Wahlenthaltung als politisches Problem

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Wahlenthaltung als politisches Problem
Ein Forschungsbericht unter
besonderer Berücksichtigung der Situation im Stadtstaat Bremen
für den Vorstand der Bremischen Bürgerschaft
Projektgruppe „Nichtwähler“ an der Universität Bremen
Institut für Politikwissenschaft
Projektleiter: Prof. Dr. Lothar Probst
Wahlenthaltung als politisches Problem
Ein Forschungsbericht unter
besonderer Berücksichtigung der Situation im Stadtstaat Bremen
für den Vorstand der Bremischen Bürgerschaft
Projektgruppe „Nichtwähler“ an der Universität Bremen
Arbeitsbereich „Wahl-, Parteien- und Partizipationsforschung“ (AWaPP)
Institut für Politikwissenschaft
Projektleiter: Prof. Dr. Lothar Probst
Mitarbeiter/innen:
Dipl.-Pol. Jan-Hendrik Kamlage, Dipl.-Soz. Anke Reinhardt, Niels Winkler,
Manuel Domes, Ronald Gotthelf, Jessica Haase, Christian Hensen,
Eike Holsten, Philip Mehrtens, Dominic Nyhuis, Hans Magnus Pliester,
Jens Schmidt, Marion Schlake, Anna-Caroline Wessel
Institut für Politikwissenschaft (FB 8)
Universität Bremen
Postfach 330440
28334 Bremen
www.politik.uni-bremen.de/
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Impressum
Wahlenthaltung als politisches Problem
Ein Forschungsbericht unter besonderer
Berücksichtigung der Situation im Stadtstaat Bremen
Institut für Politikwissenschaft (FB 8)
Universität Bremen
Verantwortlich:
Prof. Dr. Lothar Probst (Projektleiter)
Institut für Politikwissenschaft (FB 8)
Postfach 330440, 28334 Bremen
Erscheinungsdatum: 09/2006
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Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
S. 4
A
Nichtwähler und das Phänomen der Wahlenthaltung - Forschungsstand
S. 6
I.
Wahlsystem- und Wahlverhaltensforschung
S. 6
II.
Stand der Nichtwählerforschung in Deutschland
S. 6
1.
Studien der Wahlverhaltensforschung
S. 9
2.
Studien zur Partizipationsforschung
S. 17
B
Wahlenthaltung als politisches Problem im Stadtstaat Bremen
C
Kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Strategien zur Mobilisierung
und Aktivierung von Wählern
S. 31
I.
Institutionelle Strategien
S. 31
1.
Wahlrechts-/Wahlsystemreformen
S. 31
a)
Personalisierung des Wahlrechts
S. 32
b)
Abschaffung von Wahlhürden und Senkung des Wahlalters
S. 34
c)
Wahlrecht von Geburt an
S. 35
d)
Einführung einer Wahlpflicht
S. 35
2.
Gestaltung von Wahlumgebung und Wahldurchführung
S. 36
3.
Föderalismusreform
S. 37
4.
Gestaltung der Parlamentsarbeit und Informationspolitiken
der Parlamente
II.
D
S. 21
S. 38
Strategien zur Mobilisierung von (Nicht-)Wählern durch politische
und gesellschaftliche Akteure
S. 40
1.
Nichtwähler als Zielgruppe der Parteien
S. 40
2.
Erst- und Jungwählerkampagnen
S. 42
a)
Projekte der Bundeszentrale für politische Bildung und
der Landeszentralen für politische Bildung
S. 42
b)
Das Projekt Juniorwahlen
S. 42
c)
Parteiliche und überparteiliche Erstwählerkampagnen
S. 44
3.
Wahlaufrufe
S. 45
Zusammenfassung
S. 47
3
Vorbemerkung
Wählen ist ein Grundelement der Demokratie. Kein Staat, in dem nicht periodisch wiederkehrend das Parlament und die Regierung nach demokratischen Regeln gewählt werden, würde
als Demokratie gelten. Sieht man in der Wahlteilnahme zugleich ein Legitimitätsmerkmal der
repräsentativen Demokratie, dann ist ein signifikanter Rückgang der Wahlbeteiligung bedenklich. Auch in der Bundesrepublik sinkt die Wahlbeteiligung – bei Bundestagswahlen weniger,
bei Landtags-, Kommunal- und Europawahlen mehr. Welche Personen neigen besonders zur
Nichtwahl? Was sind ihre Motive? Welche Auswirkungen hat dies auf die Substanz einer
demokratischen Gesellschaft? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die empirische Wahl- und
Partizipationsforschung. Innerhalb dieser Forschungsrichtung ist man sich bei aller Differenz
der Ansätze und Methoden darin einig, dass das Wählen ein komplexer Vorgang ist, der sich
einfachen und monokausalen Erklärungsmodellen entzieht. Dies gilt erst recht für das Phänomen der Wahlenthaltung. Die Gründe für die zunehmende Wahlenthaltung sind vielfältig
und lassen sich nur schwer empirisch erforschen. Gleichwohl gibt es inzwischen eine über
viele Jahre entwickelte Tradition der Nichtwählerforschung, auf deren Erkenntnisse man zurückgreifen kann. Dieser Weg wird auch in dem folgenden Forschungsbericht beschritten.
Darüber hinaus fließen in den Bericht Erkenntnisse ein, die die Projektgruppe „Nichtwähler“
am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen im Rahmen eigener empirischer
Forschung in Bremen gewonnen hat. Dazu zählen eine nicht repräsentative Face-to-Face Befragung von 150 Bremer Bürger und Bürgerinnen zu einer Reform des Wahlrechts in Bremen
sowie eine Staffel von 32 Interviews mit Bremer Nichtwählern.
Der Bericht umfasst im Wesentlichen drei Komplexe:
A
Eine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse aus der Wahlforschung zu
Nichtwählern und dem Phänomen der Wahlenthaltung,
B
eine Darstellung der Wahlenthaltungs- und Nichtwählerproblematik in Bremen,
C
eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Strategien zur Mobilisierung und
Aktivierung von (Nicht-)Wählern.
Im Sinne eines Forschungsberichts beschreibt, analysiert und dokumentiert der Text das Problem der Wahlenthaltung und dessen Ursachen. Dazu geht er insbesondere auf die Nichtwähler, ihre Profile und Motive ein. Auch in Bezug auf den Stadtstaat Bremen wird das Problem
der Wahlenthaltung in erster Linie beschreibend dargestellt und auf mögliche Gründe für das
stetige Absinken der Wahlbeteiligung verwiesen.
4
Der Bericht verzichtet auf eindeutige Empfehlungen, soweit es um Strategien zur Mobilisierung von Nichtwählern geht. Vielmehr werden die verschiedenen Strategien und Instrumente,
die in der Wahlforschung, in Parteien und in der Öffentlichkeit in Bezug auf die Möglichkeiten einer Aktivierung von Nichtwählern diskutiert werden, jeweils kurz vorgestellt und im
Hinblick auf ihre möglichen Wirkungen vorsichtig bewertet. Dabei werden auch Vorschläge
und Initiativen aufgegriffen, die in der politischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden
(u. a. Wahlrechtsreformen). Obwohl der Bericht auf eindeutige Empfehlungen, die politisch
umsetzbar und praktikabel erscheinen, verzichtet, enthält er gleichwohl eine Reihe von Anhaltspunkten, die von politischen Institutionen, Parteien und Trägern der politischen Bildung
in Bremen aufgegriffen werden könnten.
Die Verfasser der Studie danken dem Vorstand der Bremischen Bürgerschaft, insbesondere
dem Präsidenten, für die Unterstützung ihrer Arbeit. Ergänzend zu diesem Forschungsbericht
wird dem Vorstand der Bremischen Bürgerschaft zu einem späteren Zeitpunkt noch ein kommentierter Bericht mit Auszügen aus den von der Projektgruppe durchgeführten Nichtwählerinterviews vorgelegt.
Als Projektleiter möchte ich mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Projektgruppe „Nichtwähler“ am Institut für Politikwissenschaft (Arbeitsbereich Wahl-, Parteien
und Partizipationsforschung) für ihr unentgeltliches und unermüdliches Engagement, das ganz
wesentlich zum Erstellen dieses Berichts beigetragen hat, bedanken.
Lothar Probst
5
A
Zum Forschungsstand über Nichtwähler und das Phänomen der Wahlenthaltung*
I.
Wahlsystem- und Wahlverhaltensforschung
In der Wahlforschung gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Studien, die sich mit der zunehmenden Wahlenthaltung und der steigenden Zahl von Nichtwählern beschäftigen. Die Ergebnisse der wichtigsten Studien werden im Folgenden gerafft zusammengefasst. Zunächst sei
aber noch kurz auf den Unterschied zwischen der Wahlsystem- und der Wahlverhaltensforschung hingewiesen.
Gegenstände der Wahlsystemforschung sind: das Wahlrecht, die Wahlrechtsgrundsätze, das
Wahlsystem im engeren Sinne, das Wahlverfahren und die Formen der Stimmgebung und
Stimmenverrechnung.
Gegenstände der Wahlverhaltensforschung sind: die Beschreibung, Erklärung und Prognose
individueller Wählerentscheidung, strukturelle und situative Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens, die Verteilung von Partei-, Kandidaten- und Sachpräferenzen in der Wählerschaft.
Aus dieser Unterscheidung wird bereits deutlich, dass die Wahlbeteiligung von einer Vielzahl
von Faktoren abhängig ist und beeinflusst wird: von der Beschaffenheit des Wahlrechts und
Wahlsystems, von sozialstrukturellen Veränderungen in einer Gesellschaft, von der Art des
Parteienwettbewerbs, von der Art der Wahlkampfführung, von aktuellen politischen Entwicklungen.
Da sich Wahlrecht und Wahlsystem – neben anderen Faktoren – unmittelbar auf das Wahlverhalten auswirken, wird unter Punkt C dieses Berichts auch auf Vorschläge zur Reform
dieser Einflussgrößen eingegangen.
II.
Zum Stand der Nichtwählerforschung in Deutschland
In Deutschland wird über Nichtwähler immer noch vergleichsweise wenig geforscht. Dies
mag mit der vermeintlich geringeren „Dringlichkeit“ zusammenhängen. Denn die Wahlbeteiligung liegt in der Bundesrepublik Deutschland – verglichen mit anderen Demokratien – immer noch verhältnismäßig hoch, auch wenn sie im Verlauf der Zeit deutlich gesunken ist.
Geht man nur von der Wahlbeteiligungsquote bei Bundestagswahlen aus, bewegt sich
Deutschland im oberen Drittel der etablierten westlichen Demokratien.
*
Im folgenden Text wird nicht durchgängig die männliche und weibliche Form verwendet. Dort, wo nur die
männliche Form verwendet wird, ist die weibliche Form eingeschlossen.
6
Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen in Prozent
1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005
Ge-
77,8
78,0
82,2
79,1
77,7
78,6
79,4
82,7
80,6
78,4
74,4
72,2
79,9
72,8
74,1
samt
West 86,3
87,8
87,4
85,9
86,1
90,8
90,4
87,6
Ost
88,4
83,1
Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch (eigene Darstellung)
In einer Untersuchung von 18 Staaten (vgl. Freitag 1996: 105) belegt Deutschland Platz 6;
weit vor solch alten Demokratien wie den USA (Platz 17 mit durchschnittlich 54,8 Prozent
Wahlteilnahme) und der Schweiz (Platz 18 mit durchschnittlich 48,3 Prozent). Etwas anders
stellt sich für Deutschland die Situation dar, wenn man auf die Entwicklung der Wahlbeteiligungsquoten bei so genannten Nebenwahlen (Landtags-, Kommunal-, Europawahlen) schaut.
