Prof. Dr. Dagmar Richter INP PAN Warszawa Institut für Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften [email protected] Universität des Saarlandes, WS 2014/15 Vorlesung „Staatsrecht I“ Nr. 4: Die Bundesregierung 1 Historische Grundlagen: Reichsverfassung 1871: Monarch ernennt gem. Art. 15 RV 1871 Reichskanzler seines Vertrauens („Regierung seiner Majestät“); keine Minister im heutigen Sinne: Staatssekretäre leiteten Reichsämter, nicht Ministerien; Parlament hat kein Mitspracherecht betreffend Regierung. Gewählte Reichstagsabgeordnete stehen kaiserlich installierter Reichsleitung gegenüber. Übergang zum parlamentarischen System durch Verfassungsänderung vom 28.10.1918. Weimarer Reichsverfassung 1919: → Auswahl und Ernennung des Reichskanzlers durch RPräsident, Reichstag konnte nur abwählen (Art. 53 f. WRV) – nicht nur den RKanzler, sondern auch einzelne Minister (Art. 54 WRV)! 2 Regierung im parlamentarischen Regierungssystem: → In Deutschland gilt heute das parlamentarische Regierungssystem, d.h. BReg ist vom Vertrauen des Parlaments (der politischen Mehrheit im BT) abhängig. Die BReg gelangt nur mit Zustimmung des BT ins Amt (Art. 63 f. GG). BPräs hat nur Vorschlagsrecht, das sich an Mehrheitsverhältnissen im BT orientieren muss. Der BT kann die BKanzlerin und damit die BReg (aber nicht einzelne Mitglieder separat) stürzen (Art. 67 GG). Die BReg (d.h. BKanzlerin) bedarf auch während der gesamten Regierungszeit des Vertrauens des BT (Art. 67 f. GG). 3 Verfahren der Regierungsbildung: (1) BPräs schlägt nach Betrachtung der politischen Mehrheiten im BT dem BT eine Kanzlerkandidatin zur Wahl vor (Art. 63 GG). BPräs darf Vorschlag nicht an Bedingungen („Präsidentenkapitulationen“) knüpfen! (2) BT wählt ohne Aussprache auf Vorschlag des BPräs mit „Kanzlermehrheit“ (Art. 63 I, II 1 GG; s.u.). (3) BPräs ernennt gewählte Person zur Bundeskanzlerin (Art. 58 S. 2, 63 II 2 GG). (4) BK schlägt BPräs Minister und Ministerinnen zur Ernennung vor (Art. 64 I GG). BK allein besitzt das „materielle Kabinettsbildungsrecht“ (auch: „Kanzlerprinzip“ oder „Kanzlerdemokratie“). (5) BPräs ernennt vorgeschlagene Minister u. Ministerinnen (Art. 64 I GG: formelles Kabinettsbildungsrecht). (6) BK und alle Minister u. Ministerinnen legen Amtseid vor dem BT ab (Art. 64 II, 56 GG). 4 „Kanzlermehrheit“: → Mehrheit im BT, die für Kanzlerwahl erforderlich ist; → Art. 63 II 1 GG: „Mehrheit der Mitglieder des Bundestages“; → Art. 121 GG (Legaldefinition): Mehrheit der Mitglieder = „gesetzliche Mehrheit“; → Gesetzliche Mitgliederzahl BT: § 1 I BWahlG (reguläre Sitzzahl) und § 6 V BWahlG (Überhangmandate). 18. Legislatur (seit Dez. 2013): Gesetzliche Mitglieder BT: 631; erforderlich: 316 Stimmen. Kanzlermehrheit außerdem erforderlich für: 67 I 1 GG: Konstruktives Misstrauensvotum („Kanzlersturz“); 68 I GG: Vertrauensfrage → Verfehlen der Kanzlermehrheit eröffnet Option zur Auflösung des BT. Siehe auch Art. 52 III (i.V.m. Art. 51 II, III) GG betr. Bundesrat. 