32 3 Brüche, Rationale Zahlen 3.1 Brüche und Bruchzahlen Natürliche Zahlen kann man als Maßzahlen benutzen, indem man vorgegebene Gegenstände mit Maßeinheiten vergleicht: Ein Balken ist 3 Meter lang, hat eine Masse von 50 kg bzw. ein Volumen von 120 Litern. Dabei sind die Maßeinheiten oft recht willkürlich gewählt. Man könnte das Längenmaß Meter“ ersetzen ” durch Zentimeter“, Kilometer“, Elle“, Fuß“, Zoll“ usw. ” ” ” ” ” Die Länge des Balkens wäre dann 300 Zentimeter oder 3 Tausendstel Kilometer oder knapp 10 Fuß. Man erhält also verschiedene Benennungen für dieselbe Eigenschaft des Balkens. 1 Wir verwenden aber auch Bruchzahlen ganz selbstverständlich für Maßangaben wie Liter Milch, ein 2 Achterl Wein, 0, 75 m, 1, 95 Euro usw. Wie bei den natürlichen Zahlen wollen wir die Maßeinheit von Größen für operative Verfahren weglassen und nur die Maßzahl betrachten, d.h. die Bruchzahlen als eigenständige Zahlen verstehen. Historisch gesehen sind Bruchzahlen vor allem beim Messen und für den Vergleich von Strecken relevant. Sie treten aber auch in anderen Zusammenhängen auf: • Beim Verteilen: Drei Pizzen sollen an vier Kinder gerecht verteilt werden. • Beim Dividieren: 5 : 4 =? ist in IN nicht lösbar. Wir suchen eine geeignete Beschreibung einer Lösung“. ” • In der Gleichungslehre: 4·x = 5 ist in IN nicht lösbar. Auch hier ist eine geeignete Beschreibung einer Lösung“ gesucht. ” Man kann durch Übergang zu kleineren Maßeinheiten wieder natürliche Zahlen als Lösungen erhalten, z.B. wenn man bei der Verteilung der Pizzen eine ViertelPizza als Einheit wählt. Allerdings bräuchte man dann für alle Anwendungssituationen eine unendliche Anzahl verschiedener Einheiten. In allen bisherigen Beispielen treten Verhältnisse natürlicher Zahlen auf. Daher definieren wir: Definition 3.1.1 Unter einem Bruch verstehen wir das geordnete Paar (a, b) ∈ IN × IN mit a, b ∈ IN. a heißt Zähler und b Nenner des Bruches. a Im folgenden verwenden wir die übliche Schreibweise . b a c Nach Definition sind zwei Brüche und genau dann gleich, wenn jeweils Zähler und Nenner übereinstimmen, b d d.h. wenn sowohl a = c und b = d gilt. Beispiele 3.1.2 (1) Wird eine Strecke der Länge 1 (dm) in 5 gleichlange Teile unterteilt und werden 4 davon 4 Teile genommen, so haben diese vier Teile zusammen die Länge (dm). 5 3. Brüche, Rationale Zahlen 0 33 1 4/5 Unterteilt man die Strecke doppelt so oft, also in 10 gleich lange Teile und trägt 8 Teile davon ab, so erhält man 0 1 8/10 also eine gleichlange Strecke, der aber ein anderer Bruch zugeordnet ist. (2) Sitzen in einer Pizzeria an einem Tisch 4 Kinder und teilen 3 Pizzen gerecht auf, und an einem zweiten Tisch 8 Kinder, die sich 6 Pizzen gerecht teilen, dann stimmen weder die Kinderzahlen noch die Zahl der Pizzen überein, aber an beiden Tischen bekommen die Kinder die gleiche Portion. Zwei verschiedene Brüche können also dasselbe Maß darstellen. Wir nennen solche Brüche gleichwertig“ ” oder äquivalent“. ” c a und heißen Definition 3.1.3 Seien a, b, c, d ∈ IN beliebige natürliche Zahlen. Die beiden Brüche b d äquivalent genau dann, wenn gilt a · d = b · c. a c Schreibweise: ∼ . b d Bemerkung 3.1.4 Die in Definition 3.1.3 beschriebene Relation zwischen Brüchen ist in der Tat eine Äquivalenzrelation, d.h. sie ist reflexiv, symmetrisch und transitiv und zerlegt die Menge der Brüche vollständig in paarweise disjunkte Äquivalenzklassen. Definition 3.1.5 Seien a, b ∈ IN. Die Äquivalenzklasse hai c c a c := { ; c, d ∈ IN, ∼ } = { ; c, d ∈ IN, a · d = b · c} b d d b d a zugehörige Bruchzahl. b Die Menge der Bruchzahlen wird mit Q I + bezeichnet. heißt die zu dem Bruch Bemerkungen 3.1.6 Brüche). (1) Zu jeder Bruchzahl gibt es unendlich viele Repräsentanten (zugehörige (2) Die strenge Unterscheidung zwischen einem Bruch als Repräsentanten einer Bruchzahl und andererseits einer Bruchzahl als Klasse aller gleichwertigen Brüche wird in der Alltagssprache wie auch in der mathematischen Praxis und im Mathematikunterricht oft nicht vorgenommen. Auch wir werden im folgenden nicht immer streng zwischen Bruch und Bruchzahl unterscheiden; der Unterschied ist uns aber bewusst! 3. Brüche, Rationale Zahlen 34 a ka (3) Seien a, b, k ∈ IN. Die beiden Brüche und sind äquivalent, stellen also dieselbe Bruchzahl b kb a ka dar. Man nennt den Übergang von zu b kb Erweitern des Bruchs a mit k b und den umgekehrten Vorgang Kürzen des Bruchs ka mit k. kb a (4) Kürzt man einen Bruch so lange, bis Zähler und Nenner keinen gemeinsamen Teiler > 1 mehr b haben, d.h. teilerfremd sind, dann heißt das Ergebnis vollständig gekürzter Bruch oder Kernbruch. Zu jeder Bruchzahl gibt es genau einen Kernbruch und umgekehrt. 3.2 Rechnen mit Bruchzahlen Die natürlichen Zahlen sind (z.B. als Zählreihe) der Größe nach geordnet. In der Darstellung durch ein Stellenwertsystem ist es auch sehr leicht festzustellen, welche von zwei natürlichen Zahlen die größere ist. Betrachtet man Bruchzahlen z.B. als Maßzahlen für Längen, dann ist auch hier ein Größenvergleich möglich. Allerdings kann man den Vertretern zweier Bruchzahlen nicht sofort ansehen, welche von beiden die größere ist. 4 5 Beispiele 3.2.1 (1) Welcher Bruch ist größer, oder ? 8 9 Man könnte es so versuchen: Achtel sind größere Anteile als Neuntel und man hat mehr davon, 5 4 nämlich 5 im Vergleich zu nur 4 Neuntel, also ist > . 8 9 4 5 oder . Hier könnte man z.B. 5 6 4 5 untersuchen, wie viel man bei jeder Zahl auffüllen muss, um 1 zu erreichen, und erhält < . 5 6 (2) Das obige Verfahren scheitert allerdings beim Vergleich von 4 1 3 (3) Manchmal ist ein Vergleich zu einer Bezugszahl nützlich. Z.B. ist kleiner als und größer als 9 2 5 1 4 1 3 . Mit der Transitivität folgt < < . 2 9 2 5 (4) Am einfachsten ist der Vergleich, wenn die ausgewählten Brüche gleichen Nenner haben, also gleichnamig sind. Das kann man durch geeignetes Erweitern immer erreichen. Für beliebige Bruchdarstellungen gilt Satz 3.2.2 Seien a, b, c, d ∈ IN. Dann gilt c a < b d ⇔ a · d < b · c. 3. Brüche, Rationale Zahlen 35 Bemerkungen 3.2.3 Seien a, b, c, d, e, f ∈ IN. (1) Wie bei den natürlichen Zahlen ist die Relation <“ aus Satz 3.2.2 eine Ordnungsrelation, d.h. sie ” ist c c e a e a < und < ⇒ < . (i) transitiv: b d d f b f (ii) Es gilt die Trichotomie: Es gilt stets genau eine der drei Beziehungen c a < b d oder a c = b d oder c a < . d b (2) Anders als in IN gibt es aber kein kleinstes Element: Es gibt keine kleinste Bruchzahl. Siehe Satz 3.2.8. a c Die Multiplikation zweier Bruchzahlen mit Darstellungen und läuft darauf hinaus, den durch den b d zweiten Bruch angegebenen Bruchteil des als Ganzes aufgefassten ersten Bruchs zu ermitteln; dabei gibt der erste Bruch natürlich wiederum einen Bruchteil eines Ganzen (nämlich der Eins) an. Der Nenner b des ersten Bruchs gibt an, dass das ursprüngliche Ganze in b gleiche Teile geteilt wird (von denen dann a genommen werden). Der Nenner d des zweiten Bruchs gibt an, dass das neue Ganze in d gleiche Teile geteilt wird (von denen dann c genommen werden). Man kommt zum Ziel, indem man zur Unterteilung des ursprünglichen Ganzen eine solche Anzahl von gleichen Teilen wählt, dass sowohl die b gleichen Teile aus dem ersten Schritt als auch die d gleichen Teile aus dem zweiten Schritt aus solchen Teilen zusammengesetzt werden können. Dies erreicht man z.B. durch eine Unterteilung in b · d gleiche Teile: Jedes der b gleichen Teile wird nochmal in d gleiche Teile geteilt. Ursprünglich musste man a von den b gleichen Teilen nehmen. Nun wird jedes dieser a Teile in d gleiche Teile geteilt, und es werden c von diesen Teilen genommen, insgesamt also a · c. a·c Produkt der Bruchzahlen zu Definition 3.2.4 Seien a, b, c, d ∈ IN. Dann heißt die Bruchzahl zu b·d a c und . b d Bemerkungen 3.2.5 (1) Es ergibt sich als einfache Regel für die Multiplikation von Brüchen: Zwei Brüche werden multipliziert, indem man jeweils die Zähler und die Nenner multipliziert. (2) Die vorige Definition legt eine Multiplikation von Bruchzahlen mit Hilfe ihrer Bruchdarstellungen fest. Die sich ergebende Bruchzahl muss eindeutig sein, d.h. die Definition ist nur dann sinnvoll, wenn die sich ergebende Bruchzahl unabhängig von der Auswahl der Bruchdarstellungen der beiden Faktoren ist. Es gilt in der Tat: a′ a ∼ ′ b b und c c′ ∼ ′ d d ⇒ a·c a′ · c′ ∼ ′ ′. b·d b ·d (3) Betrachtet man zwei natürliche Zahlen a, c ∈ IN als Bruchzahlen (z.B. mit Nenner 1), dann stimmt das Produkt der Bruchzahlen mit a · c überein. Wir haben also die Multiplikation in IN auf Q I+ ausgedehnt. 