Die folgende Grafik veranschaulicht z.B. die Stärke des Rückgangs bei Landtagswahlen im
Verhältnis zu Bundestagswahlen.
Grafik: Bundeszentrale für politische Bildung
Es stellt sich also auch für Deutschland die Frage: Wie ist das Absinken der Wahlbeteiligung
einzuschätzen, und was bedeutet sie für die Legitimität des politischen Systems? In der Demokratietheorie werden auf diese Fragen zwei gegenläufige Antworten gegeben (vgl. Scharpf
1970: 21). Die input-orientierte Demokratietheorie bewertet den politischen Prozess danach,
wie sehr es gelingt, Bürger in das politische System zu integrieren und die Wählermeinung im
Wahlergebnis abzubilden. Nach diesem Ansatz führt eine niedrige Wahlbeteiligung zu einer
Verzerrung des Wahlergebnisses, weil Stimmen von Wahlberechtigten (möglicherweise die
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Stimmen ganz bestimmter Gruppen) unberücksichtigt bleiben. Eine hohe Wahlbeteiligung
legitimiert deshalb ein demokratisches System und verbessert seine „Qualität“. Die outputorientierte Demokratietheorie dagegen geht davon aus, dass Wahlen lediglich Macht zuweisen
und Herrschaft legitimieren sollen. Die Wahlbeteiligung muss in diesem Sinne nicht maximiert, sondern „optimiert“ werden, d.h. sie soll eine handlungsfähige Regierung etablieren
(vgl. Bürklin und Klein 1998: 160). Nach dem output-orientierten Modell ist die Höhe der
Wahlbeteiligung weniger wichtig als im input-orientierten Modell. Die unüberlegte Stimmabgabe eines desinteressierten und schlecht informierten Wählers kann sogar dem Ziel der
Wahl, eine handlungsfähige Regierung zu stellen, entgegenlaufen (vgl. Kohlen 2004: 15). Ein
wesentliches Problem der output-orientierten Demokratietheorie ist aber, dass sie nicht definiert und wohl auch nicht definieren kann, wann ein „Balancezustand“ zwischen Apathie und
Partizipation herrscht.
Wie kritisch für die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft eine zunehmende Wahlabstinenz eingeschätzt wird, hängt sehr stark davon ab, ob man dem input- oder dem outputorientierten Demokratiemodell folgt. Krisentheorien, die vom input-orientierten Demokratieansatz ausgehen, sehen in einer hohen Wahlbeteiligung ein Zeichen für eine hohe Systemzufriedenheit. Eine niedrige Wahlbeteiligung gilt entsprechend als Anzeichen einer gewissen
Verdrossenheit mit dem politischen System und seinen Trägern (vgl. Feist 1994). Eng verbunden mit der Krisentheorie ist die Protesttheorie. Neben den Desinteressierten treibt die
Unzufriedenheit mit dem politischen System und Enttäuschung über mangelnde Partizipationsmöglichkeiten demnach auch politisch Interessierte zur Wahlenthaltung, um ihrem Verdruss Ausdruck zu verleihen. Als Folgen sind eine Schwächung der etablierten Parteien und
häufige Regierungswechsel zu erwarten (vgl. Armingeon 1994: 45). Die Protesttheorie fand
insbesondere Anfang der 1990er Jahre Rückhall, als in mehreren aufeinander folgenden Bundestagswahlen die Wahlbeteiligung gesunken war. Die These wurde z.B. in dem von Starzacher et al. herausgegebenen Sammelband „Protestwähler und Wahlverweigerer. Krise der
Demokratie?“ (1992) von prominenten Wahlforschern (Wilhelm Bürklin, Ursula Feist, Dieter
Roth etc.) diskutiert. Lermann (1994) publizierte eine Anzahl von Briefen von Nichtwählern,
die überwiegend aus Enttäuschung die Wahl verweigert hatten. Feist griff in ihrer essayartigen Studie (1994) aktuelle Entwicklungen und Wahlergebnisse auf und identifizierte in Anlehnung an eine Studie von Ascheberg und Ueltzhöffer (1991) als Motive für Nichtwahl aggressive Apathie, Saturiertheit, Fundamentalopposition, Protest aus aktuellem Anlass, Sinnkrise/Distanzierung, neues weibliches Bewusstsein und radikalen Individualismus. Sie
schließt auf eine krisenartige Entwicklung, die die Legitimation des Systems untergräbt.
8
Im Kontrast zur Krisenthese steht die Normalisierungsthese. Sie verweist, ausgehend von der
output-orientierten Demokratietheorie, auf die Stabilität des politischen Systems. Armingeon
z.B. nimmt an, dass eine umfangreiche Wahlenthaltung „in Bezug auf die politische Kräfteverteilung und Systemstabilität [...] ohne Hinzutreten weiterer Umstände nahezu folgenlos“ ist
(1994: 44). Wer zufrieden ist, so seine These, hat keinen Grund, dies explizit deutlich zu machen. Wahlenthaltung wird in diesem Sinne gedeutet als eine „stillschweigende Einverständniserklärung“ (Bürklin und Klein 1998: 160). Nur noch die politisch Interessierten beteiligen
sich dann bei Wahlen (vgl. Roth 1992). Selbst wenn sich die Wahlbeteiligung noch weiter
reduziere, befände sich Deutschland in guter Gesellschaft mit anderen westlichen Demokratien, deren Wahlbeteiligung sich auf einem niedrigeren Niveau bewegt. Feist fasst diesen Zustand so zusammen (1992: 40): „Nach mehr als 40 Jahren hat das politische System in der
Bundesrepublik [...] einen bestimmten Reifegrad erreicht, in gewisser Weise auch seine Reifeprüfung bestanden. Es gilt als stabiles, konsensgetragenes Gebilde mit starker Konzentration in der politischen Mitte, immun gegen Gefahren von links und rechts – mit einem Wort
unauffällig normal“.
Sowohl die Krisen- als auch die Normalisierungsthese gehen also von der empirisch zu beobachtenden Abnahme der Wahlbeteiligung in Deutschland aus, ziehen daraus aber – ausgehend
von verschiedenen Demokratietheorien – unterschiedliche Schlüsse. Erst eine Untersuchung
der Struktur und Motive der Nichtwählerschaft kann näheren Aufschluss darüber bieten, woher der Wandel des Wahlverhaltens stammt und ob sich also die mit den Thesen einhergehenden Prognosen bestätigen. Deshalb werden im Folgenden kurz die Studien zusammengefasst,
die einen wesentlichen Einfluss auf die Nichtwählerforschung in Deutschland hatten. Ihre
Beiträge lieferten Referenzpunkte für den Ansatz weiterer Forschung. Daneben werden einige
Studien aus der Partizipationsforschung vorgestellt, weil sie der Nichtwählerforschung wichtige Impulse gegeben haben.
1.
Studien der Wahlverhaltensforschung
Günter D. Radtke (1972)
Günter D. Radtke legte mit seiner Dissertation „Stimmenthaltung bei politischen Wahlen in
der Bundesrepublik Deutschland“ von 1972 eine erste umfassende Studie zu Nichtwählern in
der Bundesrepublik vor. Er ermittelt individuelle Gründe der Nichtwahl, indem er die amtlichen Repräsentativstatistiken von 1953-1969 und Umfragedaten (mehrfachgeschichtete Re9
präsentativbefragungen der erwachsenen Bevölkerung der Bundesrepublik durch die Universität Mannheim, vor der Bundestagswahl 1965, unmittelbar nach der Bundestagswahl 1965,
zu einem späteren Zeitpunkt nach der Bundestagswahl 1965 sowie vor der Bundestagswahl
1969) untersucht. Zusätzlich behandelt er die demokratietheoretische Dimension der Wahlenthaltung.
Sozialstrukturell weisen die Nichtwähler bei Radtke folgende Merkmale auf (vgl. 1972: 55):
•
Formale Bildung: Bei Gruppen mit „Volksschule ohne abgeschlossene Berufsausbildung“ liegt die Wahlbeteiligung am niedrigsten. Gruppen mit darüber liegenden Bildungsniveaus weisen allesamt eine deutlich höhere Wahlbeteiligung auf, die zwischen
diesen Gruppen nur geringfügig variiert.
•
Die Wahlbeteiligung ist bei jüngeren Personen niedrig, erreicht ihren Höhepunkt in
der Gruppe der 40-65jährigen und geht danach wieder zurück.
•
Der Anteil der Frauen unter den Nichtwählern ist höher als diejenige der Männer. Dies
scheint jedoch altersabhängig zu sein. Seit der Bundestagswahl 1961 ist die Wahlbeteiligung der unter 30jährigen bei Frauen höher als bei Männern.
•
Ledige und Verwitwete neigen eher zur Nichtwahl als Verheiratete. Ein nahe liegender Grund ist nach Radtke die Möglichkeit der Interaktion mit dem Partner.
•
Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und die Vermeidung kognitiver Dissonanzen und
Gruppensanktionen spricht deutlich für eine Wahlteilnahme. Nichtwähler gehören seltener Gruppen an.
Die Einstellungen von Nichtwählern unterscheiden sich von denen der Wähler. Nichtwähler
sind, so Radtke, weniger politisch interessiert. Ihre politischen Einflussmöglichkeiten bewerten sie als gering und Wählen wird weniger stark als Staatsbürgerpflicht angesehen. Drei
Viertel der Nichtwähler geben als Motiv für die Nichtwahl politischen Protest an. Politischen
Parteien stehen sie zwar – anders als Wähler, die Parteien eher positiv beurteilen – neutraldistanziert, jedoch nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Verbunden mit den Ergebnissen
der sozialstrukturellen Kennzeichen sieht Radtke deshalb eine Person im Laufe ihres Lebenszyklus in die „Staatsbürger-Rolle“ (Radtke 1972: 42) hineinwachsen (die am Ende ihres Lebens allerdings auch wieder an Wichtigkeit verliert). Wahlabstinenz ist folglich nur ein Übergangsstadium in einer Biographie. Sie stellt das politische System daher nicht in Frage. Nach
seinen Untersuchungen sind nur ein Drittel der Nichtwähler, d.h. nur ca. drei bis vier Prozent
der gesamten Bevölkerung, dauerhafte Nichtwähler.
Die Partizipationsbereitschaft spielt eine große Rolle in Radtkes Untersuchung. Der Vergleich
des Mobilisationspotenzials der Wähler und Nichtwähler bei der Bundestagswahl 1965 zeigt,
10
welche Gruppe welche Teilhabeformen bevorzugt (vgl. Radtke 1972: 66-67): Die Information
durch Medien ist noch am ehesten akzeptiert (78 % der Nichtwähler, aber 93 % der Wähler)
und gleichzeitig am privatesten, wohingegen nur 21 % der Nichtwähler (40 % der Wähler) zur
Teilnahme an öffentlichen Diskussionen neigen. Die Mitgliedschaft in einer Partei, die öffentlichste Exponierung, wäre für 13 % der Wähler akzeptabel, aber nur für zwei Prozent der
Nichtwähler. Radtke schließt daraus, dass Nichtwähler sich eher scheuen, „öffentlich“ am
politischen Prozess teilzunehmen.
Ralf-Rainer Lavies (1973)
Ralf-Rainer Lavies’ Dissertation „Nichtwählen als Kategorie des Wahlverhaltens“ ist zu einem Standardwerk der deutschsprachigen Nichtwählerforschung geworden, weil sie erstmals
alle vorhandenen Daten über Wahlenthaltung in Deutschland zusammenträgt und vergleicht.
