entlassen und zum Militär eingezogen. Kurze Zeit später starb er (Vgl. H. Herberts: Zur Geschichte, S. 159). 31 Vgl. Knies: Arbeiterbewegung , S. 86. 32 Vgl. Miller: Burgfrieden, S. 167. 33 Vgl. Knies: Arbeiterbewegung, S. 87 Die Mitgliederzahlen werden dort mit 2575 (Sommer 1917) USPD gegen 739 (Frühjahr 1918) SPD angegeben. Zum Problem vgl. auch Jürgen Reulecke: Der erste Weltkrieg, S. 223 ff. Michael Okroy „… kann nicht bezweifelt werden, daß er beim Aufbau eines freien Deutschlands seine Kraft einsetzen wird.“ NS-Täter aus Wuppertal: Auf Umwegen zurück in die ,Normalität‘.1 Ausgangspunkt der Recherchen über NSTäter, deren Biographie mit Wuppertal und der bergischen Region eng verbunden ist, war ein Ausstellungsprojekt der Begegnungsstätte Alte Synagoge zur Geschichte der Juden im Bergischen Land. Diese Wanderausstellung mit dem Titel „Hier wohnte Frau Antonie Giese“ wurde im November 1996 erstmalig in Wuppertal gezeigt und war seitdem an elf Orten im Bergischen zu sehen. In diese Ausstellung ist als eine Art Nebenthema die Biographie eines NS-Täters integriert: die des früheren Solinger Architekten und SS-Standartenführers Paul Blobel. Blobel, der an der Kgl. Baugewerkschule Barmen-Elberfeld am Haspel studiert hatte und dessen SS-Laufbahn im bergischen Städtedreieck begann, führte von Juni 1941 bis Januar 1942 ein Einsatzkommando der Sicherheitspolizei und des SD, das für die Ermordung von rund 60.000 ukrainischen Juden verantwortlich war. Ab Mitte 1942 organisierte und beaufsichtigte Blobel dann die Enterdungs- und Leichenverbrennungskommandos, die die von den Einsatzgruppen hinterlassenen Massengräber im Osten beseitigen sollten und deren Tätigkeit die letzte und zugleich abgründigste Variante der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik darstellte.2 Diese in das Hauptthema der Ausstellung eingeflochtene und chronologisch entwickelte Täterbiographie verfolgte das Ziel, die abstrakte Dimension des millionenfachen Juden- mords über eine unmittelbare Konfrontation mit einem aus unserer Region stammenden Täter ,begreiflicher‘ zu machen und den Ausstellungsbesuchern näher zu rücken. Einerseits sollte damit deutlich werden, daß die zahlreichen Mordaktionen an Juden und nichtjüdischen Zivilisten in den besetzten Ostgebieten nicht von gesichtslosen und anonymen Täterkollektiven wie z.B. SS oder Gestapo, sondern von konkreten Individuen ausgeführt wurden: Paul Blobel (1894–1951), 1935 chiv Berlin) (Bundesar- 105 Von Menschen aus der Mitte der deutschen Gesellschaft, Nachbarn oft, mit einer Lebensgeschichte, die jenseits ihres vom Mord an wehrlosen Männern, Frauen und Kindern geprägten Alltags lag. Zum anderen sollte eine dichte Beschreibung der von Blobel und seinen Männern begangenen Verbrechen die historischzeitliche und räumliche Distanz zu einem fernab, „irgendwo im Osten“ ablaufenden Geschehen verringern und darüber hinaus andere, weniger bekannte Tat-Orte in den Blickpunkt rücken. 3 Der Ausstellungskonzeption lag der Gedanke zugrunde, daß mit der Erinnerung an die Opfer und Überlebenden der Shoa zugleich Fragen nach den Tätern gestellt werden müssen: Nach deren Herkunft, ihren Motiven und nicht zuletzt nach den mentalen und gesellschaftlichen Bedingungen, die es möglich machten, daß sich „ganz normale“ Deutsche in Mörder und Mordgehilfen verwandelten. Fragen aber auch danach, was mit ihnen nach 1945 geschehen und wie die deutsche Nachkriegsgesellschaft mit ihnen umgegangen ist. Paul Blobel wurde nach dem Krieg von den Alliierten im Nürnberger Einsatzgruppenprozeß angeklagt, zum Tode verurteilt und 1951 in Landsberg hingerichtet. Neben Blobel gab es aber noch eine ganze Reihe anderer Personen aus unserer Region, die im Rahmen des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms – sei es bei der logistischen Vorbereitung oder der praktischen Umsetzung – eine verantwortliche und aktive Rolle gespielt haben. Von den Bekannteren seien hier nur genannt: Adolf Eichmann aus Solingen, der frühere Gauleiter und Reichskommissar für die Ukraine Erich Koch aus Elberfeld, die beiden in AuschwitzBirkenau tätigen SS-Ärzte Dr. Heinz Thilo und Prof. Carl Clauberg sowie Julius Dorpmüller, als Chef der Deutschen Reichsbahn mitverantwortlich für die Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager. Hinzu kommen alle diejenigen, die gleichsam am unteren Ende der Befehlskette, z.B. als Angehörige der KZWachmannschaften, Polizeieinheiten oder Leichenverbrennungskommandos, in das Mordgeschehen einbezogen waren – häufig aus eigener Initiative und sogar ohne ausdrücklichen 106 Julius Dorpmüller (1869-1945), ca. 1935 (Sammlung Kurt Schnöring) Befehl.4 Viele von ihnen kehrten nach 1945 unbehelligt von Strafverfolgung in unsere Region zurück. Erst lange nach Kriegsende mußten sich einige, zum Teil hier in Wuppertal, vor Gericht für ihre Verbrechen verantworten.5 Für den vorliegenden Beitrag habe ich aus einem insgesamt überraschend großen Personenkreis drei Täter aus Wuppertal ausgewählt, da diese im Hinblick auf Biographie und Werdegang einige interessante Gemeinsamkeiten aufweisen und das populäre Klischee des typischen NS-Verbrechers als eines dumpfen Befehlsempfängers oder sadistischen Exzeßtäters widerlegen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr solche Personen, die in der SS, im Reichssicherheitshauptamt oder bei Sicherheitspolizei und Einsatzgruppen leitende Funktionen innehatten und die im Rahmen von Deportationsund Vernichtungsmaßnahmen über ein hohes Maß an Verantwortung und über individuelle Entscheidungsspielräume verfügten. I. „Vergangenheitspolitik“ in der jungen Bundesrepublik … Vorab soll ein kurzer Rückblick auf die Gründungsphase der Bundesrepublik zeigen, wie Politik und Gesellschaft seinerzeit mit dem Erbe der NS-Verbrechen und mit den Tätern umgegangen sind. Der Bochumer Historiker Norbert Frei hat dieses insgesamt recht deprimierende Kapitel bundesrepublikanischer Geschichte 1996 in seiner vorzüglichen Studie „Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit“ kritisch unter die Lupe genommen und kommentiert. Sein Befund dieser ersten Phase bundesdeutscher „Vergangenheitsbewältigung“ ist ebenso knapp wie treffend: Mitte der fünfziger Jahre […] hatte sich aufgrund einer ebenso bedenkenlosen wie populären Vergangenheitspolitik ein öffentliches Bewußtsein durchgesetzt, das die Verantwortung für die Schandtaten des „Dritten Reiches“ allein Hitler und einer kleinen Clique von „Hauptkriegsverbrechern“ zuschrieb, während es den Deutschen in ihrer Gesamtheit den Status von politisch „Verführten“ zubilligte, die der Krieg und seine Folgen schließlich selbst zu „Opfern“ gemacht hatte.6 Herangereift war dieses auf Schuldabwehr und kollektive Entlastung zielende Bewußtsein allerdings schon, bevor die ersten vergangenheitspolitischen Weichenstellungen der Adenauer-Regierung vorgenommen wurden und dann als Gesetze zumeist einstimmig den Bundestag passierten. Bereits 1946/47 hatte es von deutscher Seite – und hier vor allem von den beiden Kirchen – Ansätze gegeben, das von den Alliierten angeordnete Entnazifizierungsprogramm und die damit verbundenen Maßnahmen zur Ausschaltung und Strafverfolgung von NS-Eliten als falsch und schädlich zu kritisieren und deren schleunigste Beendigung zu fordern.7 Dieses Programm, das zunächst durchaus erfolgreich angelaufen war, verfügte über unterschiedlichste Formen von Sanktionen: automatischer Arrest für Angehörige von SS, SD und Gestapo, Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, Internierungslager, Spruchkammern, zivile und militärische Strafpro- zesse. Der zuerst von den Besatzungsbehörden selbst durchgeführte und dann sukzessive den Deutschen übertragene Versuch, alle NS-Belasteten zu überprüfen und notfalls zu bestrafen, war jedoch angesichts der schieren Überforderung der zuständigen Instanzen kaum zu realisieren. Das Ergebnis waren vielfach recht zweifelhafte und widersprüchliche Entscheidungen: Während aus pragmatischen Gründen oft die „leichteren“ Fälle erledigt und häufig scharf geahndet wurden, kamen die zurückgestellten Fälle der Schwer- und Schwerstbelasteten entweder nicht mehr zur Verhandlung oder wurden mit lächerlich niedrigen Einstufungen versehen.8 Dazu später ein besonders eklatantes Beispiel eines NS-Verbrechers aus Wuppertal. Die zweifellos unbefriedigende Praxis der alliierten Säuberungen diente vielen Deutschen als willkommener Anlaß, die Verfehltheit des gesamten Entnazifizierungsprogramms anzuprangern. Die Kritik daran gipfelte etwa in dem abstrusen Vorwurf, Internierung, Spruchkammern und Entnazifizierung seien nichts anderes als eine „grausame Verfolgung, die selbst naziähnliche Methoden anwende, indem sie Menschen den Prozeß mache und sie in ,Konzentrationslagern‘ gefangenhalte.“9 Mit der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 erreichte diese von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragene Ablehnung der Entnazifizierungspolitik eine neue Stufe und weitete sich sogar auf den Bereich der juristischen Strafverfolgung von NS-Verbrechern aus. Prominente Unterstützung fanden diese Kampagnen u.a. durch den Kölner Kardinal Frings und den evangelischen Bischof und Bekenntnistheologen Otto Dibelius. Bereits unmittelbar nach Eröffnung des ersten Bundestages im Herbst 1949 verabschiedete das neue Parlament als eines der ersten Gesetze der Bundesrepublik einstimmig das sogenannte 1. Straffreiheitsgesetz.10 Es sah die Amnestierung aller vor dem 15. September 1949 begangenen Straftaten vor, die mit Gefängnis bis zu sechs Monaten geahndet werden konnten. Zwar waren davon in der Mehrzahl nichtpolitische Delikte aus der Schwarzmarktzeit betroffen; das Amnestiegesetz begünstigte 107 ausdrücklich aber auch die sogenannten „Illegalen“, die sich nach 1945 durch Annahme einer falschen Identität der Internierung und Entnazifizierung entzogen hatten. Nach heutigen Erkenntnissen befanden sich darunter Zehntausende, zum Teil schwerbelastete NS-Täter. Ein weiteres vergangenheitspolitisches Signal mit weitreichenden Folgen setzte das im April 1951 im Bundestag einstimmig verabschiedete sogenannte „131er Gesetz“. Durch den Grundgesetzartikel 131 wurde nahezu allen Beamten, die nach 1945 von den Alliierten aus politischen Gründen aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden waren, nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar das Recht verliehen, in ihre einstigen Positionen zurückzukehren. Die Folge war, daß auch das Gros der ehemaligen Gestapo-Beamten ihren alten Status zurückerhielt und diesen notfalls einklagen konnte. Von dieser großzügigen Regelung profitierten auch zahlreiche Angehörige der Schutz- und Ordnungspolizei, die, wie wir seit längerem wissen, nicht nur die Deportationstransporte in die Ghettos und Vernichtungszentren begleitet hat, sondern selbst aktiv und oft aus eigener Initiative Judenmordaktionen durchführte. Ein Beispiel dazu aus unserer Stadt: 1968 wurde der damalige Wuppertaler Hauptkommissar Rolf-Joachim Buchs wegen seiner Mitwirkung an der Ermordung von mehr als 1000 Juden in der Stadt Bialystok zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Buchs und noch einige andere der im Wuppertaler Bialystok-Prozeß Angeklagten – insgesamt waren es 14 Personen – gehörten als Offiziere dem Bataillon 309 der Ordnungspolizei an. Mit Hilfe des „131-Gesetzes“ wurden einige dieser Männer wieder in den öffentlichen Dienst übernommen und hatten so ungehindert ihre Laufbahn bei der Polizei fortsetzen können. Rolf-Joachim Buchs avancierte vom Polizeichef in Solingen zum Führer einer Hundertschaft der Wuppertaler Bereitschaftspolizei und anschließend zum Fachlehrer und Lehrgangsleiter an den Polizeiausbildungsschulen in Düsseldorf und Bork. Die bevorstehende Beförderung zum Polizeirat kam dann allerdings im Zuge der gegen ihn geführten Ermittlungen