3. Brüche, Rationale Zahlen 36 (4) Auch für die Multiplikation in Q I + gelten die bekannten Eigenschaften aus den Sätzen 2.1.11, 2.1.13 und 2.1.15, d.h. die Multiplikation ist assoziativ, kommutativ, 1 ist neutrales Element, sie ist rechts- und linkseindeutig und mit < verträglich, d.h. für alle a, b, c, d, e, f ∈ IN gilt a c < b d a e c e · < · . b f d f ⇔ Das Addieren von Bruchzahlen ist von der Idee her einfacher als das Multiplizieren, die Rechenregel ist aber komplizierter. 1 als neue Bei gleichnamigen Brüchen entspricht die Addition allerdings der in IN: Wir betrachten b Einheit und erhalten a c a+c + = . b b b Als Strategie für das allgemeine Vorgehen ergibt sich • Gleichnamigmachen der Brüche, und anschließend • Addition der neuen Zähler. Die theoretisch einfachste Methode, zwei Brüche gleichnamig zu machen, ist die Erweiterung mit dem jeweils anderen Nenner. Das führt zu Definition 3.2.6 Seien a, b, c, d ∈ IN. Dann heißt die Bruchzahl zu a c len zu und . b d a·d+c·b Summe der Bruchzahb·d Bemerkungen 3.2.7 (1) Die einfache Regel zur Multiplikation kann man also nicht auf die Addition übertragen. Man erkennt das auch an folgenden Beispiel: 1+2 3 2 1 2 = ist kleiner als , kann also nicht die Summe von und , sein, denn diese ist 2+3 5 3 2 3 sicher größer als jeder der beiden Summanden. (2) Wie bei der Multiplikation muss die sich bei der Addition ergebende Bruchzahl unabhängig von der Auswahl der Bruchdarstellungen der beiden Summanden sein. Es gilt in der Tat: a a′ ∼ ′ b b und c c′ ∼ ′ d d a·d+c·b a′ · d′ + c′ · b′ ∼ . b·d b′ · d′ ⇒ (3) Betrachtet man zwei natürliche Zahlen a, c ∈ IN als Bruchzahlen (z.B. mit Nenner 1), dann stimmt die Summe der Bruchzahlen mit a + c überein. Wir haben also auch die Addition in IN auf Q I+ ausgedehnt. (4) Der Nachteil der Definition 3.2.6 ist, dass der Nenner der Summe oft sehr groß wird. Das kann man oft vermeiden, wenn man die Brüche der Summanden so erweitert, dass nachher im Nenner der Hauptnenner, also das kleinste gemeinsame Vielfache der beiden Nenner, steht. a· a c + = b d d ggT(b,d) +c· b ggT(b,d) kgV(b, d) . 3. Brüche, Rationale Zahlen 37 (5) Auch für die Addition in Q I + gelten die bekannten Eigenschaften aus den Sätzen 2.1.11, 2.1.13 und 2.1.15, d.h. die Addition ist assoziativ, kommutativ, rechts- und linkseindeutig und mit < verträglich, d.h. für alle a, b, c, d, e, f ∈ IN gilt c a < b d ⇔ a e c e + < + . b f d f (6) Für Addition und Multiplikation gilt das gewohnte Distributivgesetz aus Satz 2.1.11, d.h. man kann wie gewohnt Klammern ausmultiplizieren. Die Menge Q I + unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von IN. IN hat das kleinste Element 1. Jede natürliche Zahl n ∈ IN hat den Nachfolger n + 1 und jedes n ∈ IN mit n 6= 1 den Vorgänger n − 1. Zwischen n − 1, n und n + 1 liegen keine weiteren natürlichen Zahlen. Man kann also die natürlichen Zahlen auf der Zahlengeraden als Punkte mit festem Abstand darstellen, und sagt, die Verteilung von IN auf der Zahlengeraden ist diskret. Eine entsprechende Eigenschaft gilt in Q I + nicht: Satz 3.2.8 (a) Es gibt keine kleinste Bruchzahl. (b) Zu je zwei Bruchzahlen a, b ∈ Q I + mit a < b gibt es eine weitere Bruchzahl c ∈ Q I + mit a < c < b. Bemerkung 3.2.9 Zwischen a und c liegt wieder eine weitere Bruchzahl usw., d.h. zwischen a und b liegen unendlich viele Bruchzahlen. Man nennt Q I + dicht geordnet. Endliche Mengen sind mit Hilfe der Anfangsstücke von IN definiert. Damit ergibt sich, dass jede Teilmenge von IN, die ein größtes Element n besitzt, endlich ist (nämlich höchstens n Elemente besitzt). Auch hier unterscheidet sich Q I + wesentlich von IN: Definition 3.2.10 Sei M ⊂ Q I + eine beliebige Teilmenge. Wenn es ein a ∈ Q I + gibt, so dass x ≤ a gilt für alle x ∈ A, dann heißt A nach oben beschränkt (in Q I + ) und a heißt obere Schranke von A (in + Q I ). Bemerkungen 3.2.11 (1) Entsprechend kann man untere Schranken definieren. (2) Für eine beliebige Teilmenge A ⊂ IN gilt: A ist endlich ⇔ A ist beschränkt in IN ⇔ A enthält ein größtes Element. Satz 3.2.12 Sei A ⊂ Q I + eine beliebige nichtleere Teilmenge. Dann gilt: (a) Ist A endlich, dann enthält A ein größtes Element. (b) Enthält A ein größtes Element, dann ist A beschränkt. (c) Ist A endlich, dann ist A nach oben beschränkt. Bemerkungen 3.2.13 Die Umkehrung der Aussagen gilt im allgemeinen nicht. (1) Zu 3.2.12 (a): A = {x ∈ Q I + ; x ≤ 1} enthält das größte Element 1, aber auch die unendlich vielen 1 Stammbrüche { ; n ∈ IN}. n 3. Brüche, Rationale Zahlen 38 (2) Zu 3.2.12 (b): A = {x ∈ Q I + ; x < 1} hat die obere Schranke 1, aber kein größtes Element a. a müsste kleiner als 1 sein, und z.B. das arithmetische Mittel von a und 1 wäre eine Bruchzahl und kleiner 1, damit also Element von A, aber andererseits größer a. (3) Zu 3.2.12 (c): A = {x ∈ Q I + ; x ≤ 1} ist beschränkt, aber nicht endlich. Gemeinsamkeiten und Unterschiede von natürlichen Zahlen und Bruchzahlen Addition Multiplikation kommutativ assoziativ neutrales Element inverses Element kommutativ assoziativ neutrales Element inverses Element Division ohne Rest kleinstes Element Verteilung auf Zahlenstrahl Repräsentation Lösbarkeit v. Gleich. a · x = b Vorstellungen Multiplikation Division 3.3 natürliche Zahlen IN ja ja nein nein ja ja ja nein nur in Spezialfällen ja diskret eindeutig manchmal Bruchzahlen Q I+ ja ja nein nein ja ja ja ja immer nein dicht unendlich viele immer vergrößert verkleinert ? ? Dezimalbrüche Brüche sind im Grunde Rechenvorschriften ( Teile ein Ganzes in b gleiche Teile und nimm davon a ” Stück“). Dies hat folgende Konsequenzen: • Die Bruchdarstellung von Bruchzahlen ist mehrdeutig; eine eindeutige Darstellung wäre wünschenswert. Zwar kann man dies mit der Darstellung durch den entsprechenden Kernbruch erreichen. Aber zur Bestimmung muss man letztlich die Primfaktorzerlegung von Zähler und Nenner kennen, deren Bestimmung sehr aufwendig sein kann. Außerdem ist sind die Summe und das Produkt von Kernbrüchen im allgemeinen nicht wieder ein Kernbruch. • Man kann nicht sofort (wie bei natürlichen Zahlen im Dezimalsystem) auf einen Blick sehen, welche von zwei Bruchzahlen größer ist. • Speziell die Addition von Brüchen wirkt irgendwie komplizierter als die schriftliche Addition von natürlichen Zahlen in Dezimaldarstellung. Bei der Darstellung von Bruchzahlen durch Dezimalbrüche orientiert man sich an der Darstellung der natürlichen Zahlen im Dezimalsystem. Man betrachtet aber nicht nur eine Summe von Bündeln der 1 Größe 10n , n ∈ IN0 , sondern erweitert die Summe um Bündel der Form n = 10−n , n ∈ IN. 10 Folgender Algorithmus ordnet jedem Bruch eine solche Darstellung zu. 3. Brüche, Rationale Zahlen Dezimalbruch-Algorithmus: Ausgangspunkt ist ein Bruch 39 a . b Schritt 1 Setze n := 0, x := a. Schritt 2 Dividiere x durch b mit Rest, d.h. x = qn · b + rn , mit qn , rn ∈ IN0 und 0 ≤ rn < b. Ist rn = 0, dann setze qk := 0 für k > n. Schritt 3 Sonst setze n := n + 1, x := 10 · rn und fahre mit Schritt 2 fort. Beispiele 3.3.1 (1) Für 99 ergibt der Algorithmus 8 99 = 12 · 8 + 3, 10 · 3 = 3 · 8 + 6, 10 · 6 = 7 · 8 + 4, 10 · 4 = 5 · 8 + 0, und damit die Dezimalbruch-Darstellung (2) Für q0 = 12, r0 = 3, q1 = 3, r1 = 6, q2 = 7, r2 = 4, q3 = 5, r3 = 0, 99 = 12, 375. 8 4 ergibt der Algorithmus 7 4 = 0 · 7 + 4, 10 · 4 = 5 · 7 + 5, 10 · 5 = 7 · 7 + 1, 10 · 1 = 1 · 7 + 3, 10 · 3 = 4 · 7 + 2, 10 · 2 = 2 · 7 + 6, 10 · 6 = 8 · 7 + 4, 10 · 4 = 5 · 7 + 5, .. . und damit die Dezimalbruch-Darstellung q0 = 0, r0 = 4, q1 = 5, r1 = 5, q2 = 7, r2 = 1, q3 = 1, r3 = 3, q4 = 4, r4 = 2, q5 = 2, r5 = 6, q6 = 8, r6 = 4, q7 = 5, .. . r7 = 5 .. . 4 = 0, 571428571428571428 . . . =: 0, 571428. 7 a Definition 3.3.2 Durch den Algorithmus wird jedem Bruch eindeutig eine unendliche Folge q0 , q1 , q2 , q3 , . . . b mit 0 ≤ qk ≤ 9, k ∈ IN, zugeordnet. a . b Wird im Algorithmus ein Rest rn (und damit alle folgenden Reste) Null, dann lässt man diese Folgenglieder weg und nennt den Dezimalbruch abbrechend oder endlich, sonst unendlich. q0 , q1 q2 q3 . . . Dezimalbruch-Darstellung oder kurz Dezimalbruch von 3. Brüche, Rationale Zahlen 40 Bemerkungen 3.3.3 (1) Seien m, n ∈ IN mit m < n. Tritt beim m-ten Durchlauf des Algorithmus derselbe Rest auf wie beim n-ten Durchlauf, d.h. gilt rm = rn , dann folgt qm+1 = qn+1 , qm+2 = qn+2 usw., d.h. die Ziffernfolge qm , . . . , qn −1 wiederholt sich immer wieder. Ist m = 0, dann heißt ein solcher unendlicher Dezimalbruch rein-periodisch, für m > 0 gemischtperiodisch und allgemein periodisch. 