Zuspiel

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SWR2 GLAUBEN
Gesichter des Islams (3)
FRIEDE UND GEWALT
Von Reinhard Baumgarten
SENDUNG 28.11.2010 /// 12.05 UHR
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Regie
Musik
Zitator 1
arabisch (6,151)
Zitator 2
Tut Gutes euren Eltern; und tötet nicht eure Kinder aus Furcht vor Armut (...); und
begeht keine schmachvollen Taten, seien sie offen oder geheim; und nehmt nicht
irgendeines Menschen Leben – (das Leben,) das Gott als heilig erklärt hat (...) dies
hat Er euch aufgetragen, auf dass ihr euren Verstand gebrauchen möget. Koran Sure
6 Das Vieh, Vers 151
Regie
Collage basteln (unterlegt mit Musik)
{ Nehls, NY: „Es ist die absolute Katastrophe. Die schlimmsten Vorhersagen scheinen
übertroffen zu werden.“
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Tagesschausprecher: „Guten Abend, meine Damen und Herren! Die USA sind heute
von einer beispiellosen Terrorwelle heimgesucht worden."
Präs. Bush: „Today we’ve had a national tragedy. Two airplanes have crashed into the
World Trade Centre in an apparent terrorist attack on our country.”
Nehls: „Man mag nicht über die Zahl der Opfer nachdenken. Es können Tausende, zig
Tausende sein.“
Prof. Khoury: „Die Islamisten, die Terroristen vor allem, die deuten das so ganz extrem, indem sie sagen, das steht da so im Koran.
Augenzeuge: „And if you go over you can see that people jumping out of the window
right now. O my God!”
Prof. Khoury: „Also: die Christen, die Juden sind alles Ungläubige und der Koran sagt,
kämpft gegen sie, dann kämpfen wir auch gegen sie. Aber es gibt andere, gemäßigte
Kommentatoren, die das nicht übertragen auf alle Zeit.“}
Regie
Musik (?)
Sprecher 1
Der Islam - eine Religion der Gewalt und der Unberechenbarkeit? Eine Religion der
Terroristen, der Unvernunft, der Irrationalität, der Rachsucht? Diesen Eindruck kann
gewinnen, wer die jüngste der drei monotheistischen Religionen durch die Optik moderner Medien betrachtet. Es dominiert die Berichterstattung über Probleme mit Muslimen, über eine mutmaßliche Unverträglichkeit von Islam und westlicher Demokratie,
über Terroranschläge, Opfer häuslicher Gewalt, so genannte Ehrenmorde und blutige
Konflikte mit Angehörigen anderer Glaubensbekenntnisse.
Mehr als 1,4 Milliarden Menschen weltweit bekennen sich zum Islam. Islam bedeutet
wörtlich: Hingabe an Gott. Das Wort leitet sich von dem arabischen Verb salima ab,
das heil, unversehrt, in Frieden sein bedeutet. In Dutzenden Koranversen werden die
Muslime zum friedlichen Miteinander aufgefordert. Im Koran heißt es, der Gruß im
Paradies sei Salām – Frieden, Heil – ebenso der Gruß an die Propheten. Muslime weltweit begrüßen sich mit as-Salāmu’aleikum – der Friede, das Heil sei mit euch.
Regie
Atmo Reifen, Schüsse
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Sprecher 1
Doch es herrscht vielerorts Krieg innerhalb und außerhalb der islamischen Gemeinschaft. Mag es sich bei diesem martialischen Auftritt noch um die Übung einer Antiterroreinheit in Saudi Arabien handeln...
Regie
Atmo Vinell
Sprecher 1
...so handelt es sich hierbei um ein Tondokument, mittels dessen saudische Terroristen
im Internet die kaltblütige Ermordung einer amerikanischen Geisel bekannt geben.
Unzählige Menschen sind in diesem noch jungen Jahrhundert bereits durch Terroristen
umgekommen, die ihre Bluttaten mit dem Islam rechtfertigen. Die weitaus meisten
Opfer religiös verblendeter Extremisten waren Muslime. Weltweite Aufmerksamkeit
erregen aber die Terroranschläge gegen nichtmuslimische, westliche Ziele.
