SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde „Vergiss nicht das Pathos im Leben!“ Jean Sibelius zum 150. Geburtstag (3) Von Ines Pasz Sendung: Redaktion: Mittwoch, 09. Dezember 2015 Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Musikstunde: Jean Sibelius Teil 3 Und in der geht es in dieser Woche um den finnischen Komponisten Jean Sibelius, denn er wäre in diesen Tagen 150 Jahre alt geworden, dazu begrüßt Sie herzlich Ines Pasz. Titelmusik 10 Sekunden 1901. Jean Sibelius ist 36 Jahre alt, mitten im Schaffensrausch und sitzt in Italien. Das hinterlässt Spuren, der Finne aus Leidenschaft verändert sich. „Etwas von Sibelius nordischer Eckigkeit wurde abgeschliffen“ beschreibt das sein Biograph Erik Tawaststjerna“, von nun an sollten das symbolistische Dunkel und die spätromantische Zerrissenheit in seiner Musik einer größeren Klarheit und Harmonie weichen. Er hörte auf, der mythisch orientierte, spät geborene Romantiker zu sein.“ Musik 1: Sibelius: Cortege M0076939 009 5’41 Ein ungewohnter Jean Sibelius, hell, leicht unterhaltsam, „Cortege“ mit dem Sinfonieorchester Lahti unter Osmo Vänskä. Italien beeindruckt Jean Sibelius und inspiriert ihn, vor allem musikalisch. Er löst sich von Tschaikowskys Pathos, entdeckt Verdis Opern und Palestrinas Chorwerke. „Hier in Italien bekommt man seltsame Gedanken über das Wesen der Musik“, schreibt er an seine Frau Aino aus Rom. Fleißig sammelt er Themen, Motive, Skizzen und als er zurück ist in Finnland, macht er sich gleich an die Arbeit. Auf dem Gut seiner Schwiegermutter in Lohja bezieht er ein karges Zimmerchen: Klavier, Schreibtisch, ein paar Holzstühle. Heraus kommt die 2.Sinfonie. Keine leichte Geburt, den ganzen Herbst 1901 über feilt Sibelius an ihr herum. Zur gleichen Zeit wütet das reine Chaos, zumindest politisch. Finnlands Widerstand gegen Russland wächst, die Lage wird immer instabiler, zwei politische Lager spalten das Land und führen zu immer neuen Protestaktionen. Die neue, die 2. Sinfonie ihres Nationalkomponisten Sibelius kommt den finnischen Patrioten da gerade recht. Sie sei „eine musikalische Projektion der aktuellen politischen Lage“, vermutet ein Kritiker, „ein flammender Protest gegen all die Ungerechtigkeit“. Der Mythos hält sich zäh. Noch Jahrzehnte später bezeichnet ein finnischer Musikwissenschaftler Sibelius’ 2.Sinfonie als „Finnlands Freiheitskampf“, hört das 3 Trampeln der Kosakenpferde und das flatterhafte Leben der schwedischen Oberschicht. Sibelius ist empört. Nein, seine 2. Sinfonie besitze keinerlei politische Motive, sie sei reine, absolute Musik. Doch trotz aller Querelen: Helsinkis Publikum ist bei der Uraufführung begeistert. Sibelius hat sich musikalisch verändert, hat seinen gewohnten Kalevala-Stil verlassen, ist gewachsen, reifer geworden, mit Leidenschaft, mit Pathos, aber souverän in Technik und Form. 2’00 Musik 2: Sibelius: 2.Satz aus der 2.Sinfonie 8‘00 In Finnland, danach in halb Europa, vor allem später in den USA erntet sie wahre Beifallsstürme, die 2.Sinfonie in D-dur von Jean Sibelius, ein Ausschnitt aus dem herrlich langen 2. Satz mit den Berlinern Philharmonikern unter ihrem Chefdirigenten Simon Rattle. Sämtliche Sinfonien hat Rattle im Jubläumsjahr des Finnen eingespielt, live in Berlin, so zupackend und mitreißend wie man diese Sinfonien sonst kaum gehört hat. Eine Herzensangelegenheit war das für den großen Sibelius – Enthusiasten Simon Rattle, der alle Weichzeichner weg lässt und Sibelius so dramatisch, karg und einsam darstellt, wie er ihn empfindet.