9 4 = 0, 32142857 eine gemischt-periodische Zum Beispiel hat = 0, 571428 eine reinperiodische und 7 28 Dezimalbruch-Darstellung. a (2) Die Dezimalbruch-Darstellung q0 , q1 q2 q3 . . . von bedeutet analog zur Zifferndarstellung natürlicher b Zahlen im Dezimalsystem a rn = q0 + q1 · 10−1 + q2 · 10−2 + q3 · 10−3 + . . . + qn · 10−n + · 10−n . b b (3) Seien a, b, c ∈ IN. Dann haben die Brüche a·c a und dieselbe Dezimalbruch-Darstellung. b b·c Wir haben noch nicht überlegt, welche Dezimalbruch-Darstellungen von Bruchzahlen auftreten können, und ob man an einer Darstellung der Bruchzahl als Bruch erkennen kann, ob der zugehörige Dezimalbruch endlich, rein-periodisch oder gemischt-periodisch ist. Satz 3.3.4 (a) Zu jeder Bruchzahl gibt es eine eindeutig bestimmte Dezimalbruch-Darstellung q0 , q1 q2 q3 . . . mit 0 ≤ qk ≤ 9 für alle k ∈ IN. (b) Die Dezimalbruch-Darstellung ist (i) endlich genau dann, wenn b nur die Teiler 2 und 5 hat, (ii) rein-periodisch genau dann, wenn b weder Primteiler 2 noch 5 hat und (iii) gemischt-periodisch sonst. (c) Nicht-periodische unendliche Dezimalbrüche und Dezimalbrüche der Form q0 , q1 q2 q3 . . . 9 können nicht auftreten. Bemerkungen 3.3.5 (1) Alle endlichen und periodischen Dezimalbrüche (bis auf solche der Form q0 , q1 q2 q3 . . . 9) stellen also eine Bruchzahl dar, d.h. zwischen der Menge der Bruchzahlen und der Menge dieser Dezimalbrüche besteht eine eineindeutige Zuordnung. (2) Am Anfang dieses Abschnitts haben wir einen Algorithmus angegeben, um eine beliebige Bruchzahl in einen Dezimalbruch umzuwandeln. Die umgekehrte Operation, einen Dezimalbruch in einen zugehörigen Bruch umzuwandeln, ist für endliche Dezimalbrüche kein Problem. 73245 Beispiel: 7, 3245 = 7 + 3 · 10−1 + 2 · 10−2 + 4 · 10−3 + 5 · 10−4 = . 10000 Für periodische Dezimalbrüche nutzt man die Formel für die geometrische Reihe: Für q ∈ IR, q 6= 1, gilt ∞ X i=0 q i := 1 + q + q 2 + q 3 + . . . = 1 . 1−q 3. Brüche, Rationale Zahlen 41 Wir zeigen das Vorgehen für reinperiodische bzw. gemischtperiodische Dezimalbrüche wieder an je einem Beispiel: 0, 243 = 2 · 10−1 + 4 · 10−2 + 3 · 10−3 + 2 · 10−4 + 4 · 10−5 + 3 · 10−6 + 2 · 10−7 + . . . 2 3 = 243 · (10−3 + 10−6 + 10−9 + . . .) = 243 · 10−3 · 1 + 10−3 + 10−3 + 10−3 + . . . = 243 · 10−3 · 1 1 243 = 243 · 3 = . −3 1 − 10 10 − 1 999 1, 2543 = 1 + 2 · 10−1 + 5 · 10−2 + 4 · 10−3 + 3 · 10−4 + 4 · 10−5 + 3 · 10−6 + 4 · 10−7 + . . . 2 3 125 125 + 43 · (10−4 + 10−6 + 10−8 + . . .) = + 43 · 10−4 · 1 + 10−2 + 10−2 + 10−2 + . . . = 100 100 125 1 125 10−2 125 43 = + 43 · 10−4 · = + 43 · = + . −2 2 100 1 − 10 100 10 − 1 100 9900 (3) Beide eingeführte Darstellungen für Bruchzahlen, durch Brüche einerseits und durch Dezimalbrüche andererseits, haben jeweils Vorteile. Für die Bruch-Darstellung benötigt man nur 2 natürliche Zahlen, und zumindest die Multiplikation zweier Bruchzahlen ist einfacher durchzuführen. Dezimalbrüche sind andererseits eindeutige Darstellungen, die Kleiner-Relation ist sofort nachprüfbar und Addition und Multiplikation von (endlichen) Dezimalbrüchen verläuft analog zu den schriftlichen Rechenoperationen in IN. 3.4 Negative ganze und rationale Zahlen Wir haben in diesem Kapitel die Menge der natürlichen Zahlen ausgeweitet auf die Menge der Bruchzahlen. Damit war ein Manko der Menge der natürlichen Zahlen beseitigt, nämlich, dass eine Gleichung der Form a · x = b in IN nur für bestimmte Paare a, b ∈ IN mit einem x ∈ IN lösbar ist. Für Q I + ergeben sich in natürlicher Weise Verknüpfungen, die für die Teilmenge IN mit der Addition und Multiplikation übereinstimmen, und es gelten für diese Operationen dieselben Rechenregeln (Assoziativund Kommutativgesetz bezüglich + und · und Distributivgesetz). Außerdem ist jede Gleichung a · x = b sogar für alle Bruchzahlen a, b ∈ Q I + eindeutig lösbar mit einem x ∈ Q I +. Trotzdem ist diese Menge Q I + noch zu klein: Beispiele 3.4.1 (1) Zahlen werden zur Skalierung benutzt, z.B. bei der Messung von Temperaturen auf einem (analogen) Thermometer, für Höhen-, Zeitangaben oder Kontoständen. Üblicherweise wird (oft recht willkürlich) ein Nullpunkt der Skala festgelegt: Bei der Messung der Temperatur nach Celsius liegt der Nullpunkt (0◦ C) am Gefrierpunkt von reinem Wasser (bei einem gewissen Druck), bei der Messung nach Fahrenheit bei einer nach Ansicht Fahrenheits tiefstmöglichen Temperatur in der Natur (der tiefsten Temperatur des strengen Winters 1708/09 in Danzig) (0◦ C = 32◦ F), und bei der Messung nach Kelvin bei der (nach den Gesetzen der Thermodynamik) tiefstmöglichen Temperatur überhaupt (0◦ C = 273, 15◦ K). Für Höhenangaben benutzt man als Nullpunkt die Höhe des Wasserspiegels des nächstgelegenen Meeres, wobei die Höhen der Wasserspiegel z.B. bei Atlantik und Mittelmeer nicht genau gleich sind. 3. Brüche, Rationale Zahlen 42 Für Jahreszahlen benutzt man in der westlichen Welt den angenommenen Zeitpunkt von Christi Geburt. Andere Kulturen benutzen andere Kalender. Für bestimmte Daten (tiefere Temperaturen, Höhenangaben in Holland, Regierungszeit von Julius Caesar oder Sollstände auf dem Konto) erweitert man die entsprechenden Skalen symmetrisch. Die Erweiterungsmengen bilden jeweils Größenbereiche – z.B. die Tiefen im Meer, mit Q I + als + Maßzahlbereich, so dass man in ihnen wie in Q I rechnen kann. Die Verknüpfung z.B. von Höhen über und Tiefen unter dem Meeresspiegel ist allerdings mit den bisherigen Rechengesetzen nur umständlich handhabbar. (2) Zustandsveränderungen bei den vorigen Beispielen kann man ebenfalls mit Hilfe von Bruchzahlen darstellen. Zur vollständigen Beschreibung muss man zusätzlich die Richtung der Änderung angeben, d.h. ob es kälter oder wärmer wird, der Wasserstand steigt oder fällt bzw. ob man Geld einzahlt oder abhebt. Man kann mehrere solcher Zustandsänderungen hintereinander ausführen, d.h. miteinander verknüpfen. (3) In Q I + sind Gleichungen der Art a + x = b mit a, b ∈ Q I + nur lösbar, wenn a < b gilt. Manchmal benötigt man aber auch für Probleme, die nur in Q I + formuliert sind und auch nur Lösungen in + Q I haben, die Möglichkeit der Lösbarkeit von Gleichungen a + x = b für beliebige a, b ∈ Q I +. Zum Beispiel wollen wir alle Bruchzahlen bestimmen, deren Quadrat um 3 kleiner ist als das Vierfache der Zahl, d.h. alle x ∈ Q I + mit x2 + 3 = 4x. Durch Aufstellen einer Wertetabelle x x2 x2 + 3 4·x 1 1 4 4 2 4 7 8 3 9 12 12 4 16 19 16 5 25 28 20 ... ... ... ... erhält man Lösungen x1 = 1 und x2 = 3. Für eine systematische Lösung (mit Rechnung nur in Q I + ) betrachten wir die Gleichung x2 +3 = 4x: Addition von 1 und Subtraktion von 4 · x auf beiden Seiten ergibt (x2 − 4x + 4) = (x − 2)2 = 1. Rechnen nur in Q I + ergibt x−2 = 1, also nur die Lösung x2 = 3, nicht aber die Lösung x1 = 1 ∈ Q I +. Ziel der folgenden Betrachtungen ist, Q I + so zu erweitern, dass einerseits Gleichungen der Form a+x = b in der erweiterten Zahlenmenge immer lösbar sind, andererseits wieder Addition, Multiplikation und Kleiner-Relation so existieren, dass sie mit den bekannten Rechenoperationen in der Teilmenge Q I+ übereinstimmen und denselben Regeln genügen. Wir gehen von einer Zahlenskala (Zahlenstrahl) aus und erweitern sie symmetrisch zu einer Zahlenge” raden“: 3. Brüche, Rationale Zahlen 43 Definition 3.4.2 Jedem q ∈ Q I + werde genau ein neues Element (−q) zugeordnet und es gelte (−q) 6= (−r) für q 6= r. Weiter sei 0 ein zusätzliches Element, d.h. 0 6∈ Q I + und 0 6= (−q) für alle q ∈ Q I +. Q I := Q I + ∪ {0} ∪ {(−q); q ∈ Q I +} Q I − := {(−q); q ∈ Q I +} − ZZ := {(−n); n ∈ IN} − ZZ := ZZ ∪ {0} ∪ IN heißt Menge der rationalen Zahlen, heißt Menge der negativen rationalen Zahlen, heißt Menge der negativen ganzen Zahlen und heißt Menge der ganzen Zahlen. Bemerkungen 3.4.3 (1) Analog zu Q I − bezeichnet man Q I + als Menge der positiven rationalen Zahlen, Q I+ I + ∪ {0} als Menge der nichtnegativen rationalen Zahlen. 