nicht mehr zustande.11 108 Durch das sog. 2. Straffreiheitsgesetz von 1954 erhielt das inzwischen immer selbstbewußter auftretende und populäre SchlußstrichDenken eine weitere Gesetzeslegitimität. Dieses Gesetz sah die Amnestierung nun auch derjenigen Täter vor, deren Tötungsverbrechen in der Endphase des „Dritten Reichs“ verübt wurden und die bei Anklage eine Strafe von bis zu drei Jahren zu erwarten hatten. Infolge dieses Gesetzes sank im Jahr 1954 die Zahl der neu eingeleiteten Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen auf ein Rekordtief: Auf knapp 200 gegenüber noch rund 2500 im Jahr 1950. Diesen dramatischen Rückgang hatte aber noch ein anderer Faktor entscheidend mitverursacht. Denn nicht nur der Justizapparat selbst, auch die Polizei war in hohem Maße mit ehemaligen Nationalsozialisten kontaminiert. Dazu ein Beispiel aus Nordrhein-Westfalen: Gegen Mitte der 50er Jahre waren von den 33 leitenden Stellen der Kriminalpolizei in NRW mehr als 20 von ehemaligen SS-Sturmbann- und Obersturmbannführern, also höheren SS-Offiziersrängen, besetzt.12 Kein Wunder also, daß bei der Ermittlung und Strafverfolgung von NS-Verbrechern kein sonderlich großer Ehrgeiz entwickelt und diese auch des öfteren vorsätzlich behindert oder verzögert wurde. Einen besonders deprimierenden Akzent im Hinblick auf den Umgang mit NS-Tätern setzten zu Beginn der 50er Jahre die von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragenen Bemühungen um die Freilassung der von den Alliierten verurteilten Kriegsverbrecher. Diese firmierten in der deutschen Öffentlichkeit in der Regel unter verharmlosenden Begriffen wie „Kriegsverurteilte“ oder „Internierte“. Zu diesem Personenkreis zählten etwa die in den Nürnberger Nachfolgeprozessen verurteilten Spitzenbeamten des Reichsaußenministeriums, führende Industrielle und Industriemanager, Mediziner, hohe Wehrmachtsoffiziere, aber auch zahlreiche Kommandeure der Einsatzgruppen- und -kommandos, die für millionenfachen Massenmord verantwortlich waren. Einflußreiche Exponenten dieser auf eine Generalamnestie hinwirkenden Kampagne waren der Essener Rechtsanwalt und F.D.P.-Land- tagsabgeordnete Ernst Achenbach und dessen enger Mitarbeiter Dr. Werner Best, der bis 1940 Heydrichs Stellvertreter im Reichssicherheitshauptamt war.13 Anfang der 50er Jahre fungierte Best dann als Rechtsberater der nordrhein-westfälischen F.D.P. – nachgerade ein Sammelbecken ehemaliger NS-Eliten – und wechselte anschließend als Justitiar zum Stinnes-Konzern nach Mühlheim. Dort war Best bis 1972 tätig. Aber auch führende Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche arbeiteten zielstrebig und erfolgreich auf die Freilassung der in Landsberg, Werl und Wittlich einsitzenden NS-Verbrecher hin und übten gemeinsam mit hochrangigen Politikern massiven Druck auf die Alliierten aus. Mit Erfolg: Bereits Ende der 50er Jahre saß von den ursprünglich zum Tode oder zu lebenslanger oder langjähriger Haft verurteilten insgesamt 24 Einsatzgruppenkommandeuren niemand mehr hinter Gittern.14 Lediglich die Todesurteile der vier sogenannten „Landsberger Rotjacken“, darunter Paul Blobel, wurden 1951 unter großem öffentlichen Protest vollstreckt. Selbst vor Blobel, einem der fraglos ruchlosesten Massenmörder, machten diese Mitleids- und Begnadigungskampagnen nicht halt. Ein Kommentar in der „Rheinischen Post“ vom Februar 1951 bringt die damalige Stimmung auf den Punkt, denn er formulierte offen, was seinerzeit wohl viele dachten: Seit mehr als fünf Jahren warten die Verurteilten in der Festung Landsberg in ständiger Furcht, ob sie den kommenden Tag noch erleben, auf ihr Schicksal […] auch der Solinger Paul Blobel. Die Schuld Blobels ist ohne Zweifel ungeheuerlich – ebenso wahr ist aber auch die Tatsache, daß ein Mensch, der fünf Jahre in der bangen Ungewißheit ,Leben oder Tod‘ sein Dasein […] fristet, einen Teil dieser Schuld weitgehend abgetragen hat.15 … und im Wuppertal der 50er und 60er Jahre Immer wieder kamen derartige Sympathiebekundungen und Initiativen zugunsten von NS-Tätern auch aus Wuppertal. Dazu zählen etwa die Aktivitäten des 1951 gegründeten und als gemeinnützig eingetragenen Vereins mit dem harmlos klingenden Namen „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“. In ihm waren neben ehemaligen aktiven Nationalsozialisten und Angehörigen der Waffen-SS auch zahlreiche evangelische und katholische Geistliche aktiv tätig.16 Die Tatsache, daß der angesehene Arzt, Theologe und Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer Ehrenpräsident der „Stillen Hilfe“ war, läßt auf die breite gesellschaftliche Akzeptanz und vermeintliche moralische Dignität dieses Vereins schließen. Anfang der 60er Jahre hatten dessen Vorstand und Geschäftsführung für längere Zeit ihren Sitz in Wuppertal (Lothringerstr. 43) und verschickten von dort aus ihren Rundbrief an Freunde und Symphatisanten. Seit Sommer 1994 ist die „Stille Hilfe“ erneut unter einer Wuppertaler Adresse eingetragen. Der Verein, an dessen Spitze heute die Tochter Heinrich Himmlers steht, sorgte erst kürzlich wieder für Schlagzeilen, als bekannt wurde, daß eine Wuppertalerin seit Jahren die Betreuung der aus lebenslanger Haft vorzeitig entlassenen KZ-Aufseherin Hermine Braunsteiner-Ryan übernommen hatte.17 Breite Resonanz fand auch ein 1952 im katholischen Wuppertaler Abendland-Verlag erschienenes Buch mit dem Titel: „Landsberg. Henker des Rechts?“ Darin wurden nicht nur die Kriegsverbrechen zweier zum Tode verurteilter Marineoffiziere aus Wuppertal in skandalöser Weise bagatellisiert; der Autor dieser Publikation, K. W. Hammerstein, verunglimpfte auch die alliierten Strafverfahren gegen NS-Verbrecher pauschal als unrechtmäßig und stilisierte die Verurteilten zu Märtyrern und zu Opfern der sog. alliierten „Siegerjustiz“. Das Vorwort zu diesem Buch schrieb bezeichnenderweise der Jurist Dr. Rudolf Aschenauer, der im Nürnberger Einsatzgruppenprozeß den SS-Führer Otto Ohlendorf verteidigt hatte. Ohlendorf war wegen seiner Verantwortung für die Ermordung von mehr als 90.000 Juden zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Von ganz anderen, mehr an theologischethischen Paradigmen der Vergebung orientier- 109 Die Angeklagten im Nürnberger Einsatzgruppenprozeß 1947/48. Paul Blobel (mit Vollbart): 1. Reihe, 5. Person von rechts. (Ullstein Bilderdienst) ten Motiven geprägt waren dagegen die Bemühungen von Professor Hermann Schlingensiepen aus Wuppertal, ehemals Ordinarius für Praktische Theologie in Bonn und langjähriger Ephorus der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Auslöser für dessen unmittelbar praktische und publizistische Aktivitäten war der 1960/61 in Jerusalem geführte und weltweites Aufsehen erregende Prozeß gegen Adolf Eichmann. Mit diesem hatte Schlingensiepen mehrfach versucht, brieflich in Kontakt zu treten.18 In Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen sowie in etlichen Interviews warb er für Verständnis und Vergebung für einsitzende NS-Täter, besuchte diese im Gefängnis und nahm Kontakt mit deren Familienangehörigen auf. Im Mai 1965 veröffentlichte Schlingensiepen aus Anlaß der Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag einen Beitrag über die in 110 den deutschen Nachkriegsprozessen verurteilten NS-Verbrecher im evangelischen „Sonntagsblatt“. Darin forderte er auf, Frieden zu schließen mit denen, die „bösen Willens sind“ und empfahl, NS-Täter „in der tiefsten Tiefe unseres Herzens und Gewissens als Opfer jener Tage zu beklagen“.19 Durch sein gewiß aufrichtig empfundenes und theologisch motiviertes Engagement wurde Hermann Schlingensiepen nachgerade zu einer Leitfigur im Bereich der seelsorgerlichen Betreuung von inhaftierten NS-Verbrechern. Einen Niederschlag seiner Bemühungen um Vergebung läßt sich etwa auch in einer umstrittenen Stellungnahme der „Arbeitsgemeinschaft der Bergischen Gefängnisgemeinde“ zu den NS-Prozessen vom September 1963 finden.20 Aus alldem läßt sich für die Anfangsjahre der Bundesrepublik im Hinblick auf den Um- gang mit NS-Tätern resümieren: Mitte der 50er Jahre mußte fast niemand mehr befürchten, wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit von Staat und Justiz behelligt zu werden. Innerhalb von nur wenigen Jahren waren nahezu sämtliche alliierten Säuberungsmaßnahmen aus den Nachkriegsjahren rückgängig gemacht und die Mehrzahl der nationalsozialistischen Funktionsträger amnestiert und weitgehend reintegriert worden. Nach Ansicht des Freiburger Historikers Ulrich Herbert war diese unverhoffte Gunst der Stunde für die Mehrheit der Davongekommenen jedoch an ein bestimmtes soziales Verhaltensmuster gekoppelt, nämlich die eigene Vergangenheit möglichst ganz vergessen zu machen und sich jeder verdächtigen politischen Äußerung zu enthalten. Die Strategie eines angepaßten und unauffälligen Lebens, die soziale Integration und ökonomischen Aufstieg erst garantierte, führte – so Ulrich Herbert – „zu einer moralisch gewiß zweifelhaften, aber durchaus effektiven Einpassung von großen Teilen der ehemaligen NS-Eliten in den neuen deutschen Staat und seine Gesellschaft.“21 Erste Risse bekam diese gleichermaßen auf Amnestie wie auf Amnesie zielende „Vergangenheitsbewältigung“ mit der in den 60er und 70er Jahren einsetzenden Welle von NS-Prozessen. Möglich wurden diese Verfahren durch die Tätigkeit der Ende 1958 in Ludwigsburg eingerichteten „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“. Obwohl diese Verfahren nicht selten die Chance zu einer kritischen Selbstaufklärung boten, wurden sie in der breiten Öffentlichkeit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – entweder kaum wahrgenommen oder sogar offen abgelehnt. Ein tieferliegendes Motiv für diese Haltung war gewiß auch, daß diese Prozesse schockierend unmittelbar vor Augen führten, wie schmal der Grat zwischen Normalität und Massenmord in Wirklichkeit gewesen ist und daß an den Verbrechen weit mehr ganz normale Deutsche beteiligt waren, als man sich eingestehen wollte. Anstelle prominenter und zumeist längst verstorbener Nazifunktionäre oder anonymer Tätergruppen gerieten nun konkret handelnde Personen ins Blickfeld: Personen mit Namen und Gesichtern, mit politischen Überzeugungen und mit Verantwortung. Die meisten dieser Personen galten bis zu diesem Zeitpunkt als angesehene Nachbarn und Kollegen, geliebte Familienväter, respektierte Vorgesetzte oder gute Bekannte, denen man diese Verbrechen nicht zugetraut hatte. II. Auf Umwegen nach Wuppertal: Die Täter kehren zurück Vor diesem gesellschaftspolitischen und mentalen Hintergrund müssen die nun folgenden und in gewisser Hinsicht exemplarischen Täterbiographien wahrgenommen und eingeordnet werden. Vorab noch einige Informationen zu den historischen Quellen meiner Recherchen. Reichhaltiges Material bieten die zum Teil veröffentlichten Prozeßunterlagen der Justizbehörden aus den Verfahren der 60er und 70er Jahre. Dort finden sich detaillierte Beschreibungen der Verbrechenskomplexe, Aussagen und Verhörprotokolle, aber auch zahlreiche Angaben zur Person und zum Lebensweg vor und nach 1945, die wichtige Daten zur Rekonstruktion der Rückkehr und Integration in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft liefern.22 Einen weitereren wichtigen Quellenbestand bilden die Unterlagen der Spruchgerichte und Entnazifizierungsbehörden im Bundesarchiv Koblenz und im NRW-Hauptstaatsarchiv sowie die im Berliner Bundesarchiv lagernden Personaldokumente von SS-Offizieren und die Personenakten des Rasse- und Siedlungshauptamtes. Von besonderem Interesse waren natürlich auch die mehr oder weniger zahlreichen Berichte über NS-Prozesse in diversen lokalen und überregionalen Zeitungen und Zeitschriften. 