Er untersucht die Bundestagswahlen bis einschließlich 1972. In seiner Längsschnittuntersuchung arbeitet Lavies mit Daten der amtlichen Statistik auf Wahlkreisebene sowie mit ausgewählten Kommunalwahlergebnissen und gleicht Wahllisten (in denen abgegebene Stimmen
verzeichnet sind) mit Wählerverzeichnissen ab. Auf Daten aus der Umfrageforschung verzichtet er bewusst, weil sie ein stark subjektives Element enthalten: Er verweist darauf, wie
stark die Eigenauskünfte über die Wahlteilnahme von den tatsächlichen Zahlen abweichen
(vgl. Lavies 1973: 41).
Ein großer Teil der Nichtwähler (ca. 4 Prozent der Wahlberechtigten) sind nach Lavies’ Ergebnissen „unechte“ Nichtwähler, die aufgrund von Fehlern in der amtlichen Statistik zustande kommen (vgl. Lavies 1973: 31ff). Diese wiederum unterteilt er in fünf Gruppen.
•
Zur Gruppe 1 gehört die verschwindend kleine Zahl wahlberechtigter Personen, die
aufgrund von Fehlern nicht in das Wählerverzeichnis aufgenommen werden.
•
Gruppe 2, ca. 2,6 Prozent, wurde die Wahlberechtigungskarte nicht zugestellt.
•
Gruppe 3, die nur ca. 0,1 Prozent ausmacht, besteht aus noch nicht erfassten Todesfällen.
•
Gruppe 4, ca. 0,75 Prozent der Wahlberechtigten, ist wegen ihres Nebenwohnsitzes im
Wählerverzeichnis eingetragen, lebt aber an einem anderen Ort.
•
Gruppe 5 sind Briefwähler, deren Unterlagen nicht rechtzeitig oder fehlerhaft eingegangen sind. Diese Gruppe umfasst ca. 0,45 Prozent der Wahlberechtigten.
Eine sechste Gruppe sind dann die „willentlichen“ Nichtwähler. Auch hier gibt es jedoch
noch eine große Gruppe der „Verhinderten“, die z.B. plötzlich erkranken oder aus einem an11
deren Grund das Wahllokal nicht aufsuchen können. Nach Abzug dieser Gruppe, die ca. 2,5
Prozent der Wahlberechtigten ausmacht, umfasst die Gruppe der tatsächlichen und willentlichen Nichtwähler nur noch ca. 6,5 Prozent der Wahlberechtigten, die die amtliche Statistik
führt (der Nichtwähleranteil 1953 bis 1972 lag bei durchschnittlich 12,6 Prozent). Auch diese
Gruppe ist in ihrer Sozialstruktur und ihrer Motivation sehr heterogen. Personen, die dauerhaft nicht wählen, gehören laut Lavies zu einem großen Teil Gruppierungen an, die Wählen
per se ablehnen, so z.B. die Zeugen Jehovas. Die Gruppe, die Lavies als „gelegentliche
Nichtwähler“ bezeichnet, umfasst Protestierende, Gleichgültige und zufällige Nichtwähler.
Der typische Nichtwähler ist nach Lavies durch folgende sozialstrukturelle Merkmale gekennzeichnet: Arbeiter, jung, ledige, Großstädter. Die Faktoren Geschlecht, Konfessionszugehörigkeit und Vertriebenen- bzw. Flüchtlingsstatus haben in der Frühzeit der Bundesrepublik eine große Rolle gespielt, die sie aber im Laufe der Zeit verloren haben (vgl. Lavies
1973: 161). Gesellschaftliche Randgruppen beteiligen sich seinen Ergebnissen nach weit seltener an Wahlen als sozial Integrierte und Immobile, die durch ihre Einbindung der Erwartungshaltung ausgesetzt sind, sich an Wahlen zu beteiligen.
Die SINUS-Studie (1991)
Die Sinus-Studie wurde für den SPD-Parteivorstand zur Analyse der Wahlergebnisse und
zukünftigen Wählerpotenziale erstellt. Sie wurde nicht veröffentlicht, ihre zentralen Ergebnisse stellen jedoch Völker und Völker (1998) dar. Die Studie analysiert die Faktoren, die bei der
Bundestagswahl 1990 die Wahlenthaltung begünstigen. Methodisch arbeitet die SINUSStudie mit qualitativen Interviews. Horst Nowak und Ulrich Becker führen seit Anfang der
1980er Jahre im Auftrage des SINUS-Instituts Umfragen durch, um verschiedene Lebensstile
zu ermitteln. In der Lebenswelt-Forschung wird die Wählerschaft nach sozialen Milieus aufgeteilt. Die Merkmale des sozialen Milieus sind dabei – anders als bei sozialen Schichten –
nicht an ökonomischen Fragen orientiert, sondern gehen von Lebensstil, Einstellungen und
Erwartungen aus. Die so gebildeten acht Milieus und ihre prozentualen Größen innerhalb der
Gesellschaft der Bundesrepublik sind das konservativ-gehobene Milieu (8 %), das technokratisch-liberale Milieu (10 %), das kleinbürgerliche Milieu (26 %), das aufstiegsorientierte Milieu (24 %), das hedonistische Milieu (10 %), das alternative Milieu (3 %), das traditionale
Arbeitermilieu (9 %) und das traditionslose Arbeitermilieu (10 %) (vgl. Müller 1989: 63). Ziel
der Sinus-Studie war vor allem, auf Basis der verschiedenen Gruppen Motive der Nichtwahl
aufzudecken. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass es keine reinen Motivlagen gibt, son12
dern sich immer verschiedene „Motivkreise“ überlappen (vgl. SINUS 1991: 47, zitiert nach
Völker und Völker 1998: 75).
In der Sinus-Studie wurden folgende Motivkreise identifiziert:
•
Verdrossenheit und Apathie: Hier liegt eine manifeste Unzufriedenheit mit dem politischen System, den Parteien und Politikern vor. Bei dieser Motivlage hat sich ein Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit eingestellt, und es wird eine Distanz zur „Welt
der Politik“ aufgebaut.
•
Entfremdung/Sinnkrise, enttäuschter Rückzug vom politischen Geschehen, Wahlenthaltung als Protesthandlung: Menschen, die sich bisher mit dem politischen System
und Politikern identifiziert haben, entfremden sich hiervon.
•
Basisdemokratische Grundeinstellung/Zurückweisung des Repräsentativsystems: ca.
70 % der Nichtwähler zweifeln am Repräsentativsystem.
•
Individualismus/Entpflichtung: Wählen ist nach dieser Sicht eine private Entscheidung
und ein individueller Akt. Bringt der Wahlakt keinen Nutzen für den Wähler, so
nimmt er davon Abstand.
•
Gleichgültigkeit/Desinteresse/Politikferne: Diese Motivlage ist gekennzeichnet von
einer neutralen Distanz zu allem Politischen und wird von Sinus mit „normaler Apathie“ bezeichnet.
•
Saturiertheit: Die Nichtwähler sind zufrieden mit den politischen, wirtschaftlichen und
sozialen Verhältnissen.
Die Studie erhebt auch sozialstrukturelle Merkmale und kommt u.a. zu dem Ergebnis, dass
sich die Wahlbeteiligung der Geschlechter angepasst hat. Im Lebensverlauf kommt es zu einer
„Kurve“ der Wahlbeteiligung, die im mittleren Alter am höchsten liegt. Sozialstrukturell
stammen die Nichtwähler aus Gründen der „Verdrossenheit“ und „Entfremdung“ v.a. aus dem
klassischen Arbeitermilieu und dem hedonistischen Milieu. Jüngere Frauen neigen zum „Individualismus“, ältere Frauen, insbesondere solche mit niedrigem Bildungsniveau, zur
„Gleichgültigkeit“. Aufstiegsorientierte und konservative Nichtwähler, insbesondere jene in
mittleren Jahren (40 bis 60 Jahre), nennen als Grund für die Wahlenthaltung das Motiv „Saturiertheit“.
Die Autoren der SINUS-Studie schlussfolgern, dass zentrale Gründe für die Wahlenthaltung
Verdrossenheit und die „zentralen Trends des gesellschaftlichen Wertewandels“ (SINUS
1991: 59, zitiert nach Völker und Völker 1998: 76) seien. Immer weniger Bürger sehen z.B.
Wählen als Bürgerpflicht an. Die Milieus haben aufgrund ihrer unterschiedlichen sozialen
Lage, ihrer Lebensziele und ihrer Lebensstile Erwartungen an die Politik, die von den Parteien
13
befriedigt werden – oder eben nicht. Tritt Letzteres ein, kommt es nach dem von SINUS verwendeten Modell zur Nichtwahl. Politik hat in diesem Modell einen „Konsumcharakter“: Bei
Gefallen wird partizipiert, bei Nichtgefallen nicht.
Michael Eilfort (1994)
Eilfort versucht in seiner Untersuchung „Die Nichtwähler. Wahlenthaltung als Form des
Wahlverhaltens“ die Motive von Nichtwählern sowie deren sozialstrukturelle Merkmale zu
ermitteln. Er führte dazu eine schriftliche Befragung nach der Total-Design-Methode im
Stuttgarter Raum durch. Anlässlich der Bundestagswahl 1990 wurden 20.304 Stuttgarter Bürger, die aus dem Einwohnermelderegister zufällig ausgewählt wurden, angeschrieben. Antwort kam von 10.175 Wählern (davon wurden 5.336 Fragebögen ausgewertet) und 2.116
Nichtwählern, die alle in die Auswertung aufgenommen wurden. Obwohl die Studie rein regional angelegt ist, erlaubt sie Rückschlüsse auf die bundesdeutsche Bevölkerung, da Stuttgart
in wesentlichen Variablen (z.B. Altersstruktur, Wahlbeteiligung) nicht weit vom Bundesdurchschnitt abweicht. Eine Besonderheit war die Möglichkeit, die Angaben der Befragten
mittels Wahllisten zu überprüfen. Dabei stellte sich heraus, dass 27,6 % der erwiesenen
Nichtwähler fälschlicherweise angaben, gewählt zu haben (vgl. Eilfort 1994: 340).
Eilfort benennt zunächst vier grundsätzliche Nichtwähler-Gruppen (vgl. 1994: 53-62):
•
Unechte Nichtwähler: Diese Gruppe umfasst Wahlberechtigte, die fälschlicherweise
im Wählerverzeichnis geführt werden, kurzfristig erkrankt oder aus anderem Grund
abwesend sind. Diese Gruppe schätzt er auf ca. vier bis fünf Prozent der Wahlberechtigten.
•
Grundsätzliche Nichtwähler: Hierzu gehören Gruppen wie die Zeugen Jehovas, die
prinzipiell nie an Wahlen teilnehmen. Ihre Anzahl ist jedoch gering.
•
Konjunkturelle Nichtwähler: Zu dieser Gruppen gehören diejenigen Wahlberechtigten,
die aus verschiedenen Gründen nicht immer, selten oder gar nicht wählen.
•
Ungültige Stimmen: In dieser Gruppe sind diejenigen zusammengefasst, die versehentlich und diejenigen, die absichtlich ungültig wählen. Letztere wollen damit z.T.
politischen Protest ausdrücken.