0 := Q (2) Manchmal schreibt man für q ∈ Q I + auch (+q) und für die Zahl Null (+0) oder (−0). Q I besteht anschaulich aus der Menge Q I + der Bruchzahlen, dem speziellen Element 0 und einer Kopie + von Q I . Im folgenden wollen wir die in Q I + definierten Verknüpfungen Addition, Multiplikation sowie die Kleiner-Relation auf Q I ausdehnen. Beispiele 3.4.4 (1) Stellt man Einzahlungen auf ein Konto durch positive, Abhebungen als negative Zahlen dar, dann entspricht • eine Einzahlung von 70 Euro und anschließende Einzahlung von 50 Euro einer Einzahlung von (70 + 50) = 120 Euro, • eine Einzahlung von 70 Euro und anschließende Abhebung von 50 Euro einer Einzahlung von (70 + (−50)) = 20 Euro, • eine Abhebung von 70 Euro und anschließende Einzahlung von 50 Euro wegen ((−70)+50) = (−20) einer Abhebung von 20 Euro, • eine Abhebung von 70 Euro und anschließende Abhebung von 50 Euro wegen ((−70) + (−50)) = (−120) einer Abhebung von 120 Euro. (2) Stellt man die rationalen Zahlen in gewohnter Weise auf einer Zahlengeraden dar (d.h. 0 und die aufeinanderfolgenden natürlichen Zahlen nach oben in gleichem Abstand, die (positiven) Brüche kn , n ∈ IN, durch mit gleichem Nenner ebenfalls in gleichem Abstand, so dass k ∈ IN und n denselben Punkt dargestellt werden, und die negative Zahl (−q) symmetrisch von 0 nach unten mit gleichem Abstand wie q ∈ Q I + , dann kann man die Addition von rationalen Zahlen mit Hilfe eines Rechenschiebers“ mit einer festen und einer danebenliegenden, parallel dazu beweglichen ” Zahlengeraden beschreiben: Zur Addition der Zahlen p, q ∈ Q I bringt man den Nullpunkt der beweglichen Zahlengeraden neben den Punkt p auf der festen Zahlengeraden. Dann liegt die Summe p+q auf der festen Zahlengeraden neben dem Punkt q auf der beweglichen Zahlengeraden. 3. Brüche, Rationale Zahlen 44 Definition 3.4.5 Für alle q, r ∈ Q I + sei q − r q + (−r) := (−r) + q := 0 (−(r − q)) falls r < q, falls q = r, falls q < r, 0 + 0 := 0, (−q) + 0 := 0 + (−q) := (−q). (−q) + (−r) := (−r) + (−q) := −(q + r), q + 0 := 0 + q := q, Bemerkung 3.4.6 Die Addition in Q I ist als Verallgemeinerung der Addition in Q I + definiert. Für ein beliebiges q ∈ Q I + liegen q und (−q) ∈ Q I − auf der Zahlengeraden symmetrisch zum Nullpunkt. Man nennt sie daher Gegenzahlen“. Durch f : Q I + →Q I − mit f (q) := (−q) wird eine eindeutige Zuord” nung, d.h. eine Funktion, beschrieben. Es liegt nahe, den Definitionsbereich auf ganz Q I auszudehnen: Definition 3.4.7 Sei r ∈ Q I − beliebig, d.h. es existiert nach Definition ein eindeutig bestimmtes q ∈ Q I+ mit r = (−q). Wir setzen dann (−r) := q, Bemerkung 3.4.8 Für alle q ∈ Q I gilt d.h. − (−q) := q. q + (−q) = 0. Für die Rechenregeln in Q I bezüglich der Addition gilt Satz 3.4.9 Für beliebige a, b, c ∈ Q I gilt (a) (a + b) + c = a + (b + c) (Assoziativgesetz) (b) a + b = b + a (Kommutativgesetz) (c) a + x = b ist eindeutig lösbar in Q. I Bemerkungen 3.4.10 (1) Die zu beliebigen a, b ∈ Q I existierende Lösung der Gleichung a + x = b in Q I heißt Differenz von b und a und wird mit b − a bezeichnet. Die Verknüpfung f : Q I ×Q I →Q I mit f (a, b) := b − a heißt Subtraktion. (2) Für alle a, b ∈ Q I gilt b − a = −(a − b) und a+c=b+c ⇔ a − a = 0, d.h. die in Definition 3.4.5 für p, q ∈ Q I + geforderten Beziehungen gelten allgemein für alle rationale Zahlen. (3) Für beliebige a, b, c ∈ Q I gilt a = b. 3. Brüche, Rationale Zahlen 45 (4) Aus der Eindeutigkeit der Lösung von a + x = b folgt, dass 0 das einzige neutrale Element in Q I bezüglich der Addition ist, d.h. das einzige Element x mit a + x = a. Analog folgt, dass zu beliebigem a ∈ Q I das Element (−a) das einzige inverse Element von a bezüglich der Addition ist, d.h. das einzige Element x mit a + x = 0. Nur 0 ist zu sich selbst invers. (5) Das Minuszeichen hatte in den vorhergehenden Betrachtungen drei verschiedene Bedeutungen: (a) Es ist Vorzeichen“ einer negativen rationalen Zahl, z.B. (−5). ” (b) Es ist Kennzeichen für das additiv Inverse −a (bzw. Gegenzahl auf der Zahlengeraden) einer rationalen Zahl a ∈ Q, I d.h. −a kann auch eine positive Zahl darstellen. (c) Es ist Operationszeichen für die Subtraktion. (6) Wir haben Q I + so erweitert, dass für alle p, q ∈ Q I + die Gleichung p + x = q in Q I eindeutig lösbar ist. Q I ist in gewissem Sinn eine minimale Erweiterung dieser Art, und wir haben gezeigt, dass die Gleichung sogar für beliebige p, q ∈ Q I in Q I lösbar ist, d.h. eine zusätzliche Zahlen-Erweiterung ist in Bezug auf diese Gleichung nicht notwendig. Mengen, in denen die im Satz 3.4.9 formulierten grundlegenden Eigenschaften von (IQ, +) gelten, werden besonders bezeichnet: Definition 3.4.11 Sei M eine beliebige nichtleere Menge, ◦ : M × M → M eine Verknüpfung. (M, ◦) heißt Gruppe,wenn für alle a, b, c ∈ M gilt (a) (a ◦ b) ◦ c = a ◦ (b ◦ c) (Assoziativgesetz) (b) a ◦ x = b und y ◦ a = b ist jeweils eindeutig lösbar in Q. I Gilt zusätzlich (c) a ◦ b = b ◦ a, (Kommutativgesetz) dann heißt (M, ◦) kommutative Gruppe. Beispiele 3.4.12 (1) (IQ, +) und (ZZ, +) sind kommutative Gruppen. (2) Ist M eine nichtleere Menge, F(M ) die Menge der bijektiven Abbildungen von M nach M , dann wird durch ◦ : F(M ) × F(M ) → F(M ) mit (f ◦ g)(x) := f (g(x)) für alle x ∈ M eine Verknüpfung auf F(M ) definiert, und (F(M ), ◦) ist eine im allgemeinen nicht kommutative Gruppe. Bemerkung 3.4.13 Die Forderung der eindeutigen Lösbarkeit der Gleichung a ◦ x = b ist äquivalent zu den beiden Forderungen (b1) Es existiert ein e ∈ M mit a ◦ e = e ◦ a = a für alle a ∈ M . (b2) Zu jedem a ∈ M existiert ein b ∈ M mit a ◦ b = e. (Existenz e. neutralen El.) (Existenz e. inversen El. zu a ∈ M ) 3. Brüche, Rationale Zahlen 46 Wir wollen nun die Multiplikation in Q I + auf Q I ausdehnen. Dabei soll ebenfalls die Gültigkeit der Rechenregeln erhalten bleiben, d.h. speziell Assoziativ-, Kommutativ- und Distributivgesetz sowie die Eigenschaft der 1 als neutralem Element und die eindeutige Lösbarkeit jeder Gleichung der Form a · x = b für beliebige a ∈ Q I \ {0}, b ∈ Q I in Q. I Das führt zwangsläufig zu folgenden Festlegungen: Definition 3.4.14 Für beliebige q, r ∈ Q I + sei q · 0 := 0 · q = 0, q · (−r) := (−r) · q := −(q · r), (−q) · (−r) := q · r. Mit dieser Definition gilt – wie gefordert – Satz 3.4.15 (IQ\{0}, ·) ist eine kommutative Gruppe mit 1 als neutralem Element. Weiter gilt in (IQ, +, ·) das Distributivgesetz. Bemerkungen 3.4.16 (1) Für alle a ∈ Q I gilt a · 0 = 0 6= 1, d.h. 0 kann kein Inverses bezüglich der Multiplikation haben. (2) Für beliebiges a ∈ Q, I a 6= 0, bezeichnen wir das Inverse bezüglich der Multiplikation durch a−1 . (3) Für beliebige a, b ∈ Q, I a 6= 0, heißt die eindeutige Lösung der Gleichung a · x = b in Q I Quotient von b und a. Schreibweise b : a. (4) Für beliebige a, b, c ∈ Q I mit c 6= 0 gilt a·c=b·c ⇔ a = b. Mengen mit zwei Verknüpfungen, die bezüglich dieser Verknüpfungen dieselben Grundeigenschaften wie (IQ, +, ·) haben, wollen wir wieder mit einem speziellen Namen versehen: Definition 3.4.17 Sei M eine nichtleere Menge mit zwei Verknüpfungen, die wir mit + und · bezeichnen. Ist (M, +) eine kommutative Gruppe mit neutralem Element x0 ∈ M , (M \ {x0 }, ·) eine kommutative Gruppe mit neutralem Element x1 ∈ M \ {x0 } und gilt das Distributivgesetz (a + b) · c = (a · c) + (b · c) für alle a, b, c ∈ M, dann heißt (M, +, ·) Körper. x0 heißt Nullelement, x1 Einselement. Beispiel 3.4.18 (IQ, +, ·) ist ein Körper, (ZZ, +, ·) nicht. Bemerkungen 3.4.19 (1) In Analogie zu (IQ, +, ·) bezeichnet man für einen beliebigen Körper die Verknüpfung + als Addition, · als Multiplikation, das Nullelement durch 0 und das Einselement durch 1, das inverse Element zu a ∈ M bezüglich + mit −a und das inverse Element zu a ∈ M , a 6= 0, bezüglich · mit a−1 . (2) Gruppe“ und Körper“ sind algebraische Strukturen. Alle Eigenschaften von Q, I die wir nur aus ” ” den Gruppen- bzw. Körpereigenschaften herleiten können, gelten auch für beliebige Gruppen bzw. Körper. 