Wahlrechtsfragen vor dem Hintergrund "Hessen"

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Wahlrechtsfragen
vor dem Hintergrund "Hessen"
Inhalt:
1. Hintergrund Hessen
2. Allmacht der Parteien und innerparteiliche Demokratie
3. Reformdiskussion
4. Reformvorschläge
4.1 Innerparteiliche Nominierungswahlen
4.2 Flexible statt Starre Liste
1. Hintergrund Hessen
Die hessische SPD-Vorsitzende Andrea Ypsilanti scheiterte Anfang November 2008
zum zweiten Mal mit dem Versuch, eine rot-grüne Minderheitsregierung
unter
Tolerierung der Linkspartei zu bilden. Grund hierfür war eine kurzfristig anberaumte
Erklärung von vier Mitgliedern der SPD-Fraktion, in der diese ankündigten, ein
Bündnis mit der Linkspartei im Hessischen Landtag nicht mitragen zu wollen. Die
Abgeordneten Carmen Everts, Dagmar Metzger, Silke Tesch und Jürgen Walter
begründeten ihren aufsehenerregenden Schritt mit ernsten Bedenken, sich von einer
Partei abhängig zu machen, deren demokratische Gesinnung mehr als fragwürdig
sei. Darüber hinaus beriefen sie sich übereinstimmend auf unzählige Stimmen in der
Partei, die sie vor einem Wortbruch und einem Verlust der Glaubwürdigkeit gewarnt
hätten. Schließlich habe man vor der Wahl versprochen, kein Bündnis mit der
Linkspartei einzugehen.
Innerhalb ihrer Partei und ihrer Fraktion wurden die vier Abgeordneten fortan offiziell
als "Abweichler" oder .Köniqsrnörder" tituliert und zu unerwünschten Personen
erklärt. In den vergangenen Tagen äußerten die so Gescholtenen nach und nach
ihren Verzicht auf eine erneute Kandidatur für den Landtag. Sie müssten ohnehin
damit rechnen, von den Delegierten für ihr Handeln abgestraft zu werden. Was
indessen die einfachen Parteimitglieder über die "Abweichler" der Hessen-SPD
denkt, bleibt weithin unbekannt. Sie werden erst gar nicht zu ihrer Meinung befragt.
2. Allmacht der Parteien und innerparteiliche Demokratie
Von der .Polltik-; der .Politiker-, und auch der .Parteienverdrossenheit" ist viel die
Rede. Die Parteienverdrossenheit findet ihren Niederschlag in einer abnehmenden
Wahlbeteiligung, im Schrumpfen der Stammwählerschaft der großen Parteien und in
einem Rückgang der Mitgliederzahlen. So verzeichnet die CDU als "mitgliederstärkste" Partei in einem Land mit über 80 Millionen Einwohnern gerade noch
530.000 Personen mit Parteibuch.
Zweifellos steht es um das Ansehen der demokratischen Parteien nicht zum Besten.
Eine Kette von Skandalen hat der Parteienverdrossenheit
reichlich Nahrung
gegeben.
Die Parteispendenaffäre,
die Aufdeckung
illegaler Praktiken
der
Geldbeschaffung, die damit verbundene Befürchtung, wirtschaftliche Macht könnte
für politische
Zwecke
missbraucht
werden,
die Verstrickung
prominenter
Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft - all dies hat den Ruf der Parteien in der
Öffentlichkeit schwer beschädigt. Hinzu kommt ein in der Gesellschaft weit
verbreitetes Desinteresse an Politik und politischen Prozessen, die Abneigung gegen
eine innerparteiliche .Ochsentour" und die zumindest in Teilen nachvollziehbare
Meinung, als Einzelner ohnehin nichts bewegen zu können.
Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker nährte zu Beginn der 1990er
Jahre die Kritik an den Parteien mit seiner Bemerkung, unser Parteienstaat sei
.rnachtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der
inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgabe". Ein Urteil, das viele
Bundesbürger vorbehaltlos unterschrieben.
