Kindliches Neuroblastom

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Quelle: Wittmann/SPL/Agentur Focus
Kindliches Neuroblastom
Auf der Suche nach der besten Therapie
Jedes Jahr erkranken in Deutschland etwa 140
Kinder an Neuroblastom, einem Tumor des
sympathischen Nervensystems. Doch bei vielen Kindern im ersten Lebensjahr bildet sich der
Krebs spontan zurück, manchmal bereits nach
wenigen Wochen, manchmal erst nach anderthalb Jahren. Der behandelnde Arzt befindet sich
damit in einem Dilemma: Soll er schnell mit einer Chemotherapie beginnen – oder abwarten,
ob der Tumor von sich aus regrediert? Große
Hoffnungen werden in die Erforschung der genetischen Pathogenese des Neuroblastoms und
in Behandlungsstudien gesetzt. Es zeigt sich,
dass die Genetik ein unverzichtbares Hilfsmittel ist, um die Patienten in Erkrankungsstadien
einzuteilen und daraus die optimale Behandlungsstrategie abzuleiten.
Ein embryonaler Tumor
Beim Neuroblastom handelt es sich um den
häufigsten extrakraniellen soliden Tumor bei
Kindern unter 15 Jahren mit einer jährlichen
Inzidenzrate von 1,3 pro 100 000 Kinder. Das
durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei
zwei Jahren [1], wobei 90 Prozent der Kinder
in den ersten fünf Lebensjahren diagnostiziert
werden [2]. Jungen sind etwas häufiger betroffen als Mädchen. Das Neuroblastom macht
Pädiatrix 9/2008
rund acht Prozent aller Krebsarten im Kindesalter aus und ist für etwa 15 Prozent der Todesfälle durch Krebserkrankungen bei Kindern
verantwortlich [1]. Als ein embryonaler Tumor
besteht er aus undifferenzierten neuroektodermalen Zellen des Neuralrohres, Vorläuferzellen
von Ganglienzellen oder Zellen des Nebennierenmarks [2].
Charakteristischerweise sind die Neuroblasten des Tumors histologisch nicht zu unterscheiden von sich entwickelnden Neuroblasten
im Embryo [2]. Dies ist ein Hinweis darauf, dass
bei diesen Zellen der Differenzierungsschritt
zur reifen Nervenzelle nicht stattgefunden hat.
Genetische Ursachen
Eine Schlüsselrolle spielt beim Neuroblastom
das MYCN-Onkogen, das sowohl an der Steuerung der ungebremsten Zellvermehrung als
auch an der Induktion des Zelltods beteiligt ist.
Das MYCN-Gen, das im Embryo fast ubiquitär
transkribiert, nach der Geburt jedoch normalerweise nicht mehr exprimiert wird, kodiert für
Wachstumsfaktoren. Es ist denkbar, dass die
Überflutung mit diesen Faktoren entscheidend
zur Tumorentstehung beiträgt [2]. Eine hohe
MYCN-Amplifikation, die teilweise bis zu mehrere hundert Genkopien umfasst, findet sich be-
von
Regina Naumann
Neuroblastom
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sonders in Tumorzellen höheren Stadiums. Sie
ist signifikant für aggressives Tumorwachstum
und führt in allen Stadien zu einer schlechteren Prognose (siehe Abbildung 1). An der Tumorentstehung sind offenbar auch Deletionen
an verschiedenen Chromosomen beteiligt. So
wurden beispielsweise Verluste im Bereich des
kurzen Arms an Chromosom 1 (1p36.2-36.3)
nachgewiesen, wodurch Tumorsuppressorgene
verloren zu gehen scheinen [1].
Häufig Zufallsbefund
Das Neuroblastom
hat hohe
Remissionsraten.