5 Verfahren bei misslingender Kanzlerwahl: (1) Vorgeschlagene Person erreicht keine Kanzlermehrheit. (2) 2. Wahlphase (Art. 63 III GG): Innerhalb 14 Tage Möglichkeit zur erneuten Wahl (oder zu mehreren Wahlgängen!) mit gesetzlicher Mehrheit (Art. 121 GG). Wahlvorschlag fällt an BT; erforderliches Quorum: mindestens ein Viertel der Abgeordneten (§ 4 S. 2 GO-BT). (3) Vorgeschlagene Person scheitert erneut. (4) 3. Wahlphase (Folie 7). 6 Verfahren bei misslingender Kanzlerwahl (Fortsetzung): (4) 3. Wahlphase (Art. 63 IV GG): Unverzüglich neuer Wahlgang. Kein Quorum-Erfordernis. Gewählt ist, „wer die meisten Stimmen erhält“ = relative Mehrheit. → Mehrheit erreicht, wenn mindestens eine Ja-Stimme mehr als NeinStimmen abgegeben. → Abgegebene SPmmen = Ja-Stimmen + Nein-Stimmen + Enthaltungen. Gibt es Enthaltungen, kann Mehrheit weniger als 50% betragen (z.B.: 30% ja, 10% nein, 60% Enthaltung). 2 Möglichkeiten: 1. Gesetzliche Mehrheit wird nun erreicht → BPräs muss ernennen. 2. Gesetzliche Mehrheit wird nicht erreicht → BPräs kann ernennen (Minderheitsregierung) oder BT auflösen. 7 Beschlussfähigkeit des BT: → GG schweigt, aber: verfassungskonforme Regelung in § 45 GO-BT (BVerfGE 44, 308, 315). Beschlussfähigkeit des BT liegt gem. § 45 GO-BT vor: (1) wenn „mehr als die Hälfte seiner Mitglieder“ (= gesetzliche Mehrheit) anwesend ist; (2) wenn zwar weniger als die Hälfte der Mitglieder anwesend ist, die Beschlussunfähigkeit aber nicht auf Antrag einer Fraktion oder 5% der Mitglieder des BT festgestellt wurde. → Fiktion der Beschlussfähigkeit folgt aus Feststellungserfordernis in § 45 GOBT. → Problem: Beschlussfähigkeit, wenn drei Abgeordnete im Saal sitzen? Vereinbarkeit mit Grundsatz der repräsentativen Demokratie (siehe BVerfG a.a.O.)? Stimmenzählung zur Feststellung der Beschlussfähigkeit (§ 45 II, IV GO-BT): durch „Hammelsprung“ (§ 51 GO-BT) oder namentliche Abstimmung (§ 52 GO-BT). 8 Stimmenzählung zur Klärung der Beschlussfähigkeit (§ 45 II, IV GO-BT): durch „Hammelsprung“ (§ 51 GO-BT) oder namentliche Abstimmung (§ 52 GO-BT). „Hammelsprung“ (© Welt) und namentliche Abstimmung (© Ein Tag Deutschland) 9 Kanzlerwahl mit verdeckten Stimmzetteln (Art. 63 I, II GG I.V.m. §§ 4 I 1, 49 GO-BT): MDB Dr. Merkel mit Stimmkarte und Wahlausweis (© CDU/CSU; T. Koch) Ergebnisverkündung © Cicero Amtliches Ergebnis (BT-Drs. 18/4) → gesetzl. Mitglieder: 631; erforderlich: 316; für die Vorgeschlagene: 462/ dagegen: 150/ Enthaltung: 9. 10 BPräs übergibt Ernennungsurkunde an Bundeskanzlerin (Art. 63 II 2 GG), 17.12.2013 (morgens), Schloss Bellevue © BPräsdialamt/Bergmann; BReg/Denzel 11 BPräs übergibt Ernennungsurkunde an Bundeskabinett (Art. 64 GG), 17.12.2013 (Vormittag), Schloss Bellevue: 12 BT-Präs nimmt BKanzlerin vor dem BT den Amtseid ab (Art. 56, 64 II GG), 17.12.2013 (Mittag) Bild: FDP Thüringen 13 Vereidigung des Kabinetts im Bundestag (Art. 56, 64 II GG), 17.12.2013 (früher Nachmittag): © BReg/ Döring (Plenum); BReg/Steins (Gröhe); Focus (v. d. Leyen) 14 Einnahme der Plätze auf der Regierungsbank im BT, 17.12.2013 (Nachmittag) © CDU/CSU-Fraktion; T. Koch 15 Erste Kabinettssitzung, 17.12.2013 (später Nachmittag) © BReg/Bergmann 16 Beendigung der Amtszeit der BReg: Zusammentritt eines neuen BT (Art. 69 