Obwohl das Parteiengesetz die Mitwirkung der Mitglieder an der Willensbildung der
Partei ausdrücklich betont, existiert eine Neigung der Parteibürokratie, sich von der
Basis abzukapseln. Wenn von innerparteilicher Willensbildung die Rede ist, wird mit
Kritik deshalb selten gespart. "Die da oben" - so die landläufige Auffassung erdrücken die Basis, geben ihr keine Entfaltungsmöglichkeiten oder übergehen ihre
Wünsche. Einerseits ist die Kritik an den Parteien unberechtigt, gibt es doch
unverzichtbare Sachzwänge einer großen und modernen Parteiendemokratie, die
einer entschiedenen Führung und schnellen Entscheidunqsstrukturen
bedürfen.
Andererseits aber sind die Führungsetagen der Parteien bestrebt, nicht zu viel Macht
und Gestaltungsspielraum
aus den Händen zu geben. So existiert in den
Parteizentralen eine breite Front gegen Mitgliederentscheide
in Personal- und
Sachfragen.
Es ergibt sich folglich die gegenwärtige Situation, in der die Kandidaten für eine Wahl
nur von einem kleinen Teil der Partei (Delegierte) gekürt werden. Durch die starren
Listen, die vom Wähler nicht mehr verändert werden können, steht oftmals bereits
nach Parteitagen fest, wer in den Landtag bzw. in den Bundestag gewählt wird. Der
"Parteitag" läuft dem "Wahltag" gewissermaßen den Rang ab. Das faktische Monopol
der Parteien bei der Kandidatenaufstellung schränkt somit die Auswahlfreiheit der
Bürger stark ein.
3. Reformdiskussion
Die Diskussion über mögliche Reformen des Wahlrechts und des Prozesses der
innerparteilichen Willensbildung ist schon sehr alt. Reformvorschläge, wie sie etwa
die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquetekommission .Verfassunqsreform"
in ihrem Schlussbericht 1976 vorgelegt hat, sind jedoch gar nicht oder nur halbherzig
umgesetzt worden.
Gedacht war damals an eine stärkere Teilnahme der .Parteibürqer" am Prozess der
Kandidatenaufstellung
(zum Beispiel Direktwahl der Kandidaten
durch alle
Parteimitglieder). Um den Einfluss der "Wahlbürger" zu erhöhen, wurde ferner die
Einführung "halb offener" Listen vorgeschlagen. Die Wählerinnen und Wähler sollen
mit ihrer Zweitstimme die Möglichkeit erhalten, die von den Parteien aufgestellte
Reihenfolge der Listenkandidaten zu verändern (Präferenzstimme). Obschon diese
Variante durch einen entsprechenden Mehrheitsbeschluss im Deutschen Bundestag
leicht in das Bundeswahlgesetz (BWahIG) integriert werden könnte, fand sich dafür
bis heute keine Lobby. Da die Gestaltung des Wahlrechts mehr als nur eine Frage
der Verfahrenstechnik bedeutet, ist es nicht verwunderlich, dass die Parteien der
Bundesrepublik
diesem Gesichtspunkt
zwar ihre besondere Aufmerksamkeit
gewidmet haben, sich dabei aber oftmals von parteipolitischen Nützlichkeitserwägungen leiten ließen, die sie freilich häufig mit dem Mantel staatspolitischer
Notwendigkeit verhüllten.
Anders sieht es mit den Elementen direkter Demokratie in den Parteien aus. Mit
Ausnahme der CSU schufen die etablierten Parteien in den 1990er Jahren neue
plebiszitäre Instrumente: von der Mitgliederbefragung über den Mitgliederentscheid
bis hin zur Urwahl des Kanzlerkandidaten wurden den Parteimitgliedern verstärkte
Mitwirkungsrechte eingeräumt.
Die SPD etwa hat entsprechende Regelungen in ihr Statut aufgenommen. Im
November 1993, nach dem Rücktritt des Parteivorsitzenden Björn Engholm, befragte
sie ihre Mitglieder, welche Persönlichkeit sie als dessen Nachfolger bevorzugten
(Rudolf Scharping, Gerhard Schröder oder Heidemarie Wieczorek-Zeul). An dieser
Abstimmung haben 56% der Mitglieder teilgenommen, was als beeindruckender
Mobilisierungserfolg angesehen werden muss.