Regie
OBL O-Ton „Jeder Amerikaner“ (paraphrasiert)
Sprecher 1
Osama bin Laden, Chefterrorist und Kopf des Extremistennetzes al-Qa’ida. Jeder
Amerikaner sei ein legitimes Ziel, ob als Soldat oder als Steuerzahler, doziert bin Laden. Und er beruft sich auf den Koran sowie auf die Sunna genannten Aussprüche und
Handlungsweisen des Propheten Mohammed.
Nichts erscheint so sinnlos wie die Bombe in der U-Bahn, in Pendlerzügen, in Hotels,
in Ferienanlagen, auf dem Marktplatz oder in Einkaufszentren. Sie wird bewusst gegen
wehrlose Menschen eingesetzt, um zu töten und zu verstümmeln, um Angst und
Schrecken zu verbreiten. Sie ist Symbol menschenverachtender Auswüchse kaltblütiger Friedlosigkeit. Diese Friedlosigkeit versuchen bin Laden und seinesgleichen als Jihād, als angeblich religiös legitimierte Pflicht zu verbrämen.
Regie
Zuspiel bin Laden: Jihād
Sprecher 2
Wir glauben, dass der Jihād in diesen Tagen eine islamische Pflicht für unsre Gemeinschaft ist. Aber wir müssen unterscheiden zwischen der Pflicht und der Fähigkeit, sie zu erfüllen. In einem jeden Land, in dem genug Männer, Waffen und die
nötigen Mittel für den Jihād sind, müssen Muslime den Kampf gegen den Unglauben aufnehmen.
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Sprecher 1
Ankläger, Richter und Henker in einem – nicht mehr und nicht weniger wollen bin Laden und seine Mordbuben sein. Die Zahl jener Extremisten, die ihren Terror mit dem
Islam begründen, ist verglichen mit der Gesamtheit der friedfertigen Muslime sehr gering. Doch die Militanten prägen auf ungute Weise das Erscheinungsbild des Islams.
Denn weltweit geben muslimische Terroristen vor, als Verteidiger der Ummah genannten Gemeinschaft der Gläubigen zu handeln und überziehen deshalb die Menschen mit ihrem unheiligen Krieg.
Regie
Zuspiel bin Laden: Ka’ba
Sprecher 2
Wir wollen Gottes Gesetzen folgen und die heilige Ka’aba verteidigen. Die ehrwürdige Ka'aba ist das Haus Gottes, das alle Menschen auf Erden durch Andacht vereinigt. Die größte Andacht nach dem Glauben ist das Gebet. Der Anfang ist Islam,
das Gebet ist seine Säule, der Jihād ist seine Krone.
Sprecher 1
Das arabische Wort Jihād (Dschihad) wird unzutreffend oft mit heiliger Krieg übersetzt.
Prominent wurden der Begriff und seine von westlichem Denkmuster gekennzeichnete
Übersetzung zunächst durch die Orientromane von Karl May. Dschihad bedeutet auf
der lexikalischen Ebene Anstrengung - im Sinne von sich bemühen. Die Bedeutungsebene ist vielfältig. Der Begriff kommt sowohl im Koran als auch in den Ha-
dith genannten Aussprüchen des Propheten in verschiedenen grammatikalischen
Abwandlungen vor. In Sure 9, Vers 41 heißt es beispielsweise:
Zitator 2
Rückt aus, ob leicht oder schwer, und setzt euch...
Zitator 1
arabisch
wa jahidū
Zitator 2
...mit eurem Vermögen und mit eurer eigenen Person auf dem Weg Gottes ein.
Sprecher 1
Dschihad kann in diesem Zusammenhang auch Krieg oder Kampf bedeuten. Krieg gilt
nicht als heilig im Islam, der zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg unterschei-
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det. Als ungerecht gilt ein Krieg, wenn er der Bereicherung dient. Als verwerflich gilt
ein Krieg, der gegen Frauen, Kinder und alte Männer – also gegen Wehrlose – geführt
wird. Als gerecht gilt ein Krieg zur Verteidigung, wie Mohammed Tantawi betont, der
bis zu seinem Tod im Frühjahr 2010 als höchste Autorität im sunnitischen Islam galt.