1.) Kurt Hans: Zum Opfer alliierter „Siegerjustiz“ verklärt. Der erste der im folgenden vorgestellten NS-Täter aus Wuppertal ist der frühere SSHauptsturmführer und Kriminalrat Kurt Hans, 111 der als Offizier dem von Paul Blobel geführten Sondereinsatzkommando 4a der Einsatzgruppe C der Sicherheitspolizei und des SD angehörte. Dieses Kommando war u.a. an der Ermordung von mehr als 33.000 ukrainischen Juden in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew Ende September 1941 beteiligt.23 Kurt Hans führte bei dieser größten geschlossenen Massenerschießungsaktion während des 2. Weltkriegs die Aufsicht über die Exekutionskommandos. Kurt Hans wurde am 14. April 1911 als siebter Sohn des Schreinermeisters Robert Hans in Wuppertal-Barmen geboren. Er besuchte dort zunächst die evangelische Volksschule, ab 1924 die Deutsche Oberschule in der Siegesstraße und absolvierte 1930 die Reifeprüfung. Anschließend studierte Kurt Hans einige Semester Bergwissenschaften in Tübingen und Köln, mußte aber das Studium im Frühjahr 1932 wegen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs des väterlichen Betriebes, der sich in der Schülkestraße befand, abbrechen und mit Gelegenheitsarbeiten zur Existenzsicherung der Familie beitragen. Infolge einer Verletzung, die sich der nationalsozialistische Aktivist bei einer Schießerei mit Regimegegnern im Februar 1933 – möglicherweise in der Elberfelder Nordstadt24 – zugezogen hatte, war er zunächst eine zeitlang arbeitsunfähig. Nach seiner Genesung beschäftigte ihn dann die Stadtsparkasse Wuppertal für sechs Monate als Tarifangestellten.25 Vom 1. Juni 1931 bis zum 1. August 1933 war Hans Mitglied der SA. Mitglied der NSDAP-Ortsgruppe Wuppertal wurde er im März 1932, zählte also zu den sog. „Alten Kämpfern“, die sich bereits vor der Machtübergabe an Hitler für den Nationalsozialismus engagierten. Ab Oktober 1932 avancierte er bereits zum Ortsgruppenamtsleiter der Partei und fungierte von März 1936 bis September 1938 als Parteirichter beim Kreisgericht der NSDAP. Auf der Suche nach einer außerparteilichen Festanstellung bewarb sich Hans Anfang 1934 bei der Wuppertaler Polizeibehörde und wurde als Kriminal-Assistenten-Anwärter zur Probe bei der Kriminalpolizei eingestellt. 1937 erhielt er eine Kriminalkommissar-Anwärterstelle, und nach erfolgreichem Abschluß 112 Kurt Hans (1911–1997), ca. 1938 (Bundesarchiv Berlin) eines Lehrgangs an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin-Charlottenburg erfolgte die Beförderung zum Kriminalkommissar und seine Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit. Das Dienststellenverzeichnis des Wuppertaler Polizeipräsidiums für das Jahr 1940/41 führt Kurt Hans als Leiter des für Raub, Erpressung und Nötigung zuständigen 2. Kommissariats.26 In die SS, die 1936 mit der staatlichen Polizei verschmolzen wurde, trat Kurt Hans im Juli 1938 ein: eigenen Angaben zufolge, um in seinem Beruf weiterzukommen und dort Karriere zu machen. Den im Zuge der Entkonfessionalisierung der SS obligatorischen Kirchenaustritt hatte er bereits 1936 vollzogen, obwohl sich der Protestant auf audrücklichen Wunsch seiner Frau noch ein Jahr zuvor katholisch hatte trauen lassen. Vermutlich tat er diesen Schritt nicht nur im Sinne einer demonstrativen Identifikation mit der nationalsozialistischen Ideologie, sondern auch, um seinen Karriereambi- tionen auf Himmlers und Heydrichs Eliteformation wirkungsvoll Ausdruck zu verleihen. Ab 1938 war Hans neben seiner Kripotätigkeit dann auch verstärkt für den SD, den Nachrichtendienst der SS, tätig. Ihm oblagen in dieser Funktion im Vorfeld polizeilicher Exekutivmaßnahmen die Observierung der politischen Gegner der Nationalsozialisten sowie die Registrierung und Überwachung jüdischer und kirchlicher Organisationen in Wuppertal.27 Darüber hinaus war der SD für die Berichterstattung über die Stimmungslager in der Bevölkerung und die Beurteilung der politischen Zuverlässigkeit einzelner „Volks- bzw. Parteigenossen“ zuständig. Die enge personelle Verflechtung und fachliche Abhängigkeit von SD und der aus Gestapo und Kripo gebildeten Sicherheitspolizei führte im September 1939 schließlich zur Zusammenfassung beider Institutionen im neugegründeten und von Reinhard Heydrich geleiteten Reichssicherheitshauptamt. Seit April 1940 bekleidete Kurt Hans den Rang eines SS-Obersturmführers und bereitete sich auf den leitenden Dienst in der Sicherheitspolizei vor. Als im Mai/Juni 1941 im Zuge der Vorbereitungen des Überfalls auf die Sowjetunion die Einsatzgruppen zusammengestellt wurden, kam Hans in das von Paul Blobel geführte Sonderkommando 4a, das die 6. Armee auf ihrem Weg durch Wolhynien und die Ukraine begleiten sollte. Es ist nicht auszuschließen, daß die Überstellung von Kurt Hans in das Blobel-Kommando nicht zufällig, sondern über persönliche Beziehungen und vielleicht sogar auf ausdrücklichen Wunsch beider geschehen ist. Möglicherweise kannten sich beide schon länger, denn Blobel war von 1935 bis 1941 als regionaler SD-Führer u.a. auch für das bergische Städtedreieck zuständig und daher mit dem Personal der lokalen Dienststellen von Kripo, SD und Gestapo vertraut.28 Gleich zu Beginn des Einmarsches in die UdSSR hatten die Einsatzgruppen, teils in Kooperation mit Wehrmachts- und Polizeieinheiten, damit begonnen, zunächst alle männlichen Juden, sofern sie nicht zur Arbeit benötigt wurden, zu exekutieren. Daneben hatten sie den Auftrag, sämtliche politischen Kommissare, Funk- tionäre in Staatsstellungen sowie alle als rassisch minderwertig stigmatisierten Personen zu töten. Ab Spätsommer 1941 wurden die Mordaktionen sukzessive auch auf jüdische Frauen und Kinder ausgedehnt. Kurt Hans war als befehlsbefugter Offizier an mehreren dieser Aktionen unmittelbar beteiligt, so z.B. in Luzk, Shitomir, Radomyschl und in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew. Um deren Effektivität zu erhöhen und die psychische Belastung der Schützen zu vermindern, wurden in einigen Fällen auch mobile Gaskammern zur Tötung der Juden eingesetzt. Ferner war Hans an einer von Paul Blobel angeordneten und als Wirkungstest für Explosivmunition durchgeführten Exekution von sowjetischen Kriegsgefangenen in Shitomir beteiligt. Anfang Oktober 1941, nur wenige Tage also nach der Mordaktion von Kiew, wurde Kurt Hans mit anderen Anwärtern des leitenden Dienstes von seinem Einsatzort abberufen, um seine Ausbildung an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin fortzusetzen. Nach erfolgreichem Abschluß ging er zurück „in die Praxis“, wurde zunächst stellv. Leiter der Kripo in Mönchengladbach und Anfang 1944, inzwischen zum SS-Hauptsturmführer und Kriminalrat ernannt, Chef der Kriminalpolizeileitstelle in Würzburg. Hier war er u.a. für die Aufstellung und Beaufsichtigung von sogenannten Jagdkommandos der Polizei zuständig. Deren Aufgabe war es, alle Feindflieger, die den aus Kripo- und Gestapoleuten bestehenden Kommandos in die Hände gefallen waren, als Vergeltung gegen die alliierten Luftangriffe unverzüglich zu erschießen.29 Für seine „Verdienste“ im sicherheitspolizeilichen Einsatz erhielt Kurt Hans 1944 von Reichsführer-SS Heinrich Himmler den sog. „Totenkopfring“, ein Ehrensymbol, das vornehmlich solchen SS-Angehörigen verliehen wurde, die der SS als Organisation und Träger einer Weltanschauung gegenüber größte Ergebenheit bezeugt hatten. Anfang April 1945, kurz vor der Eroberung Würzburgs durch die US-Truppen, gelang es Hans und seiner Familie, aus der Stadt zu entkommen und vorläufig unterzutauchen. Als er mit anderen Angehörigen der Würzburger Kripo weiter nach Öster- 113 reich fliehen wollte, wurde er von den Amerikanern verhaftet und als Kriegsverbrecher angeklagt. Obwohl die die Mordaktionen der Sicherheitspolizei in der UdSSR zu diesem Zeitpunkt bereits Gegenstand des Nürnberger Einsatzgruppenprozesses waren, wurde Hans mit diesen nicht in Zusammenhang gebracht und ausschließlich wegen seiner Verantwortung für die Ermordung alliierter Jagdflieger angeklagt und im Oktober 1947 zum Tode verurteilt. Man überführte ihn aus Dachau zur Hinrichtung in das eigens für NS-Verbrecher eingerichtete Gefängnis nach Landsberg/Lech, wo seinerzeit auch sein ehemaliger Vorgesetzter Paul Blobel einsaß. Zu dieser Zeit liefen auch bereits die ersten Kampagnen zur Begnadigung der verharmlosend als „Kriegsverurteilte“ bezeichneten Häftlinge. Nicht nur der bis 1946 in Wuppertal-Langerfeld tätige Pfarrer Johannes Sy, der Kurt Hans konfirmiert hatte, auch der Kölner Kardinal Frings setzte sich vehement für ihn und die anderen Delinquenten ein, galten doch die inhaftierten NS-Verbrecher in der Regel als bedauernswerte Opfer der alliierten „Siegerjustiz“. Mit Erfolg: Im Januar 1951 wurde die Todesstrafe für Kurt Hans und andere Häftlinge in lebenslängliche Haft umgewandelt. Das im Anschluß daran eingeleitete obligatorische Prüfungsverfahren der Entnazifizierungskammer in Düsseldorf wurde im Februar 1952 eingestellt, da man Kurt Hans lediglich als „Mitläufer“ einstufte. Ebenso erfolgreich verlief für ihn das 1953 geführte Spruchkammerverfahren, das ihm den Status „minderbelastet“ zubilligte. Juristischen Beistand erhielt Kurt Hans u.a. von dem bereits erwähnten Essener Rechtsanwalt Achenbach. Aber auch die Intervention von höchsten kirchlichen Stellen machte offenbar Eindruck auf die Spruchkammerrichter. In diesem Verfahren war es Hans nämlich nicht nur gelungen, seine Zugehörigkeit zu den Einsatzgruppen und seine Mitwirkung an den Massenmorden erfolgreich zu vertuschen, sondern sich auch als aufrechten und geläuterten Christen darzustellen und seine Mitgliedschaft in NSDAP und SA als seinen persönlichen Beitrag zur – „Eindämmung der 114 kommunistischen Gefahr“ zu rechtfertigen: Angesichts des beginnenden Kalten Krieges war dies eine gleichermaßen einleuchtende wie populäre Einlassung, die offensichtlich ihre Wirkung auch nicht verfehlte. Denn bereits 1954 wurde die lebenslange Haftstrafe von Kurt Hans auf eine befristete reduziert. Und im Oktober desselben Jahres befand sich Hans gegen die Zusicherung, sich jeder politischen Betätigung zu enthalten, wieder auf freiem Fuß. Er kehrte zu seiner Familie nach Wuppertal zurück, ließ sich – er fühlte sich wohl vor weiterer Strafverfolgung sicher – ins Adreßbuch der Stadt mit seiner alten Funktion als „Kriminalrat“ eintragen und war zunächst in der Bauindustrie und im Handel, ab 1960 dann als Versicherungskaufmann eines Wuppertaler Unternehmens tätig. Seine Vergangenheit holte ihn ein, als Anfang der 60er Jahre die „Zentrale Stelle“ in Ludwigsburg systematisch Ermittlungen gegen ehemalige Angehörige des Sonderkommandos 4a führte und in diesem Zusammenhang auch auf Kurt Hans aufmerksam wurde. Im Mai 1965 wurde er schließlich in Wuppertal verhaftet und mit 10 weiteren Angehörigen seines Kommandos im Oktober 1967 in einem der größten bundesdeutschen Massenmordprozesse zur Verantwortung gezogen.30 Bis zuletzt leugnete Hans jedoch, an diesen Massenmorden beteiligt gewesen zu sein. Nach Auswertung der einschlägigen Dokumente, umfangreichen Zeugenvernehmungen und Verhören konnte ihm jedoch die Mitwirkung an mindestens fünf größeren Erschießungsaktionen nachgewiesen werden. In Wirklichkeit dürften es vermutlich noch viel mehr gewesen sein. Die Richter charakterisierten Kurt Hans als einen ehemals „treu ergebenen“ Gefolgsmann des NS-Regimes, der aus Überzeugung und um seiner Karriere willen jeden Befehl willig ausführte, auch wenn ihm die Konsequenzen persönlich vielleicht „unangenehm und menschlich zuwider“ waren. In der Hauptverhandlung hatte Hans weder Reue noch Bedauern über das Schicksal der Ermordeten gezeigt, sondern nur Selbstmitleid mit sich und dem eigenen Schicksal. Gleichwohl verurteilte ihn das Gericht nicht als hauptverantwortlichen Täter, sondern nur als Tatgehilfen, da er die Morde „nur“ aus Pflichtgefühl und Opportunitätsgründen und nicht aus persönlichen und „niedrigen Beweggründen“ mitausgeführt hatte. Diese fragwürdige