II GG); Abwahl durch Neuwahl eines neuen BK (Art. 67 GG). Rücktritt der BKanzlerin; sonstige Gründe des endgültigen Ausfalls. Folgen des Ausfalls von BK oder Ministern → Weiterführung der GeschäWe gem. Art. 69 III GG ; siehe auch § 8 GO-BReg zur Stellvertretung des BK. → GG erstrebt, FunkPonieren der alten Organe bis zur InstallaPon der neuen aufrecht zu erhalten (siehe Art. 69 II, III GG). → Rücktritt des BK (z.B. Adenauer 1963, Erhard 1966, Brandt 1974) beendet Ministerämter (Art. 69 II GG) und führt zur Wahl eines neuen BK gem. Art. 63 GG. 17 Kompetenzen der Bundeskanzlerin (BK): Materielles Kabinettsbildungsrecht (s.o.). Gouvernementale Organisationskompetenz = „Kernkompetenz“ oder „Hausgut“ der BK → BK kann durch Organisationserlass Ministerien schließen, neu errichten, zusammenlegen, umstrukturieren etc. Aber: Bei finanzwirksamen Veränderungen ist Einzelplan im Haushaltsplan erforderlich → gewisse Abhängigkeit vom Budgetrecht des Parlaments. Richtlinienkompetenz der BK (Art. 65 I 1 GG). Mitwirkung an Kollegialentscheidungen der BReg und Geschäftsleitung (§§ 6, 15 ff. GO-BReg). Befehls- und Kommandogewalt im Verteidigungsfall (Art. 115 b GG). 18 Organisationskompetenz der BKanzlerin: Gem. § 9 GO-BReg legt BK die Geschäftsbereiche der Bundesministerien „in den Grundzügen“ fest. Aber: BK kann auch Feinabgrenzungen durch Organisationserlass vornehmen. Bestimmte Ministerien sind obligatorisch (z.B. Art. 65 a, 96 II, 112 GG). Aber: Kein Verbot der Ämterhäufung. BKanzlerin kann auch Ministerien selbst in „Personalunion“ übernehmen. Problem: Zugriffsrecht der Legislative auf Regierungsorganisation? Zulässig: Aufgabenzuweisung durch Gesetz an bestimmte Ministerien. Unantastbar ist nur der „Kernbereich exekutivischer Eigenverantwortung“. Problem: „Institutioneller Gesetzesvorbehalt“ – bedürfen bestimmte einschneidende Organisationsakte des Gesetzes? → Parlamentsvorbehalt bejahend: VerfGH NRW (NJW 1999, 1243 ff. mit krit. Anm. Böckenförde ibid. 1235) für den Fall der Zusammenlegung von Innenund Justizressort. 19 Verteilung der Verantwortung: → CharakterisPsch für Art. 65 GG: Kombination von monokratischen und kollegialen Elementen. 3 Prinzipien der Abgrenzung: (1) Richtlinienkompetenz der BK (2) Ressortprinzip (3) Kabinetts- oder Kollegialprinzip 20 Richtlinienkompetenz (Art. 65 S. 1 GG, § 1 GO-BReg): korrespondiert mit Abhängigkeit der BK vom Vertrauen des BT (Art. 63, 67 ff. GG); „Richtlinien“ umfasst auch Einzelentscheidungen, denn BK trägt Gesamtverantwortung für Regierungspolitik; wirkt nur gegenüber Ministern und Ministerinnen, nicht gegenüber der BReg als Kollegium! für Minister und Ministerinnen verbindlich (§ 1 I 2 GO-BReg). Rechtsnatur: „sui generis“. Durchsetzung: mittels Entlassungskompetenz (Art. 64 I GG), theoretisch auch mittels Organstreit (Art. 93 I Nr. 1 GG). Ausgenommen von Richtlinienkompetenz z.B.: BMinVerteidigung: Befehls- und Kommandogewalt in Friedenszeiten (Art. 75a GG); BMinFinanzen: Zustimmungsrecht bei außerplanmäßigen Ausgaben (Art. 112 GG). 