VAAM-Nachrichten 626 Systembiologie mikrobieller Organismen Vergangenen April fand an der Universität Bielefeld ein Workshop zur Systembiologie mikrobieller Organismen statt. Die Systembiologie ist ein junges expandierendes Forschungsgebiet, das mittlerweile weltweit Eingang in eine zukunftsorientierte Forschungsplanung gefunden hat. In Deutschland wird diese Forschungsrichtung seit kurzem durch das BMBF-Förderkonzept „Systeme des Lebens – Systembiologie“ mit einem Fokus auf die Leberzelle gefördert. International gibt es neben der systembiologischen Forschung an Eukaryoten wie in der „Alliance for Cellular Signaling“ sowohl in den USA als auch in Japan eine starke Fokussierung auf mikrobielle Organismen. Die Systembiologie gründet auf dem massiven Einsatz parallel arbeitender Hochdurchsatzverfahren in den Biowissenschaften, der zu einer Datenflut in der Genom-, Transkriptom- und Proteomforschung geführt hat. Das aktuelle Problem biowissenschaftlicher Forschung ist, diese Datenfülle in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang zu bringen. Daher muss der auf das molekulare Detail ausgerichtete reduktionistische Ansatz der Biologie um eine ganzheitliche Betrachtungsweise der untersuchten Systeme ergänzt werden. Nur so wird ein Verständnis komplexer Systemeigenschaften wie beispielsweise optimale Regulation oder Adaption an die Umwelt möglicht. Die Systembiologie vertritt diese ganzheitliche Sichtweise, biologische Prozesse auf der Systemebene zu untersuchen. Neben einer quantitativen Beschreibung der Systembestandteile und ihrer Interaktionen ist ein theoriebasierter Ansatz notwendig, um die intuitiv nicht mehr erfassbare Komplexität und Dynamik biologischer Netzwerke zu verstehen. Die mathematische Modellierung und Simulationen spielen daher eine zentrale Rolle, um langfristig zu einer virtuellen Repräsentation von Zellen und ganzen Organismen zu gelangen. In Analogie zu in vivo- und in vitro-Experimenten soll so durch eine in silico-Vorhersage biologischer Phänomene der Weg zu einer quantitativen, prädiktiven Biologie geebnet werden. Dabei kommt einer fruchtbaren interdisziplinären Zusammenarbeit, die Konzepte aus der Biologie, Informatik, Mathematik, Physik und den Ingenieurwissenschaften kombiniert, die entscheidende Bedeutung für den Erfolg des systembiologischen Forschungsansatzes zu. Der in Bielefeld durchgeführte Workshop hat sich bewusst auf die Systembiologie mikrobieller Organismen konzentriert, da deren Genome eine handliche Größe aufweisen und daher einfach sequenziert wer- den können. Außerdem ist die Genvorhersage für bakterielle Genome verhältnismäßig leicht durchführbar, sodass für Transkriptom- und Proteomforschung ein gesicherter Unterbau existiert. Zusätzlich fördert das BMBF mit dem Programm GenoMik drei bakterielle Genomforschungsnetzwerke in Deutschland, deren Datenmengen langfristig nur mittels Systembiologie in den Griff zu bekommen sind. Der Workshop begann mit der Biologie mikrobieller Systeme. Ernst Dieter Gilles vom MPI in Magdeburg stellte die Katabolitenrepression bei E. coli als ein charakteristisches Beispiel dar, anhand dessen wesentliche Eigenschaften eines übergeordneten Regulationssystems erläutert werden können. Alfred Pühler von der Universität Bielefeld präsentierte die Genomsequenzierprojekte des Bielefelder BMBF-Netzwerks und zeigte am Beispiel des Aminosäureproduzenten Corynebacterium glutamicum, dass sich Bakterien mit ihrer überschaubaren genetischen Ausstattung besonders gut für einen systembiologischen Ansatz eignen. Anke Becker, ebenfalls aus der