Zuspiel
Moh. Tantawi, Jihad
Sprecher 2
Jihād bedeutet Verteidigung des Landes, der heiligen Stätten, der menschlichen
Würde, Verteidigung all dessen, was Gott uns zu verteidigen aufgetragen hat: seinen Glauben, besetztes Land, Freiheit – das nennen wir Jihād.
Sprecher 1
In Dutzenden von Versen ermutigt und ermuntert der Koran zum Krieg gegen Feinde
der Muslime und definiert, wie und warum gekämpft werden soll und wie mit Gegnern
und Gefangenen zu verfahren ist. Die Verse wurden zumeist in einer Phase offenbart,
als sich die noch junge muslimische Gemeinde von Medina im Krieg mit den nichtmuslimischen Mekkanern befand und in ihrer Existenz bedroht war.
(Regie
Zitator 1
Musik)
arabisch (2,190+193)
Zitator 2
Und kämpft für Gottes Sache gegen jene, die Krieg gegen euch führen, aber begeht
keine Übertreibung – denn, wahrlich, Gott liebt die nicht, die Übertreibungen begehen.
Kämpft gegen sie, bis es keine Unterdrückung mehr gibt und alle Anbetung Gott alleine gewidmet ist. Aber wenn sie ablassen, dann soll alle Feindschaft aufhören,
außer gegen jene, die (willentlich) Unrecht tun. Koran Sure 2 Die Kuh, Vers 190
und 193.
(Regie
Musik)
Sprecher 1
Der Prophet Mohammed ist zu seinen Lebzeiten nicht nur spiritueller Führer seiner
Gemeinde. Er ist auch Politiker, Heerführer und Kriegsherr. 22 Jahre lang von 610 bis
632 verkündet er die 114 Suren genannten Kapitel des Korans. Nur wenige Suren bestehen aus Texten, die sich mit einem einzigen Thema befassen und eine erkennbare
Einheit bilden. Häufig setzen sich die Suren aus zusammengefügten Teilen zusammen,
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die auf den ersten Blick ohne erkennbaren direkten inhaltlichen Bezug zueinander stehen. Der nach muslimischem Verständnis göttliche Text wird von Menschen gelesen
und ausgelegt, unterstreicht der Berliner Islamwissenschaftler Peter Heine.
Zuspiel
Hei: Apostasie
A: Wir haben es mit einem Text zu tun, und dieser Text kann interpretiert werden.
Man kann das sehr schön an einem der zentralen Bereiche sehen. Nämlich dem, was
passiert mit Menschen, die vom Glauben abfallen? Da kann man feststellen, wenn
man sich die Texte sehr genau anschaut, es geht hier um die Frage zwischen dem
Menschen und Gott. Wenn er also von Gott abfällt, dann wird Gott ihn auch dereinst bestrafen. Das ist das zentrale Element. Das wird geschehen beim Jüngsten
Gericht – also die ganze eschatologische Vorstellung wird darauf bezogen. Spätere
Interpreten haben gesagt, ja, natürlich wird der am Jüngsten Tag bestraft, aber wir
stellen uns vor, dass das auch hier auf der Welt geschehen muss. Und dass dann in
der Islamische Recht der Straftatbestand der Apostasie geraten ist.
Sprecher 1
Die Abkehr vom neuen Glauben bedeutet in den ersten Jahren des Islams
auch gleichzeitig den Verlust aktiver Streiter und damit eine existenzielle Gefährdung
der jungen muslimischen Gemeinde. Dennoch betont der Koran in diesen Zeiten
größter Bedrängnis mehrfach, dass Gott allein – nicht Menschen – jene richten wird,
die sich vom Islam abwenden.
Zitator 1
arabisch (2,217)
Zitator 2
Diejenigen von euch, die sich von ihrer Religion abwenden und als Ungläubige
sterben, deren Werke sind im Diesseits und im Jenseits wertlos. Das sind die Gefährten des Feuers; sie werden darin ewig weilen. Koran Sure 2 Die Kuh, Vers 217.
Sprecher 1
Der Koran gilt Muslimen als ewiges, unerschaffenes Wort Gottes. Wichtig für die Bedeutung der einzelnen Verse seien die so genannten Asbāb an-Nuzūl - die Gründe der
Herabsendung - betont Adel Theodor Khoury, der als einer der besten Korankenner
deutscher Sprache gilt.
