1 SWR2 GLAUBEN Gesichter des Islams (3) FRIEDE UND GEWALT Von Reinhard Baumgarten SENDUNG 28.11.2010 /// 12.05 UHR Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Regie Musik Zitator 1 arabisch (6,151) Zitator 2 Tut Gutes euren Eltern; und tötet nicht eure Kinder aus Furcht vor Armut (...); und begeht keine schmachvollen Taten, seien sie offen oder geheim; und nehmt nicht irgendeines Menschen Leben – (das Leben,) das Gott als heilig erklärt hat (...) dies hat Er euch aufgetragen, auf dass ihr euren Verstand gebrauchen möget. Koran Sure 6 Das Vieh, Vers 151 Regie Collage basteln (unterlegt mit Musik) { Nehls, NY: „Es ist die absolute Katastrophe. Die schlimmsten Vorhersagen scheinen übertroffen zu werden.“ 2 Tagesschausprecher: „Guten Abend, meine Damen und Herren! Die USA sind heute von einer beispiellosen Terrorwelle heimgesucht worden." Präs. Bush: „Today we’ve had a national tragedy. Two airplanes have crashed into the World Trade Centre in an apparent terrorist attack on our country.” Nehls: „Man mag nicht über die Zahl der Opfer nachdenken. Es können Tausende, zig Tausende sein.“ Prof. Khoury: „Die Islamisten, die Terroristen vor allem, die deuten das so ganz extrem, indem sie sagen, das steht da so im Koran. Augenzeuge: „And if you go over you can see that people jumping out of the window right now. O my God!” Prof. Khoury: „Also: die Christen, die Juden sind alles Ungläubige und der Koran sagt, kämpft gegen sie, dann kämpfen wir auch gegen sie. Aber es gibt andere, gemäßigte Kommentatoren, die das nicht übertragen auf alle Zeit.“} Regie Musik (?) Sprecher 1 Der Islam - eine Religion der Gewalt und der Unberechenbarkeit? Eine Religion der Terroristen, der Unvernunft, der Irrationalität, der Rachsucht? Diesen Eindruck kann gewinnen, wer die jüngste der drei monotheistischen Religionen durch die Optik moderner Medien betrachtet. Es dominiert die Berichterstattung über Probleme mit Muslimen, über eine mutmaßliche Unverträglichkeit von Islam und westlicher Demokratie, über Terroranschläge, Opfer häuslicher Gewalt, so genannte Ehrenmorde und blutige Konflikte mit Angehörigen anderer Glaubensbekenntnisse. Mehr als 1,4 Milliarden Menschen weltweit bekennen sich zum Islam. Islam bedeutet wörtlich: Hingabe an Gott. Das Wort leitet sich von dem arabischen Verb salima ab, das heil, unversehrt, in Frieden sein bedeutet. In Dutzenden Koranversen werden die Muslime zum friedlichen Miteinander aufgefordert. Im Koran heißt es, der Gruß im Paradies sei Salām – Frieden, Heil – ebenso der Gruß an die Propheten. Muslime weltweit begrüßen sich mit as-Salāmu’aleikum – der Friede, das Heil sei mit euch. Regie Atmo Reifen, Schüsse 3 Sprecher 1 Doch es herrscht vielerorts Krieg innerhalb und außerhalb der islamischen Gemeinschaft. Mag es sich bei diesem martialischen Auftritt noch um die Übung einer Antiterroreinheit in Saudi Arabien handeln... Regie Atmo Vinell Sprecher 1 ...so handelt es sich hierbei um ein Tondokument, mittels dessen saudische Terroristen im Internet die kaltblütige Ermordung einer amerikanischen Geisel bekannt geben. Unzählige Menschen sind in diesem noch jungen Jahrhundert bereits durch Terroristen umgekommen, die ihre Bluttaten mit dem Islam rechtfertigen. Die weitaus meisten Opfer religiös verblendeter Extremisten waren Muslime. Weltweite Aufmerksamkeit erregen aber die Terroranschläge gegen nichtmuslimische, westliche Ziele. Regie OBL O-Ton „Jeder Amerikaner“ (paraphrasiert) Sprecher 1 Osama bin Laden, Chefterrorist und Kopf des Extremistennetzes al-Qa’ida. Jeder Amerikaner sei ein legitimes Ziel, ob als Soldat oder als Steuerzahler, doziert bin Laden. Und er beruft sich auf den Koran sowie auf die Sunna genannten Aussprüche und Handlungsweisen des Propheten Mohammed. Nichts erscheint so sinnlos wie die Bombe in der U-Bahn, in Pendlerzügen, in Hotels, in Ferienanlagen, auf dem Marktplatz oder in Einkaufszentren. Sie wird bewusst gegen wehrlose Menschen eingesetzt, um zu töten und zu verstümmeln, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Sie ist Symbol menschenverachtender Auswüchse kaltblütiger Friedlosigkeit. Diese Friedlosigkeit versuchen bin Laden und seinesgleichen als Jihād, als angeblich religiös legitimierte Pflicht zu verbrämen. Regie Zuspiel bin Laden: Jihād Sprecher 2 Wir glauben, dass der Jihād in diesen Tagen eine islamische Pflicht für unsre Gemeinschaft ist. Aber wir müssen unterscheiden zwischen der Pflicht und der Fähigkeit, sie zu erfüllen. In einem jeden Land, in dem genug Männer, Waffen und die nötigen Mittel für den Jihād sind, müssen Muslime den Kampf gegen den Unglauben aufnehmen. 4 Sprecher 1 Ankläger, Richter und Henker in einem – nicht mehr und nicht weniger wollen bin Laden und seine Mordbuben sein. Die Zahl jener Extremisten, die ihren Terror mit dem Islam begründen, ist verglichen mit der Gesamtheit der friedfertigen Muslime sehr gering. Doch die Militanten prägen auf ungute Weise das Erscheinungsbild des Islams. Denn weltweit geben muslimische Terroristen vor, als Verteidiger der Ummah genannten Gemeinschaft der Gläubigen zu handeln und überziehen deshalb die Menschen mit ihrem unheiligen Krieg. Regie Zuspiel bin Laden: Ka’ba Sprecher 2 Wir wollen Gottes Gesetzen folgen und die heilige Ka’aba verteidigen. Die ehrwürdige Ka'aba ist das Haus Gottes, das alle Menschen auf Erden durch Andacht vereinigt. Die größte Andacht nach dem Glauben ist das Gebet. Der Anfang ist Islam, das Gebet ist seine Säule, der Jihād ist seine Krone. Sprecher 1 Das arabische Wort Jihād (Dschihad) wird unzutreffend oft mit heiliger Krieg übersetzt. Prominent wurden der Begriff und seine von westlichem Denkmuster gekennzeichnete Übersetzung zunächst durch die Orientromane von Karl May. Dschihad bedeutet auf der lexikalischen Ebene Anstrengung - im Sinne von sich bemühen. Die Bedeutungsebene ist vielfältig. Der Begriff kommt sowohl im Koran als auch in den Ha- dith genannten Aussprüchen des Propheten in verschiedenen grammatikalischen Abwandlungen vor. In Sure 9, Vers 41 heißt es beispielsweise: Zitator 2 Rückt aus, ob leicht oder schwer, und setzt euch... Zitator 1 arabisch wa jahidū Zitator 2 ...mit eurem Vermögen und mit eurer eigenen Person auf dem Weg Gottes ein. Sprecher 1 Dschihad kann in diesem Zusammenhang auch Krieg oder Kampf bedeuten. Krieg gilt nicht als heilig im Islam, der zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg unterschei- 5 det. Als ungerecht gilt ein Krieg, wenn er der Bereicherung dient. Als verwerflich gilt ein Krieg, der gegen Frauen, Kinder und alte Männer – also gegen Wehrlose – geführt wird. Als gerecht gilt ein Krieg zur Verteidigung, wie Mohammed Tantawi betont, der bis zu seinem Tod im Frühjahr 2010 als höchste Autorität im sunnitischen Islam galt. Zuspiel Moh. Tantawi, Jihad Sprecher 2 Jihād bedeutet Verteidigung des Landes, der