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Fachrichtung
Psychologie
Vorlesung WS 2013/14
Kognitive Neurowissenschaft des Entscheidens und
Handelns: Einführung und Überblick
Thomas Goschke
1
Wie geht es weiter?
 I. Was bestimmt unsere Entscheidungen?
• Wie lernen wir den Wert von Dingen?

Multiple Lern-, Gedächtnis- und Bewertungssysteme (konditionierte
Gewohnheiten; Verstärkungslernen; implizite emotionale Reaktionen; kognitive
Zielrepräsentationen)
• Wie berechnet unser Gehirn den Wert von Zielen und Handlungen?

Multiple Bewertungssysteme: mesolimbisches Dopaminsystem und medialer
Präfrontalkortex
• Wie werden unterschiedliche Bewertungsaspekte (Kosten, Nutzen, Risiken)
zu einer Entscheidung integriert?



Interaktion von Emotion und Kognition
Damasios Theorie der somatischen Marker
Diffusionsmodelle des Entscheidungsprozesses
• Warum treffen wir mitunter irrationale Entscheidungen?




2
Intertemporale Entscheidungskonflikte
Wie werden Konflikte zwischen Bewertungssystemen gelöst?
Zwei-System-Theorien: Neuronale Grundlagen von Impulsivität und Selbstkontrolle
Neuronale Korrelate moralischer und ethischer Entscheidungen
Wie geht es weiter?
 II. Wie steuern wir uns selbst?
•
•
•
•
Welche Mechanismen liegen willentlichen Handlungen zugrunde?
Wie werden Absichten im Gehirn repräsentiert?
Kognitive Kontrolle, exekutive Funktionen und präfrontaler Kortex
Wie werden kognitive Kontrollprozesse durch Emotionen und Stress
beeinflusst?
• Werden unsere Entscheidungen und Handlungen durch unbewusste
Gehirnprozesse determiniert?
• Philosophische Fragen: Gibt es Willensfreiheit?
• Wie kommt es zu Beeinträchtigungen der Selbststeuerung bei
psychischen Störungen? Neurokognitive Mechanismen der Sucht
3
Voraussetzungen:
Kenntnisse auf Psychologie-Bachelor-Niveau
 Methoden
• Methodenlehre (Versuchsdesigns, Experiment)
• Statistik (deskriptive und Inferenzstatistik; Varianzanalyse, lineare Regression)
 Biopsychologie
• Grundlegende neuroanatomische Kenntnisse
• Neuronale Signalübertragung
 Lernen und Gedächtnis
•
•
•
•
Prinzipien des klassischen und operanten Konditionierens
deklaratives, episodisches, prozedurales, implizites Gedächtnis
Arbeitsgedächtnis
Prozesse: Enkodierung, Konsolidierung, Abruf
 Emotion und Motivation
• Messung und Induktion von Emotionen
• Grundlegende Theorien der Emotionsgenese
• Grundlegende Motivationstheorien (z.B. Triebtheorie; Erwartung-Wert-Theorien)
• Volitionstheorien (z.B. Rubikontheorie)
 Kognitionspsychologie (Niveau z.B. Lehrbuch von Anderson)
• selektive Aufmerksamkeit; Problemlösen; Heuristiken (Kahneman & Tversky)
4
Warum haben wir ein Gehirn?
Warum haben wir ein Gehirn?
6
Warum haben wir ein Gehirn?
Um Bewegungen zu steuern!
What to do next?
„Höhere“ kognitive und volitionale Funktionen sind evolutionäre
Antworten auf das fundamentale Problem der adaptiven
Verhaltensselektion
Daily choices
 XXX
11
Kognitive Grundlagen menschlicher Entscheidungen
 Zukunftsorientierung
•
Antizipation zukünftiger Konsequenzen möglicher
Handlungen
 Planen und „Probehandeln“
•
Geistiges Durchspielen neuer Handlungssequenzen
 Flexibilität
•
Praktisch unbegrenzte Zahl möglicher Ziele
 Bedürfnisantizipation
•
Ausrichtung des Verhaltens an Zielen, die auf die
Befriedigung von Bedürfnissen gerichtet sind, die aktuell
noch gar nicht bestehen
 Selbstkontrolle und Belohnungsaufschub
•
Unterdrückung aktueller Bedürfnisse zugunsten
langfristiger Ziele
Besonderheiten der menschlichen Handlungssteuerung
Zukunftsorientierte Verhaltensselektion