Zuspiel
Kho: in 1 Nacht
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A: An anderer Stelle sagt der Koran, wir haben ihn stückweise herabgesandt – also
nicht alles auf einmal. Das ist eher so zu verstehen: der gesamte Koran ist da. Die
Mehrheit der Gelehrten geht davon aus, dass einige Verse geändert worden sind, ersetzt worden sind durch andere. Das sagt der Koran selbst. Wenn Gott einen Vers
durch einen anderen ersetzt, das ist (weil) er sieht, dass es entweder genauso gut ist
wie der andere oder besser. Weil Gott der Herr seiner Offenbarung ist.
Sprecher 1
Der ägyptische Gelehrte Nasser Hamid Abu Zaid hat in diesem Zusammenhang vom
„Diskurs der Offenbarung“ gesprochen. Zeit seines Lebens hat der im Sommer 2010
verstorbene Literaturwissenschaftler die Gründe, Zusammenhänge und Anlässe für die
Herabsendung von Koranversen untersucht. Die zahlreichen Textstellen, die sich mit
Krieg und Kampf beschäftigen, spiegelten die militärische Auseinandersetzung der
Muslime mit ihren mekkanischen Gegnern wider, so Abu Zaid. Erfolg und Niederlage,
Triumph und Schmach sowie die zögerliche Haltung vieler Muslime gegenüber Krieg
und Kampf finden ihren Niederschlag in den Offenbarungen.
Regie
Zuspiel Nas: Diskurs (wird paraphrasiert, dann Overvoice)
Sprecher 1
Mohammed, hebt Abu Zaid hervor, habe Botschaften empfangen. Darauf hätten die
Menschen reagiert. Auf deren Reaktion seien neue Botschaften offenbart worden, die
neue Fragen aufwarfen und neue Kommentare in der Gemeinschaft wie auch im Koran
hervorriefen.
Sprecher 2
Wir haben in 23 Jahren (Koranoffenbarung) ein ganzes Feld von Debatten, Disputen, Fragen und Kommentaren von Menschen. Manche fordern Mohammed und
den Koran regelrecht heraus. Dann folgen die Passagen, in denen auf diese
Herausforderungen auf verschiedene Weise geantwortet wird. Wir haben also eine
ganze Reihe von Diskursen.
Zitator 1
arabisch (3,139)
Zitator 2
Seid nicht verzagt und bekümmert euch nicht, denn ihr werdet bestimmt hoch aufsteigen, wenn ihr (wahrhaft) Gläubige seid. Wenn ihr Wunden erlitten habt, so ha-
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ben die feindlichen Leute ähnliche Wunden erlitten. Solche Tage teilen (Wir) den
Menschen abwechselnd zu. Koran Sure 3 Das Haus von Imrān, Vers 139-140
Sprecher 1
Mit diesen koranischen Worten tröstet Mohammed seine Gefolgsleute nach der
Schlacht von Uhud. Etwa 70 Mann verliert er im Jahr 625 – also nur drei Jahre nach
der Flucht aus Mekka. Das Desaster auf dem Schlachtfeld wirkt demoralisierend auf
die noch junge muslimische Gemeinde. Die schiere Existenz der neuen Religionsgemeinschaft steht auf dem Spiel. Manche Muslime beklagen laut ihr Leid, wollen
wissen, warum Gott ihnen nicht zum Sieg verholfen hat. Andere sind kurz davor, vom
neuen Glauben abzufallen. Der Verteidigungswille scheint erlahmt, Zweifel breitet
sich aus. Dann kommt eine neue Offenbarung.
Zitator 1
arabisch (3,195)
Zitator 2
Was jene angeht, (...) die für meine Sache Schaden erleiden und für sie kämpfen
und getötet werden – ich werde ganz gewiss ihre schlechten Taten tilgen und werde
sie ganz gewiss in Gärten bringen, durch die Wasserläufe fließen als eine Belohnung von Gott. Koran Sure 3 Das Haus Imrān, Vers 195.