Für die Nichtwählerforschung, so Eilfort, sind von diesen nur die konjunkturellen Nichtwähler interessant (vgl. Eilfort 1994: 339). Die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Nichtwähler definiert Eilfort über die Faktoren „Alter“, „Beruf“, „Familienstand“ und „soziale
Kontakte“. Nicht zur Wahlenthaltung neigen nach seiner Untersuchung Menschen im mittle14
ren Alter, mit hohem beruflichen Status und hohem formalen Bildungsabschluss sowie mit
einer großen Zahl sozialer Kontakte durch Familie, Vereins-, Partei- oder Verbandsmitgliedschaft. Eilfort stimmt mit Radtke in der Einschätzung überein, dass soziale Kontakte das Gefühl der „Wahlpflicht“ verstärken und wesentlich zur Partizipation beitragen. Nichtwahl entsteht deshalb oft durch soziale Isolation (vgl. Eilfort 1994: 250).
Als Motiv für die Nichtwahl hebt Eilfort die Parteien- und Politikverdrossenheit hervor. Die
Parteibindungen nehmen ab und zwischen den Parteiprogrammen werden keine Unterschiede
mehr wahrgenommen. Eilfort beobachtet eine steigende Zahl von Wahlberechtigten, die
durch bewusste Wahlenthaltung oder durch Protestwahl (z.B. rechtsextremer Parteien) ihren
Unmut über das Politikangebot äußern. Dies ist seiner Untersuchung nach vor allem ein
schichtspezifisches Problem (vgl. Eilfort 1994: 343). Dennoch hält er die zunehmende Nichtwahl nicht für problematisch und sieht in ihr kein Krisensymptom. Die überwiegende Mehrzahl der Nichtwähler verzichte aus Desinteresse und nicht aus Politik-Verdruss auf die Wahl.
Ungewöhnlich sei vielmehr die hohe Wahlbeteiligung in den ersten Jahrzehnten der Republik
gewesen, die sich in den Worten von Völker und Völker aus der „Aufwertung des Wahlakts
zu einer bewussten politischen Handlung“ (1998: 77) erkläre. Die schlechte Bewertung der
politischen Parteien, die ebenfalls in der Wahlenthaltung zum Ausdruck komme, könne sich
im Laufe der Zeit wieder wandeln. Eilfort betont (2001: 23): „Die Stimmabgabe darf beileibe
nicht in jedem Fall als Ausdruck ‚guter’ ‚demokratischer’ Gesinnung oder als Unterstützung
für das System bzw. Parteien und Politiker überhöht werden – schließlich gibt es auch ‚Formaldemokraten’, die nur wählen, weil ‚es sich gehört’, oder radikale Protestwähler“.
Thomas Kleinhenz (1995)
Die Studie „Die Nichtwähler. Ursachen der sinkenden Wahlbeteiligung in Deutschland“ von
Thomas Kleinhenz erforscht, welche Personen auf die Wahlteilnahme verzichten und warum
sie dies tun. Wegen der Erhöhung des Nichtwähleranteils im Zeitverlauf will er die gesellschaftlichen Veränderungen ins Auge fassen, die zur Nichtwahl führen. Er kombiniert zur
Beschreibung der Nichtwähler im Zeitraum von 1982 bis 1990 eine Aggregat- und Individualdatenanalyse, erhebt dazu selbst jedoch keine Daten. Die Aggregatdaten stammen aus den
Wahlergebnissen aller westdeutschen Städte und Gemeinden sowie den Volkszählungen 1970
und 1987. Die Individualdatenanalyse basiert auf den ALLBUS-Datensätzen von 1980-1992
sowie auf den Wahlstudien der Konrad-Adenauer-Stiftung von 1980-1993. Als Untersuchungsvariablen werden „sozioökonomischer Status“, „politisches Interesse“, „Parteiidentifi15
kation“, „Entfremdung“, „Wertewandel“ und „Partizipationsverhalten“ verwendet. Kleinhenz
ermittelt sieben Nichtwählertypen mit folgenden soziostrukturellen Merkmalen:
Nichtwähleranteil
Der aktive
Der gehobene Jung-
Der isolierte
Der desintere-
Die saturierte
Der junge
Die enttäuschte
Postmaterialist
konservative
Randständige
ssierte Passive
Mittelschicht
Individualist
Arbeiterschaft
6,3 Prozent
8,7 Prozent
14,8 Prozent
20,8 Prozent
15,8 Prozent
22,1 Prozent
11,5 Prozent
Durchschnittsalter
33 Jahre
35 Jahre
48 Jahre
48 Jahre
42 Jahre
34 Jahre
45 Jahre
Bildungsgrad
Hoch
Hoch
Gering
Gering
Mittel
Mittel
Gering
Haushaltseinkommen
2700 DM
3000 DM
2200 DM
2600 DM
3200 DM
2800 DM
2400 DM
Politisches Interesse
Groß
Mittel
Gering
Gering
Mittel
Mittel - gering
Groß bis mittel
Parteibindung
Keine
Keine
Keine
Ja
Teils-teils
Keine
Teils-teils
Entfremdung
Stark
Keine
Stark
Schwach
Keine
Schwach
Stark
Politische Kompetenz
Hoch
Hoch
Gering
Gering
Mittel
Gering
Gering
Inglehart-Index
Postmaterialisten
Postmat. Mischtyp
Mat. Mischtyp
Materialisten
Mat. Mischtyp
Postmat.
Mat. Mischtyp
Soziodemografische
Merkmale
Sozio-pol. Merkmale
Mischtyo
Partizipationsverhalten
Aktiv
Passiv
Links-Rechts-Skala
4,2
5,3
Sehr passiv
Sehr passiv
Passiv
Passiv
Passiv
5,8
5,7
5,6
5,3
5,1
(Kleinhenz 1995: 203)
Kleinhenz stellt fest, dass sich die Nichtwähler in ihrer Sozialstruktur der Gesamtbevölkerung
angleichen. Er konstatiert eine größere Wahlabstinenz bei Städtern, sozial Schwachen, Jüngeren und seltenen Kirchgängern. Allerdings steigt nach seinen Ergebnissen die Zahl der Angestellten und mittel bis höher Gebildeten, die nicht wählen gehen.
Die Gründe, weshalb diese Gruppen nicht wählen, schlüsselt Kleinhenz folgendermaßen auf:
•
Der „aktive Postmaterialist“ hat eine hohe Erwartung gegenüber dem politischen System, fühlt sich politisch kompetent und engagiert sich politisch. Er ist überwiegend zufrieden mit dem politischen System und der Regierung. Die Nichtwahl erklärt sich
möglicherweise aus dem Wunsch nach einer intensiveren Form der Mitbestimmung.
•
Der „gehobene Jung-Konservative“ hält sich ebenfalls für politisch informiert und ist
überdurchschnittlich zufrieden mit der Regierung und dem System. Er hat jedoch ein
geringes Wahlpflichtbewusstsein.
•
Der „isolierte Randständige“ hat eine extrem ablehnende Haltung gegenüber dem politischen System, Politikern und gesellschaftlichen Institutionen. Er empfindet das Gefühl politischer Inkompetenz und eine soziale Entfremdung. Drei Viertel dieser Gruppe sind dauerhafte Nichtwähler.
16
•
Die Gruppe der „desinteressierten Passiven“ ist mit dem politischen System im Großen und Ganzen zufrieden und neigt einer Partei zu. Das politische Interesse ist jedoch
ausgesprochen gering ausgeprägt, so dass auch hier ca. 60 Prozent dauerhaft nicht wählen.
•
Die „saturierte Mittelschicht“ enthält sich meist aus kurzfristigen Gründen der Wahl.
Trotz stark ausgeprägter sozialer Integration, eines hohen sozioökonomischen Status,
einer Parteineigung und einer Unterstützung der Wahlnorm zeigt diese Gruppe nur ein
durchschnittliches politisches Interesse und nur geringe Bereitschaft zur aktiven Partizipation.
•
Die Gruppe der „jungen Individualisten“ steht für individualistische Selbstentfaltung
und lehnt gesellschaftliche Pflichten und traditionelle Bindungen ab. Sie hat nur eine
gering ausgeprägte Parteineigung und steht dem politischen System und Politikern kritisch distanziert gegenüber. Gleichzeitig erwartet sie einen hohen Output des Staates
in Form von Arbeitsplatzsicherheit und Einkommenssicherung. Die eigene politische
Kompetenz wird niedrig eingeschätzt. Im Beobachtungszeitraum hat sich der Anteil
der saturierten Mittelschicht und der jungen Individualisten deutlich erhöht.
•
Die „enttäuschte Arbeiterschaft“ hat zwar ein niedriges Bildungsniveau, ist jedoch politisch hoch interessiert und kompetent. Die hohe politische Unzufriedenheit sowie die
Entfremdung und Enttäuschung durch Parteien und Politiker führt jedoch zu einer hohen Anzahl (60 Prozent) an dauerhaften Nichtwählern.
Kleinhenz schließt aus seinen Befunden, dass die Frage weniger sei, warum jemand nicht
wähle, sondern vielmehr, warum jemand zur Wahl gehe (vgl. Kleinhenz 1995: 225). Wahlenthaltung wird nach seiner Prognose zunehmen. Auch eine größere Zahl partizipativer Elemente könne die passive und von der Politik distanzierte Mehrheit nicht zur Beteiligung animieren. Zusätzlich entfallen immer mehr Elemente der sozialen Kontrolle und des gegenseitig
verstärkten Gefühls der Wahlpflicht.
2.
Studien zur Partizipationsforschung
Klassiker der Partizipationsforschung und Referenzpunkte weiterer Untersuchungen sind die
Arbeiten von Milbrath (1965), von Verba, Nie und Kim (1978) und von Barnes, Kaase und
Allerbeck (1979). Die derzeit wichtigste Quelle von empirischen Studien zur Nichtwahl in
Deutschland, die Deutsche Nationale Wahlstudie einschließlich der Untersuchungen, die in
ihrem Umfeld entstehen, sieht sich in der Tradition der Partizipationsforschung. Im Folgenden
17
wird kurz der von Lester W. Milbrath begründete Ansatz der Partizipationsforschung vorgestellt, bevor auf die Deutsche Nationale Wahlstudie eingegangen wird.
Lester W. Milbrath (1965)
Milbrath stellte 1965 den Stand der international vergleichenden Partizipationsforschung zusammen und begründete damit die Partizipationsforschung im engeren Sinne. Er entwickelt
aus den vorhandenen Erkenntnissen die These der „Eindimensionalität politischer Beteiligung“
(Westle 1994: 143). Ausgehend vom Wahlakt hierarchisiert er politische Aktivitäten nach ihrem „Schwierigkeitsgrad“. Auf diese Weise arbeitet eine Pyramide von (ausschließlich institutionalisierter) Partizipation heraus, die auf der Annahme basiert, dass diejenigen Bürger, die
sich an aufwendigen Teilhabeformen beteiligen, auch an den weniger aufwendigen Formen
teilnehmen.
Ergebnis dieser Aufgliederung ist eine Pyramide von vier Typen von Partizipierenden:
•
Die „politisch Apathischen“, die gar nicht partizipieren,
•
die große Masse der „Zuschauer“, die sich informieren und zur Wahl gehen,
•
die „Zwischentypen“, die darüber hinaus Politiker kontaktieren oder Wahlveranstaltungen besuchen,
•
die „Gladiatoren“, eine kleine sehr aktive Gruppe, die aus Parteimitgliedern und Politikern besteht.
Milbrath schließt daraus: Je höher eine Aktivität auf der Pyramide angesiedelt ist, desto höher
ist der Zeit- und Energieaufwand und desto seltener wird diese Form der politischen Partizipation wahrgenommen. Mit der Gruppe der „politisch Apathischen“ beschreibt Milbrath die
Rolle der Nichtwahl im Rahmen der Partizipationsforschung.