heiligen Stätten, der menschlichen Würde, Verteidigung all dessen, was Gott uns zu verteidigen aufgetragen hat: seinen Glauben, besetztes Land, Freiheit – das nennen wir Jihād. Sprecher 1 In Dutzenden von Versen ermutigt und ermuntert der Koran zum Krieg gegen Feinde der Muslime und definiert, wie und warum gekämpft werden soll und wie mit Gegnern und Gefangenen zu verfahren ist. Die Verse wurden zumeist in einer Phase offenbart, als sich die noch junge muslimische Gemeinde von Medina im Krieg mit den nichtmuslimischen Mekkanern befand und in ihrer Existenz bedroht war. (Regie Zitator 1 Musik) arabisch (2,190+193) Zitator 2 Und kämpft für Gottes Sache gegen jene, die Krieg gegen euch führen, aber begeht keine Übertreibung – denn, wahrlich, Gott liebt die nicht, die Übertreibungen begehen. Kämpft gegen sie, bis es keine Unterdrückung mehr gibt und alle Anbetung Gott alleine gewidmet ist. Aber wenn sie ablassen, dann soll alle Feindschaft aufhören, außer gegen jene, die (willentlich) Unrecht tun. Koran Sure 2 Die Kuh, Vers 190 und 193. (Regie Musik) Sprecher 1 Der Prophet Mohammed ist zu seinen Lebzeiten nicht nur spiritueller Führer seiner Gemeinde. Er ist auch Politiker, Heerführer und Kriegsherr. 22 Jahre lang von 610 bis 632 verkündet er die 114 Suren genannten Kapitel des Korans. Nur wenige Suren bestehen aus Texten, die sich mit einem einzigen Thema befassen und eine erkennbare Einheit bilden. Häufig setzen sich die Suren aus zusammengefügten Teilen zusammen, 6 die auf den ersten Blick ohne erkennbaren direkten inhaltlichen Bezug zueinander stehen. Der nach muslimischem Verständnis göttliche Text wird von Menschen gelesen und ausgelegt, unterstreicht der Berliner Islamwissenschaftler Peter Heine. Zuspiel Hei: Apostasie A: Wir haben es mit einem Text zu tun, und dieser Text kann interpretiert werden. Man kann das sehr schön an einem der zentralen Bereiche sehen. Nämlich dem, was passiert mit Menschen, die vom Glauben abfallen? Da kann man feststellen, wenn man sich die Texte sehr genau anschaut, es geht hier um die Frage zwischen dem Menschen und Gott. Wenn er also von Gott abfällt, dann wird Gott ihn auch dereinst bestrafen. Das ist das zentrale Element. Das wird geschehen beim Jüngsten Gericht – also die ganze eschatologische Vorstellung wird darauf bezogen. Spätere Interpreten haben gesagt, ja, natürlich wird der am Jüngsten Tag bestraft, aber wir stellen uns vor, dass das auch hier auf der Welt geschehen muss. Und dass dann in der Islamische Recht der Straftatbestand der Apostasie geraten ist. Sprecher 1 Die Abkehr vom neuen Glauben bedeutet in den ersten Jahren des Islams auch gleichzeitig den Verlust aktiver Streiter und damit eine existenzielle Gefährdung der jungen muslimischen Gemeinde. Dennoch betont der Koran in diesen Zeiten größter Bedrängnis mehrfach, dass Gott allein – nicht Menschen – jene richten wird, die sich vom Islam abwenden. Zitator 1 arabisch (2,217) Zitator 2 Diejenigen von euch, die sich von ihrer Religion abwenden und als Ungläubige sterben, deren Werke sind im Diesseits und im Jenseits wertlos. Das sind die Gefährten des Feuers; sie werden darin ewig weilen. Koran Sure 2 Die Kuh, Vers 217. Sprecher 1 Der Koran gilt Muslimen als ewiges, unerschaffenes Wort Gottes. Wichtig für die Bedeutung der einzelnen Verse seien die so genannten Asbāb an-Nuzūl - die Gründe der Herabsendung - betont Adel Theodor Khoury, der als einer der