Regie
Musik
Sprecher 1
In unseren Tagen wähnen sich viele Muslime in der Defensive. Sie haben das
Gefühl, ihre Religion und ihre tradierten Werte seien in Gefahr. Sie haben das Gefühl,
sie müssten ihre Kultur gegen westliche Bedrohungen verteidigen. Dieses Gefühl hat
mit den Terroranschlägen der vergangenen Jahre und der damit einhergehenden Debatte über eine pauschal unterstellte Gefährlichkeit des Islams dramatisch zugenommen. Eine Folge davon ist, dass etliche Muslime teils unverhohlen, teils verdeckt Sympathie mit jenen religiös verbrämten Terroristen hegen, die den vermeintlich überlegenen Westen in beispielloser Weise herausfordern.
Regie
{ Nehls, NY: „Es ist die absolute Katastrophe. Die schlimmsten Vorhersagen scheinen
übertroffen zu werden.“
Präs. Bush: „Today we’ve had a national tragedy. Two airplanes have crashed into the
World Trade Centre in an apparent terrorist attack on our country.”
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Eye witness: „We heard a big bang.....“ }
Sprecher 1
Die Zahl westlicher Opfer islamischer Extremisten geht in die Tausende. Die Zahl
muslimischer Opfer geht in die Hunderttausende. In Saudi Arabien, dem Herkunftsland bin Ladens, sind seit 2003 über 150 Menschen getötet worden; mehr als 1200
Menschen kommen in den 90er Jahren in Ägypten ums Leben; Zehntausende sterben
seit 2003 durch Terroristen im Irak, mehr als 100.000 seit 1992 in Algerien. Die Extremisten wollen die herrschenden Machtverhältnisse ändern. Sie streben nach einem islamischen Utopia, das sie in der vom Propheten Mohammed gegründeten ersten muslimischen Gemeinde von Medina zu erkennen glauben. Das Idealbild ihrer Ummah genannten Gemeinschaft der Gläubigen ist frei von kritisch-historischer Betrachtung der
islamischen Quellen. Darin, meint der Oxforder Islamwissenschaftler Tariq Ramadan,
liege eine große Gefahr.
Regie
Zuspiel Ram: Mittel
Sprecher 2
Alle Verse, die sich mit Gewalt, Krieg und Widerstand beschäftigen, müssen im
Zusammenhang gesehen werden. Deshalb sage ich zu den Leuten auch immer, passt
auf, wenn ihr sagt, jeder kann doch den Koran auslegen. Es kann gefährlich werden,
wenn du nicht dafür ausgestattet bist, um zu verstehen, worüber du eigentlich redest. Das machen manche Muslime, sie ziehen bestimmte Verse aus dem Koran und
sagen: Ah, wir können töten, das steht doch da geschrieben. Ich sage, nein, das ist
falsch! Das wurde geschrieben in einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Anlass.
Regie
Islamistenslogan oder Musik
Regie
Zuspiel Ram:
Sprecher 2
Wir müssen aus dem Text nicht die wörtliche Bedeutung herauslesen, sondern die
grundsätzliche Bedeutung. Deswegen haben die Gelehrten auch verurteilt, was auf
Bali, in Madrid, London und den USA geschehen ist. Das Töten unschuldiger Menschen ist inakzeptabel, diese Taten sind inakzeptabel. Wir haben viele Interpretationen (der Quellen), aber wenn du dir anschaust, was mehrheitlich in muslimischen
Ländern wie auch von muslimischen Gemeinschaften im Westen gesagt wird, dann
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wird klar, dass Gewalt und das Töten von Unschuldigen im Namen des Islams nicht
akzeptiert werden. Wir müssen auf die Stimme der Mehrheit hören.
Regie
Atmo Regen/Donner
Sprecher 1
Gewitter über Majalengka, einer Kleinstadt im Norden der indonesischen Insel Java.
Heftig prasselt der Regen auf die Schlafhäuser. Rund 400 Mädchen und Jungen besuchen die Internatsschule mit dem arabischen Namen Al-Mizān. Al-Mizān bedeutet
Waage – im übertragenen Sinne auch Unparteilichkeit/Gerechtigkeit. Den Namen hat
der Schulgründer Kyai Haji Maman aus Sure 55, Vers 9 des Korans abgeleitet:
Zitator 1
arabisch (55,9)
Zitator 2
Wiegt daher (eure Taten) mit Gerechtigkeit und kürzt nicht das Maß.
