitAus: Murgia A, Orzan E, Polli R et al.: Cx26 deafness: mutation
ochondriale) Vererbung voranalysis and clinical variability. J Med Genet 1999; 36: 829–32,
liegt.
mit freundlicher Genehmigung der BMJ Publishing Group Ltd.
1993 konnte in drei solchen
Familien eine Punktmutation Darstellung der klinischen Variabilität anhand audiomean Position 1555 im Gen der trischer Kurven bei 15 Patienten mit identischer genetischer Veränderung, das heißt, Homozygotie für die häumitochondrialen 12S-rRNA figste Connexin-26-Mutation, 35delG
identifiziert werden (7). Die
Untersuchung größerer Kollektive zeigte später, dass mitochondriale Gene scheinen insbesondere bei der
Mutationen für einen größeren Anteil NSHL und dem Alport- beziehungswei(bis zu 10 Prozent) der familiären spät se Usher-Syndrom mutiert zu sein. Exmanifesten Schwerhörigkeit verantwort- emplarisch wird in Grafik 4 dargestellt,
lich sind (8, 9). Diese weisen eine alters- wie sich der Funktionsverlust des Strukabhängige Penetranz auf, die durch die turproteins Myosin VIIA bei der so geGabe von Aminoglykosiden verstärkt nannten Shaker-Maus, die eine Taubheit
werden kann. Mit der Identifizierung sol- und eine Störung des Gleichgewichtscher mitochondrialer Mutationen kann sinns zeigt, negativ auf die strukturelle
in den betroffenen Familien durch die Integrität der Haarzellen und StereoziliVermeidung von Aminoglykosiden eine en auswirkt und somit zur Hörstörung
gezielte Prophylaxe betrieben werden.
der Maus führt (10). Entsprechende MuEine zentrale Aufgabe des Innenohrs tationen des humanen Myosin VIIA verist die Umwandlung mechanischer Im- ursachen typischerweise eine Form des
pulse in elektrische Signale. Diese me- Usher-Syndroms oder eine autosomal rechanoelektrische Transduktion ist ab- zessive NSHL (11, 12).
hängig von der strukturellen Integrität
Eine maßgebliche Rolle für das Hören
der sensorischen Haarzellen und Stereo- spielt die Endolymphe, die die sensorizilien, die wiederum von dem Aufbau des schen Haarzellen apikal umspült. Diese
Zytoskeletts und der umgebenden Ex- extrazelluläre Flüssigkeit ist einzigartrazellulärmatrix abhängen. Tatsächlich tig hinsichtlich ihrer Ionenkomposition
fand man Mutationen in cochleär expri- (hohe Kaliumkonzentration) und ihres
mierten Genen, die für Proteine des elektrischen Potenzials (stark positiv geZytoskeletts, wie etwa verschiedene aty- laden) (Grafik 1). Schon kleinere Veränpische Myosine, und der Extrazellulär- derungen dieser Charakteristika führen
matrix, beispielsweise Kollagene, α-Tec- zu einer Abnahme des Hörvermögens
torin, oder für Zelladhäsionsmoleküle, beziehungsweise zur irreversiblen Schäzum Beispiel Cadherine, kodieren. Diese digung. Mutationen in Genen, die an der
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Aufrechterhaltung dieser Eigenschaften
beteiligt sind, resultieren in erblichen
Hörstörungen. Insbesondere sind Gene
identifiziert worden, die wahrscheinlich am Recycling des Kaliums und an
der Kaliumsekretion durch Zellen der
Stria vascularis beteiligt sind (Grafik
5). Die dabei betroffenen Gene gehören
zur Gruppe der Connexine (Connexin
26 [GJB2], GJB6 und GJB3) und
der spannungsabhängigen Kaliumkanäle
(KCNQ1 und KCNQ4,KCNE1).In Grafik 5 sind der vermutete Recyclingweg
der Kaliumionen sowie einige der daran
beteiligten Strukturen beziehungsweise
Zelltypen dargestellt. Dabei sind Zellen
farblich kodiert, die solche Gene exprimieren, die zu Formen der NSHL beim
Menschen führen können.