und bis heute umstrittene Unterscheidung zwischen Tätern und Tatgehilfen beruhte auf einer juristischen Definition, derzufolge allein Hitler, Himmler, Göring, Heydrich und deren „nähere Umgebung“ als hauptverantwortliche Täter einzustufen waren. In der Konsequenz hatte dies in zahlreichen Prozessen lächerlich niedrige Haftstrafen für NS-Verbrecher zur Folge. So kamen etwa Leiter von Exekutionen, Einsatzkommandoführer und viele andere mitverantwortliche Akteure bei der „Endlösung“ in der Regel mit einem Strafmaß davon, das dem für Raub, Einbruch und Betrug entsprach.31 Die problematische Gehilfenrechtssprechung suggerierte letztlich das Bild eines Täters, der ohne eigenes Zutun, ohne eigenen Willen und ohne individuelle Tatmotivation – also gleichsam von außen ferngesteuert – zum Bestandteil einer Terror- und Vernichtungsmaschinerie geworden war. Diese auch heute noch weitverbreite Auffassung reduzierte nicht nur den moralischen Entscheidungsspielraum des Individuums auf Null, sie entsprach auch exakt dem Selbstbild, das die Täter vor Gericht von sich entworfen hatten und das von der deutschen Öffentlichkeit im Sinne kollektiver Entlastung und der Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen, natürlich nur allzu gerne angenommen wurde.32 Zurück zu Kurt Hans. Im November 1968, nach gut einjähriger Verhandlungsdauer verurteilte das Schwurgericht Darmstadt den ehemaligen SS-Hauptsturmführer und Kriminalrat wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord und unter Anrechnung der Untersuchungshaft zu 11 Jahren Zuchthaus. Bereits im Dezember 1969 wurde der Haftbefehl aber wegen angeblicher Haftunfähigkeit aufgehoben, trotz existierender Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines Gesundheitszustands. Im September 1970 wurde ihm gegen gewisse Auflagen und unabhängig von seinem Gesundheitszustand Haftverschonung zugebilligt. 1997 starb Kurt Hans 86jährig in Wuppertal. 2. Dr. Hans Schumacher: Bereitschaft zur Übernahme von persönlicher Verantwortung Der nun im folgenden beschriebene Fall eines Wuppertaler NS-Täters weicht hinsichtlich des sonst üblichen Verhaltens- und Rechtfertigungsmusters dieses Personenkreises merklich ab. Wer sich einmal näher mit Verfahren wegen nationalsozialistischer Verbrechen beschäftigt hat, weiß, daß der sogenannte „Befehlsnotstand“ das mit Abstand am häufigsten vorgebrachte Argument zur Verteidigung und Entlastung von NS-Tätern gewesen ist. Eine der ganz seltenen Ausnahmen, bei der ein Angeklagter sich nicht darauf berief und darüber hinaus sogar Reue und Unrechtsbewußtsein zeigte, war der 1907 in Wuppertal-Barmen geborene (und 1992 verstorbene) Jurist Hans Schumacher.33 Wegen seiner Tätigkeit als Leiter der Gestapo-Dienststelle beim Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Kiew wurde der ehemalige SS-Sturmbannführer und Regierungsrat Ende 1963 vor dem Landgericht Karlsruhe zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. In seiner Funktion hatte Schumacher die Erschießung von hunderten von Juden und nichtjüdischen Zivilisten angeordnet und den Einsatz der bei den Tötungsaktionen teilweise verwendeten und eigens aus Berlin herbeigeschafften fahrbaren Gaskammern überwacht.34 Die Biographie und der intellektuelle Werdegang von Schumacher fügen sich nahtlos in ein Täterprofil, das nach Auffassung der Historiker Ulrich Herbert und Michael Wildt für die mehrheitlich aus Akademikern bestehende Führungsgruppe des Reichssicherheitshauptamtes insgesamt zutrifft. Diese Gruppe bestand zu Kriegsbeginn aus etwa 300 Männern: Amtsund Referatsleiter, Chefs von regionalen Staatspolizei- und Kripoleitstellen und ihre Vertreter. Aus diesem vergleichsweise engen Personalreservoir rekrutierte sich in den darauffolgenden Jahren ein Großteil der Leiter der Einsatzgruppen- und kommandos, die Inspekteure und Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in den von Deutschland besetzten Ländern sowie die Leiter der regionalen Gesta- 115 postellen. Sie waren verantwortlich für beinahe alle Deportations-, Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen sowohl in Deutschland selbst als auch – und vor allem – in Osteuropa. Wollte man eine Kerngruppe der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Genozidpolitik bestimmen, dann, so die beiden Historiker, muß sie aus den Reihen dieser Männer gebildet werden.35 Hans Schumacher, der selbst nicht aus einem akademischen Milieu, wohl aber aus gutsituierten bürgerlichen Verhältnissen stammte, machte nach dem Besuch von Volks- und Oberrealschule 1926 sein Abitur. Im Anschluß daran studierte er in Würzburg, Bonn und Erlangen Staats- und Rechtswissenschaften, promovierte während seiner Referendarausbildung zum Dr. jur. und legte 1934 beim Preußischen Justizministerium die große Juristische Staatsprüfung ab. Wegen des Überangebots an Juristen im preußischen Staatsdienst entschied sich Schumacher für eine Laufbahn bei der Kriminalpolizei und acancierte bereits im Oktober 1936 zum Leiter der Personalstelle und des Erkennungsdienstes bei der Kriminalpolizeileitstelle in Düsseldorf. Mitglied der NSDAP wurde Schumacher im Mai 1933, der – obligatorische – Kirchenaustritt erfolgte 1938, sein Beitritt zur SS im Januar 1939. Das Angebot, auch für die Gestapo tätig zu werden, lehnte Schumacher erstaunlicherweise aber zunächst ab. In einer späteren Einlassung vor Gericht begründete er dies mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Errichtung von Konzentrationslagern und der dort geübten Praxis. Auf die Beurteilung durch seinen Vorgesetzten und seine Laufbahn bei Kripo, SD und SS hat sich diese Kritik jedoch offenkundig nicht nachteilig ausgewirkt. Sein für das SD-Hauptamt angefertigter Personal-Bericht aus dem Jahr 1939 vermerkt statt dessen: „Dr. Schumacher [ist] ein mit SS-Geist beseelter und gefestigter Nationalsozialist und für Führungsaufgaben sehr geeignet.“ Im Februar 1939 wechselte Schumacher von Düsseldorf zunächst nach Wien, dann als Kripo-Dienststellenleiter nach Prag und schließlich Ende 1940 – inzwischen zum Kriminalrat und SS-Hauptsturmführer ernannt – 116 Hans Schumacher (1907–1992), ca. 1938 (Bundesarchiv Berlin) als Lehrer für Strafrecht an die Polizeischule nach Pretzsch an der Elbe, wo im Frühjahr 1941 auch mit der Aufstellung der Einsatzgruppen begonnen wurde. Nach Kiew, wo er als stellv. Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD den Aufbau der Gestapo- und Kripodienststelle organisierte, kam Schumacher Ende Oktober 1941. Nachdem die von Paul Blobel und anderen angeführten Mordkommandos weiter nach Osten zogen, wurden die mobilen Einheiten der Sicherheitspolizei und des SD durch stationäre Dienststellen ersetzt. Kein Zweifel also, daß Schumacher über die Ende September 1941 durchgeführte Mordaktion an über 33.000 Juden aus Kiew informiert war. Er blieb dort bis Juni 1942. Im August desselben Jahres erfolgte dann seine Rückversetzung ins Reichssicherheitshauptamt nach Berlin. Dort war er als Regierungsrat im Rang eines SS-Sturmbannführers im Amt V für die sogenannte „Verbrechensbekämpfung“ und gleichzeitig als Untersuchungsführer und Gerichtsoffizier sowie bei der Kripoleitstelle Berlin tätig. Das Kriegsende erlebte Schumacher in einem Lazarett in Nürnberg. Bemerkenswert ist, daß Schumacher vor Gericht bereitwillig seine Mitverantwortung an den Verbrechen einräumte und sich durch detaillierte Aussagen an der Rekonstruktion des Tatgeschehens beteiligte. So gab er nicht nur uneingeschränkt zu, die Tötung von Juden in mobilen Vergasungsanlagen persönlich angeordnet und überwacht, sondern auch zahlreiche Exekutionen befohlen, selbst geleitet und sogar eigenhändig getötet zu haben. Dabei konnte er dem Gericht offenbar glaubhaft vermitteln, daß er die Mordaktionen „nur mit großem Widerwillen“ und mit „innerer Abscheu“ durchgeführt und ihren Unrechtscharakter von Anfang an erkannt hatte. Zudem konnte er vor den Nachweis erbringen, daß er sich mehrfach – und letztlich erfolgreich – bei seinem Vorgesetzten um eine Versetzung von seinem Einsatzort in Kiew bemühte hatte. In der umfangreichen Urteilsbegründung erkannten die Richter u.a. auch deshalb nur auf „Beihilfe zum Mord“ und nicht auf Mittäterschaft. Schumacher begündete seine Mitwirkung an den Verbrechen mit einem Argument, das die Richter zwar strafmildernd berücksichtigten, aber zugleich auch als Beleg für seinen individuellen Tatbeitrag werteten: Schumacher gab an, wegen seiner zunächst stets abschlägig beschiedenen Versetzungsgesuche zunehmend in Resignation verfallen zu sein. Solange er aber sein Kommando führte, wollte er von seinen Untergebenen, also den Exekutionsschützen, nicht mehr verlangen, als er selbst zu tun bereit war. Außerdem habe er sich – auf baldige Ablösung von seinem Kommando hoffend – seinem Gehorsam als Beamter und seinem Soldateneid verpflichtet gefühlt. Einen „Befehlsnotstand“ machte Schumacher deshalb nicht geltend, weil er bei einer Befehlsverweigerung sein Leben nicht als bedroht ansah.36 Für einige tausende der in Schumachers Verantwortungsbereich verhafteten und „sicherheitspolizeilich“ behandelten Menschen hatte dieses so verstandene Pflichtgefühl allerdings tödliche Konsequenzen. Denn trotz aller persönlichen Skrupel und Hemmnisse entsprach Schumacher letztlich dennoch genau dem, was die nationalsozialistischen Führer von ihm als Beamten und Funktionär der sogenannten „Endlösung“ erwarteten. Obwohl der Jurist gewiß nicht den Typus des ideologischen Überzeugungstäters verkörperte und wohl auch kein willfähriger Parteigänger der Nazis war: Der von ihm und der Mehrheit seiner Generation verinnerlichte und verbindliche Kanon von Pflichterfüllung, Treue und Gehorsam, gepaart mit einem gefestigten, aber keineswegs zwangsläufig auf Mord programmierten Antisemitismus, haben das erschreckend reibungslose Funktionieren des nationalsozialistischen Vernichtungsapparates erst ermöglicht und ihn über mehrere Jahre in Gang gehalten. Ein exterminatorischer, d.h. auf Vernichtung zielender Antisemitismus, wie ihn der amerikanische Politologe Daniel J. Goldhagen für NS-Täter generell annimmt, war daher eine vielleicht erwünschte, aber keinesfalls die notwendige Voraussetzung einer aktiven Mitwirkung an der Ermordung von Juden. Mit seinem weitreichenden Schuldeingeständnis und der Bereitschaft, die Verantwortung für seine Verbrechen zu übernehmen, blieb Schumacher eine ganz seltene Ausnahme unter allen vor Gericht angeklagten NS-Tätern. Aber auch Schumachers Laufbahn nach 1945 markiert in gewisser Hinsicht eine Abweichung von der Regel. Bevor der promovierte Jurist Anfang der 50er Jahre nach Wuppertal zurückkehrte und zum Rechtsberater und Personalchef eines hiesigen Unternehmens avancierte, war er zeitweilig für den US-Geheimdienst und ab 1948 auch für einige Jahre als Agent der sogenannten „Organisation Gehlen“, dem Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes, tätig. Wir wissen heute, daß diese Organisation, aber auch der US-Geheimdienst zahlreiche zum Teil schwerstbelastete NS-Verbrecher, vor allem aus dem Bereich ehemaliger Funktionseliten, nach 1945 übernommen und vermutlich auch gezielt vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt hat. Reinhard Gehlen war von 1942 bis zum Ende des Krieges im deutschen 117 Generalstab Chef der Spionageabteilung „Fremde Heere Ost“ und als solcher bestens mit der Sowjetunion vertraut. Bereits im März 1945 hatten Gehlen und seine engsten Mitarbeiter wichtige Dokumente über die UdSSR auf Mikrofilm aufgenommen und sicher versteckt. Nach der Kapitulation übergaben sie das Material an eine Abteilung der amerikanischen Gegenspionage – in kluger Voraussicht der künftigen Frontverläufe und natürlich in Erwartung einer entsprechenden Gegenleistung. Als Gehlen schließlich den Auftrag erhielt, in der amerikanischen Besatzungszone einen Nachrichtendienst aufzubauen und zu diesem Zweck ausgewiesene Fachleute rekrutierte, stellte sich auch Dr. Hans Schumacher zur Verfügung.37 Auf die von Gehlen gewünschte Übernahme in den BND verzichtete er jedoch ebenso wie auf die ab 1951 wirksam werdenden Vergünstigungen des Artikels 131 des Grundgesetzes, der ihm die Rückkehr in den öffentlichen Dienst ermöglicht hätte. Vor Gericht begründete er seine Entscheidung damit, daß er sich wegen der ihm vorgeworfenen Handlungen nicht für würdig genug halte, dem Staat noch einmal als Beamter zu dienen. 