3. Brüche, Rationale Zahlen 47 Wir müssen noch die Kleiner-Relation auf Q I ausdehnen: Definition 3.4.20 Seien a, b ∈ Q I beliebig. Gibt es ein c ∈ Q I + mit a + c = b, dann schreiben wir a < b (bzw. b > a). Bemerkungen 3.4.21 (1) Ließe man die Einschränkung c ∈ Q I + weg, dann würde für beliebige a, b ∈ Q I die Relation a < b gelten, da die Gleichung a + x = b für alle a, b ∈ Q I in Q I lösbar ist. (2) Für beliebige a, b ∈ Q I gilt: a < b ⇔ b − a ∈ Q I +. Speziell mit a = 0 ergibt sich 0 < b ⇔ b ∈ Q I +. (3) Für beliebige a, b ∈ Q I gilt: Aus a > 0, b > 0 folgt a + b > 0 und a · b > 0. (4) Trägt man in gewohnter Weise die positiven rationalen Zahlen auf der Zahlengeraden oberhalb des Nullpunkts ab, die negativen Zahlen symmetrisch nach unten, dann gilt für a, b ∈ Q I die Ungleichung a < b genau dann, wenn a unterhalb von b liegt. Für die Kleiner-Relation in (IQ, +) gilt wie in (IQ+ , +) Satz 3.4.22 Für alle a, b, c ∈ Q I gilt: (a) Aus a < b und b < c folgt a < c. (Transitivität) (b) Es gilt genau eine der drei Aussagen a < b oder a = b oder b < a. (Trichotomie) (c) a < b ⇔ a + c < b + c. (Monotonie und Umkehrung bzgl. +) Folgerungen 3.4.23 (1) Aus der Monotonie bzgl. der Addition und der Transitivität folgt, dass man Ungleichungen seitenweise addieren kann, d.h. für beliebige a, b, c ∈ Q I gilt: Aus a < b und c < d folgt a + c < b + d. (2) Für beliebige a, b ∈ Q I gilt: Aus a < b folgt (−a) > (−b). (3) Für alle a ∈ Q I gilt: a < 0 ⇔ (−a) > 0. Für beliebiges a ∈ Q I − gilt a < 0. Monotonieaussagen bezüglich der Multiplikation können in Q I nicht in derselben Allgemeinheit gelten, denn z.B. für beliebige a, b ∈ Q I mit a < b gilt a · 0 = b · 0, und wegen a · (−1) = −(a · 1) = (−a) gilt a · (−1) = (−a) > (−b) = b · (−1). Satz 3.4.24 Für alle a, b, c ∈ Q I mit a < b gilt: (a) Aus c > 0 folgt a · c < b · c. (b) Aus c < 0 folgt a · c > b · c. (Monotonie bzgl. ·) 3. Brüche, Rationale Zahlen 48 Folgerungen 3.4.25 (1) Für die seitenweise Multiplikation von Ungleichungen sind ebenfalls Einschränkungen zu beachten: Für a, b, c, d ∈ Q I mit b > 0 und c > 0 gilt: Aus a < b und c < d folgt a · c < b · d. (2) Für alle ∈ Q I mit a 6= 0 gilt a2 > 0. (3) Ist c > 0, dann ist auch c−1 > 0. Entsprechend ist für c < 0 auch c−1 < 0. Damit folgt als Umkehrung der Monotonieeigenschaft: Aus a · c < b · c und c > 0 folgt a < b, aus a · c < b · c und c < 0 folgt a > b. Wir verallgemeinern wieder die in Q I gültigen Grundeigenschaften, diesmal unter Berücksichtigung der Verknüpfungen Addition, Multiplikation und der Kleiner-Relation, zusammen mit den Regeln, wie Addition und Multiplikation (Distributivgesetz) sowie Addition und Kleiner-Relation bzw. Multiplikation und Kleiner-Relation (Monotonie) zusammenwirken: Definition 3.4.26 Sei (M, +, ·) ein Körper, < eine Relation. Gilt für beliebige a, b, c ∈ M (a) entweder a < b oder a = b oder a > b, (Trichotomie) (b) aus a < b und b < c folgt a < c, (Transitivität) (c) aus a < b folgt a + c < b + c, (Monotonie bzgl. +) (d) aus a < b und c > 0 folgt a · c < b · c, (Monotonie bzgl. ·) dann heißt (M, +, ·, <) angeordneter Körper. Beispiel 3.4.27 Q I ist ein angeordneter Körper. Die Menge CI der komplexen Zahlen ist ein Körper, aber kein angeordneter Körper. 3.5 Ein alternatives Modell zur Einführung von Z und QI Ein tiefgreifendes Manko der Menge der natürlichen Zahlen ist, dass die Gleichungen a + x = b und a · x = b nicht für alle a, b ∈ IN lösbar sind. Wir betrachten z.B. die Gleichung a + x = b im Fall der Lösbarkeit in IN, d.h. für a < b. x kann man als Differenz b − a oder auch als Paar (a, b) ∈ IN2 schreiben. Allerdings ist die Darstellung nicht eindeutig, denn für jedes c ∈ IN gilt (b + c) − (a + c) = b − a, d.h. x wird auch durch das Paar (a + c, b + c) dargestellt. Für zwei verschiedene Darstellungen gilt offenbar Satz 3.5.1 Seien a, b, c, d ∈ IN. Die Differenzen b − a und d − c stellen genau dann dieselbe Zahl dar, wenn gilt a + d = b + c. 3. Brüche, Rationale Zahlen 49 Fasst man alle Darstellungen derselben natürlichen Zahl als Differenz zweier natürlicher Zahlen zu einer Menge zusammen, dann erhält man zwischen diesen Mengen und den natürlichen Zahlen eine eineindeutige Zuordnung. Analog kann man aber auch Mengen von Zahlenpaaren bilden, deren Differenz nicht einer natürlichen Zahl entspricht, z.B. {(a, a); a ∈ IN}, und diesen Mengen neue Objekte zuordnen, die man als Lösung einer (in IN nicht lösbaren) Gleichung a + x = b auffasst. Satz 3.5.2 Durch (a, b) ≃ (c, d) ⇔ a+d=b+c wird auf der Menge der Paare natürlicher Zahlen (d.h. auf IN × IN) eine Äquivalenzrelation definiert. Sie zerlegt IN × IN vollständig in disjunkte Äquivalenzklassen. Man nennt nun jede Äquivalenzklasse ganze Zahl, identifiziert jede natürliche Zahl n ∈ IN mit der Äquivalenzklasse von z.B. (1, n + 1) und bezeichnet die Äquivalenzklasse von (n, n) mit 0 und von (n + 1, 1) mit −n sowie die Menge aller ganzen Zahlen mit ZZ. Durch (a, b) + (c, d) := (a + c, b + d), (a, b) · (c, d) := (a · d + b · c, a · c + b · d) (a, b) < (c, d) :⇔ b+c<a+d wird auf ZZ eine Addition, Multiplikation und Kleiner-Relation definiert. Man kann zeigen, dass die Ergebnisse von der Auswahl der Vertreter (Elementen der Äquivalenzklassen) unabhängig ist, d.h. dass dadurch wirklich Verknüpfungen und eine Relation auf ZZ definiert sind. Für Äquivalenzklassen mit Elementen (a, b), a < b, entsprechen die Ergebnisse denen in IN. Dasselbe Verfahren kann man auch für die Zahlenmenge ZZ und die zu lösende Gleichung a · x = b durchführen, und man erhält die Äquivalenzrelation (a, b) ≃ (c, d) ⇔ a · d = b · c. Die Äquivalenzklassen entsprechen den rationalen Zahlen, und Addition, Multiplikation und KleinerRelation werden definiert durch (a, b) + (c, d) := (a · d + b · c, a · c), (a, b) · (c, d) := (a · c, b · d) (a, b) < (c, d) :⇔ b · c < a · d. Wieder kann man die Ausgangsmenge ZZ mit einer Teilmenge der Äquivalenzklassen identifizieren, nämlich den Äquivalenzklassen mit den Elementen (1, n), n ∈ ZZ, und die Ergebnisse der Rechnungen in ZZ und in dieser Teilmenge entsprechen sich. Damit hat man ein allgemeines Verfahren gewonnen, um zu einer Menge M mit einer Verknüpfung ◦, in der eine Gleichung der Form a ◦ x = b nicht für alle a, b ∈ M lösbar ist, eine geeignete Erweiterung zu konstruieren. Eine weitere Möglichkeit der Definition von Q I ist, analog zur Definition von IN mit Hilfe der PeanoAxiome Q I als kleinsten angeordneten Körper festzulegen, der IN enthält – eine sehr schnelle Möglichkeit, die rationalen Zahlen einzuführen, aber gleichzeitig eine sehr unanschauliche und daher für die Schule sicher ungeeignete Möglichkeit. 50 4 4.1 Reelle Zahlen Unvollständigkeit der Menge der rationalen Zahlen Die rationalen Zahlen reichen zur Beschreibung der Welt nicht aus: 4.1.1 Die Zahlengerade, Inkommensurabilität Wir betrachten eine horizontale Gerade g. Darauf legen wir einen Nullpunkt“ fest, dazu einen Ein” ” heitspunkt“ rechts vom Nullpunkt und nennen die Länge der dadurch bestimmten Strecke Einheit. Wir können nun jede rationale Zahl q ∈ Q I eindeutig durch einen Punkt auf g darstellen: Der Abstand des Punktes zum Nullpunkt soll das q-fache der Einheit betragen und der Punkt soll für q > 0 rechts und für q < 0 links vom Nullpunkt liegen. Der Zahl 0 entspricht der Nullpunkt, der Zahl 1 der Einheitspunkt. 1 d g −2 −1 0 1 d √ ( 2) 2 3 Nach dem Satz des Pythagoras gilt für ein Quadrat mit Seitenlänge a und Diagonallänge d die Gleichung d2 = 2a2 . Die Länge der Diagonalen des Einheitsquadrats ist also Lösung der Gleichung x2 = 2. Im nächsten Abschnitt wird gezeigt, dass keine rationale Zahl Lösung dieser Gleichung ist. Trägt man die Diagonale eines Quadrates mit Seitenlänge 1 auf der Zahlengeraden vom Nullpunkt nach rechts ab, dann entspricht daher der zweite Endpunkt der Strecke keiner rationalen Zahl. Die Zahlengerade enthält also mehr Punkte als die den rationalen Zahlen zugeordneten, die rationale ” Zahlengerade“ hat Lücken“. ” Im folgenden werden wir Q I so erweitern (zu der Menge IR der reellen Zahlen), dass jedem Punkt auf der Zahlengeraden genau eine reelle Zahl entspricht. c 1 a darstellen, d.h. Zwei beliebige rationale Zahlen und kann man als ganzzahlige Vielfache z.B. von b d bd die Streckenlängen vom Nullpunkt zu den Punkten, die den beiden Zahlen entsprechen, sind ganzzahlige Vielfache einer festen Streckenlänge, die man als gemeinsame Maßeinheit betrachten kann. Solche Strecken heißen kommensurabel. Aus dem Satz des Pythagoras folgt, dass die Seite und die Diagonale eines Quadrates ein inkommensurables (d.h. nicht kommensurables) Streckenpaar bilden. 