Vor allem in den niedrigen Stadien eins bis drei
der Erkrankung (Stadieneinteilung nach International Neuroblastoma Staging System INSS)
werden viele Neuroblastome nur durch Zufall
entdeckt, da sie kaum Beschwerden verursachen. Sie entstehen aus sympathischem Nervengewebe und können deshalb überall dort
auftreten, wo sich sympathisches Gewebe befindet: Nebennieren, zervikaler, thorakaler und
abdominaler Grenzstrang sowie in den Paraganglien. Etwa die Hälfte aller Neuroblastome
hat bei Diagnosestellung bereits Metastasen
entwickelt, die in Lymphknoten, Knochenmark,
Knochen, Leber oder Haut gefunden werden,
seltener im Zentralnervensystem, sehr selten
in der Lunge [3]. Die Beschwerden sind sehr
vielfältig: von unspezifischen Schmerzen, Fieber und Gewichtsverlust vor allem bei bereits
metastasiertem Neuroblastom zu charakteristischen Leitsymptomen, die schon deutliche
Hinweise auf die Erkrankung und den Sitz des
Primärtumors geben können (siehe Kasten).
Zur Diagnose des Neuroblastoms bietet
sich neben bildgebenden Verfahren (Sonogra-
Leitsymptome des Neuroblastoms
– Parese in den unteren Gliedmaßen aufgrund eines paraspinal gelegenen Tumors
– Starke, behandlungsresistente Diarrhöen,
die durch Produktion von vasoaktiven intestinalen Peptiden durch den Tumor hervorgerufen werden
– Bei 15 bis 20 Prozent aller zervikalen Tumore wird ein Horner-Syndrom beobachtet, das durch Befall von zervikalen sympathischen Ganglien entsteht [3].
– Zerebellare Störungen wie schnelle, zufällige Augenbewegungen (Opsoklonus),
zerebellare Ataxie oder myoklonische Reflexe
– Intrathorakale Tumore machen sich durch
Luftnot bemerkbar, abdominelle Tumore
durch Harnabflussstörungen bis hin zur
Hydronephrose. Bei Tumoren des Grenzstranges können neurologische Symptome
bis zum Querschnitt auftreten.
– Störungen durch Übersekretion von Katecholaminen rufen übermäßiges Schwitzen,
Hochdruck oder Hitzewallungen hervor.
fie, Kernspintomografie) die Suche nach Tumormarkern an. Katecholaminmetabolite wie
Homovanillinmandelsäure und Vanillinmandelsäure in Serum und – sensitiver – im Urin
werden bei bis zu 90 Prozent der kleinen Patienten schon in frühen Stadien gefunden [1]. Ein
weiterer wichtiger Tumormarker ist die neuronenspezifische Enolase (NSE).
Abbildung 1:
Stadiumabhängige
Überlebensraten mit
und ohne MYCNAmplifikation bei
1706 Patienten mit
Neuroblastom
Quelle: modifiziert
nach The Lancet Oncology, Vol. 4, August
2003
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Nach der Diagnose „Neuroblastom“ ist das
weitere therapeutische Vorgehen alles andere
als einfach. Bei keinem anderen Tumor liegen
rasantes, zerstörerisches Wachstum und völlige
Remission so nahe beieinander wie beim Neuroblastom. Die Chance auf eine Spontanremission – hauptsächlich bei Kindern unter einem Jahr
– ist beim Neuroblastom zwischen zehn und 100
Mal höher als bei jedem anderen menschlichen
Tumor [2]. Und auch ein dritter Entwicklungsweg ist möglich, wenn auch deutlich seltener
als die Rückbildung: die Reifung von Neuroblastomgewebe in ein gutartiges Ganglioneurom. Allerdings ist die Umbildung in ein Ganglioneurom, wenn sie nach einer Chemotherapie
stattfindet, nur unvollständig [2].
Screening – ja oder nein?