Antizipation zukünftiger Handlungseffekte
Planen und Probehandeln
Antizipation zukünftiger Bedürfnisse
Expansion der Flexibilität und Freiheitsgrade des Verhaltens
(„Selbststeuerung“)
•
•
•
•
Unabhängigkeit von der unmittelbaren Reizsituation
Unabhängigkeit von momentanen Bedürfnissen
Unterdrückung von automatisierten Gewohnheiten
Flexible Anpassung an wechselnde und langfristige Ziele
John Lockes Definition von Willenshandlungen
„Da der Geist… die Kraft besitzt, bei der Verwirklichung
irgendeines Wunsches innezuhalten…, so hat er auch die
Freiheit, ihre Objekte […] von allen Seiten zu prüfen und
gegen andere abzuwägen…
Darin scheint mir die Quelle aller Freiheit zu liegen und
darin scheint mir das zu bestehen was gemeinhin (wie ich
meine irreführenderweise) als Willensfreiheit bezeichnet
wird. Denn während dieses Aufschubs jedes Bedürfnisses
haben wir Gelegenheit, das Gute oder Üble an der
Handlung, die wir vorhaben, zu beurteilen.
es ist… ein Vorzug unserer Natur gemäß dem Ergebnis einer
ehrlichen Prüfung zu wollen und handeln“
(Locke, 1690, Essay Concerning Human Understanding)
Was unterscheidet Willenshandlungen von Reflexen?
„bei der Verwirklichung eines Wunsches innehalten“
 Hemmung impulsiver Reaktionen
„Das Gute oder Üble an der Handlung, die wir vorhaben, beurteilen“
 Antizipation zukünftiger Handlungseffekten
„gemäß dem Ergebnis einer ehrlichen Prüfung wollen und handeln“
 Selbststeuerung
In der Evolution kam es zu einer Expansion kognitiver Fähigkeiten, die mit
einer weitreichenden Abkoppelung des Verhaltens von der unmittelbaren
Reizsituation einherging
Die beim Menschen entwickelten Antizipations- und Kontrollfunktionen
manifestieren sich in einer genuin zukunftsorientierten Verhaltensselektion
Sind Personen rationale Entscheider?
 Rationale Abwägung der
Wünschbarkeit und Erreichbarkeit
alternativer Ziele
 Auswahl des Ziels mit dem größten
erwarteten subjektiven Nutzen
(Erwartung x Wert)
 Ausführung von Handlungen, die
geeignet sind, das Ziel zu erreichen,
das den maximalen subjektiven Nutzen
verspricht
Von normativen Entscheidungsmodellen zur
Verhaltensökonomie
 Menschliche Entscheidungen weichen häufig von normativen
(ökonomischen) Rationalitätsstandards ab  Heuristiken
 Menschliche Entscheidungen werden maßgeblich durch unbewusste
Prozesse (intuitive Urteile, emotionale Reaktionen, neuronale Mechanismen)
beeinflusst / bestimmt
21
Kontroverse Auffassungen zum Verhältnis von Gefühl und
Vernunft
„Das Herz hat seine Gründe, welche die Vernunft
nicht kennt.“
Blaise Pascal (1623 – 1662)
22
Leidenschaften als Widersacher der Vernunft
„Ein Mensch, der Sklave seiner Emotionen ist,
ist nicht Herr seiner selbst, sondern… er wird
oft, obwohl er einsehen mag, was besser für
ihn wäre, dem nachgeben, was ihm schadet“
(Spinoza, 1677)
„Das Schwierige im Leben ist es, Herz und Kopf
dazu zu bringen zusammenzuarbeiten - in meinem
Fall verkehren sie noch nicht mal auf
freundschaftlicher Basis“ (Woody Allen)
Grundlegende neuronale Schaltkreise für Furcht und Belohnung
Furchtnetzwerk
(Aversives Motivationssystem)
Belohnungsnetzwerk
(Appetitives Motivationssystem)
Feder, A. Nestler, E.J. & Charney, D.S. (2009).
Nature Reviews Neuroscience, 10, 446-457.
Implizites emotionales Gedächtnis:
Dissoziation von Furchtkonditionierung und deklarativem Gedächtnis
27
Amygdala
Amygdala: Struktur und Konnektionen
•
•
29
Zentraler Kern: efferente Verbindungen zu subkortikalen
Zentren, die an der Steuerung autonomer u. endokriner
Reaktionen beteiligt sind
A. vermittelt Assoziation sensorischer Reize mit
autonomen Reaktionen
© Pearson Studium 2004
Zentrale Komponenten des Furchtsystems
Kerne des Amygdalakomplexes und Mittelhirns
spielen wichtige Rolle bei
Furchtreaktionen
CEc = lateral capsule of the central amygdala
CEm = medial nucleus of the central amygdala
30
Läsionen des lateralen und zentralen Kerns der Amygdala
eliminieren die auditorische Furchtkonditionierung
CE = central n.
LA = lateral n.
31
Amygdala und Furchtkonditionierung