4. Reelle Zahlen 51 Die Entdeckung solcher inkommensurablen Strecken durch die Pythagoräer stellte ihren philosophischen Grundansatz in Frage, dass alle Dinge mit Hilfe natürlicher Zahlen und Verhältnissen natürlicher Zahlen (d.h. rationaler Zahlen) ausgedrückt werden könnten, und war einer der Gründe dafür, dass sich die antike griechische Mathematik bis auf wenige Ausnahmen (Archimedes) nicht mit weitergehenden Problemen der Analysis beschäftigte. In dem Ordenssymbol der Pythagoräer, dem Pentagramm, treten ebenfalls inkommensurable Strecken auf. √ Das Verhältnis von Fünfecksdiagonale und -seite ist gleich dem des Goldenen Schnitts, d.h. gleich 1+ 5 , eine Zahl, die in der Kulturgeschichte der Menschheit (z.B. in der Architektur) eine wichtige 2 Rolle spielt. D B’ E A’ E’ C C’ D’ A B Ein weiteres Beispiel für inkommensurable Maßzahlen ist das Verhältnis der Flächeninhalte des Einheitsquadrates und des Einheitskreises. Dieses Verhältnis wird mit π bezeichnet. π ist ebenfalls irrational, sogar transzendent, d.h. nicht Nullstelle eines Polynoms mit ganzzahligen Koeffizienten (Problem der Quadratur des Kreises“). ” 4.1.2 Lösung von Polynom-Gleichungen Schon einfachste Polynom-Gleichungen besitzen keine Lösung in Q. I Zum Beispiel zeigt man leicht unter Ausnutzung der Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung in ZZ: Satz 4.1.1 Es gibt keine rationale Zahl x mit x2 = 2. Bemerkungen 4.1.2 (1) Mit demselben Beweisargument kann man zeigen, dass für keine Primzahl p die Gleichung x2 = p in Q I lösbar ist. Dasselbe gilt für Gleichungen der Form xn = p mit beliebigem n ∈ IN, n > 2. (2) Im folgenden wollen wir den Zahlbereich Q I so zu einem angeordneten Körper erweitern, dass bestimmte solche Gleichungen lösbar sind. Für die Lösung allgemeiner polynomialer Gleichungen n X ai xi = 0 reicht aber auch der neue Zahlbereich IR nicht aus. Dafür benötigt man die der Form i=0 Menge CI der komplexen Zahlen. 4. Reelle Zahlen 4.1.3 52 Eigenschaften stetiger und differenzierbaren Funktionen Im Prinzip könnte man auch eine Analysis innerhalb Q I betrachten, d.h. Funktionen f : Q I →Q I auf Stetigkeit oder Differenzierbarkeit untersuchen. Allerdings ergeben sich Ergebnisse, die ziemlich weit von der Anschauung entfernt sind. Ein wichtiger Satz in der reellen Analysis ist der Zwischenwertsatz bzw. als wesentlicher Spezialfall der Nullstellensatz: Satz 4.1.3 Ist [a, b] ein reelles Intervall, f : [a, b] → IR stetig in [a, b] und f (a) < 0 < f (b), dann gibt es mindestens ein x0 ∈ [a, b] mit f (x0 ) = 0. In einer rationalen Analysis ist diese Aussage nicht allgemein richtig, wie man am Beispiel der stetigen Funktion f : {x ∈ Q; I 1 ≤ x ≤ 2} → Q I mit f (x) := x2 − 2 erkennt. In der Kurvendiskussion im Mathematikunterricht der Gymnasien ist der Zusammenhang zwischen Monotonieeigenschaften und Werten der Ableitung einer differenzierbaren Funktion wichtig. Es gilt das Satz 4.1.4 (Monotoniekriterium) Eine auf einem reellen Intervall differenzierbare Funktion mit überall positiver Ableitung ist dort streng monoton wachsend. Auch dies ist bei Beschränkung auf Funktionen rationaler Variablen nicht immer richtig. Zum Beispiel 1 auf der Menge I := {x ∈ Q; I 1 ≤ x ≤ 2} definiert und differenzierbar mit ist die Funktion f (x) := 2 − x2 2x . der auf I positiven Ableitung f ′ (x) = (2 − x2 )2 1 Wegen f (1) = 1 und f (2) = − kann sie aber nicht streng monoton wachsend sein. 2 4.2 Einführung der reellen Zahlen durch Intervallschachtelung Wir wollen zunächst die reellen Zahlen anschaulich als Punkte der lückenlosen Zahlengeraden auffassen. Die rationalen Zahlen liegen auf der Zahlengeraden dicht. Das gibt die Möglichkeit, jede irrationale, d.h. reelle, aber nicht rationale Zahl durch rationale Zahlen zu approximieren. Eine sehr anschauliche Möglichkeit, gleichzeitig Approximationen durch kleinere und größere rationale Zahlen zu konstruieren, ist die Intervallhalbierung: Ist x eine beliebige reelle, nicht rationale Zahl auf der Zahlengeraden, dann wähle man eine beliebige rationale Zahl a0 links von x und eine beliebige rationale Zahl b0 rechts von x. Der Mittelpunkt m := a0 + b0 2 des Intervalls [a0 , b0 ] ist rational. Liegt er links von x, dann setze a1 := m und b1 := b0 , sonst a1 := a0 und b1 := m. Wiederholung des Verfahrens für a1 und b1 (an Stelle von a0 und b0 ) ergibt (a2 , b2 ) und entsprechend erhält man weitere Paare (a3 , b3 ) usw. 4. Reelle Zahlen 53 Wir erhalten auf diese Weise eine Folge von Intervallen In = [an , bn ] mit rationalen Endpunkten, die jeweils x enthalten, und deren Längen gleich dem 2−n -fachen der Länge von I0 sind, also gegen 0 gehen“. ” Da jedes Intervall alle nachfolgenden enthält, nennt man eine solche Folge Intervallschachtelung. Beispiel 4.2.1 Für x = √ 3 2, a0 = 1 und b0 = 2 ergibt sich I1 = [1, 23 ], I2 = [ 54 , 32 ], I3 = [ 11 8 , 2 ] usw. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, zu einem vorgegebenen Punkt der Zahlengeraden eine Intervallschachtelung zu konstruieren. Eine weitere naheliegende Möglichkeit ist eine Schachtelung aus Intervallen In mit Länge 10−n , deren Endpunkte endliche Dezimalbrüche mit n Stellen hinter dem Komma sind. Beispiel 4.2.2 Wieder für x = √ 2 erhält man 1<x<2 mit Intervall-Länge 100 = 1, 1, 4 < x < 1, 5 mit Intervall-Länge 10−1 = 1, 41 < x < 1, 42 mit Intervall-Länge 10−2 1, 414 < x < 1, 415 mit Intervall-Länge 10−3 1 , 10 1 = , 100 1 = 1000 usw. Damit wird jeder reellen Zahl x ein Dezimalbruch zugeordnet. Dezimalbrüche mit Neunerende kommen nicht vor, und zu je zwei verschiedenen Punkten gehören zwei verschiedene Dezimalbrüche. Ist der Dezimalbruch endlich oder periodisch, dann ist x rational, sonst irrational (nicht rational). Umgekehrt legt jeder Dezimalbruch, der kein Neunerende hat, eine Intervallschachtelung fest, die einen Punkt der Zahlengeraden bestimmt. Wir erhalten damit eine eineindeutige Zuordnung zwischen den Punkten der Zahlengeraden, d.h. den reellen Zahlen, und den Dezimalbrüchen ohne Neunerende. Diese Dezimalbrüche sind folglich eine Darstellungsmöglichkeit der reellen Zahlen (eine andere Darstellung erhält man z.B. mit Hilfe der Dualbrüche). Die anschauliche Eigenschaft der Lückenlosigkeit der reellen Zahlengeraden kann man, losgelöst von der Anschauung, folgendermaßen ausdrücken: Axiom 4.2.3 (Intervallschachtelungs-Axiom) Sind a1 , a2 , a3 , . . ., b1 , b2 , b3 , . . . reelle Zahlen mit a1 ≤ a2 ≤ a3 ≤ . . . . . . ≤ b 3 ≤ b2 ≤ b1 und werden die Intervall-Längen bn − an für hinreichend großes n ∈ IN beliebig klein, dann gibt es eine reelle Zahl x mit an ≤ x ≤ bn für alle n ∈ IN. 4. Reelle Zahlen 54 Bemerkungen 4.2.4 (1) Die Intervall-Längen werden beliebig klein“ bedeutet, dass es zu einem beliebigen Stammbruch ”1 1 einen Index n0 gibt, so dass für alle n ≥ n0 die Längen der Intervalle [an , bn ] kleiner als m m sind. (2) Wie vorher bei der speziellen durch den Dezimalbruch definierten Intervallschachtelung erfasst eine Intervallschachtelung nie zwei verschiedene Zahlen. (3) Das Intervallschachtelungs-Axiom ist im Körper Q I nicht erfüllt. Die Menge der reellen Zahlen könnte unendlich große Zahlen“ enthalten, d.h. die Zahlengerade enthielte ” dann Punkte, die man nie erreichen würde. Um dies auszuschließen, fordert man als weitere Eigenschaft Axiom 4.2.5 (Archimedisches Axiom) Zu jeder reellen Zahl x gebe es eine natürliche Zahl n ∈ IN mit x < n. Bemerkungen 4.2.6 (1) Aus dem Archimedischen Axiom folgt, dass es auch keine unendlich kleine“ reelle Zahl gibt, die ” 1 ist. In der Analysis folgert man sowohl größer als 0 als auch kleiner als jeder Stammbruch n 1 daraus, dass die Folge ( )n∈IN eine Nullfolge ist. n (2) Man bezeichnet jeden angeordneten Körper, in dem das Intervallschachtelungsaxiom und das Archimedische Axiom gilt, als Menge IR der reellen Zahlen. Verschiedene Mengen mit diesen Eigenschaften fasst man als verschiedene Darstellungen von IR auf. Wir haben in den bisherigen Überlegungen jeder reellen Zahl eine Intervallschachtelung zugeordnet. Umgekehrt kann man nun von Intervallschachtelungen in Q I (d.h. mit rationalen Intervallenden) ausgehen. Dabei können aber verschiedene Intervallschachtelungen dieselbe reelle Zahl eingrenzen, d.h. man muss solche Intervallschachtelungen identifizieren“: ” Dazu betrachtet man zu einer gegebenen Intervallschachtelung (In )n∈IN eine Verfeinerung, d.h. eine Intervallschachtelung (Jn )n∈IN mit Jn ⊂ In für alle n ∈ IN. Zwei Intervallschachtelungen (In )n∈IN und (In′ )n∈IN heißen äquivalent, wenn sie eine gemeinsame Verfeinerung besitzen. Es entstehen Äquivalenzklassen von Intervallschachtelungen, und jede dieser Äquivalenzklassen definiert eine reelle Zahl. Beispiel 4.2.7 Für die Eulersche Zahl e := lim (1 + n→∞ In := [an , bn ] mit an := (1 + 1 n ) ist n 1 n ) n und bn := (1 + 1 n+1 ) n eine Intervallschachtelung, denn die Folge der an ist monoton wachsend, die Folge der bn ist monoton fallend, für alle n ∈ IN gilt an < bn und die Intervall-Länge wird mit wachsendem n beliebig klein. 