21 Ressortprinzip (Art. 65 S. 2 GG, § 1 I 2 GO-BReg): Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Minister als Ressortleiter, nicht jedoch als Mitglied der BReg! Begrenzung durch Richtlinienkompetenz der BKanzlerin. Aber: BKanzlerin darf nur anweisen, sie hat kein Selbsteintritts- oder Durchgriffsrecht, d.h. kein direktes Hineinregieren in die Ministerien! Richtlinien sind für Minister und Ministerinnen verbindlich (§ 1 I 2 GOBReg). Durchsetzung mittels Entlassungskompetenz (Art. 64 I GG), theoretisch auch mittels Organstreit (Art. 93 I Nr. 1 GG). 22 Kabinetts- oder Kollegialprinzip → BReg entscheidet als Kollegium in Fällen des Art. 65 S. 3 und 4 GG; überall dort, wo „Bundesregierung“ genannt ist (z.B. Art. 76 I, 80 I GG)! Im Anwendungsbereich des Kollegialprinzips gilt: Alle Mitglieder inkl. BK sind gleichrangig, BK hat keine Richtlinienkompetenz, sondern nur Geschäftsleitung: BK kann unliebsame Vorlagen nur (negativ) „vertagen“, nicht aber gegen den Willen der kollegialen Mehrheit zustande bringen. Es gilt „Prinzip der Ressortfreiheit“: Kabinett kann gesetzliche Aufgaben wahrnehmen, darf aber keinen eigenen Verwaltungsunterbau haben. 23 Willensbildung: → §§ 15 ff. GO-BReg; Entscheidung mit Stimmenmehrheit gem. § 24 GO-BReg, i.d.R. in gemeinschaftlicher Sitzung, ausnahmsweise im Umlaufverfahren (§ 20 GO-BReg). Wann liegt „Beschluss der Bundesregierung“ vor? → Handelt BReg als Kollegium, muss sichergestellt sein, dass Beschlüsse der BReg zugerechnet werden können. Das setzt voraus (BVerfGE 91, 148 ff.): (1) Sämtliche Mitglieder der Reg müssen Gelegenheit erhalten, vollumfänglich mitzuwirken → genügend Zeit für sachliche Prüfung (Information). (2) Es müssen so viele Mitglieder mitwirken, dass Handeln des Kollegiums vorliegt (Quorum → § 24 GO-BReg). (3) Mehrheit muss Entscheidung befürworten (Majorität). (4) Obige Prinzipien gelten sinngemäß auch für Umlaufverfahren. 24 Informationshandeln der BReg (Marktbezogene Informationen): → BReg ist aufgrund ihrer allgemeinen Aufgabe der Staatsleitung zur Informationsarbeit berechtigt, sofern es sich um gesamtstaatliche Verantwortung handelt, die mit Hilfe von Informationen wahrgenommen werden kann. Marktbezogene Informationen (z.B. Warnhinweise) beeinträchtigen die Wirtschaftsgrundrechte nicht, sofern dies ohne Verzerrung der Wettbewerbsverhältnisse geschieht. Das setzt voraus: Vorliegen einer staatlichen Aufgabe (s.o.); Einhaltung der Zuständigkeitsordnung; Beachtung der Anforderungen an Sachlichkeit und Richtigkeit der Informationen. Siehe BVerfG, NJW 2002, 2621 (Glykolwein). 25 Informationshandeln der BReg (Warnungen vor „Sekten“): → Art. 4 I, II GG schützt nicht davor, dass sich der Staat und seine Organe mit den Trägern dieses Grundrechts, ihren Zielen und Aktivitäten kritisch auseinandersetzt. Aber: Es gilt das Gebot religiös- weltanschaulicher Neutralität → Zurückhaltung des Staates geboten. Siehe BVerfGE 105, 279 – Osho. Informationshandeln der BReg (Öffentlichkeitsarbeit im Wahlkampf): → BReg darf Öffentlichkeitsarbeit, auch mit staatlichen Mitteln betreiben. Aber: Staatsorganen ist es von Verfassungs wegen (Prinzip der „Regierung auf Zeit“ [Art. 39 GG]; Chancengleichheit der Parteien) untersagt, sich