„ Fast nie das Gefühl, da sei jemand“, so Rattle, „wenn überhaupt Menschen vorkommen, dann gleichsam im eigenen Dickicht der Angst“. Sibelius behält Zeit seines Lebens ein intensives, starkes und leidenschaftliches Verhältnis zu seiner Heimat, zur finnischen Natur und Kultur. Aber er wittert die Gefahr einer gewissen nationalen Enge, einer beschränkten Provinzialität. Als er spürt, dass man ihn, gerade im Ausland auf den finnischen Nationalkomponisten festlegen will, zieht er die Notbremse und distanziert sich bewusst von folkloristisch getünchter Romantik. Sein Verleger dagegen wittert ein blendendes Geschäft und bittet Sibelius um eine Sammlung finnischer Volkstänze, à la slawischer oder ungarischer von Dvorak und Brahms. Er kennt seinen Komponisten schlecht, niemals würde Sibelius so etwas schreiben. Seine Beschäftigung mit dem musikalischen Motivmaterial Finnlands findet auf anderer Ebene statt, als sublimierter Diskurs innerhalb seiner eigenen musikalischen Vorstellungen. Noch heute steht der Name Sibelius weitgehend für das Nordische an sich, für die finnische Volksseele, für die Sehnsucht nach der archaischen Kraft unverbrauchter Natur. Dabei hat er sich später diesem Etikett oft auch bewusst entzogen. Trotzdem wird er zur Thematik seiner Heimat immer wieder zurückkehren, in seiner sinfonischen Dichtung „Pohjolas Tochter“, in „Luonnotar“ oder zuletzt in „Tapiola“. Obwohl Sibelius kein ein echter Naturmensch ist 4 scheinen ihn Landschaftsbilder zu faszinieren, Impressionen, Stimmungen, vor allem in seinen Liedern. „Sonnenaufgang, unter dem Purpurband des Himmels liegen still See und Land.“ 2‘10 Musik 3: Sibelius: Sonnenaufgang M0017586 002 2’00 Soluppgong, Sonnenaufgang, in der Fassung für Sopran und Orchester von Jean Sibelius mit Karita Mattila und dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter der Leitung von Sakari Oramo. Als Sibelius dieses Lied schreibt, 1902 ist er gerade frisch gebackenes Mitglied im neu gegründeten neohellenistischen Euterpe Club, einer losen Vereinigung von Helsinkis Kulturelite. Finnisch spricht man in diesen Kreisen übrigens kaum, sondern schwedisch, wie alle gebildeten Finnen. Immer noch, wie schon seit Jahrhunderten. Auch Sibelius lernt finnisch erst als spät, seine Muttersprache ist schwedisch. Der Euterpe Kreis gibt sich gerne international, Helsinki ist ganz offensichtlich nicht fein genug. „Um nicht ständig“, wie ein Mitglied des Clubs mosert „in Galoschen bei Schmutz, Eis und Nebel unter lauter Russen herumlaufen zu müssen,“ reisen die Euterpen in die europäischen Metropolen, und bewundern in Paris, Brüssel und London den aktuellen Stil: Symbolismus, Art Nouveau, Decadence. Sibelius ist begeistert mit dabei. Im Gepäck immer die neuesten Autoren: Oscar Wilde, Anatole, Maurice Maeterlinck. Zu dessen erfolgreichstem Schauspiel „Pelleas und Melisande“ wird Sibelius kurz darauf eine Bühnenmusik schreiben, 1905, nachdem er im Jahr zuvor die Musik Claude Debussys kennen gelernt hat. 1‘25 Musik 4: Sibelius: Intermezzo aus Pelleas 2’49 Eine mittelalterliche Welt aus Traum und Phantasie beschwört Maurice Maeterlincks in seinem märchenhaften Schauspiel „Pelleas und Melisande“. Aus der Bühnenmusik von Jean Sibelius’ war das die Zwischenaktmusik mit dem Estnischen Sinfonieorchester unter der Leitung von Paavo Järvi. Helsinki ist zwar wahrlich keine Weltstadt, aber immerhin Finnlands Metropole, ein gesellschaftliches und kulturelles Zentrum. Um einen vergnügungsfreudigen Genießers zu verführen reicht es allemal. Sibelius ist kein Asket. Im Gegenteil, er 5 trinkt Unmengen von Alkohol, versackt in teuren Lokalen, raucht Zigarren, speist fürstlich und verjubelt seine Honorare. Auf die Gesundheitstipps seines Bruders und Arztes Christian doch mal spazieren zu gehen und weniger zu trinken reagiert er mit erstaunlicher Einsicht: „Ich habe so viel an mir, was schwach ist. Wenn ich z.B., vor einem großen Orchester stehe und einen Champagner getrunken habe, dirigiere ich wie ein junger Gott. Andernfalls zittere ich, bin nervös und unsicher und das Ganze läuft dementsprechend. Diese Sauferei hat bei mir Wurzeln, die tief und gefährlich sind. Ich verspreche Dir, dass ich mich nach allen Kräften bemühe.