4. Reelle Zahlen 4.3 55 Vollständigkeit von IR Für eine alternative Einführung der reellen Zahlen mit Hilfe des sog. Vollständigkeitsaxioms gehen wir wieder von der Lückenlosigkeit der Zahlengeraden aus. Auf der Zahlengeraden sei eine nach oben beschränkte Punktmenge M gegeben. Nun schiebe man eine Marke von einer beliebigen oberen Schranke so weit nach links, wie es geht (d.h. bis zum Anstoß mit M ). Man erhält eine neue obere Schranke, die nicht unterboten werden kann, also eine kleinste obere Schranke der Menge. Definition 4.3.1 Es sei X eine angeordnete Menge (d.h. es gilt das Trichotomiegesetz). (a) Eine Menge M ⊂ X heißt nach oben beschränkt (in X), wenn es ein s ∈ X gibt, so dass für alle x ∈ M gilt x ≤ s. s heißt obere Schranke von M . (b) s ∈ X heißt kleinste obere Schranke oder Supremum von M , wenn s obere Schranke von M ist und für jede andere obere Schranke s′ ∈ X von M gilt s ≤ s′ . Beispiele 4.3.2 (1) Ist M endlich, dann hat M ein maximales Element, und dieses ist gleich dem Supremum von M . √ (2) M = {x ∈ IR; x2 < 2} ist z.B. durch 2 nach oben beschränkt. Das Supremum von M ist 2, existiert also, ist aber nicht Element von M . √ I M hat aber kein Supremum (in (3) M = {x ∈ Q; I x2 < 2} hat ebenfalls die obere Schranke 2 ∈ Q. Q). I Für IR ist folgende Eigenschaft charakteristisch. Axiom 4.3.3 (Vollständigkeitsaxioms) Jede nichtleere, nach oben beschränkte Menge reeller Zahlen besitzt eine kleinste obere Schranke in IR. Das Vollständigkeitsaxioms ist äquivalent zu Intervallschachtelungs- und Archimedischem Axiom: Satz 4.3.4 (a) Gilt für eine Menge das Vollständigkeitsaxiom, dann auch das Archimedische und das Intervallschachtelungsaxiom. (b) Gilt für eine Menge sowohl das Archimedische als auch das Intervallschachtelungs-Axiom, dann gilt für sie das Vollständigkeitsaxiom. 4.4 Anordnung und Rechenoperationen in IR Für die Punkte auf der (horizontalen) Zahlengeraden ergibt sich die Anordnung wie üblich: Es gelte a < b, falls der Punkt a links von b liegt. Die Addition kann man - wie bei Q I schon diskutiert - mit Hilfe einer festen und einer beweglichen Zahlengeraden (Rechenschieber) durchführen. Ebenfalls mit Hilfe zweier Zahlengeraden und unter Ausnutzung des 1. Strahlensatzes kann man die Multiplikation durchführen: 4. Reelle Zahlen 56 b 1 1 a b ab Zwei beliebige Dezimalbrüche a = a0 , a1 a2 a3 . . . und b = b0 , b1 b2 b3 . . . kann man in gewohnter Weise wie periodische Dezimalbrüche miteinander vergleichen: Gibt es ein n ∈ IN0 mit ak = bk für k < n und an < bn , dann ist a < b. Summe und Produkt von zwei reellen (speziell irrationalen) Zahlen erhält man, indem man jeweils Intervallschachtelungen ([an , bn ])n∈IN und ([a′n , b′n ])n∈IN der beiden Operanden auswählt und daraus neue Intervallschachtelungen ([an + a′n , bn + b′n ])n∈IN und (für positive reelle Zahlen) ([an · a′n , bn · b′n ])n∈IN konstruiert. √ √ Beispiel 4.4.1 √ Für die Berechnung von 2 + π und 2 · π betrachten wir die zu den Dezimalbruchentwicklungen 2 = 1, 414213 . . . und π = 3, 141592 . . . gehörenden Intervallschachtelungen und erhalten Anzahl der benutzten Dezimalstellen Intervall für π Intervall für √ 2 √ Intervall für π + 2 Intervall für π · √ 2 0 3 4 1 2 4 6 3 8 1 3,1 3,2 1,4 1,5 4,5 4,7 4,34 4,80 2 3,14 3,15 1,41 1,42 4,55 4,57 4,4274 4,4730 3 3,141 3,142 1,414 1,415 4,555 4,557 4,441374 4,445930 4 3,1415 3,1416 1,4142 1,4143 4,5557 4,5559 4,442709 4,443165 5 3,14159 3,14160 1,41421 1,41422 4,55580 4,55582 4,442867 4,442914 6 3,141592 3,141593 1,414213 1,414214 4,555805 4,555807 4,442880 4,442885 √ √ d.h. π + 2 = 4, 55580 . . . und π · 2 = 4, 44288 . . .. Da eine reelle Zahl einer Äquivalenzklasse von Intervallschachtelungen entspricht, müsste man zeigen, dass das Ergebnis von Addition, Multiplikation und Größenvergleich mit der Kleiner-Relation (als Verallgemeinerungen der entsprechenden Verknüpfungen bzw. Relation auf Q) I unabhängig von der Auswahl der speziellen Vertreter der Äquivalenzklassen ist. 4. Reelle Zahlen 4.5 57 Wurzeln als spezielle irrationale Zahlen √ Das Wurzelzeichen kommt im 16. Jahrhundert in Gebrauch und leitet sich vom kleinen Buchstaben r als Abkürzung zu radizieren“ ab (lat. radix“= Wurzel, vgl. Radieschen). ” ” Mit der Einführung der (Quadrat-) Wurzeln konnten explizite Lösungen für algebraische Gleichungen der Form x2 = a benannt werden. Doch lassen sich Wurzeln auch allgemeiner für Gleichungen mit beliebiger Potenz definieren: Definition 4.5.1 Für jede Zahl a ∈ IR+ 0 und jeden Exponenten n ∈ IN heißt die Lösung der Gleichung xn = a die n-te Wurzel aus a. Schreibweise: √ √ n a und für n = 2 kurz a. Bemerkungen 4.5.2 (1) Wurzeln sind laut Definition nur für positive Zahlen definiert. Für ungerades n könnte man auch die Wurzel einer negativen Zahl bestimmen. Das macht aber Probleme bei manchen Rechenregeln. So gilt z.B. p √ √ 6 3 6 −8 = −2, aber (−8)2 = 64 = +2. √ Wir bezeichnen daher die Lösung der Gleichung x3 = −8 mit − 3 8. (2) Der Wert einer Wurzel kann nie negativ sein. (3) Für die Anordnung der Wurzeln gilt a<b √ √ a < b. ⇔ (4) Das (Quadrat-) Wurzelziehen kann als Umkehrung des Potenzierens (Quadrierens) aufgefasst werden, wobei man sich über folgenden Zusammenhang immer im Klaren sein muss: √ a2 = a. • Für alle a ∈ IR+ 0 gilt √ • Für alle a ∈ IR gilt a2 = |a|. Das bedeutet, dass das Quadrieren einer negativen Zahl nicht durch das Wurzelziehen wieder rückgängig gemacht wird, sondern den Betrag der Zahl ergibt! Beispiele 4.5.3 (1) DIN-Formate. Für die Papier-Formate nach DIN gilt, dass sich die Breite b zur Länge l verhält, wie die halbe Länge l zur Breite b: b:l= l : b. 2 So füllen zwei DIN A5 Blätter genau ein DIN A4 Blatt usw. Für das Verhältnis von Länge und Breite erhält man l 2 b =2 bzw. √ l = 2. b 4. Reelle Zahlen 58 (2) Neben dem weit verbreiteten arithmetischen Mittel wird zur Beschreibung einiger Alltagssituationen auch das geometrische Mittel benötigt. Nehmen wir an, im Jahr 1983 stiegen die Preise um 20%, im Jahr 1984 um 50% und im Jahr 1985 um 25% (es gibt Länder mit solchen Preissteigerungen und auch bei uns einige Güter, die eine rasante Preisentwicklung zeigen). Um wieviel % steigen die Preise dann im Mittel, d.h. um welchen einheitlichen Prozentsatz hätten die Preise in jedem der drei Jahre steigen müssen, damit sich dieselben Endpreise ergeben? Wichtig für die Lösung ist, zu verstehen, dass die genannten Preissteigerungen multiplikative Veränderungen der Preise beschreiben, also z.B. im ersten Jahr um den Faktor 1, 20, und die nachfolgenden Steigerungsraten zu multiplizieren sind: alter Preis · 1, 20 · 1, 50 · 1, 25 = neuer Preis . Gesucht ist also der Wachstumsfaktor q mit q 3 = 1, 20 · 1, 50 · 1, 25 = 2, 25. Definition 4.5.4 Sei n ∈ IN. a1 + a2 + . . . + an n √ (b) n a1 · a2 · . . . · an (a) heißt arithmetisches Mittel der Zahlen a1 , a2 , . . . , an ∈ IR. heißt geometrisches Mittel der Zahlen a1 , a2 , . . . , an ∈ IR+ 0. Damit erhält man im vorigen Beispiel eine mittlere Preissteigerungsrate von p p q = 3 1, 20 · 1, 50 · 1, 25 = 3 2, 25 = 1, 3103, also circa 31%. (Das arithmetische Mittel hätte einen Wert von rund 32% ergeben.) Für die beiden Mittelwerte gilt Satz 4.5.5 Das geometrische Mittel von n nichtnegativen Zahlen ist immer kleiner oder gleich dem arithmetischen Mittel, d.h. für beliebige a1 , a2 , . . . , an ∈ IR+ 0 gilt √ n a1 · a2 · . . . · an ≤ a1 + a2 + . . . + an . n Bemerkung 4.5.6 Der Name des geometrischen Mittels rührt daher, dass dieser Mittelwert erstmals in einem geometrischen Zusammenhang aufgetreten ist: In der antiken griechischen Mathematik wurde zu einem Rechteck mit den Seitenlängen a und b ein Quadrat mit gleichem Flächeninhalt gesucht. 