Deutsche Nationale Wahlstudie/ Köln-Mannheimer Wahlstudien
Das DFG-Projekt „Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im
vereinigten Deutschland“ unter der Leitung von Oscar W. Gabriel, Jürgen W. Falter und Hans
Rattinger führt die Deutsche Nationale Wahlstudie zu Bundestagswahlen durch. Es führt damit die bisherigen Köln-Mannheimer Wahlstudien (Forschungsgruppe Wahlen e.V.) fort, an
denen u.a. Max Kaase und Franz Urban Pappi mitgearbeitet haben. Das Projekt überprüft
Fragestellungen aus der Wahlforschung empirisch und befasst sich mit politischen Orientierungen und Verhaltensweisen in Ost- und Westdeutschland. Dazu werden Vor- und Nachwahlerhebungen sowie Wiederholungsbefragungen (Panels) durchgeführt.
18
Im Rahmen des DFG-Projekts sind viele empirische Studien entstanden. Neben den oben genannten Projektleitern haben sich aus diesem Forscherkreis u.a. Kai Arzheimer, Harald
Schön, Iris Krimmel, Siegfried Schumann und Jürgen Winkler als Wahlforscher etabliert. Sie
orientieren sich u. a. an der Partizipationsforschung und untersuchen deren Annahmen empirisch. Im Folgenden werden einige Ergebnisse ihrer Untersuchungen dargestellt.
Iris Krimmel untersucht die in der Partizipationsforschung identifizierten Variablen der civic
orientations auf ihre Erklärungskraft. Als einen wesentlichen Grund für die Wahlenthaltung
identifiziert Krimmel die Akzeptanz der Wahlnorm. Sie verweist darauf, „dass das Empfinden
oder Nicht-Empfinden einer Wahlnorm die zentrale Erklärungsgröße für die Beteiligung an
Wahlen darstellt“ (Krimmel 2000: 623, Hervorhebung im Original). Da die Wahlnorm sich
abschwächt, gehen immer weniger Deutsche zur Wahl. Dennoch hielten bei der Bundestagswahl 1998 noch immer 84 % der Westdeutschen und 76 % der Ostdeutschen die Teilnahme
an Wahlen für ihre demokratische Pflicht (vgl. Krimmel 2000: 624). In einer weiteren Analyse der Einstellungen von Nichtwählern stellt Krimmel fest, dass der Anteil der politisch Interessierten und der Unzufriedenen unter den Wahlberechtigten im Laufe der Zeit gestiegen ist,
die Zahl der Personen mit Parteibindung dagegen abgenommen hat (vgl. 1996: 335). Der Anteil der Nichtwähler nimmt sowohl bei den politisch Interessierten als auch bei den Desinteressierten zu, bei den Desinteressierten jedoch wesentlich stärker. Personen ohne Parteibindung neigen wesentlich stärker zur Nichtwahl als Personen mit Parteibindung (vgl. Krimmel
1996: 335). Auch Völkl und Gabriel (2004) stellen fest, dass keine Verschiebung innerhalb
der Nichtwählerschaft von den politisch desinteressierten und apathischen Bürgern zu den
unzufriedenen Politikinteressierten stattgefunden hat. Damit wird ein Element der „Krisentheorie“ der Nichtwahl entkräftet.
Falter und Schumann (vgl. 1994: 183) testen die „political efficacy“, also das Gefühl, Einfluss auf die Politik zu haben. Ergebnis ist, dass ein hoher Zusammenhang zwischen der Umstrittenheit eines Wahlkreises und der Wahlbeteiligung besteht. Umgekehrt erreichen die
Wahlkreise, die fest in der Hand einer Partei sind, hohe Nichtwähleranteile. Falter und Schumann stellen fest, dass regionale Traditionen bis heute ein entscheidendes Kriterium sind, um
Wahlenthaltung zu prognostizieren. „Die Wahlenthaltungsraten bei der Bundestagswahl 1990
werden [...] von der Nichtwahltradition stärker beeinflusst als von der Bevölkerungsdichte,
dem Arbeiteranteil oder der Parteienkonkurrenz“ (Falter und Schumann 1994: 188).
Schoen und Falter (2003) untersuchten die Wahlbeteiligung an der Bundestagswahl 2002
anhand sozioökonomischer Faktoren und den in Meinungsforschungsumfragen erhobenen
Begründungen für Wahl bzw. Nichtwahl. Als Resultat finden sie, „dass das bundesdeutsche
19
Elektorat aus zwei Segmenten besteht. Auf der einen Seite nehmen Personen, deren langfristige Prädispositionen [...] für Wahlbeteiligung sprechen, mit hoher Wahrscheinlichkeit an
Wahlen teil, ohne sich in ihrer Beteiligungsbereitschaft von aktuellen politischen Geschehnissen wesentlich beeinflussen zu lassen. Die andere Gruppe ist angesichts ihrer langfristig stabilen Prägungen für die Wahlenthaltung prädestiniert, doch können diese Bürger mit attraktiven
Angeboten bei jeder einzelnen Wahl für die Stimmabgabe gewonnen werden. [...] Das erste
Segment ist in der Bundesrepublik deutlich größer als das zweite, da viele Bürger langfristige
Einstellungen – etwa eine Wahlnorm oder eine Parteibindung – aufweisen, die die Stimmabgabe begünstigen. Daher ist bei jeder Bundestagswahl unabhängig von der konkreten politischen Situation eine hohe Wahlbeteiligung zu erwarten, und das Potenzial für Schwankungen
der Partizipationsrate von Wahl zu Wahl ist relativ begrenzt“ (Schoen/Falter 2003: 38-39).
Schoen und Falter schließen mit dem Ergebnis: „Frühere Nichtwähler geben ihre Stimme offenbar ab, wenn sie eines der Angebote für attraktiv halten, und ehemalige Wähler bleiben der
Urne in erster Linie dann fern, wenn sie nicht nur von der vormals gewählten Partei enttäuscht
sind, sondern sich im Angebot keiner Partei wiederfinden“ (Ebd.: 41).
20
B
Wahlenthaltung als politisches Problem im Stadtstaat Bremen
Die im ersten Kapitel zusammengefassten Forschungsergebnisse in Bezug auf die zurückgehende Wahlbeteiligung und die Zunahme von Nichtwählern lassen sich im Großen und Ganzen auch auf das Bundesland Bremen beziehen. Im Folgenden soll aber verstärkt das Augenmerk auf die Besonderheiten gelegt werden, die das Wahlverhalten und die Wahlbeteiligung
in Bremen auszeichnen. Dass der Trend zur Wahlabstinenz auch in Bremen signifikant in
Erscheinung tritt, lässt sich an der Entwicklung der Wahlbeteiligungsquoten seit den 1970er
Jahren, als die Wahlbeteiligung ihren Höhepunkt erreichte, ablesen:
Entwicklung der Wahlbeteilgung im Land Bremen 1971 bis 2003
Prozent
90
80
70
60
50
1971
1975
1979
1983
1987
1991
1995
1999
2003
Wahljahr
Wahlbeteilgung
Bei der Bürgerschaftswahl 1999 erreichte die Wahlbeteiligung mit 60,1 % einen historischen
Tiefstand. 4 von 10 Wählern verweigerten damals die Wahl aus unterschiedlichen Gründen.
Noch dramatischer sind die Zahlen im Wahlbereich Bremerhaven. Dort ging 1999 fast nur
noch jeder zweite Wahlberechtigte zur Wahl (51,8 %). Die „Repräsentative Landeswahlstatistik“ des Statistischen Landesamt (siehe folgende Seite) zeigt darüber hinaus, dass der
Rückgang der Wahlbeteiligung in den letzten Jahren in der Altersgruppe der 21–30 Jährigen
besonders drastisch ausfällt. In der Altersgruppe der 21–25jährigen Frauen haben 2003 nur
noch 35,6 % an der Bürgerschaftswahl teilgenommen. Besorgniserregend ist darüber hinaus,
dass der Anteil von Jungwählern, die rechtsextreme Parteien wählen, deutlich über dem
Durchschnitt anderer Alterskohorten liegt. Im Land Bremen konnte die DVU bei der Bürgerschaftswahl 1991 bei Erstwählern 13,9 %, 1995 8,3 Prozent und 2003 8 Prozent der Stimmen
erzielen. In Wahlbezirken mit hohem Arbeiter- und Erwerbslosenanteil und niedrigem formalen Bildungsstand wählte 1991 nahezu jeder fünfte männliche Jungwähler (19,4 %) die DVU
(vgl. Freie Hansestadt Bremen 1993). In einigen Wahlbezirken Bremerhavens bekam die
DVU unter männlichen Jungwählern sogar bis zu 25 % der Stimmen.1 Diese kurze Be1
Ähnliche Trends zeigen sich auch in anderen Ländern, in denen rechtsextreme Parteien erfolgreich sind. Bei
der Landtagswahl 2004 in Sachsen konnte die NPD unter männlichen Jungwählern in der Altergruppe der 18-24-
21
standsaufnahme zeigt, dass das Problem der Wahlenthaltung und Nichtwahl im Stadtstaat
Bremen für Politik und Gesellschaft eine ernsthafte Herausforderung darstellt.
Repräsentative Landtagswahlstatistik (ohne Briefwahl)
Wahlbeteiligung1 im Lande Bremen bei den Bürgerschaftswahlen (Landtag) 1971 bis 2003
nach Altersgruppen und Geschlecht in Prozent
Altersgruppe
von ... bis
unter ... Jahren
1971
1975
1979
1983
1987
1991
1995
1999
2003
18 - 21
21 - 25
25 - 30
30 - 35
35 - 40
40 - 45
45 - 50
50 - 60
60 - 70
70 und mehr
Zusammen
73,1
65,9
68,5
74,0
82,4
82,1
86,1
89,0
89,8
88,3
80,7
76,9
68,6
71,8
76,5
83,5
86,4
85,2
90,1
87,9
86,3
82,5
69,8
64,9
62,7
73,8
74,5
78,2
81,4
85,4
86,9
84,0
77,7
Männer
71,8
65,2
64,7
73,5
74,7
73,5
81,6
86,8
87,4
85,2
77,9
68,6
59,4
57,5
62,2
69,6
73,3
74,9
80,7
84,2
81,4
72,5
66,8
55,2
57,7
61,6
66,5
69,3
71,9
77,4
82,3
77,2
69,8
60,0
53,0
52,3
50,5
59,1
61,8
65,2
74,7
75,4
74,1
64,5
56,1
41,8
47,2
48,7
52,0
54,5
58,9
67,6
72,6
70,0
60,1
55,3
42,6
39,0
49,1
53,9
58,0
60,5
63,6
71,5
71,3
60,0
18 - 21
21 - 25
25 - 30
30 - 35
35 - 40
40 - 45
45 - 50
50 - 60
60 - 70
70 und mehr
Zusammen
67,0
65,8
70,2
81,5
83,8
84,2
85,8
83,9
86,4
80,4
80,8
71,5
68,4
77,4
80,1
85,1
86,0
86,9
85,4
86,6
78,4
82,1
63,8
57,8
68,5
74,2
79,6
82,1
81,0
83,6
84,4
76,3
77,5
Frauen
69,2
66,6
70,5
76,8
81,2
84,6
82,5
85,9
84,7
76,4
79,2
64,0
54,4
59,3
65,2
73,2
78,1
76,6
79,4
82,2
75,2
73,0
60,0
52,6
57,3
63,2
70,0
70,9
76,0
77,1
79,4
71,3
70,1
64,5
52,1
52,3
56,3
60,60
68,2
69,4
73,0
75,5
66,3
65,6
49,2
40,2
46,3
50,1
51,3
56,1
62,8
68,4
69,1
60,3
58,9
51,0
35,6
39,1
51,1
56,2
58,0
59,4
66,7
71,8
60,5
59,3
18 - 21
21 - 25
25 - 30
30 - 35
35 - 40
40 - 45
45 - 50
50 - 60
60 - 70
70 und mehr
Insgesamt
70,1
65,9
69,3
77,7
83,1
83,2
86,0
86,1
87,8
83,1
80,7
74,4
68,5
74,5
78,3
84,3
86,2
86,1
87,4
87,1
81,3
82,3
Insgesamt
67,0
70,6
61,5
65,9
65,5
67,5
74,0
75,0
77,0
77,9
80,1
79,0
81,2
82,0
84,4
86,3
85,4
85,8
79,0
79,6
77,6
78,6
66,3
56,9
58,3
63,8
71,3
75,7
75,7
80,0
83,0
77,3
72,8
63,5
54,0
57,5
62,4
68,3
70,1
74,0
77,2
80,6
73,2
70,0
62,2
52,6
52,3
53,4
59,8
65,0
67,2
73,8
75,5
68,8
65,1
52,8
40,9
46,8
49,4
51,6
55,4
60,9
68,0
70,7
63,4
59,5
53,2
39,1
39,0
50,2
55,1
58,0
59,9
65,2
71,7
64,2
59,6
__________
1
Wahlbeteiligung der Wahlberechtigten ohne Wahlschein.