Allerdings demonstrierten die Delegierten des Mannheimer SPD-Parteitages von
1995 überdeutlich, wie wenig sie von dieser Stärkung der Basis hielten: sie wählten
den 1993 auch durch eine Mitgliederbefragung
legitimierten Parteivorsitzenden
Rudolf Scharping in einem handstreichartigen Verfahren ab und ersetzten ihn - ohne
jegliche Einbeziehung der Parteibasis - durch Oskar Lafontaine.
In den letzten Jahren hat es keine Wiederholung der Mitgliederbefragung von 1993
gegeben. Der Kanzlerkandidat des Jahres 2009 wurde erneut auf herkömmliche
Weise, nämlich durch den Parteivorstand, gekürt.
In der Union trafen in der Vergangenheit innerparteiliche Reformvorschläge auf noch
größeren
Widerstand.
Als der damalige
CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende
im
Bundestag, Friedrich Merz, und der Generalsekretär der Partei, Ruprecht Polenz,
den Vorschlag machten, den CDU/CSU-Kanzlerkandidaten
von den Mitgliedern der
beiden Parteien Wählen zu lassen, stießen sie auf eine breite Front der Ablehnung.
Vor allem die CSU erblickte hierin keine sinnvolle Reform, sondern eine Sicherung
des Kanzlerkandidatenmonopols der größeren Schwester.
Darüber hinaus gibt es weiterreichende Vorschläge, wie die Gestaltungsmöglichkeiten der Parteimitglieder und der Bürger gestärkt werden könnten. So wurden
wiederholt Vorwahlen nach amerikanischem Muster ins Spiel gebracht, bei denen
sich alle Wähler ("open primary" / "offene Vorwahlen") oder nur die Anhänger einer
Partei ("closed primary" / .Jnnerparteiliche Nominierungswahlen") beteiligen können.
Für offene Vorwahlen hat sich der heutige SPD-Vorsitzende
im April 2000
ausgesprochen. Deren Einführung würde für die Parteien allerdings einen radikalen
Schritt bedeuten, hieße dies doch, Parteien gegenüber allen Wählerinnen und
Wählern zu öffnen. Auch Nicht-Mitglieder könnten bei offenen Vorwahlen an der
Nominierung der Kandidaten einer Partei für Wahlämter teilnehmen.
Offene Vorwahlen haben keine reelle Chance, rasch umgesetzt zu werden. Die
Parteien würden damit ihr ureigenstes Recht, Kandidaten für öffentliche Funktionen
zu nominieren, aus der Hand geben. Zudem entspricht das Modell der offenen
Vorwahl nicht der Logik des deutschen Parteienstaates, der - im Gegensatz zu den
Vereinigten Staaten von Amerika - gut strukturierte und dauerhaft organisierte
Parteien kennt.
4. Reformvorschläge
Ohne Zweifel sind die Parteien heute die "Spinne im Netz" politischer
Kommunikation, aber auch im Netzwerk der Legitimierung und Ausübung politischer
Macht. Man mag das Bestreben der Parteien, ihre politische Macht auch personell
abzusichern verstehen. Aber die gegenwärtige Praxis gibt den Parteien und allen
voran den Parteistrategen zu viel Macht
4.1 Innerparteiliche
Nominierungswahlen
("membership primaries")
Um den Einfluss der Parteibasis auf Personalentscheidungen zu erhöhen, könnten
innerparteiliche Nominierungswahlen, in Ahnlehnung an die englischen Termini als
.rnernbership
primaries" bezeichnet, verpflichtend
im Parteiengesetz
(PartG)
verankert werden. Hierfür genügt ein Mehrheitsbeschluss im Deutschen Bundestag.