besten Korankenner deutscher Sprache gilt. Zuspiel Kho: in 1 Nacht 7 A: An anderer Stelle sagt der Koran, wir haben ihn stückweise herabgesandt – also nicht alles auf einmal. Das ist eher so zu verstehen: der gesamte Koran ist da. Die Mehrheit der Gelehrten geht davon aus, dass einige Verse geändert worden sind, ersetzt worden sind durch andere. Das sagt der Koran selbst. Wenn Gott einen Vers durch einen anderen ersetzt, das ist (weil) er sieht, dass es entweder genauso gut ist wie der andere oder besser. Weil Gott der Herr seiner Offenbarung ist. Sprecher 1 Der ägyptische Gelehrte Nasser Hamid Abu Zaid hat in diesem Zusammenhang vom „Diskurs der Offenbarung“ gesprochen. Zeit seines Lebens hat der im Sommer 2010 verstorbene Literaturwissenschaftler die Gründe, Zusammenhänge und Anlässe für die Herabsendung von Koranversen untersucht. Die zahlreichen Textstellen, die sich mit Krieg und Kampf beschäftigen, spiegelten die militärische Auseinandersetzung der Muslime mit ihren mekkanischen Gegnern wider, so Abu Zaid. Erfolg und Niederlage, Triumph und Schmach sowie die zögerliche Haltung vieler Muslime gegenüber Krieg und Kampf finden ihren Niederschlag in den Offenbarungen. Regie Zuspiel Nas: Diskurs (wird paraphrasiert, dann Overvoice) Sprecher 1 Mohammed, hebt Abu Zaid hervor, habe Botschaften empfangen. Darauf hätten die Menschen reagiert. Auf deren Reaktion seien neue Botschaften offenbart worden, die neue Fragen aufwarfen und neue Kommentare in der Gemeinschaft wie auch im Koran hervorriefen. Sprecher 2 Wir haben in 23 Jahren (Koranoffenbarung) ein ganzes Feld von Debatten, Disputen, Fragen und Kommentaren von Menschen. Manche fordern Mohammed und den Koran regelrecht heraus. Dann folgen die Passagen, in denen auf diese Herausforderungen auf verschiedene Weise geantwortet wird. Wir haben also eine ganze Reihe von Diskursen. Zitator 1 arabisch (3,139) Zitator 2 Seid nicht verzagt und bekümmert euch nicht, denn ihr werdet bestimmt hoch aufsteigen, wenn ihr (wahrhaft) Gläubige seid. Wenn ihr Wunden erlitten habt, so ha- 8 ben die feindlichen Leute ähnliche Wunden erlitten. Solche Tage teilen (Wir) den Menschen abwechselnd zu. Koran Sure 3 Das Haus von Imrān, Vers 139-140 Sprecher 1 Mit diesen koranischen Worten tröstet Mohammed seine Gefolgsleute nach der Schlacht von Uhud. Etwa 70 Mann verliert er im Jahr 625 – also nur drei Jahre nach der Flucht aus Mekka. Das Desaster auf dem Schlachtfeld wirkt demoralisierend auf die noch junge muslimische Gemeinde. Die schiere Existenz der neuen Religionsgemeinschaft steht auf dem Spiel. Manche Muslime beklagen laut ihr Leid, wollen wissen, warum Gott ihnen nicht zum Sieg verholfen hat. Andere sind kurz davor, vom neuen Glauben abzufallen. Der Verteidigungswille scheint erlahmt, Zweifel breitet sich aus. Dann kommt eine neue Offenbarung. Zitator 1 arabisch (3,195) Zitator 2 Was jene angeht, (...) die für meine Sache Schaden erleiden und für sie kämpfen und getötet werden – ich werde ganz gewiss ihre schlechten Taten tilgen und werde sie ganz gewiss in Gärten bringen, durch die Wasserläufe fließen als eine Belohnung von Gott. Koran Sure 3 Das Haus Imrān, Vers 195. Regie Musik Sprecher 1 In unseren Tagen wähnen sich viele Muslime in der Defensive. Sie haben das Gefühl, ihre Religion und ihre tradierten Werte seien in Gefahr. Sie haben das Gefühl, sie müssten ihre Kultur gegen westliche Bedrohungen verteidigen. Dieses Gefühl hat mit den Terroranschlägen der vergangenen Jahre und der damit einhergehenden Debatte über eine pauschal unterstellte Gefährlichkeit des Islams dramatisch zugenommen. Eine Folge davon ist, dass etliche Muslime teils unverhohlen, teils verdeckt Sympathie mit jenen religiös verbrämten Terroristen hegen, die den vermeintlich überlegenen Westen in beispielloser Weise herausfordern. Regie { Nehls, NY: „Es ist die absolute Katastrophe. Die schlimmsten Vorhersagen scheinen übertroffen zu werden.