in amtlicher Funktion im Kontext von Wahlen mit Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren und sie unter Einsatz staatlicher Mittel zu unterstützen oder zu bekämpfen. → Keinerlei Erfolgsberichte der BReg in unmittelbarer Wahlkampfnähe. BVerfGE 44, 125 ff. – Öffentlichkeitsarbeit der BReg. 26 BT und BK: → BKanzlerin ist im Rahmen des parlamentarschen Regierungssystems vom Vertrauen des BT abhängig (Art. 63, 67 f. GG). → BT kann Vertrauen „konstruktiv“ durch Wahl eines neuen BK entziehen („Misstrauensvotum“ gem. Art. 67 GG). → BKanzlerin kann vom BT offene Erklärung des Vertrauens verlangen („Vertrauensfrage“ gem. Art. 68 GG). Mit negativem Beschluss (kein Vertrauen mehr) riskieren Abgeordnete die Auflösung des BT und damit Beendigung ihres Mandats! BT und Minister/ Ministerinnen: → kein Misstrauensantrag gegen einzelne Mitglieder der BReg (anders noch WRV)! Aber: BT kann „Missbilligungsbeschluss“ (einfacher, nicht bindender Beschluss) fassen oder mit Misstrauensantrag gegen BK drohen. 27 Konstruktives Misstrauensvotum (Art. 67 GG, § 97 GO-BT): → Regierungssturz als ultima ratio (Art. 67 GG, § 97 GO-BT). Möglicher Anlass: Mehrheitsverhältnisse wandeln sich während Legislaturperiode, Opposition wird zur Mehrheit (z.B. infolge Koalitionswechsels). → Antrag verlangt mindestens ein Viertel der Mitglieder des BT (§ 97 GO-BT). → Kanzlersturz (und damit Regierungssturz) gelingt nur, wenn Parlament mit gesetzlicher Mehrheit neuen BK wählt („konstruktiv“). → Hintergrund: Obstruktionspolitik mithilfe von Art. 54 WRV: „Der Reichskanzler und die Minister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.“ 28 Konstruktives Misstrauensvotum (Art. 67 GG, § 97 GO-BT): Beispiel 1: Misstrauensantrag gegen Willy Brandt (1972) – knapp gescheitert Gegenkandidat der CDU/CSU: Rainer Barzel © Haus der Geschichte 29 Konstruktives Misstrauensvotum (Art. 67 GG, § 97 GO-BT): Beispiel 2: Misstrauensantrag von CDU/CSU und FDP gegen Helmut Schmidt (28.9.1982) – erfolgreich (256:235). Wortlaut: „Der Bundestag wolle beschließen: der Deutsche Bundestag spricht Bundeskanzler Helmut Schmidt das Mißtrauen aus und wählt als seinen Nachfolger den Abgeordneten Dr. Helmut Kohl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundespräsident wird ersucht, Bundeskanzler Helmut Schmidt zu entlassen.“ (BT-Drs. 9/2004) In beiden Fällen folgte Vertrauensfrage (BK Brandt → FesPgung der schwachen Mehrheit; BK Kohl → Erreichen von Neuwahlen). Notwendig? → Nein! Art. 67 GG verleiht neuem BK auch ohne Neuwahlen volle Legitimation. „Provozierter Vertrauensverlust“ erlaubt? → Siehe BVerfGE 62, 1 ff. 30 Vertrauensfrage (Art. 68 GG, § 98 GO-BT): → Instrument der Disziplinierung (s. Folie 27). Beispiel (1982): BK Kohl stellt nach Sturz der Regierung Schmidt (28.9.1982) im Dezember 1982 die Vertrauensfrage. Abgeordnete der CDU/CSU- und FDP-Fraktion enthalten sich; SPD-Abgeordneten sprechen Vertrauen nicht aus. Antrag, Vertrauen auszusprechen, scheitert erwartungsgemäß. Am 6.1.1983 verfügt BPräs Carstens (nach Gegenzeichnung durch BK!) Auflösung des 9. BT und setzt Neuwahlen zum 6.3.1983 fest. Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) von Abgeordneten. Behauptung: Verfassungswidrigkeit der Auflösungsentscheidung und der Festsetzung von Neuwahlen. 16.2.1983: BVerfGE 62, 1 ff. – BT-Auflösung. 31 Vertrauensfrage des BKanzlers (Art. 68 I GG, § 98 GO-BT) ↓ 48-Stunden (Mindest-)Frist (Art. 68 II GG) ↓ Abstimmung im Bundestag → Antrag des BK auf Vertrauensvotum findet keine Mehrheit i.S.v. Art. 121 GG ↓ Vorschlag des BK an BPräs, Bundestag aufzulösen (Art. 68 I 1 GG) ↓ Auflösungsentscheidung des BPräs unter der Voraussetzung, dass (1) 21 Tage Frist eingehalten (Art. 68 I 1 GG) (2) Kein erfolgreiches konstruktives Misstrauensvotum (Art. 68 I 2 GG, § 98 II GO-BT i.V.m. Art. 67 GG, § 97 GO-BT). Ansonsten: Erlöschen des Auflösungsrechts gem. Art. 68 I 2 GG. ↓ Gegenzeichnung der Auflösungsanordnung des BPräs durch BK (Art. 58 GG). Folge: Auflösung wird wirksam. ↓ Neuwahlen (Art. 39 GG) 32 BVerfGE 62, 1 ff. – BT-Auflösung I (1983) Zulässigkeit des Organstreits: Organstreitverfahrens gem. Art. 93 I Nr. 1 GG; §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG. Antragsgegner (§ 63 BVerfGG): BPräs, weil er maßgebliche Entscheidung für Auflösung trifft. Gegenzeichnung (Art. 58 GG) steht nicht entgegen, weil BPräs eigenverantwortlich handelt. Rechtserhebliche Maßnahme (§ 64 BVerfGG): BT-Auflösung durch BPräs (Art. 68 I GG). Betroffenheit der antragstellenden Abgeordneten: Mandate enden vorzeitig → Verletzung der Abgeordnetenrechte (Art. 38 I 2 GG) im Falle der verfassungswidrigen Auflösung. Begründetheit des Organstreits: Ermessen des BPräs: BPräs „kann“ auflösen, aber Ermessensbindung: → Auflösung nur wenn formelle und materielle Voraussetzungen erfüllt. 33 BVerfGE 62, 1 ff. – BT-Auflösung I (1983) Begründetheit des Organstreits: (1) Formelle Auflösungsvoraussetzungen Auflösung nur, nachdem gestuftes Verfahren über drei Verfassungsorgane BK → BT → BPräs durchlaufen („System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des Ausgleichs“). „Zeitlich gestreckter Tatbestand“, d.h. Verstöße auf einer früheren Stufe wirken sich auf endgültige Entscheidung aus. (2) Materielle Auflösungsvoraussetzungen Auslegung von Art. 68 GG ergibt: kein freies Auflösungsrecht des BT (Ausnahmen: Art. 63 IV 3, 68 GG; anders zum Teil LVerf) → GG ist auf Stabilität der Regierung angelegt: nicht Sturz, sondern Ersetzung. Zweck des Art. 68 GG: Regierungsfähigkeit herzustellen oder zu erhalten. Daraus folgt: Ungeschriebenes Erfordernis: „Materielle Auflösungslage“ → Auflösung des BT nur verfassungsgemäß, wenn BK keine ausreichende parlamentarische Unterstützung finden kann. BK muss Vertrauensfrage mit dem Ziel stellen, Mehrheit zu erhalten und Regierungskrise abzuwenden. 34 BVerfGE 114, 121 ff. – BT-Auflösung II (2005) Fakten im historischen Verlauf: 22. Mai 2005: 27. Juni 2005: 01. Juli 2005: 21. Juli 2005: BK Schröder erklärt, Neuwahlen im Herbst anzustreben. BK Schröder stellt Vertrauensfrage im BT. Weniger als die Mehrheit der Mitglieder des BT stimmt mit Ja (→ Vertrauen verweigert). BPräs Köhler ordnet Auflösung des BT an (BGBl. I S. 2169) und setzt Neuwahlen für den 18. September 2005 fest (BGBl. I S. 2169 f.). 