Jährigen 25 % der Stimmen erreichen. Zudem erweisen sich Nichtwähler häufig als Reservoir für extremistische
Parteien. Ihren größten Zweitstimmenanteil erzielte die NPD in Sachsen bei ehemaligen Nichtwählern mit
65.000 Stimmen.
22
Wie bereits in der Einleitung im Hinblick auf den allgemeinen Rückgang der Wahlbeteiligung
festgehalten, gibt es auch für den in Bremen zu konstatierenden Rückgang der Wahlbeteiligung keine monokausalen Erklärungen. Das in seinen Grundzügen seit Anfang der 1950er
Jahre bestehende Wahlrecht weist zwar einige Besonderheiten im bundesrepublikanischen
Vergleich auf 2, stellt aber im Grundsatz keine besondere Hürde hinsichtlich der Wahlbeteiligung dar. Zumindest lässt sich kein kausaler Zusammenhang zwischen dem Bremer Wahlrecht und dem Rückgang der Wahlbeteiligung herstellen. Inwieweit eine Reform des Wahlrechts Anreize zur Wahlbeteiligung bieten würde, wird unter C näher diskutiert. Bremen
bringt außerdem aufgrund seiner Traditionen als Freie Hansestadt mit republikanischen Traditionen eher gute Voraussetzungen für eine partizipative politische Kultur mit. Darüber hinaus
gestatten die Stadtstaatstrukturen eine relativ dichte und unmittelbare politische Kommunikation zwischen Parteien, Politikern und Bürgern. Die Rückkoppelung zwischen Regierten und
Regierenden sowohl in der direkten als auch in der medial vermittelten Kommunikation, die
als eine wichtige Voraussetzung der Herstellung von Legitimität politischer Entscheidungen
gilt, ist also prinzipiell gewährleistet. Des Weiteren ist in Rechnung zu stellen, dass Landesund Kommunalpolitik in Bremen strukturell miteinander verknüpft sind. Da die im Wahlbereich Bremen abgegebenen Stimmen zugleich über die Zusammensetzung der Bremischen
Stadtbürgerschaft entscheiden und der Senat darüber hinaus de facto die Funktion einer kommunalen Stadtregierung in Bremen wahrnimmt, ist jede Wahlentscheidung bei einer Bürgerschaftswahl auch eine Entscheidung über die politische Gestaltung der Lebensbedingungen in
def Stadtgemeinde Bremen.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen könnte man annehmen, dass die Wahlbeteiligungsrate im Stadtstaat Bremen eher überdurchschnittlich ausfällt. Da das Gegenteil der Fall
ist, ist nach anderen Gründen für den signifikanten Rückgang der Wahlbeteiligung seit den
1970er Jahren zu suchen. Wir gehen – vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Sozialentwicklung Bremens – vor allem von folgenden Faktoren aus:
•
Bis in die 1970er Jahre war Bremens Entwicklung von einer bemerkenswerten sozialen
und politischen Stabilität geprägt. Auf der Basis des von Bürgermeister Wilhelm Kaisen
seit 1947 geprägten Bündnisses aus Bremer Arbeiter- und Kaufmannschaft war es nach
dem Zweiten Weltkrieg zunächst gelungen, alle Kräfte für den Wiederaufbau der Stadt zu
bündeln und die entscheidenden Weichenstellungen in der Hafenwirtschaft, in der Ent-
2
Zu den Besonderheiten in Bremen gehört die in der Bundesrepublik einmalige Konstruktion des Wahlrechts.
Aufgrund seiner Konstituierung als Zwei-Städte-Land gibt es im kleinsten Bundesland die zwei voneinander
unabhängigen Wahlbereiche Bremen und Bremerhaven, in denen jeweils getrennt die 5 %-Sperrklausel für den
Einzug von Parteien bzw. Wählervereinigungen in das Landesparlament gilt.
23
wicklung der industriellen Infrastruktur sowie in der Schaffung von Wohnraum durch eine
forcierte Wohnungsbaupolitik vorzunehmen. Dadurch konnte in der schnell wachsenden
Stadt ein hoher Grad der sozialen Integration erreicht werden.
•
Wilhelm Kaisen schaffte es in dieser Zeit, die Interessen Bremens unauflöslich mit den
politischen Zielen und Vorstellungen der SPD zu verknüpfen. 1959 zog die SPD mit der
Parole „Alles für Bremen, Kaisen für Bremen“ (Roth 1979: 41) in den Wahlkampf und erzielte 54,9 % der Stimmen. Durch ihre Etablierung als hegemoniale politische Kraft in
Bremen entwickelte die SPD unter Kaisens Ägide eine große politische Integrationsfähigkeit in unterschiedliche gesellschaftliche Milieus.
•
Die politische und soziale Stabilität Bremens, für die die SPD mehrere Jahrzehnte ein Garant war, begann im Laufe der 1970er Jahre zu bröckeln. In den führenden Wirtschaftsbranchen des Stadtstaates nahmen die Krisensymptome zu. Im Bereich der Schiffbau- und
Stahlindustrie, aber auch in der Hafenwirtschaft kam es infolge des Ölschocks (1973), einer schwachen Weltwirtschaftskonjunktur und aufgrund wachsender internationaler Konkurrenz zu regelrechten Einbrüchen. Ein wirtschaftspolitisches Fiasko war 1983 der Zusammenbruch der traditionellen AG Weser Werft. 1995 setzte sich die Krisendynamik im
Werftensektor mit dem Konkurs des Bremer Vulkan in Bremen-Nord fort.
•
Bremen entwickelte sich seit Anfang der 1980er Jahre zu eine der Regionen mit der höchsten Arbeitslosigkeit in West-Deutschland. Besonders betroffen von den strukturellen Problemen im Zwei-Städte-Staat war und ist Bremerhaven.
Arbeitslosigkeit in Bremerhaven im Städtevergleich
24
•
Die Versuche, durch staatliche Eingriffe gegenzusteuern, führten nur teilweise zum Erfolg
und trugen, neben dem Ausbau des Öffentliches Dienstes, zu einer wachsenden Verschuldung der öffentlichen Haushalte bei. Die Spielräume für eine staatliche Umverteilungspolitik, mit der die Bremer SPD in der Vergangenheit erfolgreich die sozialen Interessen
ihrer Stammwähler befriedigen konnte, wurden vor diesem Hintergrund immer enger.
•
Die hier kurz skizzierte wirtschaftspolitische Entwicklung hatte erhebliche Auswirkungen
auf die soziale Integration von Bevölkerungsschichten, die in der Vergangenheit in den
traditionellen Wirtschaftsbranchen Beschäftigung fanden. Ihre Reintegration in das Erwerbsleben durch Neuansiedlungen (Beispiel Mercedes Benz), den Ausbau neuer Dienstleistungsbranchen und die Instrumente des zweiten Arbeitsmarktes war nur zum Teil erfolgreich. Als Folge stellte sich, verschärft durch den Zuwanderungsdruck, eine stärkere
soziale Segregation ein, die sich in einigen Problemstadtteilen besonders bemerkbar
macht. Die hiermit verbundenen Phänomene und Probleme wurden erst vor kurzem in einer Studie von Günter Tempel im Auftrag des Gesundheitsamtes Bremen untersucht (Gesundheitsamt Bremen 2006). Die Studie zeigt, dass es in Bezug auf Einkommensverteilung, Bildungschancen und Lebenserwartung zu einer zunehmenden Auseinanderentwicklung von Stadtteilen in Bremen kommt. Traditionelle Arbeiterviertel, die vom Niedergang
des Schiffbaus betroffen waren, haben sich zum Teil in Arbeitslosenviertel verwandelt, in
Wohnsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus nimmt die Bevölkerung ab, benachteiligte
Bevölkerungsgruppen bleiben unter sich und verlieren die Verbindung zur Mehrheitsgesellschaft.
•
Auf der politischen Ebene fand diese Entwicklung ihren Niederschlag in der nachlassenden Bindungskraft und Integrationsfähigkeit der SPD. Zwischen 1987 und 1995 verlor
die SPD innerhalb von nur drei Legislaturperioden ca. 17 Prozentpunkte ihres Stimmenanteils (1987: 50,5 %, 1991: 38,8 %, 1995: 33,4 %).
•
Inwieweit sich die wirtschaftliche Krisenentwicklung und die nachlassende Integrationsfähigkeit der SPD auf die Wahlbeteiligung auswirkten, lässt sich nur spekulativ und nicht
kausal beantworten. Zunächst einmal lässt sich aber konstatieren, dass in dem Zeitraum
1987 bis 2003 die Wahlbeteiligung um ca. 15 Prozentpunkte gesunken ist (von 75,6 % auf
61, 3 %). Seit 1987 konnte – in unterschiedlichen Zyklen – gleichzeitig eine Zunahme der
Stimmen für rechtsextreme Parteien beobachtet werden.
•
Der Rückgang der Wahlbeteiligung fällt in eine Zeit, in der angesichts wirtschaftlicher,
sozialer und fiskalischer Schwierigkeiten der Problemdruck auf die Politik einerseits zugenommen, das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen in die Problemlösungsfähigkeit
25
der Bremer Parteien bzw. des Senats andererseits abgenommen hat. Dies gilt selbst für
den Zeitraum ab 1995, als viele Beobachter nach der Aufnahme der Arbeit der Großen
Koalition eine Aufbruchstimmung in Bremen ausmachen konnten. Zwar beurteilten in der
von der Universität Bremen durchgeführten repräsentativen Bremer Bürgerbefragung
(Mai 1999) 70,2 % aller Befragten damals die Arbeit der Großen Koalition als überwiegend positiv, gleichzeitig sagten aber mehr als 25 % derjenigen, die ihre wirtschaftliche
Lage als schlecht bezeichneten, dass sie keiner Partei zutrauen, das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen (Bericht der BremerBürgerBefragung 1999). Tatsächlich konnte auch
die Große Koalition, trotz der ihr im Rahmen des Finanzausgleichgesetzes zur Verfügung
stehenden Sanierungsmilliarden, die für Investitionen in Wirtschaft, Wissenschaft und
Technologie eingesetzt wurden, weder die Arbeitslosigkeit effektiv bekämpfen noch verhindern, dass die Wahlbeteiligung seit 1995 weiter abschmolz.