Klinische Implikationen der
genetischen Befunde
Aufgrund der Vielzahl der Gene, die bei
Hörstörungen verändert sein können, ist
eine molekulargenetische „Standardtestung“ aller Gene zu differenzialdiagnostischen Zwecken nicht möglich oder
sinnvoll. Dennoch haben sich durch
die molekularen Befunde Fortschritte in
der medizinischen Betreuung von hörgestörten Kindern und deren Familien ergeben.
Wenn innerhalb einer Familie mit genetisch bedingter Hörstörung die verursachende Mutation identifiziert wurde,
ist es möglich, eine molekulare Diagnostik bei weiteren Familienangehörigen
durchzuführen. Dies gilt im Prinzip auch
für die vorgeburtliche Diagnostik, wenngleich diese bei der NSHL aufgrund ethischer Überlegungen sehr kritisch zu hinterfragen ist. Die überwiegende Mehrzahl der Laboratorien, wie auch das Labor des Autors, bieten deswegen keine
vorgeburtliche Diagnostik der NSHL an.
Um eine umfassende Information
über Optionen und Probleme der molekularen Testung zu gewährleisten, sollten
Patienten und deren Familien eine humangenetische Beratung in Anspruch
nehmen. Im Fall einer Mutation bei einem noch nicht betroffenen Familienmitglied oder Säugling eröffnen sich Möglichkeiten frühzeitiger therapeutischer
und pädagogischer Maßnahmen. Weiterhin ermöglicht die Aufklärung des Erb-
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gangs eine gezielte humangenetische Beratung hinsichtlich der Wiederholungsrisiken. Ein Vorteil des genetischen Nachweises einer NSHL besteht darin, dass
auf weitere, zum Teil invasive und belastende Untersuchungen zum Ausschluss
syndromaler Formen verzichtet werden
kann. Zusätzlich bedeutet die Aufschlüsselung des persönlichen Risikoprofils eine Optimierung der prophylaktischen
Optionen, weil Personen mit hohem Erkrankungsrisiko auf die strikte Vermeidung weiterer potenziell hörschädigender Faktoren hingewiesen werden können, zum Beispiel Lärmbelastung oder
ototoxische Medikamente.
Die Identifizierung der genetischen
Veränderung innerhalb einer Familie mit
erblicher Hörstörung gelingt allerdings
zurzeit nur in einem geringen Anteil.
Dennoch gibt es einen Befund, der hinsichtlich der molekulargenetischen Diagnostik der NSHL besonders relevant ist.
die Protein-kodierende Region besteht aus nur einem Exon
bestimmte Mutationen sind sehr
häufig und
für die autosomal rezessiven Formen
scheint mit GJB2 das häufigste NSHLGen identifiziert zu sein.
Weiterhin gibt es erste Hinweise darauf, dass Kinder mit einer GJB2-bedingten Hörstörung möglicherweise besser
auf die Therapie mit einem Cochlea-Implantat reagieren (19), sodass die molekulare Testung gegebenenfalls ein wichtiger prognostischer Faktor sein könnte.
Diese Befunde müssen jedoch noch in
größeren Kollektiven unabhängig voneinander bestätigt werden. Einschränkend gilt, dass allein aufgrund des Testergebnisses keine sichere individuelle Vorhersage über das Ausmaß der Hörstörung möglich ist (20), weil selbst bei
identischer Mutation eine deutliche klinische Variabilität vorkommt (Grafik 6).
Connexin-26-Gen
Diagnostisches Vorgehen bei
einer kindlichen Hörstörung
Es konnte gezeigt werden, dass Mutationen im Connexin-26- (GJB2-)Gen zu
einer autosomal rezessiven – oder selten
auch dominanten – Hörstörung führen
(13). Die besondere klinische Bedeutung beruht darauf, dass Veränderungen
in diesem Gen trotz der extremen Heterogenie der NSHL in einigen Populationen für bis zu 50 Prozent der Fälle der
autosomal rezessiven Hörstörungen
verantwortlich sind (14, 15). In Deutschland scheint der Anteil der GJB2-bedingten Hörstörungen mit circa 15 bis 20
Prozent geringer zu sein (16, 17). Darüber hinaus ist eine der ursächlichen Veränderungen, die so genannte 35delG-,
auch als 30delG- bezeichnete, Mutation
besonders häufig. Diese Mutation ist in
verschiedenen Populationen, insbesondere des mediterranen Raums, in 70 bis
85 Prozent der Fälle zu finden (18). Sie
hat zum Beispiel in Italien eine Heterozygotenfrequenz von etwa 1 : 31. Damit
ist die 35delG-Mutation eine der häufigsten krankheitsverursachenden Genveränderungen überhaupt.