“ Ähnliches erzählt er seiner Frau Aino, die immerhin gerade ihr viertes Kind geboren hat. Sie akzeptiert das schweigend. Allerdings erkennt auch Sibelius selbst immer deutlicher, dass die Großstadt sein Fluch ist. Er sehnt sich nach Ruhe, nach Konzentration, wünscht sich einen Schutz vor der endlosen Jagd nach Unterhaltung und Ablenkung. Außerdem lastet auf ihm das Violinkonzert, dieser Brocken, dieses Damoklesschwert, das ewig nicht fertig werden will und vor dem er immer wieder in Helsinkis Kneipen flüchtet. Um sich abzulenken von dem monumentalen Werk schreibt Sibelius zwischendurch einen traurigen Walzer, der ganz zufällig sein berühmtestes Stück wird, eine traumhafte Tanzszene, ein sanft-melancholischer Danse macarbre, zart, unwirklich, atemberaubend schön, Valse Triste. 2’00 Musik 5: Sibelius: Valse triste M0057305 003 5’33 Manchmal sah Sibelius sich und seine ganze Musik schon reduziert auf dieses eine Stück, den Valse triste, hier mit dem Sinfonieorchester Göteborg unter Neeme Järvi. Der schaurig, schöne Trauertanz macht den Komponisten zwar weltberühmt, aber leider nicht reich. Sibelius, der später mit seinen Verlagsverträgen und Tantiemen sehr gut verdient, geht beim Publikumsrenner Valse triste fast leer aus. Als in den 20er Jahren der immer geschäftstüchtige Schriftsteller Adolf Paul in Berlin Charly Chaplins Film Goldrausch sieht, ungefragt untermalt mit dem Valse triste telegraphiert er sofort seinem Freund Sibelius: „Los, hol Dir die Millionen“. Der winkt bedauernd ab. Die Lizenz wurde seinerzeit zu einem Spottpreis verkauft, äußerst ärgerlich für den notorisch klammen Komponisten. Vor und nach dem Valse triste aber hat Sibelius nur Gedanken für sein Violinkonzert. Angetrieben wird er da von einem gewissen Willy Burmester, ein international bekannter Geiger und aus seiner Zeit als Konzertmeister im Orchester von Helsinki mit Sibelius befreundet. Burmester bedrängt Sibelius immer wieder, ermahnt ihn, 6 bittet ihn, ermuntert ihn. Aber der Meister ringt. Es will einfach nicht fließen, obwohl er mit ganzem Herzen sichtlich dabei ist. „Janne ist die ganze Zeit im Feuer“, so seine Frau Aino an einen Freund, „Er hat so eine Menge von Motiven, dass er förmlich wirr im Kopf gewesen ist. Die Nächte hindurch wacht er, spielt wunderbar schön, kann sich nicht losreißen von den verzaubernden Tönen. Er hat Ideen, dass man es kaum glauben kann. Und alle Motive so voller Leben!“ Irgendwann ist das Werk dann fertig und Sibelius schickt Burmester die Partitur. Der kann sich vor Begeisterung kaum halten: „Wundervoll! Felsennatur! Es muss kolossal klingen!“ Dann begeht Sibelius den entscheidenden Fehler: nicht ihm, Burmester überträgt er die Uraufführung, sondern einem zweitklassigen Geiger aus Helsinki. Der ist heillos überfordert, ebenso wie die Kritiker, die nur „entsetzliche Geräusche“ wahrnehmen und eine erhebliche „Kakophonie“. Sibelius zieht das Werk zurück, überarbeitet es und veröffentlicht es zwei Jahre später erneut. Aufführungsort ist diesmal Berlin, immerhin mit Joseph Joachim als Solisten. Jetzt ist der Erfolg um Einiges größer. Wirklich populär aber wird das Konzert aber erst in den dreißiger Jahren, durch eine Einspielung mit Jascha Heifetz, heute gehört es zum Standardrepertoire aller großen Geiger und gilt als das meist gespielte Violinkonzert des 20.Jahrhunderts. 