33
A.-Läsionen (zentraler und lateraler Kern) eliminiert Furchtkonditionierung
A.-Läsion reduziert Ausschüttung von Stresshormonen
Furchtreize erhöhen neuronale Feuerungsrate in der A.
Elektrische Reizung der A. (zentraler Kern) löst Furcht aus
Doppelte Dissoziation von emotionalem und deklarativem
Gedächtnis nach Amygdala- vs. Hippokampusläsionen
 Probanden
• SM046: Bilaterale Zerstörung der Amygdala, intakter Hippokampus
• WC1606: Bilaterale Läsion d. Hippokampus; intakte Amygdala
• RH1951: Bilaterale Schädigung von Amygdala + Hippokampus
• 4 gesunde Kontrollpersonen
 Klassische Furchtkonditionierung
• 1. Habituationsphase: Farbige Dias
• 2. Konditionierungsphase: Blaues Dia (CS) + Sehr lauter Ton (US)
• AV: Elektrodermale Reaktion
Bechara et al., 1995, Science, 269, 1115-1118)
34
Bechara et al. (1995)
Lernphase: Konditionierung einer emotionalen Reaktion
Unerwarteter lauter Ton
35
Bechara et al. (1995)
Testphase: Konditionierte Furchtreaktion
Erhöhte elektrodermale Reaktion (Aktivität d.
Schweissdrüsen) = Indikator für körperliche
Erregung (feuchte Hände)
(H-)
(A-)
36
(A-H-)
Implizites Emotionsgedächtnis und erlernte Furchtreaktionen
Unkonditionierte Furchtreaktion blieb
auch nach Amygdala-Schädigung intakt
Bechara et al., 1995, Science, 269, 1115-1118)
Dissoziation zwischen implizitem Emotionsgedächtnis und
bewusstem Erinnern
Implizites
Emotionsgedächtnis
Hautleitfähigkeit
1,5
1
0,5
0
Kontrolle
Amgdala
Hirnläsion
Hippok.
Anzahl korrekter Antworten
Deklarativer Gedächtnistest einige Minuten später
 Wie viele Farben hatten die Dias?
 Welche Farben hatten die Dias?
 Wie viele Farben wurden von lautem Ton gefolgt?
 Welche Farben wurden von lautem Ton gefolgt?
Bewusste
Erinnerung
5
4
3
2
1
0
Kontrolle
Amgdala
Hippok.
Hirnläsion
Bechara et al. (1995) Science, 269, 1115-1118.
Theorie zweier neuronaler Wege der Emotionsgenese
von LeDoux
 Tierexperimente:
• Intakte auditorische
Furchtkonditionierung auf einfache Töne
nach Zerstörung des auditorischen Kortex
(LeDoux et al. 1984)
 Schlussfolgerung: Amygdala erhält
sensorische Information über zwei
Wege
• Von neokortikalen Assoziationsregionen
 emotionale Reaktionen aufgrund
kognitiver Einschätzung
• Von sensorischen Kernen des Thalamus 
affektive Reaktion auf früher Stufe der
Reizverarbeitung („Frühwarnsystem“)
39
© W. W. Norton
Zwei neuronale Wege der Emotionsgenese nach LeDoux
Nach LeDoux (2000; aus: Gazzaniga, Ivry & Mangun (2002).
40
© W. W. Norton
Konflikte zwischen Bewertungs- und Kontrollsytemen
 Basale (emotionale, habituelle) Kontrollsysteme erfüllen nach wie vor
wichtige adaptive Funktionen
• z.B. Furcht
• „Eine Art, die Hunger oder Schmerz einfach unterdrücken könnte, wäre schon
bald ausgelöscht worden" (Minsky, 1990, S.43)
Es ist falsch, dass die Vernunft davon profitiert, ohne
Emotionen zu operieren. Im Gegenteil, Emotionen
unterstützen das Denken, insbesondere wenn es um
persönliche und soziale Angelegenheiten geht“
(Antonio Damasio, 1999)
 Aber  erhöhtes Potential für Konflikte zwischen widerstreitenden
Bewertungen oder inkompatiblen Handlungstendenzen
• „Irrationale“ Ängste
41
• Konflikte zwischen impulsiven (kurzfristigen) Anreizen und langfristigen Zielen
Aktuelle vs. antizipierte Bedürfnisse
 „Die Fähigkeit zum Denken führt also zur Existenz einer spezifischen Form
von Motivation, die auf die Vermeidung oder Herbeiführung von
Umständen gerichtet ist, die einen Mangelzustand, der im Moment noch
gar nicht vorhanden ist, verhindern oder beseitigen sollen“
 „Mit der Fähigkeit zum Denken wird Verhalten schwieriger. Einerseits
bringt Denken die Möglichkeit, Zukunft zu antizipieren, andererseits hat es
die einzelne Verhaltensweise schwerer, sich durchzusetzen“
 Man muß Antizipationsmotivationen besonders “absichern“ gegen
aktuelle Bedürfnisse, damit sie überhaupt eine Chance haben
Dörner, 1987, S. 242