Sprecher 1
Kyai Haji Maman ist knapp 1,75 Meter groß und etwas stämmig. Er hat einen kurzgeschnittenen Kinnbart und einen leicht irritierenden Silberblick. 1995 gründet er die Internatsschule Al-Mizān, in der Schüler zu Santri genannten rechtgläubigen Menschen
erzogen und ausgebildet werden.
Regie
Zuspiel khM: Pesantren
Sprecher 2
Wir geben den Santri Bildung, religiöse Bildung. Ohne Kenntnis der Schriften kann
niemand erfolgreich sein. Wir unterrichten sie auch in wissenschaftlichen Fächern.
Dann bereiten wir die Santri auf die Zukunft vor, indem wir sie mit Technologie
vertraut machen. Als Beispiel: wir unterrichten sie, wie sie mit dem Internet umgehen können. Dadurch können sie ihr Wissen über größere Netzwerke ausbauen. Wir
fördern die jeweiligen Talente der Santri. Wenn jemand gut im Schreiben ist, dann
fördern wir das. Ein anderer zeigt mehr Begabung für Technik und hat ein gutes
Händchen in der Werkstatt. Dann wird er in den entsprechenden Einrichtungen ausgebildet.
Regie
Atmo
Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die Pesantren genannten Internatsschulen reine
Religions- und Koranschulen. Das trifft heute nur noch auf einen Teil der mehr als
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15.000 islamischen Internate auf Java zu. Zu unrühmlicher Bekanntheit gelangt im
Herbst 2002 die Internatsschule Al-Mukmin Pesantren in Zentraljava.
Regie
Zuspiel
O-Ton Tagesschau 13.10.02
(Gong, Fanfare, Tagesschaumeldung)
Guten Tag, meine Damen und Herren. Mindestens 182 Menschen starben in
Indonesien bei einer Reihe von Bombenanschlägen- unter ihnen mindestens eine
Deutsche. Mehr als 300 Personen wurden verletzt. Zehn Deutsche werden noch
vermisst.
Sprecher 1
Drahtzieher dieses Terroranschlags soll Abu Bakar Bashir, der Gründer der Al-Mukmin Pesantren gewesen sein. Einige der Attentäter von Bali waren Absolventen seiner
Schule, denen er im Unterricht eingebläut hatte:
Zitator 2
Es gibt kein edleres Leben als im Jihād als Märtyrer zu sterben. Keines. Die größte
Tat im Islam ist der Jihād. Wenn wir uns dem Jihād verpflichten, dann können wir
andere Dinge vernachlässigen, sogar das Beten und Fasten.
Sprecher 1
Ein Tropfen Gift verdirbt die ganze Milch, zitiert Schulleiter Kyai Haji Maman mit
Blick auf die Al-Mukmin Pesantren ein indonesisches Sprichwort. Ja, räumt er ein, es
gebe auf Java Internatsschulen, in denen extremistisches Gedankengut verbreitet werde. Doch er warnt eindringlich davor, wegen weniger Internate mit extremistischem
Hintergrund über alle religiösen Schulen den Stab zu brechen.
Regie
Zuspiel khM: Frieden
Sprecher 2
Islam leitet sich von As-Salām ab – das bedeutet Frieden. Wir lehren den Santri,
dass Islam die Kraft ist, um Frieden zu schaffen. Wir verstehen den Islam als Aufruf
zum friedlichen Miteinander in der Gesellschaft, in der wir Unterschiede respektieren
Sprecher 1
Es gibt eine Zeit im Leben des Kyai Haji Maman, über die er zwar offen, aber nicht
ohne Scham spricht. Als junger Springinsfeld ist er beseelt von dem Gedanken, dass
nur ein „reiner“ Islam Indonesien eine lichte Zukunft bescheren kann. Maman, Absol-
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vent einer religiös-konservativen Pesantren nahe Surabaya in Ostjava, zieht mit
Gleichgesinnten gegen Spielhallen und Bordelle zu Felde. Er wettert gegen Korruption
und Vetternwirtschaft. Er greift zum Knüppel, um vermeintlich Verderbten das Fell zu
gerben. Er verwüstet Geschäfte und Wohnhäuser von Chinesen. Zu jener Zeit ist er
felsenfest davon überzeugt, dass es nur eine Wahrheit gibt und er und seine Freunde
sie kennen. Es ist das Jahr 1998. Das Inselreich droht nach dem Ende der 33 Jahre
währenden Suharto-Diktatur auseinander zu brechen. Auf Java, Sumatra, Sulawesi und
den Molukken toben religiös befeuerte Konflikte zwischen Muslimen und Christen.