•
Ob die Selbstverständlichkeit, mit der 1999 die Fortführung der Arbeit der Großen Koalition von den politischen Entscheidungsträgern bereits im Vorfeld der Wahlen verkündet
wurde, sich sogar dämpfend auf die Wahlbeteiligung ausgewirkt hat, kann nur vermutet,
aber nicht hinreichend belegt werden.
•
Wie groß der Schwund in die Problemlösungsfähigkeit der Politik ist, zeigte auch eine
Umfrage der Arbeitnehmerkammer Bremen (Arbeitnehmerkammer Bremen 2005a: 46)
(siehe folgende Grafik).
Frage: »Glauben Sie, dass die Politik in der Lage ist, die Probleme der Gegenwart
und der Zukunft zu meistern?« (Basis: Alle Befragte / n=705)
26
•
Dass in den letzten Jahren die Unzufriedenheit mit der Landespolitik eher zugenommen
hat, lassen die Ergebnisse einer nicht-repräsentativen Umfrage der Projektgruppe unter zufällig ausgewählten 150 Bremer Bürgern und Bürgerinnen im Rahmen einer Face-to-FaceBefragung vermuten.3 In dieser Umfrage äußerten fast 62 % der Befragten, dass sie mit der
Landespolitik eher unzufrieden oder sogar sehr unzufrieden sind. Ähnlich viele (60,7 %)
gaben an, dass sie mit der Vertretung ihrer Interessen in der Bremischen Bürgerschaft unzufrieden sind.
Zufriedenheit mit der Landespolitik
50%
40%
33,1%
28,8%
30%
16,6%
20%
10%
17,2%
2,8%
2,1%
0%
sehr zufrieden
eher zufrieden
teils/teils
eher unzufrieden sehr unzufrieden
weiß nicht
Quelle: Eigene Berechnungen; n=145.
Frage: Wie zufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Politik im Land Bremen?
Interessenvertretung in der Bremischen Bürgerschaft
50%
40%
40%
30%
17,2%
20%
10%
20,7%
16,6%
4,8%
0,7%
0%
sehr zufrieden
eher zufrieden
teils/teils
eher
unzufrieden
sehr
unzufrieden
weiß nicht
Quelle: Eigene Berechnungen; n=147.
Frage: Wie zufrieden sind Sie im Allgemeinen mit der Vertretung Ihrer politischen Interessen in der
Bremischen Bürgerschaft?
•
Die Unzufriedenheit äußerte sich auch in den qualitativen Interviews, die wir mit Nichtwählern führten. Überraschend viele der Befragten zeigten sich politisch interessiert, sind
ehrenamtlich oder politisch aktiv und haben früher regelmäßig an Wahlen teilgenommen.
Viele differenzieren bei ihrem Wahlverhalten (Teilnahme oder Wahlenthaltung) zwischen
Bundestags- und Landtagswahl. Als Gründe für die Wahlenthaltung wurden vor allem ge-
3
Die Umfrage wurde im Juni 2005 in vier Bremer und zwei Bremerhavener Stadtteilen mit jeweils unterschiedlicher Sozialstruktur und Wahlbeteiligungsrate (ausgehend vom Wahlergebnis 2003) von der Projektgruppe
durchgeführt. Die Ergebnisse der Gesamtbefragung liegen dem Vorstand der Bremischen Bürgerschaft vor.
27
nannt: die Diskrepanz zwischen Versprechen und realer Politik (Beispiel u. a. Untertunnelung in Seehausen), die Verschwendung von Steuergeldern für unsinnige Projekte (Beispiel Space Park, Klangbogen), unangemessene Nebeneinkünfte/Pensionen für Politiker,
Vetternwirtschaft, Korruption und Filz in der Politik, die Vernachlässigung der sozialen
und kulturellen Infrastruktur in Bremen (Schulen, Sporthallen, Kultureinrichtungen),
mangelnder Einfluss auf die Kandidatenauswahl bei der Wahl, die Bevorzugung von einflussreichen Gruppen in der Gesellschaft durch die Politik, Bedeutungslosigkeit von Bremen (ein kommentierter Bericht mit Auszügen aus den von der Projektgruppe durchgeführten Nichtwählerinterviews wird zu einem späteren Zeitpunkt als ergänzender Teil des
Forschungsberichts vorgelegt).
•
Inwieweit sich die Diskussion über die Lebensfähigkeit und Zukunft Bremens als selbständiges Bundesland auf die Bedeutung, die die Bürger einer Bürgerschaftswahl zumessen, auswirkt, ist bisher nicht untersucht worden. In einer weiteren Umfrage der Arbeitnehmerkammer Bremen unter ihren Mitgliedern (Arbeitnehmerkammer Bremen 2005b: S.
27) hat sich aber gezeigt, dass insbesondere für Arbeitnehmer die Selbstständigkeit Bremens nur noch eine nachrangige Bedeutung einnimmt. Da sich viele Arbeitnehmer als
Leidtragende der in den vergangenen Jahren erfolgten Kürzungen bei der Bildung, im Sozialbereich, bei der der Kultur und anderen öffentlichen Leistungen im Rahmen der Sanierungspolitik sehen, würden sie, so die Autoren des Berichts der Arbeitnehmerkammer, die
Selbstständigkeit Bremens nicht mehr als ein vorrangiges Ziel ansehen.
•
Es ist bemerkenswert, dass der Rückgang der Wahlbeteiligung in Bremen auch durch die
Erweiterung des Parteienangebots bisher nicht spürbar gebremst werden konnte. 1995
führten neben den in der Bürgerschaft vertretenen Parteien SPD, CDU, Grüne, FDP und
DVU auch die Arbeit für Bremen und Bremerhaven (AfB) und die PDS einen intensiven
Wahlkampf, der schließlich für die AfB mit einem Ergebnis von über zehn Prozent endete. Trotzdem sank auch bei dieser Wahl die Wahlbeteiligung um mehrere Prozentpunkte.
Die hier zusammengefassten Trends der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung Bremens lassen sich aber allenfalls als Hintergrundfolie für die wachsende Wahlabstinenz in Bremen benennen. Es muss vielmehr von einer Akkumulation verschiedener Wirkungsfaktoren ausgegangen werden, die bei einem relevanten Teil der Wahlbevölkerung die
Teilnahme an der Wahl zu einer Nebensache macht. Zusammenfassend lassen sich folgende
wechselseitig verstärkende Wirkungsfaktoren ausmachen:
•
Die hohe soziale Integration, die Bremen noch in den 1970er Jahren auszeichnete, hat sich
im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte in eine soziale Exklusion von Bevölkerungsgruppen,
28
die nicht mehr oder nur noch im Rahmen prekärer Bedingungen am Erwerbsleben teilnehmen, verwandelt. Bremen ist jetzt schon seit zwei Jahrzehnten die Stadt mit der höchsten Quote von Sozialhilfeempfängern in Deutschland. Nach einer von der Arbeitnehmerkammer Bremen durchgeführten Untersuchung4 sind ca. 100.000 Bremer Bürger direkt
oder als Familienangehörige abhängig vom Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld. Bei den
von sozialer Exklusion betroffenen Gruppen treten in der Regel Arbeitslosigkeit, Einkommens- und Bildungsarmut sowie staatlicher Transferbezug gemeinsam auf. 52 % der
Arbeitssuchenden in Bremen haben z.B. keine Ausbildung oder nicht einmal einen Schulabschluss. In den entsprechenden Milieus sinkt der Erwartungshorizont an Hilfe und Unterstützung durch die Politik – politisches Desinteresse, bis hin zur politischen Apathie, ist
oft die Folge.
•
Das Problem der sozialen Marginalisierung beginnt häufig schon im Kinder- und Jugendalter. Die Autoren der Untersuchung der Arbeitnehmerkammer fanden heraus, dass jeder
vierte Bremer unter 25 Jahren sich komplett aus sozialen Transferleistungen finanziert.
Die Chancen auf einen Ausbildungs- und anschließenden Arbeitsplatz sind insbesondere
für Jugendliche ohne Schulabschluss so gut wie aussichtslos.
•
Die politische Bindungskraft und Integrationsfähigkeit der SPD, die als hegemoniale
Volkspartei Bremen über Jahrzehnte ihren Stempel aufgedrückt hat, hat sich weitgehend
erschöpft. In der Metamorphose von einer Arbeiterpartei zu einer stärker akademisch geprägten Angestellten- und Beamtenpartei (vgl. Billerbeck 1991: 124) hat die SPD zunehmend den Zugang zu einem Teil jener Milieus verloren, deren Unterstützung sie ihren
Aufstieg als dominierende Partei in der Vergangenheit verdankte. Die CDU in Bremen als
bürgerliche Volkspartei konnte wiederum aufgrund ihrer marginalen Position nie in jene
Milieus vorstoßen, die die SPD im Laufe der Jahre verloren hat. Ein Teil dieser frei vagabundierenden „Wähler“ ist entweder in die Wahlenthaltung abgeglitten oder anfällig für
so genannte Protestparteien vom rechten Rand.
•
Die Enttäuschung vieler, auch politisch interessierter Bürger über die Politik wächst, wenn
Sachprobleme zum Spielball von konkurrierenden Parteiinteressen werden. Auch das
Fehlverhalten von politischen Entscheidungsträgern, Korruptionsaffären, das Verschieben
von politischen Problemen aus Parteiräson, mangelnde innerparteiliche Demokratie und
Transparenz werden unter politisch interessierten Bürgern zunehmend kritisch bewertet
und tragen zur Aushöhlung des Vertrauens in Parteien und politische Institutionen bei.
Wahlenthaltung ist deshalb schon lange kein „Privileg“ von politisch Desinteressierten
4
Vgl. Weser Kurier vom 4. Mai 2006, S. 9
29
mehr, sondern wird zunehmend auch von Bürgern praktiziert, die durchaus politisch interessiert und engagiert sind.
Angesichts der Tragweite und Durchschlagskraft dieser Faktoren verbietet es sich anzunehmen, dass durch einzelne Maßnahmen eine signifikante Erhöhung der Wahlbeteiligungsrate
erreicht werden kann. Gleichwohl wird in der Wahlforschung seit Jahren eine Reihe von Reformen diskutiert, mit denen die Anreize zum Wahlgang erhöht werden sollen oder zumindest
ein weiteres Absinken der Wahlbeteiligung verhindert werden soll. Darüber hinaus werden in
der politischen Praxis verschiedene Modelle und Projekte erprobt, um die Wahlbereitschaft zu
verbessern. Sowohl Wahlreform- als auch Praxismodelle zur Steigerung der Wahlbeteiligung
werden im Folgenden kurz vorgestellt und kritisch bewertet.
30
C
Eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Strategien zur Mobilisierung und Aktivierung von Wählern
I.
Institutionelle Strategien
Institutionelle Strategien der Wählermobilisierung zielen darauf ab, die Anreize zum Wählen
Gehen von der Angebotsseite her zu verbessern. In den Bereich dieser Strategien fallen vor
allem Vorschläge zur Reform des jeweiligen Wahlrechts bzw. Wahlsystems. Deshalb werden
diese Vorschläge zunächst behandelt.
1.