Innerparteiliche
möglich:
1"\
Nominierungswahlen
sind bei folgenden
Personalentscheidungen
a)
Bestellung von Spitzenkandidaten für Landtags(Ministerpräsidenten-/ Kanzlerkandidat).· .
und Bundestagswahlen
b)
Bestellung des Kandidaten für das Direktmandat bei Bundestagswahlen
c)
Aufstellung der Listen für Landtags- und Bundestagswahlen.
Die Punkte a) und b) lassen sich technisch relativ einfach bewerkstelligen. Vor dem
Ablauf der gesetzlichen Frist für das Einreichen von Wahlvorschlägen ist in allen
Ortsvereinen eine entsprechende Abstimmung (Wahllokal/Briefwahl)
durchzuführen,
für die ein Wahlvorstand gewählt wird. Das Ergebnis wird an den Landesverband
übermittelt, der die Ergebnisse anschließend öffentlich verkündet. Die jeweils
gewählten Kandidaten gehen für ihre Partei ins Rennen.
Natürlich setzt ein solches Verfahren einen gewissen innerparteilichen "Wahlkampf"
voraus, doch stärkt dieses Verfahren den demokratischen Gedanken, der im
Meinungspluralismus
- also im fairen Wettstreit der Ideen - seinen stärksten
Ausdruck findet. Die Position zu Sachthemen von Bewerbern für Wahlämter wird
deutlicher und transparenter.
Die Aufstellung von Listen für Landtags- und Bundestagswahlen (Punkt e))
gestaltet sich hingegen weit komplizierter. Hier könnte sich ein Mischsystem aus
Delegierten- und Urwahlprinzip als praktikabel erweisen, das in zwei Schritten
vorgeht:
Schritt 1:
Auf einem Nominierungsparteitag
nach herkömmlichen Muster entscheiden die
Delegierten über geeignete Kandidaten und formulieren eine "Vorschlagsliste" für die
Parteibasis.
Schritt 2:
Die Vorschlagsliste
wird den Parteimitgliedern
nachfolgend zur Abstimmung
vorgelegt. Dabei erhält jedes Parteimitglied so viele Stimmen, wie Kandidaten auf der
Liste geführt werden; jeder Kandidat auf der Liste kann mit maximal drei Stimmen
bedacht werden (Kumulieren). Auf diese Weise können die Parteimitglieder die
Reihung der Liste aktiv verändern. Dass dieses Verfahren keineswegs unrealisierbar
ist, zeigt seine Anwendung bei Kommunalwahlen in Bayern.
Auf die Vorgänge in Hessen bezogen bedeutet dies, dass die Basis der Landes-SPD
die "Abweichler" in der Fraktion, die die Wahl Andrea Ypsilantis zur Ministerpräsidentin verhindert haben, für ihr Verhalten bestrafen- aber auch belohnen
könnte. Sehr schnell und eindeutig würde sich zeigen, welchen Rückhalt, auf den
sich Carmen Everts, Dagmar Metzger, Silke Tesch und Jürgen Walter bei ihrer
umstrittenen Entscheidung berufen, in ihrer Partei tatsächlich hatten.
4.2 Flexible statt Starre Liste
Wie unter Punkt 3 bereits erwähnt, wurde über diesen Vorschlag bereits mehrmals
diskutiert. So könnte die Starre Liste bei Bundestagswahlen durch eine Flexible Liste
ersetzt werden, auf der die Platzierung durch die Parteien wiederum nur
Vorschlagscharakter hat und die endgültige Reihung erst durch den Wähler bestimmt
wird. Eine entsprechende Änderung des Bundeswahlgesetzes (BWahIG) wäre ohne
größere Verfassungshürden
denkbar. Diese Lösung wurde auch von Bundespräsident Horst Köhler in seiner "Berliner Rede" des Jahres 2008 angeregt.
Auf den Fall Hessen bezogen bedeutet dies, dass auch die Wähler die Möglichkeit
besäßen, das Verhalten der SPD-Abgeordneten direkt zu beurteilen.
03.12.2008
Michael Scheithauer
Wissenschaftlicher Bü roleiter
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