Universität Bielefeld, stellte umfangreiche Transkriptomstudien des symbiontisch Stickstoff-fixierende Bakteriums Sinorhizobium meliloti vor. Michael Hecker von der Universität Greifswald schloss mit der Proteomanalyse bei Bacillus subtilis an und zeigte, wie man das adaptive Netzwerk in einzelne Module, in Stimulons, Regulons und Modulons auflösen kann. Zum Abschluss des biologischen Teils schilderte Joseph Lengeler von der Universität Osnabrück die metabolischen Netzwerke in mikrobiellen Organismen. Er mahnte an, dass quantitative Daten erzeugt werden müssen, welche die relevanten Stoffwechselflüsse, die Aktivitäten aller beteiligten Regel- und Signaltransduktionsnetzwerke und alle anderen dynamischen Prozesse, so wie sie unter physiologischen Bedingungen ablaufen, korrekt beschreiben. Der zweite Tag des Workshops war den systemwissenschaftlichen Ansätzen gewidmet. Zunächst referierte Wolfgang Wiechert, Universität Siegen, über integrative Stoffwechselwege auf Grundlage von in vivo-, in vitro- und in silico-Daten. Er führte aus, dass trotz eines enormen Datenaufkommens die Datenmengen noch lange nicht ausreichen, um erfolgreich metabolische Netze in prokaryotischen Zellen zu modellieren. Ulf Leser von der Humboldt-Universität in Berlin widmete sich dem Thema „Ontologien in der Bioinformatik“, einem Topthema des Daten- und Wissensmanagements molekularbiologischer Datenbänke. Reinhart Hein- rich, ebenfalls von der Humboldt-Universität in Berlin, stellte zunächst Methoden und Ergebnisse zur mathematischen Modellierung und zur Computersimulation von metabolischen Wegen vor. Anschließend beschäftigte er sich mit der Modellierung von Signaltransduktionswegen, bevor er zu dem neuen Konzept der stöchiometrischen Robustheit von metabolischen Netzwerken überging. Den Abschlussvortrag mit dem Titel „The Silicon Cell: The computational and the experimental part“ präsentierte Hans Westerhoff, Biocentrum Amsterdam. Mit der Silikonzelle wies er der Systembiologie ein neues Ziel. Hierbei geht es darum, ganze Teilbereiche von lebenden Zellen im Computer abzubilden und experimentelle Fragestellungen zunächst auf Computerebene durchzuspielen. Überraschende Befunde können dann punktuell am lebenden System verifiziert werden. Der Workshop klang mit einer Podiumsdiskussion aus. Die Podiumsteilnehmer stellten einhellig fest, dass bakterielle Systeme aufgrund ihrer Genom- und Postgenomdaten besonders für die Entwicklung der Systembiologie geeignet sind. Diese Entwicklung sollte in Deutschland verstärkt aufgenommen werden. Dazu ist es nötig, dass die forschungsfördernden Institutionen wie BMBF und DFG die sich bietende Chance erkennen und mit Forschungsprogrammen auf diese Herausforderung reagieren. Die Podiumsteilnehmer sprachen sich auf dafür aus, den Workshop „Systembiologie mikrobieller Organismen“ in den nächsten Jahren fortzuführen. Weitere Informationen bei den Organisatoren des Workshops: Prof. Dr. Andreas Dress Forschungsschwerpunkt Mathematisierung, FSMP Fakultät für Mathematik Universität Bielefeld Postfach 100131 D-33501 Bielefeld Tel.: 0521-106-3858; Fax: 0521-106-6007 [email protected] PD Dr. Klaus Prank International NRW Graduate School in Bioinformatics und Genome Research CeBiTec/Technische Fakultät Universität Bielefeld Postfach 100131 D-33501 Bielefeld Tel.: 0521-106-4897; Fax: 0521-106-6490 [email protected] Prof. Dr. Alfred Pühler Lehrstuhl für Genetik Fakultät für Biologie Universität Bielefeld Postfach 100131 D-33501 Bielefeld Tel.: 0521-106-5607; Fax: 0521-106-5626 [email protected] BIOspektrum · 5/03 · 9. Jahrgang