3. Friedrich Bosshammer: Eichmanns „Judenberater“ in Italien bis 1968 Rechtsanwalt in Wuppertal Bei dem dritten und letzten der hier vorgestellten NS-Täter handelt es sich um den früheren Wuppertaler Rechtsanwalt Friedrich Bosshammer, der 1972 u.a. wegen seiner Mitwirkung bei den Deportationen der italienischen Juden nach Auschwitz zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wurde. Er verdient in besonderer Weise Aufmerksamkeit, denn seine beharrlich forcierte, gleichwohl bescheidene Nachkriegskarriere belegt anschaulich, wie unproblematisch es offenbar für viele schwerstbelastete NS-Verbrecher war, nach 1945 gesellschaftlich und beruflich wieder Fuß zu fassen. Bosshammer gehört, im Unterschied etwa zu Hans Schumacher, in jene Kategorie der ideologischen Überzeugungstäter, die sich vorbehaltlos in den Dienst der nationalsozialisti- 118 schen Vernichtungspolitik stellten und diese in einem hohen Maße eigenverantwortlich und willig in die Praxis umsetzten. Daß er nach 1945 wieder gesellschaftlich reüssieren konnte, ist zum einen das Ergebnis einer nur sehr halbherzig und unter Zeitdruck durchgeführten Entnazifizierung, zum anderen aber auch das Resultat eines nahezu reibungslos und ungemein selbstsicher ,durchgezogenen‘ Täuschungs- und Tarnmanövers, bei dem ihm – vor allem hier in Wuppertal – offenkundig ein Netzwerk gut funktionierender Beziehungen behilflich war. Geboren wurde Friedrich Bosshammer am 20.12.1906 in Opladen. Er enstammte einer traditionsbewußten Handerwerkerfamilie, die seit langem im Bergischen – in Remscheid, Solingen und Wermelskirchen – verwurzelt war.38 In Opladen machte Bosshammer 1926 das Abitur und studierte anschließend in Heidelberg und Köln Staats- und Rechtswissenschaften. 1931 folgte das 1. Staatsexamen, 1935 nach einer praktischen Ausbildung als Referendar im Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf die zweite große juristische Staatsprüfung. NSDAP-Mitglied wurde er im Mai 1933. Da Bosshammer das erst im zweiten Anlauf erreichte zweite Staatsexamen aber nur mit der Note „ausreichend“ bestanden hatte, war der von ihm ursprünglich angestrebte Richterberuf in weite Ferne gerückt. Auf der offensichtlich erfolglosen Suche nach einer seiner Ausbildung gemäßen Beschäftigung bot sich ihm die Gelegenheit, „hauptamtlich“ in die Dienste der Partei zu treten.39 Dort fungierte er von Sommer 1935 bis Herbst 1936 als Lager- und Kursusleiter der HJ und anschließend als Leiter eines „Kraft durch Freude-Jungarbeiterfreizeitlagers“ der I.G.-Farben. Anfang 1937 wurde Bosshammer Angestellter beim Landesverband Rheinland für Deutsche Jugendherbergen in Düsseldorf. 1936 trat Bosshammer aus der evangelischen Kirche aus. Im selben Jahr heiratete er auch seine erste Frau. Aus dieser Ehe sind insgesamt vier Kinder hervorgegangen. Mitglied der SS wurde er im September 1937, zu einer Zeit, als sich die auf rasseideologischen Prinzipien gründende Eliteformation zunehmend zu einer Organisation entwickelte, die jungen und ehrgeizigen Intellektuellen, vor allem Juristen, gute Aufstiegs- und Karrierechancen bot, aber auch gescheiterten akademischen Existenzen neue und vielversprechende Perspektiven eröffnete und diese allmählich an die Theorie und Praxis einer radikalen völkischen Neuordnung Deutschlands und Europas heranführte. Nach eigenen Aussagen wurde Bosshammer bereits kurz nach seinem SS-Beitritt auf Vermittlung eines früheren Schulkameraden hauptamtlicher Angestellter beim Sicherheitsdienst der SS und war von Ende 1937 bis 1940 als sogenannter Referent für Judenfragen im SD-Abschnitt Aachen tätig.40 Mit der Versetzung zum Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD nach Wiesbaden, wo er von 1940 bis 1942 als Gerichtsoffizier und Untersuchungsführer für SS-interne Strafsachen zuständig war, hatte Bosshammer dann nicht nur eine seiner Qualifikation gemäße Funktion erlangt, sondern offensichtlich auch den Beweis seiner ideologischen und praktischen Zuverlässigkeit erbracht, zumal an diese Funktion besondere Anforderungen gestellt wurden.41 Erste Berührung mit dem engeren Kreis der nationalsozialistischen Funktionselite bekam Bosshammer im Zuge seiner Versetzung ins Berliner Reichssicherheitshauptamt im Januar 1942, und zwar in das von Gestapo-Chef Heinrich Müller geleitete und für die sog. „Gegnerforschung- und Bekämpfung“ zuständige Amt IV, das u.a. sämtliche Deportations- und Vernichtungsmaßnahmen gegen Juden vorbereitete, organisierte und durchführte. Es ist anzunehmen, daß die Versetzung Bosshammers in die Berliner Zentrale unmittelbar mit der „Wannsee-Konferenz“ vom Januar 1942 zusammenhängt. Auf dieser Konferenz waren unter der Federführung Reinhard Heydrichs die Direktiven zur Deportation und Vernichtung von rund 11 Millionen Juden aus den von Deutschland besetzten oder mit ihm kollaborierenden Ländern Europas vereinbart und bereits erste organisatorische Vorbereitungen getroffen worden. Zur Realisierung dieses verbrecherischen Vorhabens benötigte das Reichssicherheitshauptamt ,fähiges‘ Personal, das bereits einschlägige – vor allem auch verwal- Friedrich Bosshammer (1906–1972), ca. 1936/ 38 (Bundesarchiv Berlin) tungsjuristische – Erfahrungen in den regionalen Dienststellen des SD und der Gestapo gesammelt und sich dort bewährt hatte. Im berüchtigten Referat IV B 4 „Judenangelegenheiten“, das von Adolf Eichmann geleitet wurde, bearbeitete Bosshammer zunächst das Ressort „Vorbereitung der Lösung der europäischen Judenfrage in politischer Hinsicht“. Im Kontext des NS-Vokabulars war dies eine der zahlreichen Euphemismen, mit denen der wahre Charakter der bevorstehenden Vernichtungsoperationen verschleiert werden sollte. Konkret bestand die Aufgabe in der Beschaffung und Auswertung von Unterlagen, die für die Vorbereitung, Durchführung, aber auch für die Tarnung der geplanten Judendeportationen notwendig waren. So redigierte Bosshammer beispielsweise eine bebilderte Artikelserie, die auf Veranlassung des Eichmann-Referates Ende 1942 in zahlreichen slowakischen Zei- 119 tungen und Zeitschriften erschienen war und in verharmlosender Weise über die Lage der bereits nach Auschwitz und in die Gegend von Lublin deportierten rund 58.000 Juden aus der Slowakei berichtete.42 Die als sogenannte „Antigreuelpropaganda“ lancierte Artikelserie zielte darauf ab, auch die mit einem sogenannten „Schutzbrief“ ausgestatteten slowakischen Juden verhaften und nach Auschwitz-Birkenau deportieren zu können.43 Darüber hinaus betreute Bosshammer in seinem Ressort die bei den Kollaborationsregierungen tätigen sog. „Judenberater“ des Reichssicherheitshauptamtes und gab deren Erfahrungsberichte an seinen unmittelbaren Vorgesetzten Eichmann weiter.44 Im Rahmen seiner Tätigkeit entfaltete Bosshammer anscheinend immer dann einen besonderen Ehrgeiz, wenn sich Schwierigkeiten bei den Deportationen in den von Deutschland besetzten oder unter seinem Machteinfluß stehenden Ländern einstellten. So etwa in Bulgarien, wo sich Teile der Bevölkerung schützend vor die Juden gestellt hatten und auch die Regierung massive Einwände gegen die geplanten Deportationsmaßnahmen erhob. Im Frühjahr 1943 waren die Verhandlungen über die Deportation der rund 51.000 auf altbulgarischem Gebiet ansässigen Juden erheblich ins Stocken geraten. Ein Zufall bot schließlich einen willkommenen Anlaß, mit Hilfe Bosshammers Druck auf die bulgarische Regierung auszuüben. Im Mai 1943 war ein deutscher Rundfunkingenieur bei einem Attentat in Sofia getötet und ein Jude als vermeintlicher Täter verhaftet worden. Gemeinsam mit dem im Außenministerium für „Judenangelegenheiten“ zuständigen Beamten regte Bosshammer an, diesen Vorfall gezielt auszunutzen: […] Es liegt im Interesse der vom Reichsführer-SS angestrebten Endlösung, daß in den deutsch-bulgarischen Erörterungen über die Ostevakuierung sämtlicher Juden aus Bulgarien die derzeitige, für Evakuierungsaktionen besonders günstige Lage, wie sich insbesondere durch das letzte Attentat in Sofia eingetreten ist, mit allem Nachdruck ausgenutzt wird.45 In Italien, Bosshammers nächstem „Aufgabengebiet“, gingen seine Bemühungen um eine Beschleunigung der „Endlösung“ allerdings 120 Friedrich Bosshammer (1906–1972), ca. 1938 (Landesarchiv Berlin) weit über bloß taktische Empfehlungen hinaus. Auch dort gab es Schwierigkeiten mit der Auslieferung von Juden an die Deutschen. Obwohl Deutschlands engster Verbündeter (bis 1943), und trotz der in Anlehnung an die „Nürnberger Gesetze“ geschaffenen antijüdischen Gesetzgebung weigerte sich Mussolini beharrlich, die in Italien lebenden Juden auszuliefern. In Italien und in den von Italien besetzten kroatischen und französischen Gebieten lebten damals rund 44.000 Juden. Als im September 1943 der „Duce“ gestürzt und verhaftet wurde und seine Gegner einen Waffenstillstand mit den Alliierten herbeiführten, verschlimmerte sich die Lage der italienischen Juden dramatisch. Mit dem von einem SS-Kommando befreiten Mussolini an der Spitze, installierten die Deutschen in Norditalien nun eine von ihnen abhängige Marionettenregierung. Eine ihrer ersten Anordnungen sah die unverzügliche Einweisung aller im deutschen Einflußbereich lebenden italienischen Juden in Konzentrationslager vor. Von dort aus sollten sie dann anschließend in Sammeltransporten nach Aus- chwitz-Birkenau deportiert werden.46 Als aber auch diese Maßnahmen nicht zu den gewünschten Ergebnissen führten, empfahl das Auswärtige Amt in Berlin im Dezember 1943, deutsche Beamte nach Italien zu entsenden, die, als „Berater“ getarnt, die Konzentration und Deportation der italienischen Juden überwachen sollten. Im Januar 1944 war der mit den diesbezüglichen Vorbereitungen befaßte „Judenberater“ der Mussolini-Regierung, Theodor Dannecker, abberufen worden und auf seine Stelle der inzwischen zum Regierungsrat und SS-Sturmbannführer47 ernannte Friedrich Bosshammer nachgerückt. Er bezog er seine Dienststelle beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Verona. Unverzüglich begann Bosshammer nun mit der Realisierung eines von ihm bereits im Dezember 1943 vorgelegten Plans, der seinerzeit aber aus taktischen Gründen zunächst zurückgestellt worden war. Dieser Plan sah vor, von der italienischen Regierung die Auslieferung aller in Konzentrationslager eingesperrten Juden zu verlangen und diese dann unter deutscher Aufsicht umgehend nach Auschwitz-Birkenau zu deportieren.48 Zur Schaffung der dafür nötigen Rahmenbedingungen organisierte Bosshammer den Neuaufbau eines Systems zur Erfassung, Konzentrierung und Deportation der italienischen Juden, führte regelmäßige Inspektionen des bei Modena gelegenen Sammellagers Fossoli di Carpi durch, kümmerte sich persönlich um die Beschaffung der notwendigen Transportmittel, stellte eigenhändig Transportlisten zusammen und überwachte sogar die Rekrutierung der Zugbegleitkommandos.49 Bosshammers Radikalität übertraf sogar die Adolf Eichmanns. Unter seiner Federführung wurden auch die bis zur Jahreswende 1943/44 von der Deportation ausgenommenen sogenannten „Judenmischlinge“ sowie die Partner aus „Mischehen“ mit dem letzten aus Fossoli di Carpi abgehenden Transport nach Auschwitz deportiert.50 Insgesamt sieben Transporte mit rund 4.700 Juden gingen unter Bosshammers Regie nach Auschwitz. Die Gesamtzahl der deportierten Juden aus Italien lag bei etwa 7.500. Nur ca. 800 von ihnen haben überlebt. Für seinen „Einsatz“ in Italien wurde Friedrich Bosshammer im April 1944 für das „Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse mit Schwertern“ vorgeschlagen. In der Begründung zur Ordensverleihung heißt es: Bosshammer leitet seit Februar 1944 die Bekämpfung der Juden im italienischen Raum. Er hat sich dabei um die Endlösung der Judenfrage namhafte Verdienste erworben und sich bei zahlreichen Judenaktionen persönlich ausgezeichnet.51 In Italien blieb Bosshammer bis Frühjahr 1945, zuletzt als Leiter der Außenstelle des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Padua. Auf seiner Flucht nach Österreich geriet er im April 1945 – vermutlich getarnt als Wehrmachtsangehöriger – in amerikanische Gefangenschaft, wurde aber im September desselben Jahres bereits wieder entlassen. Unmittelbar nach seiner Entlassung kehrte Bosshammer – offensichtlich aus Gründen der Vorsicht und Tarnung – nicht zu seiner Familie nach Wiesbaden zurück, sondern zog nach Remscheid.52 Dort, in der Nähe seiner Verwandten (die Eltern lebten in Wermelskirchen, seine Schwester in Wuppertal), wechselte er seine Identität. Mit den Wehrmachtspapieren seines Vetters ausgestattet, arbeitete er auf Vermittlung des Remscheider Arbeitsamtes unter dem falschen Namen Max Müller bis Januar 1947 als Hilfsarbeiter in der Hobelfabrik E.C. Emmerich in Remscheid-Hasten, wo sich der ehemals hochrangige SS-Offizier und Regierungsrat Bosshammer „in bester Weise der Betriebsgemeinschaft eingeordnet [hatte] und sich infolge seines einfachen, kameradschaftlichen Wesens […] der Wertschätzung der gesamten Betriebsangehörigen erfreute.