“ Präs. Bush: „Today we’ve had a national tragedy. Two airplanes have crashed into the World Trade Centre in an apparent terrorist attack on our country.” 9 Eye witness: „We heard a big bang.....“ } Sprecher 1 Die Zahl westlicher Opfer islamischer Extremisten geht in die Tausende. Die Zahl muslimischer Opfer geht in die Hunderttausende. In Saudi Arabien, dem Herkunftsland bin Ladens, sind seit 2003 über 150 Menschen getötet worden; mehr als 1200 Menschen kommen in den 90er Jahren in Ägypten ums Leben; Zehntausende sterben seit 2003 durch Terroristen im Irak, mehr als 100.000 seit 1992 in Algerien. Die Extremisten wollen die herrschenden Machtverhältnisse ändern. Sie streben nach einem islamischen Utopia, das sie in der vom Propheten Mohammed gegründeten ersten muslimischen Gemeinde von Medina zu erkennen glauben. Das Idealbild ihrer Ummah genannten Gemeinschaft der Gläubigen ist frei von kritisch-historischer Betrachtung der islamischen Quellen. Darin, meint der Oxforder Islamwissenschaftler Tariq Ramadan, liege eine große Gefahr. Regie Zuspiel Ram: Mittel Sprecher 2 Alle Verse, die sich mit Gewalt, Krieg und Widerstand beschäftigen, müssen im Zusammenhang gesehen werden. Deshalb sage ich zu den Leuten auch immer, passt auf, wenn ihr sagt, jeder kann doch den Koran auslegen. Es kann gefährlich werden, wenn du nicht dafür ausgestattet bist, um zu verstehen, worüber du eigentlich redest. Das machen manche Muslime, sie ziehen bestimmte Verse aus dem Koran und sagen: Ah, wir können töten, das steht doch da geschrieben. Ich sage, nein, das ist falsch! Das wurde geschrieben in einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Anlass. Regie Islamistenslogan oder Musik Regie Zuspiel Ram: Sprecher 2 Wir müssen aus dem Text nicht die wörtliche Bedeutung herauslesen, sondern die grundsätzliche Bedeutung. Deswegen haben die Gelehrten auch verurteilt, was auf Bali, in Madrid, London und den USA geschehen ist. Das Töten unschuldiger Menschen ist inakzeptabel, diese Taten sind inakzeptabel. Wir haben viele Interpretationen (der Quellen), aber wenn du dir anschaust, was mehrheitlich in muslimischen Ländern wie auch von muslimischen Gemeinschaften im Westen gesagt wird, dann 10 wird klar, dass Gewalt und das Töten von Unschuldigen im Namen des Islams nicht akzeptiert werden. Wir müssen auf die Stimme der Mehrheit hören. Regie Atmo Regen/Donner Sprecher 1 Gewitter über Majalengka, einer Kleinstadt im Norden der indonesischen Insel Java. Heftig prasselt der Regen auf die Schlafhäuser. Rund 400 Mädchen und Jungen besuchen die Internatsschule mit dem arabischen Namen Al-Mizān. Al-Mizān bedeutet Waage – im übertragenen Sinne auch Unparteilichkeit/Gerechtigkeit. Den Namen hat der Schulgründer Kyai Haji Maman aus Sure 55, Vers 9 des Korans abgeleitet: Zitator 1 arabisch (55,9) Zitator 2 Wiegt daher (eure Taten) mit Gerechtigkeit und kürzt nicht das Maß. Sprecher 1 Kyai Haji Maman ist knapp 1,75 Meter groß und etwas stämmig. Er hat einen kurzgeschnittenen Kinnbart und einen leicht irritierenden Silberblick. 