Sofort:
oder
Intertemporale Entscheidungskonflikte
Später…
oder
Warum tun wir nicht immer das was wir wollen?
Intertemporale Entscheidungskonflikte und irrationales Verhalten
JETZT oder SPÄTER?
Intertemporale Entscheidungskonflikte
In 6 Wochen
oder
Sofort
Intertemporale Entscheidungskonflikte
In 1 Woche
+
oder
Sofort
Intertemporale Entscheidungskonflikte
In 2 Jahren +
1 Woche
+
oder
In 2 Jahren
Zeitliche Abwertung zukünftiger Belohnungen bei
pathologischen Spielern und Kontrollprobanden
Subjektiver
Wert
Zeit bis zur Auszahlung einer Belohnung
48
Kräplin, Dshemuchadse, Scherbaum, Goschke and Bühringer (eingereicht)
Mesolimbisches Dopaminsystem und Belohnung
 Dopamin ist von großer Bedeutung für das Lernen von Reiz-BelohnungsAssoziationen und die Vorhersage von Belohnungen
 Entscheidend sind dopaminerge Bahnen vom ventralen Tegmentum zum
Nucleus accumbens (und weiter zum PFC)
49
© 2008 by Worth Publishers
Natürliche und sekundäre Verstärker sowie suchterzeugende Drogen
aktivieren das Belohnungssystem
Rauchen
Alkohol
Kokain
Fruchtsaft
Geldgewinn
Chronischer Drogenkonsum verändert das Gehirn
 Toleranz: mehr von einer Substanz ist nötig, um gleiche Wirkung auszulösen
 Salienz: Anreiz der Droge nimmt zu, während Anreiz natürlicher Verstärker sinkt
 Konditioniertes Verlangen: Orte und Objekte im Kontext des Drogenkonsums werden
mit dem Verhalten assoziiert und lösen starkes Verlangen nach der Droge aus
Brody et al Am J Psychiatry 2004 / Arch Gen Psychiatry 2006; Boileau et al Synapse 2003; Beiter et al., 1997, Neuron; Berns et al.,2001,
J.Neurosc; Knutson et al., 2001, J. Neurosc.
Dopamin: Vom Mögen zum Wollen
 Ursprüngliche Hypothese: Dopamin
vermittelt positive Gefühle, die mit
Belohnungen einhergehen
 Aber: auch nach Zerstörung des
Dopaminsystems zeigen Ratten
Anzeichen des „Mögens“, wenn sie
(belohnende) Nahrung erhalten
 Alternative Hypothese: Dopamin
vermittelt die Motivation, Verhalten
auszuführen, um Belohnung zu erlangen
Berridge & Robinson (1998, 2003
Dissoziation von „Mögen“und „Verlangen“
bei der Drogensucht
 Euphorische Gefühle in
Reaktion auf Drogen
nehmen häufig mit der Zeit
ab, obwohl das Verlangen
(„craving“) zunimmt
 Dopamin vermittelt
vermutlich nicht die
euphorischen Gefühle,
sondern das Verlangen
Multiple Bewertungs- und Kontrollsysteme
 „Pavlov‘sche“ Systeme
• Lernen von Assoziationen zwischen prädiktiven Signalreizen und motivational
relevanten Konsequenzen
• Auslösung angeborener adaptiver Reaktionen durch Signalreize
• Automatische („intuitive“) emotionale Reaktionen
 Gewohnheiten (habits)
• Gradueller Erwerb von relativ fixen, langsam veränderlichen Reiz-ReaktionsAssoziationen
 Zielgerichtete Steuerung
• Lernen von Assoziationen zwischen Reizen, Reaktionen und Konsequenzen
• Kognitive Repräsentation antizipierter Ziele
• Auswahl von Handlungen aufgrund von Erwartungen über den Wert, die Kosten
und die Wahrscheinlichkeit antizipierter Konsequenzen
54




Wie berechnet das Gehirn den Werte von Zielen und Verhaltensoptionen?
Welche Hirnsysteme sind an diesen Bewertungen beteiligt?
Wie interagieren unterschiedliche Bewertungssysteme?
Wie werden Bewertungsaspekte (Kosten, Nutzen) zu einer Entscheidung
integriert?
 Wie werden Konflikte zwischen multiplen Bewertungssystemen oder
Bewertungsaspekten gelöst?
 Welche neurokognitiven Mechanismen liegen selbstkontrollierten
Entscheidungen zugrunde?
Wahrscheinlichkeiten
Optionen
56
Werte
?
Subjektiver Nutzen
Risiko
Präferenzen
Konflikte
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