“53 Vermutlich aufgrund einer anonymen Anzeige wurde seine falsche Identität jedoch bekannt und Bosshammer noch im selben Monat verhaftet und in ein Internierungslager der britischen Besatzungsbehörde nach Recklinghausen verbracht. Im anschließenden Spruchkammerverfahren – die Anklage lautete auf Mitgliedschaft in einer vom alliierten Militärtribunal in Nürnberg für verbrecherisch erklärten Organisation – trat Bosshammer die Flucht nach vorne an. Seine juristische Vertretung übernahm der – im übrigen auch als (turnus- 121 mäßiger) Vorsitzender des Wuppertaler Entnazifizierungsberufungsausschusses tätige – Rechtsanwalt Dr. Lüdecke aus Elberfeld.54 In diesem Verfahren gab Bosshammer zwar bereitwillig zu, als Beamter im Reichssicherheitshauptamt und in Italien tätig gewesen zu sein, aber niemals im Eichmann-Referat gearbeitet und nichts über den wahren Zweck der Deportationen italienischer Juden gewußt zu haben. Er erklärte, seine Hauptaufgabe habe lediglich darin bestanden, den Schwarzhandel und die Korruption in den italienischen Verwaltungen zu bekämpfen und die Widerstandsbewegung zu kontrollieren. Den „Abtransport und die Ansiedlung [der Juden] in unbevölkerte Gebiete des Reichs oder außerhalb des Reiches“ betrachtete er als einen „kriegsbedingten Staatsnotstand“, leugnete aber, an diesen Aktionen beteiligt gewesen zu sein. Bosshammer erklärte ferner, es sei ihm nicht bekannt gewesen, „dass Juden in Konzentrationslager festgehalten worden sind, wenn nicht staatspolizeiliche Gründe dazu vorlagen.“55 Zur weiteren Entlastung führte er an, daß ein für ihn günstiges Leumundszeugnis des Bischofs von Padua eindeutig beweise, daß an seiner Tätigkeit in Italien „in dieser Hinsicht“ nichts zu beanstanden sei.56 Dieser Version folgte das Gericht weitgehend und verurteilte Friedrich Bosshammer im März 1948 lediglich wegen der Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation zu einer einjährigen Haftstrafe. Durch die Internierungshaft galt dieses Urteil bereits als verbüßt. Dieses skandalös niedrige Strafmaß dürfte zunächst mit zwei eher allgemeinen Faktoren zusammenhängen: Zum einen waren die in der Regel aus einem Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern zusammengesetzten und der alliierten Oberaufsicht unterstellten Spruchkammergerichte notorisch überlastet und unter Druck. Zum anderen gab es bei den alliierten Strafverfolgungsbehörden zu diesem Zeitpunkt nur wenig detaillierte Informationen hinsichtlich der Beteiligung der Sicherheitspolizei an Deportationen in den besetzten Ländern, erst recht in Italien. Gleichwohl bleibt es – nicht nur aus heutiger Sicht – unverständlich, daß trotz der den Richtern bekannten hochrangigen 122 Funktion des „Zivilinternierten“ dessen Angaben über seine Tätigkeit im RSHA und insbesondere in Italien nicht mit größerem Mißtrauen begegnet und diese sorgfältiger überprüft wurden. Ohne die vielen entlastenden Leumundszeugnisse, jene beliebten „Persilscheine“ also, die Bosshammers (erste) Frau und sein Rechtsanwalt herbeigeschaftt hatten, wäre das Spruchkammerurteil allerdings wohl kaum zu rechtfertigen gewesen. Unter den Leumundszeugnissen, die allesamt das Bild eines „charakterlich einwandfreien Menschen“ zeichnen, befand sich nicht nur das seines ehemaligen Pfarrers aus Opladen57, der u.a. zur Entlastung Bosshammers anführte, daß dieser einen Teil seiner Referendarausbildung bei einem jüdischen Rechtsanwalt in Opladen absolviert hatte und „nie politisch hervorgetreten oder aktiv im Sinne der Partei öffentlich tätig gewesen“ war, sondern auch das des bereits erwähnten Bischofs von Padua58 sowie das eines Pfarrers der Bekennenden Kirche, der Bosshammer als SS-Untersuchungsführer in Wiesbaden kennengelernt hatte.59 Besonders aufschlußreich ist das Leumundszeugnis einer während der Internierungshaft Bosshammers im Höseler Bethesda-Krankenhaus tätigen Ärztin, einer guten Freundin seiner Schwester, die mit dem späteren Chefarzt der Chirurgischen Abteilung der Bethesda-Klinik in Wuppertal verheiratet war. Im Haus seines Schwagers in der Platzhoffstraße 2 in Wuppertal-Elberfeld hatte Bosshammer Anfang der 50er Jahre einige Zeit gewohnt und dort auch seine erste Anwaltspraxis eröffnet. Bosshammer und diese Ärztin waren sich 1942/43 in Berlin begegnet und hatten sich offenbar angefreundet. In ihrem Entlastungszeugnis beschrieb sie ihre Erinnerung an diese Zeit, in der Bosshammer bereits vollständig in den Prozeß der „Endlösung“ involviert war: […] Mit großer Offenheit sprach er zu mir über das, was ihn damals bewegte und bedrückte. Aus allem redete zu mir ein herzensguter, ehrlicher, gerecht empfindender Mensch, hilfsbereit und zuverlässig. […] Er [Bosshammer] habe sich damals zum Studium der Rechtswissenschaften aus einem inneren Drang heraus, einmal wirkliches Recht zu sprechen, entschlossen. Nach Studienabschluß kam die erste Enttäuschung angesichts der äußerst schlechten Berufsaussichten. Später Übernahme in den S.D. und die Unmöglichkeit, davon wieder loszukommen. Das einzige, was er tun konnte, um sich und seiner Grundeinstellung zum Recht treu zu bleiben, war, innerhalb seines Wirkungsbereiches […] für Ordnung, Sauberkeit und Gerechtigkeit zu sorgen unter rückhaltlosem Einsatz seiner ganzen Person. Auf Grund meiner Menschenkenntnis, die zu erwerben man im ärztlichen Beruf reichlich Gelegenheit hat, glaube ich sagen zu können, daß Herr Bosshammer bei seinen charakterlichen Qualitäten und bei seinem Wesenszug, im anderen Menschen stets das Gute zu wecken, keinem Wesen ein Unrecht zu tun überhaupt in der Lage ist.60 Aus heutiger Sicht ist es fast unmöglich, präzise zu bestimmen, ob diese Loyalitätsbezeugung ehrlicher Auffassung und tatsächlicher Ahnungslosigkeit entsprach, oder möglicherweise ein bewußt ,geschöntes‘ Bild, das der engen Beziehungen zur Person Bosshammers und seiner Familie geschuldet war. Für die erste Annahme spricht, daß diese Eindrücke mit den in den anderen Leumundszeugnissen vorgebrachten und durchaus glaubhaft wirkenden Erinnerungen an Bosshammer korrespondieren. Das in diesen Dokumenten gezeichnete Persönlichkeitsprofil Bosshammers war gewiß nur schwer mit dessen aktiver Teilhabe an der „Endlösung“ in Einklang zu bringen. Gleichwohl trifft diese fast eine Persönlichkeitsspaltung nahelegende Charakterisierung auf zahlreiche hochrangige NS-Täter zu; diese indiziert geradezu die erschreckende – und den schmalen Grat zwischen Normalität und Verbrechen markierende – Doppelgesichtigkeit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Die Charakterisierung Bosshammers als eines „zuverlässigen, ehrlichen und gerecht empfindenden Menschen“ fügten sich in jedem Fall nahtlos in die von ihm und seinem Rechtsanwalt den Spruchkammerrichtern offerierte Version einer ,schuldlosen Verstrickung‘ und Nichtteilhabe an den NSVerbrechen. Wie bereitwillig das Gericht dieser Version folgte, dokumentiert die Urteilsbegründung im Fall Bosshammer vom 13. April 1948: Das Gericht hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom Angeklagten einen recht guten Eindruck gewonnen. Er war geständig. Sein anständiges männliches Verhalten zeigt, dass ihn sein schweres persönliches Erleben nach dem Zusammenbruch des Reichs geläutert hat. Er sieht seine Vergangenheit jetzt in einem anderen Licht. Trotz seiner früheren Tätigkeit kann nicht bezweifelt werden, daß er beim Aufbau eines freien Deutschland seine Kraft einsetzen wird.61 Derartige Unbedenklichkeitsatteste waren – zumindest was den Großteil ehemaliger NSFunktionseliten betraf – keineswegs die Ausnahme, sondern entsprachen der Regel. Sie ebneten Bosshammer und zahlreichen anderen Tätern den Weg zurück in die Gesellschaft und legten das Fundament für den erfolgreichen sozialen und beruflichen Wiederaufstieg. Das sich unmittelbar an das Spruchkammerverfahren anschließende Entnazifizierungsverfahren vor dem Wuppertaler Entnazifizierungsausschuß war daher fast nur noch eine Formsache und endete für ihn – nachdem sein Wuppertaler Rechtsanwalt auch die Berufung erfolgreich durchgefochten hatte62 – im November 1948 mit einer Einstufung in die Kategorie IV – als Mitläufer. Zwei Jahre brauchte es allerdings noch, um wieder an die juristische Laufbahn anknüpfen zu können. Auch hier erwiesen sich einmal mehr die Politiker als äußerst entgegenkommend. Im Oktober 1950 empfahl nämlich der Deutsche Bundestag den Ländern, die noch laufenden Entnazifizierungsverfahren einzustellen und die mit der Entnazifizierung verbundenen Berufsbeschränkungen aufzuheben.63 Offenbar noch im selben Monat beantragte Bosshammer deshalb beim Oberlandesgericht in Düsseldorf die Übernahme in den anwaltlichen Anwärterdienst.64 Nachdem schließlich im Februar 1952 auch in Nordrhein-Westfalen das Gesetz zum Abschluß der Entnazifizierung wirksam wurde, erhielt Bosshammer noch im August desselben Jahres beim Wuppertaler Amts- und Landgericht seine endgültige Zulassung als Rechtsanwalt. Seine Anwaltspraxis eröffnete er dann zunächst im Haus 123 seines Schwagers in der Elberfelder Platzhoffstraße, und kurz darauf an seinem neuen Wohnsitz in der Kärtnerstraße 13 in Vohwinkel, wo Bosshammers zweite Ehefrau ein Haus und eine Metzgerei besaß. Die kleine Kanzlei, die zwar gut ausgelastet war, aber wohl nicht besonders ambitioniert geführt wurde, befaßte sich hauptsächlich mit zivilrechtlichen Angelegenheiten. Bosshammers Anwaltspraxis profitierte indes nachhaltig von den Anfang der 60er Jahre im Zusammenhang des Baus der Stadtautobahn A 46 angestrengten Enteigungs- und Entschädigungsverfahren betroffener Vohwinkler Hauseigentümer und Grundstücksbesitzer.65 In diesen Kreisen erwarb sich Bosshammer durch sein juristisches Engagement hohes Ansehen.66 Zwar waren zahlreiche Gerüchte im Umlauf, er sei „ein hohes Tier“ in der SS gewesen, genaueres wußte man darüber wohl aber nicht bzw. wollte man in seinem persönlichen und gesellschaftlichen Umfeld möglicherweise auch nicht in Erfahrung bringen.67 Gesellschaftliche Aktivität entfaltete der als sehr gesellig geltende und regelmäßig bei kammermusikalischen Abenden seines Schwagers als Pianist auftretende Bosshammer u.a. als Vorstandsmitglied des Bürgervereins Vohwinkel-Nord. Eine gewisse lokale Prominenz erlangte er in seiner Funktion als juristischer Vertreter der seinerzeit zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen drei Vohwinkler Bürgervereine. Ende 1960 hatte diese Arbeitsgemeinschaft beim Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen einen lebhaft diskutierten und umstrittenen Antrag auf Ausgliederung des Stadtteils Vohwinkel aus dem Stadtgefüge Wuppertals gestellt und die Neubildung einer selbständigen Stadt angeregt. Beauftragter Unterzeichner dieses Antrags war Friedrich Bosshammer, unter dessen Vohwinkler Kanzleiadresse die ,AG‘ überdies firmierte.68 Die Tatsache, daß sich der frühere „Judenberater“ und enge Mitarbeiter Adolf Eichmanns derart öffentlich exponierte und damit immerhin riskierte, daß man auch außerhalb Wuppertals, ja sogar an höchsten Stellen auf ihn aufmerksam wurde, läßt vermuten, daß Bosshammer sich vor einer Strafverfolgung durch die deutschen Justizbehörden ziemlich sicher fühlte. 