1995 gründet er die Internatsschule Al-Mizān, in der Schüler zu Santri genannten rechtgläubigen Menschen erzogen und ausgebildet werden. Regie Zuspiel khM: Pesantren Sprecher 2 Wir geben den Santri Bildung, religiöse Bildung. Ohne Kenntnis der Schriften kann niemand erfolgreich sein. Wir unterrichten sie auch in wissenschaftlichen Fächern. Dann bereiten wir die Santri auf die Zukunft vor, indem wir sie mit Technologie vertraut machen. Als Beispiel: wir unterrichten sie, wie sie mit dem Internet umgehen können. Dadurch können sie ihr Wissen über größere Netzwerke ausbauen. Wir fördern die jeweiligen Talente der Santri. Wenn jemand gut im Schreiben ist, dann fördern wir das. Ein anderer zeigt mehr Begabung für Technik und hat ein gutes Händchen in der Werkstatt. Dann wird er in den entsprechenden Einrichtungen ausgebildet. Regie Atmo Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die Pesantren genannten Internatsschulen reine Religions- und Koranschulen. Das trifft heute nur noch auf einen Teil der mehr als 11 15.000 islamischen Internate auf Java zu. Zu unrühmlicher Bekanntheit gelangt im Herbst 2002 die Internatsschule Al-Mukmin Pesantren in Zentraljava. Regie Zuspiel O-Ton Tagesschau 13.10.02 (Gong, Fanfare, Tagesschaumeldung) Guten Tag, meine Damen und Herren. Mindestens 182 Menschen starben in Indonesien bei einer Reihe von Bombenanschlägen- unter ihnen mindestens eine Deutsche. Mehr als 300 Personen wurden verletzt. Zehn Deutsche werden noch vermisst. Sprecher 1 Drahtzieher dieses Terroranschlags soll Abu Bakar Bashir, der Gründer der Al-Mukmin Pesantren gewesen sein. Einige der Attentäter von Bali waren Absolventen seiner Schule, denen er im Unterricht eingebläut hatte: Zitator 2 Es gibt kein edleres Leben als im Jihād als Märtyrer zu sterben. Keines. Die größte Tat im Islam ist der Jihād. Wenn wir uns dem Jihād verpflichten, dann können wir andere Dinge vernachlässigen, sogar das Beten und Fasten. Sprecher 1 Ein Tropfen Gift verdirbt die ganze Milch, zitiert Schulleiter Kyai Haji Maman mit Blick auf die Al-Mukmin Pesantren ein indonesisches Sprichwort. Ja, räumt er ein, es gebe auf Java Internatsschulen, in denen extremistisches Gedankengut verbreitet werde. Doch er warnt eindringlich davor, wegen weniger Internate mit extremistischem Hintergrund über alle religiösen Schulen den Stab zu brechen. Regie Zuspiel khM: Frieden Sprecher 2 Islam leitet sich von As-Salām ab – das bedeutet Frieden. Wir lehren den Santri, dass Islam die Kraft ist, um Frieden zu schaffen. Wir verstehen den Islam als Aufruf zum friedlichen Miteinander in der Gesellschaft, in der wir Unterschiede respektieren Sprecher 1 Es gibt eine Zeit im Leben des Kyai Haji Maman, über die er zwar offen, aber nicht ohne Scham spricht. Als junger Springinsfeld ist er beseelt von dem Gedanken, dass nur ein „reiner“ Islam Indonesien eine lichte Zukunft bescheren kann. Maman, Absol- 12 vent einer religiös-konservativen Pesantren nahe Surabaya in Ostjava, zieht mit Gleichgesinnten gegen Spielhallen und Bordelle zu Felde. Er wettert gegen Korruption und Vetternwirtschaft. Er greift zum Knüppel, um vermeintlich Verderbten das Fell zu gerben. Er verwüstet Geschäfte und Wohnhäuser von Chinesen. Zu jener Zeit ist er felsenfest davon überzeugt, dass es nur