Mit den Metaboliten des Katecholamins und der
neuronenspezifischen Enolase stehen Tumormarker zur Diagnose des Neuroblastoms zur
Verfügung. Es läge nahe, diese für ein Neuroblastom-Screening einzusetzen, um den Tumor
möglichst frühzeitig erkennen und behandeln
zu können. So fanden sich in Gebieten, in denen in den 1990er Jahren Screeningprogramme
durchgeführt wurden, regelmäßig zwei bis drei
Mal höhere Inzidenzen als üblich. Allerdings ist
der Nutzen eines solchen Screenings umstritten. Gerade bei der hohen Remissionsrate bei
Neuroblastom kann man davon ausgehen, dass
viele Tumore unentdeckt verschwinden würden und in diesen Fällen eine Chemotherapie
nach Diagnosestellung ein unnötiges Gesundheitsrisiko darstellt. Zwei Befunde sprechen
dafür, dass in den ersten Lebensmonaten eine
deutliche Regulation stattfindet mit dem Ziel,
Neuroblastomzellen zu eliminieren [4]. Zum
einen besteht die hohe Remissionsrate bei 4SNeuroblastomen (s. u.), zum anderen findet
sich bei Autopsien von Neugeborenen eine
hohe Anzahl von neuroblastischen Zellresten,
die nicht zu unterscheiden sind von Neuroblastomzellen. Prof. Frank Berthold am Zentrum
für Kinderheilkunde und Jugendmedizin der
Universitätsklinik Köln bezieht zum Screening
klar Stellung: „Wir halten davon nichts.“ Der
Grund hierfür liegt auch in den Ergebnissen
der prospektiven Studien (NB95-S und NB97),
in denen Berthold mit seiner Arbeitsgruppe
nachgewiesen hat, dass bei 93 Patienten im AlPädiatrix 9/2008
Neuroblastom
Ein unberechenbarer und rätselhafter
Tumor
ter unter einem Jahr, deren großer Resttumor
nicht operiert worden war, 44 eine Spontanremission erlebten, 28 eine lokale Progression,
sieben eine Progression zu Stadium 4S und vier
eine Progression zu Stadium 4 [4]. Ärzte und
Eltern mussten dabei allerdings zum Teil große
Geduld aufbringen: Die ersten Regressionszeichen waren bei einigen Patienten erst nach 18
Monaten zu sehen. Aus den Studienergebnissen zieht Berthold folgendes Fazit: „Möglichst
wenig therapieren. Bei Patienten im ersten Lebensjahr ohne MYCN-Amplifikation ist auch
im Stadium 3 eine beobachtende Wait-and-seeStrategie gerechtfertigt.“
Abbildung 2:
Neuroblastomzellen
(violett), infiltriert in
Knochenmark
Quelle: Universitätsklinik Köln
Einschätzung des Krankheitsverlaufs
Wird sich das neu diagnostizierte Neuroblastom zurückbilden? Oder wird es aggressiv
wachsen? Für die Therapie wäre es extrem
wichtig, möglichst genaue Vorhersagen oder
zumindest Abschätzungen machen zu können.
Nur so kann bei diesem schwer einschätzbaren
Tumor schnell eine effektive Behandlung begonnen und umgekehrt eine gefährliche Übertherapie verhindert werden. Doch da auch Ärzte bislang kaum die Entwicklung vorhersagen
können, bleiben nur Annäherungen – und das
Bemühen, diese immer weiter zu verbessern.
Drei sehr wichtige Hilfsmittel bei der Einschätzung des Krankheitsverlaufs sind das Krankheitsstadium, das Alter des Patienten und die
genetische Analyse.
Die Einteilung der Stadien erfolgt nach dem
International Neuroblastoma Staging System
(INSS) in die Stadien 1 bis 4 sowie 4S, ein Sonderstadium für Säuglinge unter einem Jahr (siehe Abbildung 1). In den Stadien 1 bis 3 und 4S
sind die Prognosen deutlich besser als im Stadium 4. So liegen die Fünfjahres-Überlebensraten,
die in den Behandlungsstudien NB 79 bis NB 97
erreicht wurden, in den Stadien 1 bis 3 bei 87
(±1) Prozent, im Stadium 4S bei 82 (±3) Prozent
und im Stadium 4 bei 30 (±2) Prozent [5].