124 Als 1963 neue Aktenfunde aus dem Potsdamer Zentralarchiv auftauchten und an die „Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg weitergeleitet wurden, setzen gegen ihn und andere ehemalige leitende Beamte des Reichsicherheitshauptamtes Ermittlungen ein, die schließlich am 11. Januar 1968 zur Verhaftung Bosshammers in Wuppertal führten.69 Mitte Mai 1971 lag die 634 Seiten umfassende Anklageschrift vor, der Prozeß selbst begann Anfang Juni. Während dieses Prozesses wurden insgesamt 150 Zeugen vernommen, über 120 NSDokumente als Beweise vorgelegt und mehrere Historiker aus Deutschland und Italien als Gutachter gehört. Nach knapp einjähriger Verhandlungsdauer sprachen die Richter Bosshammer als eines „mit Hitler, Himmler und Eichmann gemeinschaftlich handelnden Mittäters wegen vorsätzlichen Mordes schuldig“ und verurteilten ihn zu lebenslänglicher Haft.70 Die Richter sahen es als zweifelsfrei erwiesen an, daß sich Bosshammer mit besonderem Eifer und „Radikalität in der Behandlung der Judenfrage“ hervorgetan und „sich den der nationalsozialistischen Weltanschauung innewohnenden Rassenhaß“ zu eigen gemacht hatte.71 Während des Verfahrens hatte Bosshammer zwar eine Mitverantwortung an den Verbrechen eingeräumt, seine direkte Mitwirkung daran jedoch hartnäckig geleugnet und seine Unschuld beteuert. Der Versuch seiner Verteidiger, ihn nicht als aktiven Mittäter, sondern lediglich als „Tatgehilfen“ zu belangen, schlug angesichts der erdrückenden Beweislast fehl. Ein halbes Jahr nach der Urteilsverkündung verstarb Bosshammer in der Haft an den Folgen eines Gehirnschlags. Anläßlich seiner Beerdigung am 21. Dezember 1972 fand in der – vollbesetzten – Kapelle des Friedhofs Ehrenhainstraße ein Trauergottesdienst für den Verstorbenen statt.72 Da offensichtlich die evangelischen Pfarrer in Vohwinkel die Durchführung einer solchen Zeremonie verweigert hatten, wurde Bosshammers Berliner Anstaltsseelsorger, der gute Beziehungen zum damaligen Vohwinkler Gemeindepfarrer unterhielt, damit beauftragt.73 Der Berliner Seelsorger würdigte in seiner Trauerrede, deren Text an die anwesen- den Trauergäste verteilt wurde, Bosshammer als einen tiefgläubigen, künstlerischen und sensiblen Menschen, der in ungerechtfertigter Weise das Opfer von Staatsanwälten geworden war, die ihres Alters wegen „das damalige Geschehen nicht verstehen und nachempfinden“ können. Viel war in dieser Rede auch von Gottes Gnade, göttlichen Gleichnissen und den Bomben auf deutsche Städte zu hören. Wörter wie Schuld und Verantwortung, oder gar eine Geste des Mitgefühls für die von Bosshammer in den Tod geschickten Menschen sucht man in dieser Rede allerdings vergebens.74 III. Zusammenfassung und Perspektiven für weitere Nachforschungen Abschließend seien hier noch einmal einige signifikante Merkmale der in diesem Beitrag vorgestellten NS-Täter hervorgehoben, denn in vielerlei Hinsicht sind sie für den Kreis der ehemaligen nationalsozialistischen Funktionseliten der mittleren Ebene in SS, SD, Gestapo und im Reichssicherheitshauptamt insgesamt charakteristisch: Erstens: Diese Männer entsprechen in keiner Weise dem populären Klischee des intellektuell beschränkten, nur auf Befehl und Gehorsam gedrillten „Nazi-Schergen“, dem ein verbrecherisches Regime die Lizenz zu Terror und Mord erteilt hatte und von denen sich heute zu distanzieren nicht allzu schwer fallen dürfte. Zweitens: Diese Männer kamen nicht vom Rand, sondern aus der Mitte der deutschen Gesellschaft und waren dort eng in soziale und familiäre Kontexte eingebunden. Sie besaßen in der Regel eine über dem (deutschen) Durchschnitt liegende Bildung, hatten studiert, vielfach sogar promoviert und waren keineswegs von Beginn an auf eine Laufbahn im nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungsapparat abonniert. Gleichwohl nutzten sie bewußt und zielstrebig die mit ihrem Eintritt in die SS verbundenen Karriere- und Aufstiegschancen. Drittens: Ihre verbrecherischen Handlungen resultieren aus einem Bündel sich ergänzender Motivzusammenhänge und Erklärungs- muster: Gehorsam und Pflichtbewußtsein, Karrierestreben, Männlichkeitsideale von Härte gegen sich und andere, Abschottung gegen Humanitätsideale. Dazu gehörte aber auch eine gefestigte völkisch-nationale und antisemitische Weltanschauung und ein Menschenbild, das auf biologisch-rassistischen Prinzipien beruhte. Viertens: Kurt Hans, Hans Schumacher und Friedrich Bosshammer gehörten einer Generation an, deren Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensmuster bereits vor 1933 entscheidend geprägt wurden. Alle drei waren in einem protestantischen Milieu herangewachsen. Die Fundamente ihres humanen, sozialen und moralischen Wertekanons wurden nicht erst im „Dritten Reich“ gelegt, sondern waren bereits bei Machtantritt Hitlers wesentlich vorgebildet. Fünftens: Nach 1945 sind diese Männer in der Regel wieder in die Normalität und Bürgerlichkeit zurückgekehrt und haben sich – mit Hilfe großzügiger Integrationsangebote aus Politik und Gesellschaft – überwiegend erfolgreich in der deutschen Nachkriegsgesellschaft etabliert. Die meisten, die im Reichssicherheitshauptamt als sog. „Schreibtischtäter“ wirkten, wurden niemals von einem deutschen Gericht zur Verantwortung gezogen.75 Bei der Beantwortung der Frage nach den Voraussetzungen für die bewußte Komplizenschaft mit einem verbrecherischen Regime wird man diese Faktoren mit einbeziehen und die Geschichte der Täter gleichsam als „Kollektivbiographie“ einer spezifischen Generation untersuchen und in eine Gesellschaftsgeschichte Deutschlands nicht nur während der NS-Zeit, sondern auch und vor allem der Jahre vor 1933 und nach 1945 einordnen müssen. Einen solchen Ansatz vertreten vor allem die Historiker Michael Wildt und Ulrich Herbert im Rahmen ihrer Untersuchungen über das Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes und von Sicherheitspolizei und SD, das die eigentliche Kerngruppe der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bildete.76 Abschließend: Wünschenswert wäre es, im Rahmen lokaler und regionaler Untersuchungen zum Nationalsozialismus neben den Tätern 125 verstärkt auch jene Institutionen in den Blick zu nehmen, die hier vor Ort an Entrechtung und Verfolgung von Juden, politischen Gegnern, Sinti und Roma und anderen „unerwünschten“ Personen, an Terror, an Deportations- und Vernichtungsmaßnahmen mitgewirkt und von der Beraubung der Juden oder der Ausbeutung von Zwangsarbeitern profitiert haben. Zu diesen Institutionen zählen etwa die Finanz- und Arbeitsämter, Behörden der Stadtverwaltung, Justizeinrichtungen, zahlreiche Firmen, die Industrie- und Handelskammer, die Reichsbahn und die lokalen und regionalen Dienststellen von Polizei und Gestapo. Über die Tätigkeit dieser Institutionen und ihres Personals hier in Wuppertal wissen wir kaum etwas. Der 70. Geburtstag der Stadt Wuppertal wäre ein guter Anlaß, auch solche bisher vernachlässigten Themen mit auf die Agenda der Stadtgeschichte zu setzen. Anmerkungen 1 Geringfügig veränderte Version eines Vortrags auf der Jahreshauptversammlung des Bergischen Geschichtsvereins, Abt. Wuppertal am 4.3.1999. 2 Michael Okroy: Paul Blobel – Architekt, Familienvater, Massenmörder. Eine regionale Täterskizze. In: Hier wohnte Frau Antonie Giese. Die Geschichte der Juden im Bergischen Land. Essays und Dokumente. Hrsg. vom Trägerverein der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal e.V., Wuppertal 1997 (2. Aufl.), S. 92–98. 3 Ebd., S. 40–44: ,Durch die Enge geführt‘. Zur Entstehung und Konzeption des „Nebenthemas“. 4 So etwa der als zeitweiliger Kommandant eines Arbeitslagers in Polen tätige Artur Gosberg aus Beyenburg, der u.a. in den Gaskammern des Vernichtungslagers Belzec eingesetzte SSScharführer Werner Dubois aus Langerfeld oder die beiden maßgeblich an der Judenmordaktion in Bialystok vom 27. Juni 1941 beteiligten Wuppertaler Polizeioffiziere Heinrich Schneider und Rolf-Joachim Buchs. 5 Vgl. Michael Okroy: Exzeßtäter, Fanatiker, Karrieristen. Prozesse wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen vor Wuppertaler Gerichten. 126 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 In: Romerike Berge, Jg. 47, H. 3 (1997), S. 24–32. Zitiert nach: Norbert Frei: Vergangenheitspolitik in den fünfziger Jahren. In: Wilfried Loth, Bernd A. Rusinek (Hg.): Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Frankfurt/New York 1998, S. 79–93. Vgl. Cornelia Rauh-Kühne: Die Entnazifizierung und die deutsche Gesellschaft. In: Archiv für Zeitgeschichte 35 (1995), S. 35–70; Clemens Vollnhals: Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945–1949. Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit. München 1989 sowie ders. (Hg.): Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945–1949. Münschen 1991. Ulrich Herbert: NS-Eliten in der Bundesrepublik. In: W. Loth, B.A. Rusinek (Hg.): Verwandlungspolitik, a.a.O., S. 93–115, hier: S. 102. Office of Intelligence Research. Report Nr. 4626, 15.4.1948: „Der gegenwärtige Stand der Entnazifizierung in Westdeutschland und Berlin“. Abgedr. in: Alfons Söllner (Hg.): Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Bd. 2. Frankfurt/M. 1986, S. 217–249. Siehe dazu detailliert Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996. HStAD (Nebenstelle Kalkum) Bestand Rep. 247/1–67: Verfahrensakten des Bialystok-Prozesses vor dem LG Wuppertal. Joachim Perels: Vom Sturm auf die Stasi-Zentrale und der Kartei der Gestapo. In: Frankfurter Rundschau, 23.4.1992, S. 17. Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989. Bonn (3. Aufl.) 1996. Siehe dazu detailliert N. Frei (1996), a.a.O. Rheinische Post, 2.2.1951. Siehe dazu Ernst Klee: Persilschein und falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen. Frankfurt/M. (3., überarb. Aufl.) 1992. Thorsten Schmitz: Blutbande. In: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 46, 13.11.1998. „Friede auch den Menschen bösen Willens“. Interview mit Prof. Dr. Hermann Schlingensiepen anläßlich seines 70. Geburtstages. In: Westdeutsche Rundschau (Stadt Wuppertal) Nr. 186, 13.8.1966. Unter dem Titel: „Adolf Eichmann und wir“ publizierte Schlingensiepen in der Zeitschrift „Politisch-Soziale Korrespondenz“ (Bonn) am 1.2.1962 seine Reflexionen über den Eichmann-Prozeß. 19 „Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind“. Sonntagsblatt, (ca.) 25.5.1965. 20 Abgedruckt in Reinhard Henkys: Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Geschichte und Gericht. Stuttgart/Berlin 1964, S. 339–342. Um 1960 hatte Professor Schlingensiepen darüber hinaus einen umfangreichen und über mehrere Jahre andauernden Briefwechsel mit der in NS-Strafsachen engagierten Staatsanwältin Dr. Barbara Just-Dahlmann geführt. Diesen kommentierte die Staatsanwältin in ihrem 1988 erschienenen Buch „Die Gehilfen. NS-Verbrechen und die Justiz nach 1945“ wie folgt: Ferner hatten wir einen sehr umfangreichen Briefwechsel […] mit Professor D.H. Schlingensiepen in Wuppertal/Barmen, der in zahlreichen, intensiven und unendlich langen Schreiben glaubte, uns – schon zu diesem Zeitpunkt – an „Gnade“ und „Vergebung“ erinnern zu müssen. Wir hingegen fanden, daß erst einmal „Recht“ zu sprechen sei. Es war eine anstrengende Korrespondenz… (S. 110). 