Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff TU Bergakademie Freiberg Institut für Stochastik 30. November 2016 Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 1 4.3.5 Kontrollkarten I Ziel ist die laufende Kontrolle der Produktion. I In regelmäßigen Abständen werden kleine Stichproben entnommen, aufgrund derer entschieden wird, ob die Fertigung wie gewünscht verläuft oder ob Störungen aufgetreten sind, die ein Eingreifen in den Produktionsprozess erforderlich machen. I Hilfsmittel zur Entscheidung: Kontrollkarten (engl.: ”control charts”), auch Qualitätsregelkarten oder Regelkarten. I Auf den Kontrollkarten werden statistische Stichprobenkennwerte (z.B. Stichprobenmittelwert und Stichprobenstandardabweichung eines Werkstückmaßes) grafisch dargestellt. I Meist werden auch Warn- und Eingriffsgrenzen auf den Kontrollkarten eingezeichnet. I Grundlage ist ein statistischer Test, der für die Praxis aufbereitet ist und eine laufende Überwachung der Produktion gestattet, da er direkt in den Fertigungsprozess eingeschaltet ist. Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 2 Mittelwertkarte (x−Karte) I Erklärung der Vorgehensweise am Beispiel der Mittelwertkarte (x−Karte). I Das Merkmal X sei normalverteilt, X ∼ N(µ, σ 2 ) , die Varianz σ 2 wird (vorerst) als bekannt angesehen. I Gegeben sei ein Sollwert a für den Erwartungswert µ = EX . I Zu Zeitpunkten tj , j = 1, 2, . . . (meist gleichmäßig verteilt) werden die letzten n von der Maschine gefertigten Erzeugnisse entnommen und die Werte des Merkmals gemessen, so erhält man (j) (j) die konkreten Stichproben x1 , . . . , xn . I Für jede dieser Stichproben wird der Signifikanztest mit H0 : µ = a gegen HA : µ 6= a durchgeführt. Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 3 Mittelwertkarte (x−Karte) I Dabei wird H0 nicht abgelehnt, falls gilt σ σ Ku := a − z1− α2 √ < x (j) < a + z1− α2 √ =: Ko . n n I Hier ist x (j) der Mittelwert der Stichprobe vom Umfang n zum Zeitpunkt tj , j = 1, 2, . . . und α ein vorgegebenes Signifikanzniveau. I Die Grenzen Ku und Ko werden untere bzw. obere Kontrollgrenze genannt. I In Europa wird üblicherweise α = 0.01 gewählt, dies führt auf z1− α2 = 2.576 . I In Amerika wird üblicherweise α = 0.0027 gewählt, dies führt auf z1− α2 = 3 . Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 4 Grafische Darstellung Die Kontrollkarte besteht in der Regel aus folgender grafischer Darstellung: I die Stichprobenmittelwerte x (j) werden im Zeitverlauf eingetragen; I zusätzlich wird die Mittellinie (eine waagerechte Gerade in Höhe des Sollwertes a) angegeben; I außerdem werden die Kontrollgrenzen (waagerechte Linien in Höhe von Ku bzw. Ko ) eingezeichnet. I Da bei geeigneter Wahl von α ein Überschreiten dieser Grenzen zum Eingriff in den Prozess führt, heißen sie auch Eingriffsgrenzen und werden mit UEG (untere Eingriffsgrenze, engl.: ”LCL”) bzw. OEG (obere Eingriffsgrenze, engl.: ”UCL”) bezeichnet. Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 5 Beispiel I Die Merkmalsgröße X sei normalverteilt mit Standardabweichung σ = 3.21 , der Sollwert betrage a = 9.49 . I Der Stichprobenumfang für tj , j = 1, . . . , 9 , betrage 5. I √ = 5.79 ; Ku = 9.49 − 2.576 · 3.21 5 Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff √ = 13.19. Ko = 9.49 + 2.576 · 3.21 5 Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 6 Das Prüfverfahren I Solange sich der Wert x (j) innerhalb des durch die Kontrollgrenzen Ku und Ko festgelegten Bereiches befindet, heißt der Prozess stabil oder in statistischer Kontrolle oder beherrscht (engl.: ”process in control”). I Liegt der Punkt jedoch oberhalb von Ko oder unterhalb von Ku , ist der Prozess außer Kontrolle, dies ist ein Signal zur Unterbrechung des Produktionsprozesses und zur Überprüfung der Maschine (Einstellungen, Verschleißteile, etc.). I Mitunter werden noch für einen Wert α = 0.05 (z0.975 = 1.96) und obige Formeln für die Grenzen die entsprechende untere bzw. obere Warngrenze mit in das Diagramm eingetragen. Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 7 Mögliche Fehlentscheidungen I I Es erfolgt ein Eingriff in den Produktionsprozess, da die Kontrollgrenzen überschritten werden, obwohl der Prozess ungestört verläuft ( blinder Alarm“). ” Die Wahrscheinlichkeit für diesen Fehler 1. Art H0 wird abgelehnt, obwohl H0 richtig ist ist durch die Irrtumswahrscheinlichkeit α des Tests festgelegt. I I Es erfolgt kein Eingriff, da die Kontrollgrenzen nicht überschritten werden, obwohl der Prozess gestört ist ( unterlassener Alarm“). ” Die Wahrscheinlichkeit für diesen Fehler 2. Art H0 wird nicht abgelehnt, obwohl H0 falsch ist hängt von dem tatsächlichen Erwartungswert µ (6= a) des Merkmals X ab. Sie kann durch die Gütefunktion charakterisiert werden. Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 8 Eingriffskennlinie I Die Gütefunktion gibt die Wahrscheinlichkeit (in Abhängigkeit vom tatsächlichen Erwartungswert µ ) an, mit der H0 durch den Test abgelehnt wird. I Sie wird hier Eingriffskennlinie genannt, da eingegriffen wird, falls H0 abgelehnt wird. I Bezeichnung: g (µ) = g1 (δ) , µ−a die Abweichung des gestörten vom ungestörten σ Prozess (in Einheiten von σ ) zum Ausdruck bringt. wobei δ = Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 9 Eingriffskennlinie für den betrachteten Test Wenn µ der tatsächliche Erwartungswert von X ist, so gilt √ σ2 n X ∼ N µ, X − µ ∼ N(0, 1) . ⇒ Z := n σ ⇒ I g (µ) = Pµ (H0 wird abgelehnt) σ σ α α = 1 − Pµ a − z1− 2 √ < X < a + z1− 2 √ n n √ √ n σ n = 1 − Pµ a − z1− α2 √ − µ < X −µ σ σ n √ n σ < a + z1− α2 √ − µ σ n √ √ = 1 − P −z1− α2 − δ n < Z < z1− α2 − δ n √ √ = Φ δ n − z1− α2 + Φ −δ n − z1− α2 =: g1 (δ) . Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 10 Grafik Eingriffskennlinie für betrachteten Test I Eingriffskennlinie für den betrachteten Test mit n = 5 (rot) und n = 20 (blau): I Wahrscheinlichkeit des Eingriffs g (µ) bei α = 0.01 : µ |δ| n=5 n = 20 Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff a 0 0.01 0.01 a±σ 1 0.367 0.971 a ± 2σ 2 0.971 1.000 Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 a ± 3σ 3 1.000 1.000 Version: 23. November 2016 11 Lauflänge I Als Lauflänge N bezeichnet man die (zufällige) Anzahl der Kontrollen bis zum ersten Eingriff. I p = g (µ) = g1 (δ) ist die Wahrscheinlichkeit eines Eingriffs für einen festen Zeitpunkt. I Unter der Annahme, dass sich µ im Verlauf der Produktion nicht verändert, ist die Zufallsgröße N geometrisch verteilt: Pµ (N = k) = (1 − p)k−1 p , k = 1, 2, 3, . . . . I Die mittlere Lauflänge (”ARL”, ”Average Run Length”) ist somit 1 1 1 = . Eµ N = = p g (µ) g1 (δ) I Ungestörter Fertigungsprozess (d.h. µ = a ) ⇒ Eµ N = 1 1 = g (a) α (für α = 0.01 erfolgt im Mittel nach 100 Stichproben ein blinder Alarm). Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 12 Der Fall geschätzter Parameter I In der Praxis sind oft die Parameter µ = a und σ der normalverteilten Grundgesamtheit unbekannt, sie müssen geschätzt werden (aus den Daten einer Stichprobe, die Vorlauf genannt wird, mit mindestens 100 bis 150 Teilen der laufenden Produktion). I Bei einem geplanten Stichprobenumfang von z.B. n = 5 für die Kontrollkarte sollten also k = 20 (bis k = 30) Untergruppen von je 5 Erzeugnissen untersucht werden, die entsprechenden Werte (j) seien wieder xi . I Der Erwartungs- oder Sollwert a kann durch den arithmetischen Mittelwert geschätzt werden: µ̂ = k n k 1 X X (j) 1 X (j) x xi = k ·n k j=1 i=1 mit x (j) = Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff n 1X n j=1 (j) xi , j = 1, . . . , k (Mittelwert der Untergruppe). i=1 Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 13 Schätzung der Standardabweichungen I Bei der Schätzung der Standardabweichung σ ist zu beachten, dass 2 S 2 eine √ erwartungstreue Schätzung für die Varianz σ , jedoch Schätzung für die S = S 2 keine erwartungstreue √ Standardabweichung σ = σ 2 (und die Stichprobenzahl n üblicherweise hier nicht groß) ist. I Genauer gilt bei einem Stichprobenumfang von n die Beziehung r Γ n2 2 . · ES = an σ mit an = n − 1 Γ n−1 2 Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 14 Schätzung der Standardabweichungen 3 Möglichkeiten zur Schätzung der Standardabweichung sind: 1. die direkte Schätzung aus allen m = k · n Beobachtungswerten (j) xi , i = 1, . . . , n, j = 1, . . . , k , v u k X n 2 u 1 X (j) sm = t xi − µ̂ , m−1 j=1 i=1 es gilt ESm = am σ mit z.B. a100 = 0.9975 ; 2. die Schätzung durch das arithmetische Mittel s der empirischen Standardabweichungen der k Untergruppen vom Umfang n , es gilt ES = an σ mit z.B. a5 = 0.940 , um eine erwartungstreue Schätzung zu erhalten verwendet man den korrigierten Wert s ∗ = s/an ; 3. eine Schätzung auf Basis der empirischen Spannweiten der k Untergruppen. Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 15 Schätzung der Parameter im Beispiel I Wir schätzen die Parameter in einem Beispiel mit Hilfe von Statgraphics (Daten stammen aus Storm, Abschnitt 21.2, Beispiel 21-2). I In Statgraphics muss man dazu unter (in englischer/deutscher Version): SPC → Control Charts → Basic Variables Charts → X-bar and S Charts / SPC → Regelkarten → Klassische Regelkarten für messbare Regelkarten → x-quer/S-Karten im Fenster X-bar and S Chart Options / x-quer/S-Karte: Optionen den Punkt Initial Study / Vorlaufuntersuchung aktivieren. Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 16 Schätzung der Parameter im Beispiel I Statgraphics schätzt bei x-quer/S-Karte die Standardabweichung nach Methode 2 und bei x-quer/R-Karte nach Methode 3 (jeweils Prozess-sigma). I Im Beispiel erhält man x = 9.25 und s ∗ = 3.16 . I Mittelwertkarte für den Vorlauf Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 17 Schätzung der Parameter im Beispiel I Normalerweise müsste man mit Hilfe statistischer Tests prüfen, ob der Vorlauf tatsächlich störungsfrei läuft, z.B. durch I I I Test auf Normalverteiltheit der Stichproben mit den geschätzten Parametern (z.B. Shapiro-Wilk-Test); Test auf Gleichheit der k Varianzen (z.B. Bartlett-Test); Test auf Gleichheit der k Mittelwerte (Varianzanalyse, F-Test). I In der Praxis häufig anderes Vorgehen: Streichen der Stichproben, die außerhalb der Kontrollgrenzen liegen. I Im Beispiel erhält man x korr = 9.49 und s ∗korr = 3.21 . I Mittelwertkarte für den korrigierten Vorlauf Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 18 Weitere Arten von Kontrollkarten I Behandelt wurde bisher ein Beispiel einer Kontrollkarte ohne Gedächtnis, bei der eine Entscheidung über einen Eingriff nur aufgrund des Befundes der aktuellen Stichprobe getroffen wird. I Derartige Kontrollkarten wurden 1931 von W.A.Shewhart (1891-1967) eingeführt, sie werden auch Shewhart- oder klassische Kontrollkarten genannt. I Wichtige Arten der Kontrollkarten für die messende Prüfung (Variablenprüfung) zur Überwachung der Fertigungslage sind I I I I I die die die die Mittelwertkarte (x−Karte); Einzelwertkarte; Mediankarte (x̃−Karte); Urwertkarte (Extremwertkarte). Wichtige Arten zur Überwachung der Fertigungsstreuung sind I I die Standardabweichungskarte (s−Karte); die Spannweitenkarte (R−Karte). Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 19 Kombinierte Kontrollkarten und Kontrollkarten für die Attributprüfung I Wichtige Arten von kombinierten oder zweispurigen Kontrollkarten zur Überwachung der Lage und der Streuung gleichzeitig sind I I I Bei den Kontrollkarten für die zählende Prüfung (Attributprüfung) unterscheidet man im Wesentlichen I I I I die x/s−Karte; die x̃/R−Karte. die p−Karte (p ist der Ausschussprozentsatz im Posten); die x−Karte (x ist die Anzahl der Fehler in der Stichprobe); die u−Karte (u ist die Anzahl der Fehler je Erzeugniseinheit). Dabei kann gegebenfalls eine Erzeugniseinheit auch mehrere Fehler aufweisen, die z.B. durch unterschiedliche Merkmale definiert werden. Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 20 Kontrollkarten mit Gedächtnis I Weiterhin gibt es Kontrollkarten mit Gedächtnis, bei denen eine Entscheidung über einen Eingriff auch aufgrund der Ergebnisse vergangener Stichproben getroffen wird. I Diese verwenden mehr Informationen über den Prozessverlauf und können somit Störungen schneller aufdecken als klassische Kontrollkarten. I Wichtige Formen solcher Kontrollkarten mit Gedächtnis sind I I I die MOSUM-Karte (”Moving Sum Chart”), eine Regelkarte für einen gleitenden Mittelwert (mit einer endlichen Anzahl identischer Gewichte); die EWMA-Karte (”Exponentially Weighted Moving Average Sum Chart”), eine Regelkarte für einen gleitenden Mittelwert mit exponentiell abklingenden Gewichten; die CUSUM-Karte (”Cumulative Sum Chart”), hier erfolgt eine Auswertung mit Hilfe der kumulierten Summen der Abweichungen aller zurückliegender Stichprobenmittelwerte vom Sollwert a . Prof. Dr. Hans-Jörg Starkloff Statistik II für Betriebswirte Vorlesung 6 Version: 23. November 2016 21