Diese Befunde eröffnen neue Möglichkeiten in der Diagnostik der erblichen NSHL. Drei Kriterien erlauben dabei eine relativ wenig aufwendige molekulare Diagnostik:
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Wie können die dargestellten genetischen Befunde bei einer ungeklärten
Hörstörung eines Kindes eingesetzt werden? Zuerst muss anamnestisch weitestgehend geklärt werden, ob eine nichtgenetische Ursache, wie etwa Infektionen
oder Geburtskomplikationen, vorliegt.
Ist diese unwahrscheinlich, wird der Pädiater einschätzen, ob es sich um eine isolierte oder eine syndromale Hörstörung
handelt. Bei weiteren Symptomen – oft
sind das Fehlbildungen – liegt möglicherweise ein übergeordnetes Syndrom vor,
und die Hörstörung ist in den meisten
Fällen nicht diagnostisch wegweisend.
Hier muss durch die weitere klinische
Diagnostik und die Zusammenarbeit
von Pädiatern und Humangenetikern
versucht werden, die Symptome einem
Syndrom zuzuordnen. Differenzialdiagnostisch können dabei in zunehmendem Maße molekular- beziehungsweise
zytogenetische Untersuchungen helfen.
Liegen keine offensichtlichen Zusatzsymptome vor, ist eine NSHL wahrscheinlich. In diesem Fall kann eine molekulargenetische GJB2-Untersuchung
zum Teil diagnostisch erfolgreich eingesetzt werden. Bei negativem GJB2-Test
kann in Zusammenarbeit mit speziali-
sierten Forschungslabors diskutiert werden, ob auch andere NSHL-Gene getestet werden können.In diesen Fällen sollte weiterhin klinisch untersucht werden,
ob dennoch bestimmte syndromale Formen vorliegen könnten, die nicht durch
offensichtliche Fehlbildungen charakterisiert sind, wie insbesondere das Jervellund Lange-Nielsen-Syndrom (JLNS)
und das Usher-Syndrom.Durch eine Verlängerung der QT-Strecke besteht beim
JLNS nämlich eine erhöhte Gefahr für
kardiale Arrhythmien. Eine rechtzeitig
begonnene medikamentöse und/oder
apparative Behandlung kann somit dazu
beitragen, schwerwiegende Komplikationen der Herzrhythmusstörung, wie
zum Beispiel einen plötzlichen Herztod,
zu verhindern. Beim Usher-Syndrom ist
es durch das Auftreten einer Retinitis
pigmentosa wichtig, die Betreuung und
Förderung des betroffenen Kindes frühzeitig darauf auszurichten, dass auch das
Sehen eingeschränkt sein wird. Des Weiteren können Untersuchungen der Nieren- beziehungsweise Schilddrüsenfunktion differenzialdiagnostische Hinweise
auf ein Alport- beziehungsweise Pendred-Syndrom liefern.
Die Zusammenarbeit von Pädiatern,
Pädaudiologen, HNO-Ärzten und Humangenetikern und die Anwendung genetischer Untersuchungen werden in einer steigenden Zahl von Fällen zu einer
erfolgreichen Einordnung der Hörstörung führen. Diese wiederum bedeutet
für den Patienten und seine Familie eine
Verbesserung der Betreuung und individuellen medizinischen Versorgung.
Manuskript eingereicht: 14. 1. 2005, revidierte Version angenommen: 6. 4. 2005
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der
Richtlinien des International Committee of Medical Journal
Editors besteht.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2005; 102:A 2946–2952 [Heft 43]
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Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Christian Kubisch
Institut für Humangenetik
Klinikum der Universität zu Köln
Kerpener Straße 34
50931 Köln
E-Mail: [email protected]
DISKUSSION
zu dem Beitrag
Hirntodbestimmung und
Betreuung des
Organspenders
Eine Herausforderung für die
Intensivmedizin
von
Prof. Dr. med. Thomas Bein
Prof. Dr. med. Hans J. Schlitt
Dr. med. Detlev Bösebeck
Dr. med. Sylvia Bele
Prof. Dr. med.