Moscheen brennen, Kirchen gehen in Flammen auf. Christen sind für Kyai Haji Maman damals Ungläubige.
Regie
Zuspiel khM: Kafir 1
Sprecher 2
Es gibt hier Gelehrte, die fordern, dass ein guter Muslim ein strenges Verhalten gegenüber Ungläubigen zeigen muss. Ungläubige sind für sie Menschen anderer Religionen – also Christen, Juden, Feueranbeter, Hindus, Buddhisten und so weiter. Gegen die müsse man in den Krieg ziehen, sie müssten bekämpft und als gemeinsamer
Gegner betrachtet werden.
Sprecher 1
Dann hat Kyai Haji Maman, der junge Eiferer, sein Saulus-Erlebnis: als er beim Abfackeln einer Kirche Schmiere steht, kommen ihm heftige Zweifel. Irgendetwas, sinniert der damals 25jährige, könne mit seinem Verständnis des Korans nicht stimmen.
Der Islam, so wird ihm in jungen Jahren beigebracht, sei ein Segen für die ganze
Menschheit - nicht nur für Muslime. Wie, so grübelt der nachdenklich geworde-
ne Zelot, könne es im Sinne eines Glaubens sein, der auf Frieden basiert,
wenn Nichtmuslime Angst vor Muslimen und deren Taten hätten? Maman schwört der
Gewalt ab. Heute definiert er den arabischen Begriff kāfir – Ungläubiger – anders als
damals.
Regie
Zuspiel khM: Kafir 2
Sprecher 2
Wir in der Al-Mizān Pesantren benutzen das Wort kāfir für Leute, die die Verdummung der Menschheit betreiben, die systematisch Menschen verarmen lassen
und die Spaltung in der Gesellschaft fördern. Diese drei Gruppen – das sind die
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eigentlichen kāfir, gegen die wir allesamt vorgehen müssen, ohne Rücksicht auf
deren Religion, Herkunft und Hintergrund.
Regie
Gesang: Salat'ullah gemeinsam
Sprecher 1
Regelmäßig lädt Kyai Haji Maman seit seiner Wandlung vom Glaubenseiferer zum dialogorientierten Muslim buddhistische Mönche, katholische Priester, protestantische
Pfarrer und hinduistische Gurus in seine Pesantren ein. Seine Schüler und er feiern mit
ihren nichtmuslimischen Gästen religiöse Feste. Sie diskutieren über Glaubenstexte
und ethische Werte sowie über Wege zu Frieden und Glück. Der interreligiöse Dialog
mit Besuchen in Gotteshäusern Andersgläubiger ist inzwischen fester Bestandteil der
Erziehung in der Al-Mizān Pesantren.
Regie
Zuspiel Hil: non muslim (wird paraphrasiert)
Sprecher 1
Der 23-jährige Hilman Yusuf ist vor acht Jahren in die Al-Mizān Pesantren gekommen. Damals war er sehr überrascht darüber, wie offen und unkompliziert der Umgang
mit Nichtmuslimen war. In einer anderen Internatsschule war ihm beigebracht worden,
der Umgang mit Nichtmuslimen sei harām – also verboten.
Regie
Zuspiel Hil: Toleranz
Sprecher 2
Das Wichtigste, was ich hier in Al-Mizān gelernt habe, ist Toleranz. Man akzeptiert
und hat Respekt vor anderen Religionen.
Sprecher 1
Die jungen Santri schlafen zu viert nach Geschlechtern getrennt in etwa 20m² großen
Zimmern, die nach Tieren und Suren im Koran benannt sind: zum Beispiel Al-Fīl - der
Elefant, Al-Nahl - die Bienen, Al-’Ankabūt - die Spinne.
Lenny Noviani Nurasiah möchte Schriftstellerin werden. Die 15-jährige hat in der AlMizān Pesantren etwas anderes gelernt, was für sie bis dahin eher fremd war. Jungen
und Mädchen werden gleich behandelt, Frauen und Männer haben die gleichen
Rechte.