eine Wahrheit gibt und er und seine Freunde sie kennen. Es ist das Jahr 1998. Das Inselreich droht nach dem Ende der 33 Jahre währenden Suharto-Diktatur auseinander zu brechen. Auf Java, Sumatra, Sulawesi und den Molukken toben religiös befeuerte Konflikte zwischen Muslimen und Christen. Moscheen brennen, Kirchen gehen in Flammen auf. Christen sind für Kyai Haji Maman damals Ungläubige. Regie Zuspiel khM: Kafir 1 Sprecher 2 Es gibt hier Gelehrte, die fordern, dass ein guter Muslim ein strenges Verhalten gegenüber Ungläubigen zeigen muss. Ungläubige sind für sie Menschen anderer Religionen – also Christen, Juden, Feueranbeter, Hindus, Buddhisten und so weiter. Gegen die müsse man in den Krieg ziehen, sie müssten bekämpft und als gemeinsamer Gegner betrachtet werden. Sprecher 1 Dann hat Kyai Haji Maman, der junge Eiferer, sein Saulus-Erlebnis: als er beim Abfackeln einer Kirche Schmiere steht, kommen ihm heftige Zweifel. Irgendetwas, sinniert der damals 25jährige, könne mit seinem Verständnis des Korans nicht stimmen. Der Islam, so wird ihm in jungen Jahren beigebracht, sei ein Segen für die ganze Menschheit - nicht nur für Muslime. Wie, so grübelt der nachdenklich geworde- ne Zelot, könne es im Sinne eines Glaubens sein, der auf Frieden basiert, wenn Nichtmuslime Angst vor Muslimen und deren Taten hätten? Maman schwört der Gewalt ab. Heute definiert er den arabischen Begriff kāfir – Ungläubiger – anders als damals. Regie Zuspiel khM: Kafir 2 Sprecher 2 Wir in der Al-Mizān Pesantren benutzen das Wort kāfir für Leute, die die Verdummung der Menschheit betreiben, die systematisch Menschen verarmen lassen und die Spaltung in der Gesellschaft fördern. Diese drei Gruppen – das sind die 13 eigentlichen kāfir, gegen die wir allesamt vorgehen müssen, ohne Rücksicht auf deren Religion, Herkunft und Hintergrund. Regie Gesang: Salat'ullah gemeinsam Sprecher 1 Regelmäßig lädt Kyai Haji Maman seit seiner Wandlung vom Glaubenseiferer zum dialogorientierten Muslim buddhistische Mönche, katholische Priester, protestantische Pfarrer und hinduistische Gurus in seine Pesantren ein. Seine Schüler und er feiern mit ihren nichtmuslimischen Gästen religiöse Feste. Sie diskutieren über Glaubenstexte und ethische Werte sowie über Wege zu Frieden und Glück. Der interreligiöse Dialog mit Besuchen in Gotteshäusern Andersgläubiger ist inzwischen fester Bestandteil der Erziehung in der Al-Mizān Pesantren. Regie Zuspiel Hil: non muslim (wird paraphrasiert) Sprecher 1 Der 23-jährige Hilman Yusuf ist vor acht Jahren in die Al-Mizān Pesantren gekommen. Damals war er sehr überrascht darüber, wie offen und unkompliziert der Umgang mit Nichtmuslimen war. In einer anderen Internatsschule war ihm beigebracht worden, der Umgang mit Nichtmuslimen sei harām – also verboten. Regie Zuspiel Hil: Toleranz Sprecher 2 Das Wichtigste, was ich hier in Al-Mizān gelernt habe, ist Toleranz. Man akzeptiert und hat Respekt vor anderen Religionen. Sprecher 1 Die jungen Santri schlafen zu viert nach Geschlechtern getrennt in etwa 20m² großen Zimmern, die nach Tieren und Suren im Koran benannt sind: zum Beispiel Al-Fīl - der Elefant, Al-Nahl - die Bienen, Al-’Ankabūt - die Spinne. Lenny Noviani Nurasiah möchte Schriftstellerin werden. Die 15-jährige hat in der AlMizān Pesantren etwas anderes gelernt, was für sie bis dahin eher fremd war. Jungen und Mädchen werden gleich behandelt, Frauen und Männer haben