2’30 Musik 6: Sibelius: Violinkonzert 3.Satz M0381281 006 7’34 „Polonaise für einen Eisbären“ nannte ein britischer Kritiker das Finale von Sibelius’ Violinkonzert, gespielt von Augustin Hadelich zusammen mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Hannu Lintu. Nach dem Violinkonzert ist Schluss: Sibelius hat genug von Helsinki, das ihn, wie er sagt „nur noch quält“. Von den Verführungen, den Ablenkungen, dem Lärm, den Kritikern. Er sehnt sich nach Ruhe und nach Konzentration. Das Ergebnis dieser Sinnkrise heißt Ainola. Seine Villa, sein Rückzug, seine Klause. In Järvenpää, am Ostufer eines langen Sees, 30 Kilometer nördlich von Helsinki kauft er ein Grundstück. Im September 1904 ist Ainola fertig, die ganze Familie zieht ein und Sibelius ist glücklich. Mit kurzen Unterbrechungen wird er bis zu seinem Tod hier wohnen. „Zurück zur Natur“ lautet jetzt sein Lebensmotto: er beobachtet die Schwäne, die Jahreswechsel, den Nebel über dem Moor. Und er hört auf zu trinken. Zumindest versucht er es. So richtig gelingt es ihm erst 5 Jahre später, da wird nämlich in 7 seinem Hals ein bösartiger Tumor entdeckt. Sibelius wird zwar vollständig geheilt, aber der Schreck sitzt tief, so tief, dass er sieben Jahre lang keinen Tropfen Alkohol und keine Zigarre mehr anrührt. Er hat Angst, Todesangst und Schmerzen. In dieser düsteren Periode seines Lebens verschließt er sich, sucht den Rückzug ins Innere und schreibt seit langer Zeit wieder ein Kammermusikwerk, ein Streichquartett, ernst, geheimnisvoll, introvertiert, Voces intimae, innere Stimmen. Als es fertig gesteht er seiner Frau Aino: „Das Quartett wurde wundervoll. Eben ein solches, das einen in der Stunde des Todes zum Lächeln zwingt.“ 1’40 Musik 7: Sibelius: 4.Satz aus Voces Intimae M0328798 009 5’34 Voces Intimae, Innere Stimmen von Jean Sibelius, aus dem Streichquartett war das der 4.Satz mit dem Tempera Quartett. Jean Sibelius ist eine komplexe Persönlichkeit, mit völlig unterschiedlichen Charakterzügen. Auf der einen Seite der zurückgezogene Komponist auf dem Lande, in der Stille von Ainola, auf der anderen Seite ein umtriebiger Dirigent in den Metropolen Europas. England, Deutschland, Schweden, Dänemark, auch im Ausland wird er immer berühmter. Gerade in England ist man entzückt über den nordischen Meister und vor allem überrascht. Erwartet hatte die Upper class von Liverpool eigentlich einen, wie es heißt „ungekämmten deutschen Musikertyp, den man gewöhnlich mit dem Begriff Genie verband“ und trifft statt dessen einen, „Vollblutviking mit einem Haar, golden wie Hafer im Sonnenschein, eisblauen Augen, einer perfekten Haltung und bewundernswert gut geschneidert.“ Im Gepäck hat der finnische Beau auch seine neueste Sinfonie: die dritte, in CDur, heller und klarer geht’s kaum. Das düstere Kalevala liegt nun weit hinter ihm, transparente Orchesterfarben, wenig Blechbläser und Themen von klassizistischer Einfachheit. Das ist der neue Stil des Komponisten Jean Sibelius. 1’20 Musik 8: Sibelius: 2. Satz aus der Sinfonie Nr. 3 M0019044 006 auf Zeit 8 Das Berliner Sinfonie Orchester mit dem 2. Satz aus der 3. Sinfonie in C-Dur von Jean Sibelius, eine historische Aufnahme aus dem Jahr 1970, aber dirigiert von einem der ganz großen Sibelius Kenner, von Kurt Sanderling Das war der dritte Teil der SWR2 Musikstundenwoche über Jean Sibelius zu seinem 150. Geburtstag, vielen Dank fürs Zuhören und bis morgen wenn Sie mögen sagt tschüss Ines Pasz.