Regie
Sprecherin
Zuspiel Lenny
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Ich finde es gut, dass Jungs und Mädchen in unserer Schule nicht getrennt werden,
wir werden gemeinsam unterrichtet. Es gibt hier keine Unterschiede zwischen den
Geschlechtern. Das Internat wird von einer Frau geleitet und auch die Mittelstufe
wird von einer Frau geleitet. Es muss ja nicht immer ein Mann sein. Hier gibt’s
Gleichberechtigung.
Regie
Zuspiel: Mädchen singen
Sprecher 1
Indonesien ist weltweit das Land mit den meisten Muslimen. Fast 210 Millionen Menschen bekennen sich zum Islam. Doch obwohl mehr als 85 Prozent der Gesamtbevölkerung Muslime sind, ist der Islam nicht Staatsreligion. Die Gründerväter Indonesiens
erklärten stattdessen die so genannte Pancasila – die Fünf Prinzipien – zur weltanschaulichen Grundlage des 1945 entstandenen Staates. Diese Fünf Prinzipien sind:
Zitator 2
Das Prinzip der All-Einen Göttlichen Herrschaft, Humanismus, Nationale Einheit,
Demokratie und Soziale Gerechtigkeit.
Regie
Zuspiel Bedug
Sprecher 1
Auf Java wird vor dem Gebetsruf die Bedug genannte Trommel geschlagen; auf Lombok trinken Muslime vor dem Gebet ein alkoholisches Getränk; in der Provinz Aceh
müssen während des Freitagsgebets alle Geschäfte und Läden geschlossen bleiben.
Der Islam in Indonesien ist sehr vielfältig und lässt sich mit dem offiziellen Staatsmotto Indonesiens beschreiben: Bhinneka Tunggal Ika - Vielheit in der Einheit. Dieser
vielfältige, auf Java Kejawen genannte Islam ist fundamentalistischen Kräften ein
Dorn im Auge. Sie streben einen „reinen“, einen (saudi-)arabischen Islam an, der frei
sein soll von magischen, mystischen und nichtislamischen Elementen. Viele gläubige
Muslime - Gelehrte, Politiker, Wissenschaftler – lehnen eine Arabisierung des indonesischen Islams und eine damit wahrscheinlich einhergehende Radikalisierung ab.
Schulleiter Kyai Haji Maman:
Regie
Zuspiel khM: nicht arabisch
Sprecher 2
Wir sind entschieden dagegen, dass man den Islam mit Arabien identifiziert. Der
Islam ist ein universeller Wert, der uns alle über die Wichtigkeit des Friedens und
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die Rettung der Menschheit von seinem Abgrund lehrt. Al-Mizān lehnt das auch
deswegen ab, weil die Offenbarung des Islams nie zum Ziel hatte, die Identität
Arabiens zur Schau zu stellen. Es ging vielmehr darum, die lokalen bereits existierenden Lebensweisheiten mit dem universellen Wert des Islams zu vervollkommnen.
Regie
Zuspiel Musik (?)
Sprecher 1
Die Beziehung der Geschlechter zueinander, die Stellung der Frau, Kopftuchfrage und
Verhüllung, das Verhältnis zu Juden und Christen, die Frage nach Krieg und Frieden,
nach Frieden und Gewalt im Islam – all diese Reizthemen der heutigen Zeit werden
im Koran angesprochen. Sie alle sind im Laufe der vergangenen 1400 Jahre sehr unterschiedlich behandelt worden. Das Islambild des Westens wird in nicht geringem Maße
von Extremisten und Gewalttätern bestimmt. Die Terroristen werden nicht müde, sich
auf den Koran zu beziehen, Reformer und Aufklärer tun das auch. Aber sie deuten die
gleiche Schrift ganz anders.
Zitator 1
arabisch (5,32)
Zitator 2
(...) Wenn irgendeiner einen Menschen tötet – es denn (als Strafe) für Mord oder für
Verbreiten von Verderbnis auf Erden – so soll es sein, als ob er die ganze Menschheit getötet hätte; während, wenn irgendeiner ein Leben rettet, es sein soll, als ob er
der ganzen Menschheit das Leben gerettet hätte. Koran Sure 5 Das Mahl, Vers 32.

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