Bei Diagnosestellung hat die
Hälfte der Neuroblastome bereits
metastasiert.
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Neuroblastom
Von Gen-Chips die Zukunft ablesen
Aggressive Tumore unterscheiden sich genetisch von benignen, davon sind die Neuroblastomforscher überzeugt. Am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg (DKFZ)
entwickelt die Arbeitsgruppe um Prof. Manfred Schwab deshalb einen Gen-Chip, mit dem
es möglich werden soll, im klinischen Alltag
aggressive Tumoren von denjenigen zu unterscheiden, die einen gutartigen Verlauf nehmen
und regredieren [6]. Die Wissenschaftler ermittelten 144 Gene, deren Aktivität charakteristisch
für den Verlauf der Erkrankung ist. Einige dieser Gene sind eher bei einem bösartigen Neuroblastom aktiv, andere werden in gutartigen
Tumoren stärker abgelesen. Mithilfe eines GenChips können die Wissenschaftler nun Tumorproben auf diese Genaktivitäten hin untersuchen und den weiteren Verlauf der Erkrankung
abschätzen. Der Gentest kann auch Patienten
herausfiltern, die aufgrund der Klinik bisher
nicht behandelt worden wären, obwohl es sich
in Wirklichkeit um eine Tumorerkrankung hanRZ_Medizin09_Anz_Pädiatrix_210x149 16.10.2008 16:45 Uhr Seite 1
delt, die bösartig verläuft und die behandlungsbedürftig ist. Eine rechtzeitige Therapie kann in
diesen Fällen lebensrettend sein. „Wir können
mit einer Genauigkeit von 93 Prozent vorhersagen, wie sich die Krankheit entwickelt. Das ist
mit anderen Methoden nicht möglich“, so Dr.
Frank Westermann vom DKFZ. „Und wenn wir
eines Tages besser verstehen, welche Signalwege kaputt sind, können wir gezielt Reparaturmöglichkeiten entwickeln.“
Literatur
1. Kramps CM: Neue Zielgene des Transkriptionsfaktors
E2F-1 und die transkriptionelle Regulation des MYCN
Onkogens im humanen Neuroblastom. Dissertation.
Philipps-Universität Marburg 2007
2. Schwab M et al.: Neuroblastoma: biology and molecular
and chromosomal pathology. Lancet Oncol. 2003 Aug;
4(8): 472-480
3. AWMF Leitlinien Nr. 025/008: Neuroblastom
4. Hero B et al.: Localized infant neuroblastomas often
show spontaneous regression: results of the prospective
trials NB95-S and NB97. J Clin Oncol. 2008 Mar 20; 26(9):
1504-1510
5. Berthold F: Neuroblastom. In: Seeber S, Schütte J: Therapiekonzepte Onkologie. (4.Auflage) Springer-Verlag
GmbH, Heidelberg 2003
6. Oberthuer A et al.: Customized oligonucleotide microarray gene expression-based classification of neuroblastoma patients outperforms current clinical risk stratification. J Clin Oncol. 2006 Nov 1; 24(31): 5070-5078
Auszug aus dem Kongressprogramm MEDIZIN 2009:
Akupunktur-Einführungskurs
Fit für den Notfall
Cardiopulmonale Reanimation
einschließlich Defibrillation
Arzneimittelwechselwirkungen
Die genetische Suszeptibilität als Ursache individ. Toleranz von Pharmaka und Xenobiotika
Fußgesundheit – Prävention und Therapie
Urologie „Aktuell“
Update Allergie bei Kindern und Jugendlichen
Hämatologische Probleme in der Praxis
Differentialdiagnose Beinschmerzen
Prävention in der Medizin
Update Kardiologie
Update Neurologie
MESSE STUTTGART | 30.01. – 01. 02.2009
www.medizin-stuttgart.de
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