die gleichen Rechte. Regie Sprecherin Zuspiel Lenny 14 Ich finde es gut, dass Jungs und Mädchen in unserer Schule nicht getrennt werden, wir werden gemeinsam unterrichtet. Es gibt hier keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Das Internat wird von einer Frau geleitet und auch die Mittelstufe wird von einer Frau geleitet. Es muss ja nicht immer ein Mann sein. Hier gibt’s Gleichberechtigung. Regie Zuspiel: Mädchen singen Sprecher 1 Indonesien ist weltweit das Land mit den meisten Muslimen. Fast 210 Millionen Menschen bekennen sich zum Islam. Doch obwohl mehr als 85 Prozent der Gesamtbevölkerung Muslime sind, ist der Islam nicht Staatsreligion. Die Gründerväter Indonesiens erklärten stattdessen die so genannte Pancasila – die Fünf Prinzipien – zur weltanschaulichen Grundlage des 1945 entstandenen Staates. Diese Fünf Prinzipien sind: Zitator 2 Das Prinzip der All-Einen Göttlichen Herrschaft, Humanismus, Nationale Einheit, Demokratie und Soziale Gerechtigkeit. Regie Zuspiel Bedug Sprecher 1 Auf Java wird vor dem Gebetsruf die Bedug genannte Trommel geschlagen; auf Lombok trinken Muslime vor dem Gebet ein alkoholisches Getränk; in der Provinz Aceh müssen während des Freitagsgebets alle Geschäfte und Läden geschlossen bleiben. Der Islam in Indonesien ist sehr vielfältig und lässt sich mit dem offiziellen Staatsmotto Indonesiens beschreiben: Bhinneka Tunggal Ika - Vielheit in der Einheit. Dieser vielfältige, auf Java Kejawen genannte Islam ist fundamentalistischen Kräften ein Dorn im Auge. Sie streben einen „reinen“, einen (saudi-)arabischen Islam an, der frei sein soll von magischen, mystischen und nichtislamischen Elementen. Viele gläubige Muslime - Gelehrte, Politiker, Wissenschaftler – lehnen eine Arabisierung des indonesischen Islams und eine damit wahrscheinlich einhergehende Radikalisierung ab. Schulleiter Kyai Haji Maman: Regie Zuspiel khM: nicht arabisch Sprecher 2 Wir sind entschieden dagegen, dass man den Islam mit Arabien identifiziert. Der Islam ist ein universeller Wert, der uns alle über die Wichtigkeit des Friedens und 15 die Rettung der Menschheit von seinem Abgrund lehrt. Al-Mizān lehnt das auch deswegen ab, weil die Offenbarung des Islams nie zum Ziel hatte, die Identität Arabiens zur Schau zu stellen. Es ging vielmehr darum, die lokalen bereits existierenden Lebensweisheiten mit dem universellen Wert des Islams zu vervollkommnen. Regie Zuspiel Musik (?) Sprecher 1 Die Beziehung der Geschlechter zueinander, die Stellung der Frau, Kopftuchfrage und Verhüllung, das Verhältnis zu Juden und Christen, die Frage nach Krieg und Frieden, nach Frieden und Gewalt im Islam – all diese Reizthemen der heutigen Zeit werden im Koran angesprochen. Sie alle sind im Laufe der vergangenen 1400 Jahre sehr unterschiedlich behandelt worden. Das Islambild des Westens wird in nicht geringem Maße von Extremisten und Gewalttätern bestimmt. Die Terroristen werden nicht müde, sich auf den Koran zu beziehen, Reformer und Aufklärer tun das auch. Aber sie deuten die gleiche Schrift ganz anders. Zitator 1 arabisch (5,32) Zitator 2 (...) Wenn irgendeiner einen Menschen tötet – es denn (als Strafe) für Mord oder für Verbreiten von Verderbnis auf Erden – so soll es sein, als ob er die ganze Menschheit getötet hätte; während, wenn irgendeiner ein Leben rettet, es sein soll, als ob er der ganzen Menschheit das Leben gerettet hätte. Koran Sure 5 Das Mahl, Vers 32.