I. Untersuchungsrahmen

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Grüne Partnerwahl: Innerparteiliche Entscheidungsprozesse und Koalitionsoptionen bei Bündnis 90/Die Grünen
Niko Switek / 20.10.2010
I.
Untersuchungsrahmen
1.
Gegenstand und Fragestellung
Die Geschichte der Grünen in Deutschland lässt sich nicht ohne ein Kapitel zu den
innerparteilichen Kämpfen über Koalitionsfragen erzählen. Die Einstellung zu möglichen
Regierungsbeteiligungen spaltete die Partei lange Zeit tief. Das verweist auf die Bedeutung,
die Koalitionsfragen für das Innenleben einer Partei haben: Koalitionsentscheidungen sind
zentrale Fragen für das Selbstverständnis einer Partei. Die Wahl eines Partners, mit dem eine
Partei in einer Koalition zusammenarbeiten will, berührt entscheidende Punkte der
Parteiidentität wie Programmatik, Personal und Strategie.
Nach der Parteigründung und parallel zur schrittweisen Etablierung im deutschen
Parteiensystem drehte sich bei den Grünen der Konflikt zunächst fundamental um die Frage,
ob man überhaupt in ein Regierungsbündnis eintreten will. Während die Pragmatiker in der
Partei diesen Streit letztlich für sich entschieden und Bündnisse mit den Sozialdemokraten
innerparteilich heute im Grunde genommen mehrheitsfähig sind, streitet man inzwischen
über die Frage, welche weiteren Koalitionsoptionen darüber hinaus denkbar sind. Dabei
scheinen sich die Grünen in einer äußerst komfortablen Position zu befinden: Auf
Länderebene koalieren die Grünen mit der SPD, planten ein rot-rot-grünes Bündnis in Hessen
mit (das nicht an ihnen scheiterte), regieren in Hamburg mit der CDU und im Saarland mit
CDU und FDP. Auf Bundesebene wurde die Partei nach dem unerwarteten Ausgang der
Bundestagswahl 2005 von mehreren Seiten umworben, eine Ampel- oder Jamaika-Koalition
einzugehen (wenn auch ohne Ergebnis). Allgemein gilt, dass alle zurzeit praktikablen
Dreierbündnisse nur mit Beteiligung der Grünen realisierbar sind {Linhart, 2006
#452;Switek, 2010 #461}. Vor dem Hintergrund der spezifischen grünen Geschichte mutet es
erstaunlich an, dass die Partei (zumindest auf Landesebene) sich so multi-koalitionsfähig
gebiert.
Wie kommt es, dass eine Partei, in der Koalitionsfragen lange so umstritten waren, sich nun
so flexibel gibt? Die Koalitionstheorie stellt ausgehende von der systemischen Ebene die
Verschiebung der inhaltlichen Position im Parteiensystem heraus {Budge, 1993 #355} oder
verweist auf eine sich ändernde Priorisierung der Parteiziele {Dumont, 2006 #391}. Beide
Punkte sind aber nicht losgelöst von einer Veränderung im innerparteilichen Machtgefüge zu
sehen: Die programmatische Ausrichtung und Ziele einer Partei sind nicht statisch sondern
kontigentes Ergebnis parteiinterner Aushandlungen und Konflikte {Lawson, 1994 #463}.
Somit ist eine Entscheidungen für ein bestimmtes Regierungsbündnis nicht unabhängig von
innerparteilichen Dynamiken zu sehen sind, bei denen bestimmte Akteure oder Gruppen in
der Partei versuchen, spezifische Koalitionsoptionen anzustreben und zu realisieren. Die von
der Koalitionsforschung herausgestellten Faktoren, die eine Zusammenarbeit ermöglichen
oder befördern, unterliegen letztlich einer Bewertung durch die innerparteilichen Akteure.
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Grüne Partnerwahl: Innerparteiliche Entscheidungsprozesse und Koalitionsoptionen bei Bündnis 90/Die Grünen
Niko Switek / 20.10.2010
Die Führungsspitzen der Bundespartei und der Landesverbände verfügen über einen
Spielraum bei der Auswahl eines Koalitionspartners. Dabei ergeben sich aufgrund der
unterschiedlichen Einstellungen zu Koalitionsentscheidungen innerparteiliche Machtkämpfe
über die Deutungshoheit, mit welchem Partner am Besten koaliert werden soll. Die
innerparteilichen Prozesse bei Bündnis 90/Die Grünen hinzu einer Koalitionsentscheidung
sind der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Es wird der zentralen Frage nachgegangen,
wie innerparteiliche Akteure innerparteiliche Mehrheiten für neue Koalitionen organisieren.
Daran anknüpfend ergeben sich folgende weiterführende Fragen, an denen sich die
vorliegende Arbeit orientiert: Wie viel tatsächlichen Handlungsspielraum haben die
innerparteilichen Akteure und wovon hängt dieser ab? Welche Strategien verfolgen die
Akteure, wie überkommen sie Widerstände gegenüber neuen Koalitionspartnern und worauf
fußt ihr Einfluss? Die grüne Parteiorganisation weist in Abgrenzung zu anderen Parteien
einige (verbliebene) formale Besonderheiten auf und ist – unter anderem gerade deshalb –
stark von informellen Faktionen und Strömungen geprägt. Daher ist zu fragen, über wie viel
Einfluss die formalen Parteigremien verfügen und wie entscheidend die informelle Seite der
Aushandlungsprozesse ist. Schließlich stellt sich die Frage nach den Verbindungen der
Gliederungen einer föderalen Partei: Sind Bundespartei und Landesverbände so lose
verkoppelt, dass Koalitionsentscheidungen vollständig unabhängig von einander getroffen
werden? Das mag zwar einigen Modellen der Parteienorganisationsforschung entsprechen,
doch sind in der politischen Praxis durchaus Zusammenhänge ersichtlich – zumal eine solche
Vorstellung schwer mit der intuitiven Wahrnehmung einer Parteiidentität in Einklang zu
bringen ist. Was bedeutet also das Eingehen einer neuen Koalition in einem Bundesland für
andere Landesverbände bzw. den Handlungsspielraum der Akteure?
Trotz der Bedeutung innerparteilicher Dynamiken für die Koalitionsbildung ist diese Feld
bisher selten wissenschaftlich bearbeitet worden: „So liegen bislang nur wenige Studien vor,
die intraorganisatorische Koordinationsprozesse in Parteien – z.B. die Frage, welche
Koalitionspräferenzen in einer Partei vorhanden sind und wie diese aggregiert werden – mit
der tatsächlichen Koalitionsentscheidung und den sich daraus wahrscheinlich ergebenden
Auswirkungen auf die Stellung der Partei im Parteiensystem untersuchen“ {Kropp, 2001
#380@45}.
Um die aufgeworfenen Fragen beantworten und Aussagen über die innerparteiliche Seite der
unerwartet hohen Koalitionsflexibilität treffen zu können, werden in dieser Arbeit die Fälle
von Koalitionsbildungen der Grünen auf Länderebene seit 1990, bei denen bisher noch nicht
praktizierte Farbkonstellationen angestrebt wurden, einer detaillierten Analyse unterzogen.
Die theoretisch angeleitete Analyse dieser Fälle fußt auf einem aus der Organisationstheorie
adaptierten und auf Parteiorganisationen zugespitzten mikropolitischen Ansatz.
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