4. Reelle Zahlen 59 Dazu zeichnet man eine Strecke AB der Länge a + b mit dem Zwischenpunkt H, so dass AH die Länge a und HB die Länge b hat. Das Lot auf AB in H schneidet den Halbkreis über AB mit Mittelpunkt M in C und das Dreieck ABC hat die Höhe HC mit der Länge h und nach dem Satz des Thales bei C einen rechten Winkel. C❛ h A a H M b Daher gilt in diesem Dreieck der Höhensatz in der Form h2 = a · b und für die Höhe gilt h = B √ a · b. Da die Höhe höchstens so lang ist wie der Kreisradius M C und dessen Länge das arithmetische Mittel von a und b ist, ist damit die Ungleichung zwischen geometrischem und arithmetischen Mittel für n = 2 bewiesen. Es ist offensichtlich, dass beide Mittelwerte genau dann gleich sind, wenn a = b gilt. Das Verfahren nach Heron (Heron von Alexandrien, um 60 n. Chr.) zur näherungsweisen Bestimmung √ des Wertes von a benutzt Satz 4.5.5 und die Aussage a =a für alle x0 > 0. x0 · x0 √ Wir wählen nun einen beliebigen Wert x0 > 0. Wenn beide Faktoren gleich sind, ist x0 = a. Im anderen Fall nehmen wir an, dass x0 die größere der beiden Zahlen ist. Dann liegt das geometrische √ Mittel und damit a zwischen den beiden Werten, d.h. es gilt √ a < a < x0 . x0 Das arithmetische Mittel liegt zwischen dem geometrischen Mittel und dem größeren der beiden Faktoren, d.h. es gilt √ 1a a< + x0 =: x1 < x0 2 x0 √ und x1 ist damit ein besserer Näherungswert für a als x0 . √ Beispiel 4.5.7 Berechnung von 42 ohne Verwendung der Wurzeltaste auf dem Taschenrechner! Schritt xn (zu groß) 0 1 2 3 7 6,5 6,4807692 6,4807407 42 (zu klein) xn 6 6,4615384 6,4807121 6,4807407 Schon nach drei Schritten hat man einen auf 7 Stellen hinter dem Komma genauen Wert erhalten! 4. Reelle Zahlen 4.6 60 Kettenbrüche a c 1 Zwei beliebige rationale Zahlen und kann man als ganzzahlige Vielfache z.B. von darstellen, d.h. b d bd die Streckenlängen vom Nullpunkt zu den Punkten, die den beiden Zahlen entsprechen, sind ganzzahlige Vielfache einer festen Streckenlänge, die man als gemeinsame Maßeinheit betrachten kann. Die beiden Strecken sind also kommensurabel. Umgekehrt erhält man zu zwei kommensurablen Strecken durch das Verfahren der Wechselwegnahme das größte gemeinsame Maß der beiden Strecken. Die Wechselwegnahme bei Strecken entspricht dem euklidischen Algorithmus für natürliche Zahlen, bei dem ebenfalls ein gemeinsames Maß, nämlich der größte gemeinsame Teiler, gefunden wird. Nun könnte man versuchen, diesen Algorithmus auf irrationalen Zahlen a, b anzuwenden: a = q1 · b + r1 (q1 ∈ IN; 0 ≤ r1 < b) r1 = q3 · r2 + r3 (q3 ∈ IN; 0 ≤ r3 < r2 ) b = q2 · r1 + r2 (q2 ∈ IN; 0 ≤ r2 < r1 ) usw. √ Versucht man dies am Beispiel für a = 2 und b = 1 durchzuführen, erhält man: √ √ 2 = 1 · 1 + ( 2 − 1) √ √ √ √ 1 = 2 · ( 2 − 1) + (3 − 2 2) = 2 · ( 2 − 1) + ( 2 − 1)2 . √ √ √ √ √ √ 2 − 1 = 2 · ( 2 − 1)2 + ( 2 − 1) · (3 − 2 2) = 2 · ( 2 − 1)2 + ( 2 − 1)3 Jede weitere Zeile entsteht nun durch Multiplikation der aktuellen Zeile mit bricht also nie ab und ergibt daher kein gemeinsames Maß. √ 2 − 1. Der Algorithmus Wir führen den euklidischen Algorithmus nochmals für die natürlichen Zahlen 105 und 24 aus und geben die entsprechenden Gleichungen in einer Bruchdarstellung dar: übliche Schreibweise Bruchschreibweise 105 9 =4+ 24 24 6 24 =2+ 9 9 9 3 =1+ 6 6 6 =2 3 105 = 4 · 24 + 9 24 = 2 · 9 + 6 9 = 1·6+3 6 =2·3 Die rechte Seite liefert schrittweise eine Kettenbruchdarstellung von 105/24, nämlich 105 =4+ 24 1 2+ 6 9 1 =4+ 2+ 1 1+ 1 =4+ 3 6 2+ . 1 1+ 1 2 4. Reelle Zahlen Für a = 61 √ 2 und b = 1 erhält man analog übliche Schreibweise √ √ 2 = 1 · 1 + ( 2 − 1) Bruchschreibweise √ 2 2−1 =1+ 1 1 √ 1 √ = 2 + ( 2 − 1) 2−1 √ 1 √ = 2 + ( 2 − 1) 2−1 √ 1 √ = 2 + ( 2 − 1) 2−1 √ √ √ 1 = 2 · ( 2 − 1) + ( 2 − 1)2 √ √ √ 2 − 1 = 2 · ( 2 − 1)2 + ( 2 − 1)3 √ √ √ ( 2 − 1)2 = 2 · ( 2 − 1)3 + ( 2 − 1)4 Wieder liefert die rechte Seite schrittweise eine jetzt nicht abbrechende Kettenbruchdarstellung von nämlich √ 1 2=1+ . 1 2+ 1 2+ 1 2+ 2 + ... √ 2, Bemerkungen 4.6.1 (1) Zu jeder positiven reellen Zahl a liefert der euklidische Algorithmus eine Kettenbruchdarstellung. Die Darstellung ist genau dann endlich, wenn a rational ist. (2) In den bisher betrachteten Beispielen ist der Zähler einheitlich 1. Diese Kettenbrüche heißen auch regulär. Für reguläre Kettenbrüche hat sich die Darstellung [a0 ; a1 , a2 , a3 , . . .] durchgesetzt. Zum Beispiel ist dann √ 105 2 = [1; 2, 2, 2, 2, . . .]. = [4; 2, 1, 2], 24 (3) Kettenbrüche stellen also wie Dezimalbrüche sowohl rationale als auch irrationale Zahlen dar. Während aber zu einer rationalen Zahl auch ein unendlicher (periodischer) Dezimalbruch gehören kann, ist ihr Kettenbruch immer endlich. Für Kettenbrüche gilt sogar: Die Kettenbruchentwicklung einer Zahl ist unendlich, aber periodisch genau dann, wenn a eine irrationale Quadratwurzel ist. (4) Für irrationale Zahlen betrachtet man oft die Anfangsstücke ihrer Dezimalbruchentwicklung als rationale Näherungen. Das kann man bei der Kettenbruchentwicklung auch machen. Die Anfangsstücke der Kettenbruchentwicklung konvergieren viel schneller als die der Dezimalbruchentwicklung. Sie sind sogar sogenannte beste Approximationen“. ” Mit Hilfe der Kettenbruchentwicklung kann man feststellen, wie gut sich eine irrationale Zahl durch rationale Zahlen approximieren läßt. 1 1√ 5 = [0; 1, 1, 1, . . .] − + 2 2 sind am schlechtesten approximierbar. und √ 2 − 1 = [0; 2, 2, 2, . . .] 4. Reelle Zahlen 4.7 62 Mächtigkeit von QI und IR Um festzustellen, wie viele Elemente eine Menge hat, benutzt man die natürlichen Zahlen, indem man - einem Element die natürliche Zahl 1 zuordnet, - einem weiteren die Zahl 2 usw. Mit dieser Art von Zuordnung kann man auch feststellen, ob die Menge endlich oder unendlich viele Elemente hat: Definition 4.7.1 (a) Eine Teilmenge X ⊂ IN der Menge der natürlichen Zahlen heißt Anfangsstück von IN, wenn es ein n ∈ IN gibt mit X = {1, 2, 3, 4, . . . , n − 1, n}. (b) Eine Menge M heißt endlich, wenn es ein Anfangsstück X von IN und eine bijektive Funktion f : X → M gibt. Sonst heißt die Menge unendlich. Ist M endlich und n die größte Zahl des entsprechenden Anfangsstück, dann heißt n die Elementzahl oder Kardinalzahl von M . Bezeichnung: n = card M . (c) Zwei Mengen M1 und M2 heißen gleichmächtig, wenn es eine bijektive Funktion f : M1 → M2 gibt. Bemerkungen 4.7.2 (1) Man setzt card ∅ = 0. (2) gleichmächtig“ ist eine Äquivalenzrelation auf der Klasse der Mengen. ” (3) Ob zwei endliche Mengen dieselbe Elementzahl haben, kann man auch direkt ohne den Umweg über ein Anfangsstück von IN feststellen: Man macht das wie bei dem Kinderspiel Reise nach ” Jerusalem“. (4) Jede unendliche Menge hat eine Teilmenge, die gleichmächtig zu IN ist. (5) IN ist zu keinem Anfangsstück von IN gleichmächtig, d.h. die Kardinalzahl von IN ist keine natürliche Zahl. Man nennt die Kardinalzahl von IN (und damit kurz auch IN) abzählbar. Als Bezeichnung für die Kardinalzahlen unendlicher Mengen hat sich Aleph“, das hebräische a“, ” ” eingebürgert, d.h. z.B. card IN =: ℵ0 . (6) eine unendliche Menge, deren Kardinalzahl nicht abzählbar ist, heißt überabzählbar. (7) Eine Menge ist genau dann endlich, wenn sie zu keiner ihrer echten Teilmengen gleichmächtig ist. Offensichtlich ist IN eine echte Teilmenge von Q, I d.h. es gibt viel mehr rationale Zahlen als natürliche. Wie sich aus der Bemerkung 4.7.2 ergibt, heißt das aber nicht, dass die Kardinalzahl von Q I größer als die von IN ist. Satz 4.7.3 Es gilt card Q I = card IN = ℵ0 , d.h. Q I ist abzählbar. Zur Konstruktion einer entsprechenden bijektiven Funktion f : IN → Q I benutzt man das Cantorsche Diagonalverfahren: Man schreibt alle Brüche in einem quadratischen Schema auf und zählt dann immer diagonal der Reihe nach ab – jeder Bruch taucht genau einmal auf, und jede natürliche Zahl beim Durchzählen auch! 4. Reelle Zahlen 63 Streicht man alle mehrfach vorkommenden Brüche ab dem zweiten Auftreten und nummeriert durch, erhält man folgende Zuordnung: Nummer der Bruchzahl Bruchzahl 1 1 1 2 2 1 3 1 2 4 1 3 5 3 1 6 4 1 7 3 2 8 2 3 9 1 4 10 1 5 ... ... Man könnte nun zu der Vermutung kommen, dass alle unendlichen Mengen gleichmächtig, also abzählbar sind. Wir zeigen aber, dass IR überabzählbar ist: Satz 4.7.4 IR ist überabzählbar. Zum Beweis stellt man z.B. jede reelle Zahl zwischen 0 und 1 durch ihre nichtabbrechende Dezimalbruchdarstellung dar. Angenommen, die nichtabbrechenden Dezimalbrüche wären abzählbar. Dann kann man diese alle durchnummerieren und in der Reihenfolge ihrer Nummerierung notieren: 0, a11 a12 a13 a14 . . . 0, a21 a22 a23 a24 . . . 0, a31 a32 a33 a34 . . . 0, a41 a42 a43 a44 . . . .. . Nun betrachtet man den Dezimalbruch 0, b1 b2 b3 b4 . . . mit ( 1 falls ann 6= 1 bn := 2 falls ann = 1 Dann ist nach Konstruktion bn 6= ann für alle n ∈ IN. Es handelt sich also um einen Dezimalbruch, der in der obigen Liste nicht vorkommt. Das widerspricht der Annahme.