Bernhard K. Krämer
Prof. Dr. med. Kai Taeger
in Heft 5/2005
Ergänzung
Es ist sehr verdienstvoll, das außerordentlich schwierige Thema der Akzeptanz des Hirntodes durch die Angehörigen und auch Mitarbeiter auf
den Intensivstationen so sachlich und
problemorientiert darzustellen. Es ist
dies eine permanente Aufgabe, die
beispielhaft für die Auseinandersetzung mit intensivmedizinischen Behandlungsmaßnahmen steht, bei der
auch die Akzeptanz des zunehmenden
Hirnstammversagens bei schwersten
Hirnerkrankungen im Grenzbereich
intensivmedizinischen Handelns mitbeleuchtet wird.
Die im Transplantationsgesetz differenziert niedergelegte diagnostische
und untersuchungstechnische Vorgehensweise zur Feststellung des Hirntodes möchte ich nicht weiter diskutieren. Unsicherheiten entstehen nach
meiner Erfahrung meist an zwei wichtigen Punkten:
Durch den klinischen Verlauf und
eine angemessene und ausreichende
neurophysiologische, dopplersonographische und bildgebende Untersuchung
müssen das Hirntodsyndrom nachgewiesen, alle beeinflussenden Kofaktoren in diesem Zusammenhang sicher
erfasst und zweifelsfrei bewertet werden.
⏐ Jg. 102⏐
⏐ Heft 43⏐
⏐ 28. Oktober 2005
Deutsches Ärzteblatt⏐
Oftmals entstehen Unsicherheiten
in der Beurteilung klinischer Befunde
während der Manifestationsphase des
Hirntodes, wenn Spinalisationsphänomene auftreten. Dabei handelt es sich
zum Beispiel um den Nackenabdominalreflex, unterschiedliche Reaktionen
in Form spinalmotorischer Schablonen
nach noxischen Reizen (zum Beispiel
nach „nail-pain“), (selten) spontane
spinale Myoklonien, reflektorische zervikale spinale Atemmuster, spontane
Blutdruckkrisen und andere vegetative
Symptome (zum Beispiel Hyperhidrose), die auch die Feststellung des Hirntodes nach den gesicherten Kriterien
überdauern oder sich auch erst nach
Feststellung des Hirntodes entwickeln
können. Diese Phänomene sind mit
dem Begriff „Muskelzuckungen und
unspezifische Reaktionen“ meiner Einschätzung nach nicht angemessen charakterisiert. Sie sind nicht unspezifisch,
sondern Ausdruck einer Änderung der
spinalmotorischen Funktionen bei supraspinalem Funktionsverlust während
terminaler Komaphasen vor der Manifestation des Hirntodes. Durch den Tiefstand der Kleinhirntonsillen entsteht eine hohe Halsmarkkompression mit entsprechender Klinik. Erst kürzlich ist eine
Arbeit erschienen, die erneut nachgewiesen hat, dass zum Beispiel ein überdauerndes Babinski-Phänomen die Frage nach einer verbliebenen Restfunktion des Hirnstammes aufwerfen muss.
Das Auftreten solcher spinalmotorischer Schablonen bei Pflegemaßnahmen oder bei Injektionen ist ausreichend bekannt und auch in den Richtlinien der Bundesärztekammer ausführlich dargelegt. Diese Phänomene sind
aber für Angehörige und Pflegepersonal immer wieder Anlass, das Konzept
des Hirntodes als Tod der Person zumindest emotional in Zweifel zu ziehen.
Eine auf diese Phänomene hin ausgerichtete frühzeitige Information der
Angehörigen und auch des Pflegepersonals scheint mir in dem sonst sehr guten Überblick nicht hinreichend akzentuiert.
Prof. Dr. med.
Rudolf Wilhelm Christian Janzen
Krankenhaus Nordwest
Neurologische Klinik
Steinbacher Hohl 2–26
60488 Frankfurt
A 2953
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