35 BVerfGE 114, 121 ff. – BT-Auflösung II (2005) Präzisierungen des BVerfG (2005): „Auflösungsgerichtete Vertrauensfrage“ ist nur gerechtfertigt, wenn Handlungsfähigkeit der BReg verloren. „Handlungsfähigkeit“ bedeutet, dass BK Richtung der Politik bestimmt und hierfür Mehrheit der Abgeordneten hinter sich weiß. Einschätzung der Handlungsfähigkeit hat Prognosecharakter und ist an höchstpersönliche Bewertungen gebunden. BVerfG kann Erosion und nicht offen gezeigten Entzug des Vertrauens nicht angemessen feststellen. Drei Verfassungsorgane (BK, BT, BPräs) gewährleisten durch ihre jeweils freie politische Einschätzung, dass BReg parlamentarische Handlungsfähigkeit tatsächlich verloren hat → BVerfG hält sich zurück (“judicial selfrestraint“). 36 Beispiel: → KoaliPonsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 16.12.2013 („Deutschlands Zukunft gestalten“), 18. Legislaturperiode Unterschriften leisteten (Folie 38): Vorsitzende aller koalierender Parteien; Künftige Fraktionsvorsitzende; Generalsekretäre. Rechtsnatur des „Koalitionsvertrages“: → Benennung und Formulierung (S. 128) sprechen scheinbar für Vertrag: „Diese Koalitionsvereinbarung gilt für die Dauer der 18. Wahlperiode. Die Koalitionspartner verpflichten sich, diese Vereinbarung im [sic] Regierungshandeln umzusetzen. Die Partner tragen für die gesamte Politik der Koalition gemeinsam Verantwortung.“ Aber: → Koalitionäre sind in erster Linie die Parteien. → „Koalitionsvertrag“ ist nach h.L. nicht einklagbar. Bei Verletzung droht Bruch der Koalition mit weiteren Konsequenzen (BK sucht neuen Koalitionspartner oder BT stürzt die Regierung mittels Art. 67 GG). 37 38 Inhalt des Koalitionsvertrags: → personelle Zusammensetzung der Bundesregierung, Regierungsprogramm, Zusammenarbeit insbes. in Parlament und Kabinett. Beispiele betr. „Zusammenarbeit“ (Koalitionsvertrag 2013, S. 128): Die Koalitionspartner CDU, CSU und SPD werden ihre Arbeit in Parlament und Regierung laufend und umfassend miteinander abstimmen und zu Verfahrens-, Sach- und Personalfragen Konsens herstellen. Die Koalitionspartner treffen sich regelmäßig zu Koalitionsgesprächen im Koalitionsausschuss. Problem: Ist Rolle des Koalitionsausschusses mit GG vereinbar? Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen. Im Kabinett wird in Fragen, die für einen Koalitionspartner von grundsätzlicher Bedeutung sind, keine Seite überstimmt. 39 Koalitionsausschuss: → Inoffizielles Vorentscheidungsgremium, das die Zusammenarbeit der Koalitionäre in BReg, BT und BRat insbesondere in Bezug auf strittige Themen koordiniert. → Mitglieder sind hochrangige Vertreter und Vertreterinnen der koalierenden Parteien: „Kleine Runde“: Partei- und Fraktionschefs (+ Landesgruppenchefin der CSU, da Chef der CDU/CSU-Fraktion der CDU angehört), Kanzleramtschef, Finanzminister. „Große Runde“: Mitglieder wie Kleine Runde + Fraktionsgeschäftsführer + Generalsekretäre der Parteien. Problem: Beschlüsse in BReg und BT fallen zumeist so, wie im Koalitionsausschuss beschlossen. Ist der Koalitionsausschuss „undemokratisch“? 40