21 Ulrich Herbert: NS-Eliten in der Bundesrepublik, a.a.O., S. 109. 22 C. F. Rüter u.a. (Hg.): Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945– 1966. Amsterdam 1968ff. In Bearbeitung inzwischen auch die ab 1966 bis 1999 gefällten westdeutschen Strafurteile. In Vorbereitung befindet sich ferner die Publikation „DDR-Justiz und NS-Verbrechen“ mit Strafurteilen von 1945 bis 1990. Für eine Übersicht und Vorrecherche sehr zu empfehlen: C. F. Rüter/D. W. de Mildt: Die westdeutschen Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1997. Eine systematische Verfahrensbeschreibung mit Karten und Registern. Amsterdam/München 1998. 23 Peter Klein (Hg.): Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeitsund Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD. Berlin 1997. 24 Näheres dazu bei Stephan Stracke: Mit rabenschwarzer Zuversicht. Kommunistische Jugendliche in Wuppertal 1916–1936. Milieu und Widerstand. Bocholt/Bredevoort 1998, hier: S. 54f. 25 Wichtige biographische Informationen, die für die eigenen Recherchen noch einmal verifiziert und ergänzt wurden, enthält der Aufsatz von Peter Fasel: „Von Babij Jar nach Würzburg. Die blutige Karriere des Kurt Hans.“ In: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst. Band 26 27 28 29 30 31 32 47 (1995), S. 27–46. Der Beitrag dokumentiert darüber hinaus zentrale Passagen aus der umfangreichen Anklage- und Urteilsschrift gegen Hans und andere Männer des Blobel-Kommandos. Siehe Adressbuch der Stadt Wuppertal von 1940/41 s.v. „Preußische Staatsbehörden und Organisationen behördlichen Charakters“. Ein aufschlußreiches Indiz für das enge personelle Geflecht von staatlicher Polizei und Gestapo und SD vor Ort liefern zwei im NRWHauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD) lagernde Dokumente. Das eine enthält eine Aufforderung des Wuppertaler Polizeipräsidenten vom 6. Juli 1938, ein Verzeichnis der seiner Aufsicht unterstellten jüdischen Vereine und Organisationen anzufertigen. Das zweite Dokument führt – möglicherweise als Beitrag zu der vom SD-Hauptamt reichsweit geplanten sog. „Judenkartei“ – eine Liste mit jüdischen Vereinen und Organisationen aus Wuppertal, Remscheid und Solingen auf und wurde am 8. Juli 1938 von der Gestapo-Außenstelle Wuppertal an die Staatspolizeistelle Düsseldorf gesandt. HStAD RW 18–36 Bl. 2–4. Detailliert bei Michael Wildt (Hg.): Die Judenpolitik des SD. Eine Dokumentation. (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Bd. 71.) München 1995. Vgl. dazu meinen Beitrag über Paul Blobel in Romerike Berge Jg. 46, H. 3 (1996), S. 20–27. Einzelheiten dazu sowie Auszüge aus Vernehmungsprotokollen und Zeugenaussagen im allierten Strafverfahren gegen Hans siehe Peter Fasel: Von Babij Jar nach Würzburg, a.a.O. Über den Prozeßbeginn berichtete u.a. auch die NRZ am 3.10.1967 in ihren „Wuppertaler Stadtnachrichten“: „Massenmordprozeß in Darmstadt: Auch ein Wuppertaler steht vor Gericht.“ Eine vom Bundesjustizministerium Ende 1993 veröffentlichte Statistik belegt dies anhand einiger aufschlußreicher Zahlen. Zwischen 1948 bis Ende 1993 wurden gegen insgesamt 105.688 Personen Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen eingeleitet. Rechtskräftig verurteilt wurden 6494 Angeklagte. Nur in 178 Fällen erhielten NS-Verbrecher die Höchststrafe – bis 1949 zwölfmal die Todesstrafe und 166mal lebenslänglich. Der überwiegende Teil der übrigen Verurteilten kam mit Haftstrafen von unter 10 Jahren davon. Dazu detailliert Birgit Nehmer: Die Täter als Gehilfen? Zur Ahndung von Einsatzgruppenverbrechen. In: Redaktion Kritische Justiz (Hg.): 127 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Die juristische Aufarbeitung des UnrechtsStaats. Baden-Baden 1998, S. 635–669. Die Angaben zu Laufbahn und Karriere Schumachers bei Polizei-, SS und Reichssicherheitshauptamt (RSHA) sind seiner im Bundesarchiv Berlin aufbewahrten SS-Offiziersakte (SSOSchumacher) entnommen. Wichtige Hinweise auf Schumachers Nachkriegskarriere bei Heiner Lichtenstein: „Freiwillig verzichtet. Ein Polizist zeigt Reue.“ In: Ders.: Himmlers grüne Helfer. Die Schutz- und Ordnungspolizei im „Dritten Reich“. Köln 1990, S. 132–143. Das Strafurteil ist abgedruckt in C.F.Rüter u.a. (Hg.): Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 18, a.a.O. S. 65–132. Dazu die umfangreiche Studie von Jens Banach: Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936–1945. Paderborn 1998. C. F. Rüter u.a. (Hg.): Justiz und NS-Verbrechen, a.a.O., S. 112f. Siehe dazu H. Lichtenstein: Himmlers grüne Helfer, a.a.O. S. 133, ferner Gerhard Paul: „Zwischen Selbstmord, Illegalität und neuer Karriere. Ehemalige Gestapo-Bedienstete im Nachkriegsdeutschland.“ In: G. Paul/Michael Mallmann (Hg.): Die Gestapo. Mythos und Realität. Darmstadt 1995, S. 529–551. Bundesarchiv Berlin (BAB), Aktenbestände des Rasse- und Siedlungshauptamtes: SS-Ahnentafel Bosshammer. Bei SS-Angehörigen mußte die „arische“ Abstammung bis 1800, bei SS-Führern „möglichst“ bis 1750 nachgewiesen werden. In Bosshammers Lebenslauf vom 4.6.1948, den er im Rahmen seines Entnazifizierungsberufungsverfahren anfertigen mußte, ist von dieser Parteiaktivität selbstverständlich nicht die Rede (siehe: HStAD NW–1037-B I–8877) Eine den wirklichen Tatsachen näher kommende Version enthält ein handschriftlicher Lebenslauf vom März 1940, der sich in seiner SS-Personalakte befindet (siehe: BAB/SSO-Bosshammer). Zum Sozial- und Tätigkeitsprofil der den mittleren und leitenden Dienst des SD bildenden Referenten siehe Jens Banach: Heydrichs Elite, a.a.O., S. 300f. Ebd. S. 301. Als erster der vom Deutschen Reich abhängigen Satellitenstaaten hatte sich die von dem katholischen Priester Josef Tiso regierte Slowakei im September 1941 eine den „Nürnberger Gesetzen“ entsprechende antijüdische Gesetzgebung zu eigen gemacht und sich bereitwillig mit der 128 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 Deportation ihrer Juden, die im März 1942 begann, einverstanden erklärt. ZStL AR 1310/63 E 5, Bd. V, S. 779ff. (Verfahren des Kammergerichts Berlin – 1 Js 1/65 und 1 Ks 1/71 – gegen Friedrich Bosshammer u.a.) Claudia Steur: Theodor Dannecker. Ein Funktionär der „Endlösung“. Essen 1997, S. 98. Zitiert nach dem von Bosshammer verfaßten und unterzeichneten Protokoll des Gesprächs mit Legationsrat von Thadden am 14.5.1943. ZStL 415 AR 1310/63 E 5, Bd. V, S. 774–776. Einen ersten informativen Überblick über den Komplex „Judendeportationen aus Italien“ bietet der ,italienische‘ Beitrag von Liliana Picciotto Fargion in dem von Wolfgang Benz herausgegebenen Sammelband: Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. München 1996, S. 199–229. Dem Vorschlag zur Beförderung zum Sturmbannführer (24.6.1943) ist eine von Bosshammers unmittelbarem Vorgesetzten Adolf Eichmann verfaßte und unterzeichnete Beurteilung beigefügt. (BAB/SSO-Bosshammer) ZStL AR 1310/63 E 5, Bd. V, S. 795f. Ebd. S. 804ff. Wolfgang Benz: Dimension, a.a.O. S. 206. ZStL AR 1310/63 E 5, Bd. V., S. 1095. Bosshammers Rückkehr ins Bergische läßt sich fast lückenlos anhand seiner Spruchkammerverfahrensakte rekonstruieren. Bundesarchiv Koblenz (BAK), Bestände Spruchgerichte in der Britischen Zone, Z 42 VI/1098: Verfahrensakten des Spruchgerichts Recklinghausen zu Fritz Bosshammer. BAK, Z 42 VI/1098, Bl. 57. Ebd. Bl. 35. Dazu auch detailliert: Anselm Faust: Entnazifizierung in Wuppertal: Eine Fallstudie. In: Stephan Lennartz (Red.): Deutsche Nachkriegswelten. (Bensberger Protokolle 76). Bergisch-Gladbach 1992, S. 41–58. Vernehmungsprotokoll des „Zivilinternierten“ Friedrich Bosshammer vom 18.6.1947. BAK, Z 42 VI/1098, Bl. 2f. Ebd. Bl. 3. Ebd. Bl. 16. Ebd. Bl. 19f. Ebd. Bl. 18. Ebd. Bl. 17. Ebd. Bl. 66ff., hier: Bl. 67f.: Schriftlicher Urteilstext der 8. Spruchkammer des Spruchgerichts Recklinghausen. Das mündliche Urteil war bereits am 18.3.1948 ergangen. HStAD NW–1037 B I 8877 (Akten des Sonder- 63 64 65 66 67 68 beauftragten für die Entnazifizierung im Lande Nordrhein-Westfalen). Zu den Auswirkungen in NRW siehe: Wolfgang Krüger: Entnazifiziert! Zur Praxis der politischen Säuberung in Nordrhein-Westfalen. Wuppertal 1982 und Irmgard Lange: Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen. Richtlinien, Anweisungen, Organisation. Siegburg 1976. BAK Z 42 VI/1098, Bl. 76. Zitiert nach einem schriftlich fixierten Gesprächsprotokoll mit einer früheren Kanzleiangestellten Bosshammers vom Frühjahr 1999. Welche Rolle in diesem Zusammenhang der von mehreren Zeitzeugen immer wieder genannte „Freundeskreis Boltenberg“, ein Zusammenschluß vermögender und einflußreicher Bürger, spielte, bedarf noch weiterer Recherchen. Genauere Auskünfte darüber gibt vermutlich der bei der Friedrich-Ebert-Stiftung deponierte Nachlaß des verstorbenen früheren Wuppertaler SPD-Bundestagsabgeordneten Adolf Scheu aus Vohwinkel. Angeblich existiert auch ein – bislang noch nicht aufgefundener – Nachruf dieses „Freundeskreises“ auf den im Dezember 1972 verstorbenen Bosshammer. Zu den bislang noch offenen Fragen gehört, wer in seinem persönlichen und beruflichen Umkreis zu welchem Zeitpunkt genauer über Bosshammers Vergangenheit informiert gewesen ist, darüber wissentlich geschwiegen hat und damit unbewußt oder mit Vorsatz an seiner erfolgreichen Tarnung beteiligt war. Zwangsläufig stellt sich damit auch die Frage, ob und wenn ja, in welchem Maß Bosshammers damaliges Umfeld selbst durch frühere Ämter und Funktionen im NS-Staat belastet war. Antrag der Arbeitsgemeinschaft der Bürgervereine Wuppertal-Vohwinkel vom 30. Dezember 1960 an den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Volker Hingkeldey danke ich für den Hinweis auf die Existenz dieses Dokuments. 69 Über die Verhaftung Bosshammers und eines weiteren hochrangigen Mitarbeiters Eichmanns, Rechtsanwalt Otto Hunsche aus Datteln, berichteten das ZDF-Nachrichtenmagazin „Heute“ ín seinen Abendnachrichten vom 11.1.1968 sowie die lokalen und überregionalen Tageszeitungen. 70 General-Anzeiger Wuppertal, 12.4.1972. 71 ZStL 415 AR 1310/63, a.a.O. (Band- und Seitenangaben unleserlich). 72 Laut Auskunft von zwei seinerzeit anwesenden Trauergästen. Eine Zeitzeugin erinnerte sich daran, „in einem Kreis vornehmer und erlauchter Gäste“ gewesen zu sein. 73 Laut Auskunft einer der Angehörigen des Verstorbenen hatten die Vohwinkler Pfarrer die Trauerzeremonie wohl deshalb abgelehnt, weil Bosshammer nach 1945 – im Unterschied zu den meisten NS-Tätern – nicht wieder in die Kirche eingetreten war. 74 Dieses aufschlußreiche, gleichwohl deprimierende Dokument wurde mir freundlicherweise von einer Vohwinkler Bürgerin, die an der Trauerfeier teilgenommen hatte, zur Verfügung gestellt. 75 Durch ein vermutliches Versehen – oder durch einen unbemerkt gebliebenen Verfahrenstrick – bei der Neuregelung der sog. „Beihilfe“-Verjährung von 1968 kam es nicht zu den kurz vor der Anklageerhebung stehenden Verfahren gegen die Hauptverantwortlichen für die nationalsozialistischen Massenverbrechen in Sicherheitspolizei und RSHA. 76 Ulrich Herbert: Best, a.a.O.(bes. 1. Teil); Michael Wildt (Hg.): Die Judenpolitik des SD 1935 bis 1938, a.a.O. In Vorbereitung ist derzeit eine von M. Wildt berarbeitete umfangreiche Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes; ferner: Jens Banach: Heydrichs Elite, a.a.O., sowie Gerhard Paul: „Ganz normale Akademiker. Eine Fallstudie zur staatspolizeilichen Funktionselite.“ In: G. Paul/M. Mall- ❊ ❊ ❊ 129