Wahlrechts-/Wahlsystemreformen
Wahlrechtsreformvorschläge gehen davon aus, dass ein bestehendes Wahlrecht entweder
funktional nicht mehr den Leistungsanforderungen eines modernen Wahlsystems oder motivational nicht mehr den Anforderungen eines veränderten Wählerverhaltens entspricht. In der
Wahlsystemforschung werden vor allem folgende Leistungsanforderungen an ein Wahlsystem
gestellt (vgl. Nohlen 2000: 157ff):
•
Repräsentationsfunktion (alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen sollen in den gewählten Parlamenten vertreten sein; die Stimmen sollen proportional in Abgeordnetenmandate
umgewandelt werden),
•
Konzentrationsfunktion (das Wahlsystem soll die Zahl der Parteien im Parlament begrenzen, die Regierungsbildung befördern und für politische Stabilität sorgen),
•
Partizipationsfunktion (die Wähler sollen größtmögliche Beteiligungschancen haben und
neben der Parteienwahl auch eine personelle Wahl treffen können),
•
Legitimitätsfunktion (das Wahlsystem soll allgemein akzeptiert und als gerecht empfunden werden),
•
Gebot der Einfachheit (die Funktionsweise des Wahlsystems soll einfach und transparent
sein).
Die optimale Verwirklichung aller Leistungsanforderungen innerhalb eines Wahlsystems
gleicht in der Regel der Quadratur des Kreises, weil ein Wahlsystem – je nach Ausgestaltung
– entweder die eine oder die andere Funktion stärker fördert. So stehen sich der Wunsch nach
einer Konzentration des Parteiensystems auf der einen Seite und der Anspruch auf Erfüllung der
Repräsentationsfunktion auf der anderen Seite häufig im Wege (vgl. von Prittwitz 2003: 13).
31
a)
Personalisierung des Wahlrechts
In der modernen Wahlforschung ist man sich darin einig, dass, auch aufgrund gewachsener
Partizipationsbedürfnisse in der Gesellschaft, der Partizipationsfunktion mehr Beachtung geschenkt werden sollte als es häufig geschieht. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt das
bestehende Bremer Wahlrecht, so treten die Defizite klar hervor. Das Bremer Wahlrecht mit
seinem einfachen Verhältniswahlrecht, welches jedem Wähler nur die Stimmabgabe für die
Liste einer Partei oder Wählervereinigung ermöglicht, ist in seinen Grundzügen in den letzten
50 Jahren kaum verändert worden und weist vor allem im Hinblick auf die Partizipationsfunktion erhebliche Schwächen auf, da es dem Wähler überhaupt keine Möglichkeit zur personellen Auswahl bietet. Ob eine Reform des Bremer Wahlrechts im Sinne der Vorschläge der Initiative „Mehr Demokratie“5 einen signifikanten Einfluss auf die Wahlbeteiligung hätte, kann
hier nicht beantwortet werden. Selbst eine höhere Wahlbeteiligung nach dem In-Kraft-Treten
einer entsprechenden Reform könnte angesichts der Komplexität des Wahlgeschehens nicht
kausal auf die Reform zurückgeführt werden. Dennoch spricht die von unserer Projektgruppe
durchgeführte Umfrage zu einer Reform des Bremer Wahlrechts (s.o.) dafür, dass mehr
Wahloptionen auf der personellen Ebene auf breite Zustimmung stoßen. In der nichtrepräsentativen Umfrage haben wir folgende Frage gestellt: „Gegenwärtig können Sie bei der
Bürgerschaftswahl in Bremen nur einzelne Parteien wählen. Wie fänden Sie es, wenn Sie zukünftig auch Personen direkt wählen könnten?“. Mehr als zwei Drittel der Befragten (71,1 %)
beantwortete diese Frage auf einer 5-stufigen Skala mit eher gut oder sehr gut.
Direkte Personenwahl
50%
40%
34,9%
36,2%
30%
20%
13,4%
13,4%
8,7%
10%
3,4%
0%
Sehr gut
Eher gut
Teils/ teils
Eher schlecht
Sehr schlecht
Weiß nicht
Quelle: Eigene Darstellung, n=149.
Dass eine entsprechende Reform des Wahlrechts tatsächlich die Wünsche größerer Bevölkerungsgruppen abdeckt, zeigte auch das Ergebnis eines Volksentscheids über ein neues partizipationsfreundlicheres Wahlrecht in Hamburg6. Das Ergebnis unserer Umfrage kann vor die5
Vgl. den Entwurf für ein neues Wahlrecht der Initiative „Mehr Demokratie“ (http://www.neues-wahlrecht.de/761.html).
6
Vgl. http://www.statistik-nord.de/fileadmin/download/wahlen/VE2004_Mehr-Demokratie_HHins.pdf
32
sem Hintergrund als Hinweis darauf gewertet werden, dass nicht nur von der Angebots-, sondern auch von der Nachfrageseite her eine Reform des gegenwärtigen Bremer Wahlrechts
sinnvoll und wünschenswert wäre. Ein Vergleich mit dem Wahlrecht anderer Bundesländer
(siehe folgende Tabelle) zeigt im Übrigen, dass Bremen hier durchaus Nachholbedarf hat. In
den meisten Bundesländern ist längst eine personalisierte Komponente in das Wahlsystem
eingeführt worden.
33
Selbst wenn eine Wahlrechtsreform bisherige Nichtwähler gar nicht oder kaum zu Wahl motivieren würde, könnte sie dazu beitragen, dass die Wahlbeteiligung nicht weiter absinkt, da
sich jene politisch interessierten Bürger, die aus verschiedenen Gründen zur Nichtwahl neigen, häufig mehr Einfluss auf die Personenauswahl wünschen. Ein mögliches Argument gegen die Wahlrechtsreform könnte sein, dass sie in Bezug auf das Wahlsystem-Leistungsmerkmal „Einfachheit“ Nachteile mit sich bringt. Tatsächlich würde mit der Einführung des
von der Initiative „Mehr Demokratie“ vorgeschlagenen Wahlrechts, welches – neben der bisherigen einfachen Listenwahl – fünf Stimmen für jeden Wahlbürger vorsieht, die er frei einsetzen kann, zunächst ein höherer Grad der Komplexität verbunden sein, der sogar zu einer
Senkung der Wahlbeteiligung beitragen könnte. Erfahrungen mit der Einführung solcher Reformen auf kommunaler Ebene haben aber gezeigt, dass relativ schnell ein Gewöhnungseffekt
eintritt. Länder wie Bayern und Baden-Württemberg, in denen das Panaschieren und Kumulieren seit langem möglich ist, weisen im Durchschnitt keine schlechteren Wahlbeteiligungsraten als andere Länder auf. Außerdem kommt es darauf an, wie die Bürger im Rahmen der
Informationspolitik der politischen Institutionen auf eine Wahlrechtsreform vorbereitet werden. Hier liegt insbesondere bei den obersten Repräsentanten der gewählten Parlamente eine
besondere Verantwortung.
b)
Abschaffung von Wahlhürden und Senkung des Wahlalters
Zu den Reformvorschlägen im Bereich des Wahlrechts und der Wahlsysteme gehören auch
die Abschaffung der 5 Prozent Sperrklausel und die Senkung des Wahlalters. Beide Vorschläge wurden zum Teil bereits auf kommunaler Ebene eingeführt, sind aber in Bezug auf die
Landes- und Bundesebene stark umstritten.
Die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre würde zunächst einmal die Anzahl der stimmberechtigten Wähler erhöhen und damit einen wahrscheinlichen Einfluss auf die Wahlbeteiligung haben. Angesichts der Zunahme geburtenschwacher Jahrgänge würde sich dieser Effekt
zukünftig aber nur peripher auf die Wahlbeteiligung auswirken, zumal die Beteiligungsquote
von Erstwählern deutlich unter derjenigen älterer Jahrgänge liegt. Gegen die Herabsetzung
des Wahlalters auf 16 Jahre wird zudem die Entkoppelung von Volljährigkeit und Wahlalter
eingewandt (vgl. Jesse 2003: 9).
In Bezug auf die 5 Prozent Sperrklausel kann unterstellt werden, dass sie potentielle Wähler
eventuell davon abhält, an der Wahl teilzunehmen, wenn die Partei, der sie ihre Stimmen geben würden, keine Chance auf ihr Überwinden hat. Es ist auch unter demokratietheoretischen
34
Gesichtspunkten schwer zu vermitteln, warum einer Partei mit einem Stimmenanteil von 5,1 %
Mandate zugesprochen werden, einer Partei mit 4,9 % aber nicht. Reformvorschläge reichen
von der vollständigen Abschaffung der 5 Prozent Sperrklausel über die Senkung auf drei Prozent bis hin zur Einführung einer Haupt- und einer Nebenstimme für jeden Wähler bei Beibehaltung der 5 Prozent-Hürde (vgl. Jesse 2003: 9f). Alle Vorschläge dieser Art finden aber ihre
Grenze in der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, welches bisher prinzipiell
eine Aushöhlung der Sperrklausel auf Landes- und Bundesebene ausgeschlossen hat.
c)
Wahlrecht von Geburt an
Der Vorschlag, ein Wahlrecht von Geburt an einzuführen, geht nicht in erster Linie von der
Überlegung aus, dadurch die Wahlbeteiligung zu erhöhen, sondern die Belange zukünftiger
Generationen besser zu berücksichtigen. Deshalb firmiert dieser Vorschlag auch unter dem
Label „Familienwahlrecht“. Die Grundüberlegung dabei ist, Kindern von Geburt an ein Wahlrecht zuzugestehen, wobei die Eltern gewissermaßen advokatorisch bzw. treuhänderisch das
Wahlrecht für ihre Kinder ausüben (vgl. Reimer 2004). Betrachtet man den Vorschlag unter
dem Gesichtspunkt der Wahlbeteiligung, könnten sich Eltern, da ihre Stimme gegenüber
Wahlbürgern ohne Kinder mehr zählt, tatsächlich stärker als bisher motiviert fühlen, an der
Wahl teilzunehmen, um für sich und ihre Kinder – im Sinne der Stärkung einer familienfreundlichen Politik – mehr Einfluss zu nehmen. Gegen die Idee des Wahlrechts von Geburt
an wird u. a. der Verfassungsgrundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl und der Zählwertgleichheit jeder Stimme eingewandt. Zumindest ist die verfassungsrechtliche Umsetzung dieses Vorschlags außerordentlich umstritten. Außerdem ist fraglich, ob Eltern die Stimmen tatsächlich im gewünschten Sinne treuhänderisch für ihre Kinder und deren Zukunftsinteressen
oder doch eher nach persönlichen parteipolitischen Präferenzen wahrnehmen. Von daher muss
dieser Vorschlag eher skeptisch beurteilt werden, auch wenn er einen gewissen Anreiz zur
Wahlbeteiligung für Wähler mit Kindern darstellt.
d)
Einführung einer Wahlpflicht
In der Bundesrepublik wird weder in der Wahlforschung noch in der Politik bisher ernsthaft
über die Einführung einer Wahlpflicht nachgedacht. Der demokratietheoretische Grundsatz,
dass die Teilnahme einer Wahl freiwillig sein sollte und sich die politischen Akteure um eine
größtmögliche Zustimmung des Elektorats durch politische Überzeugungsarbeit und Problem35
lösungskompetenz bemühen müssen, ist unumstrittener Konsens. Darüber hinaus zeigen Erfahrungen in Nachbarländern wie Belgien, wo 1993 eine Wahlpflicht für alle Wahlberechtigten eingeführt wurde, dass selbst dort – trotz bestehender Sanktionen (Geldbußen) – ca. zehn
Prozent der Wahlbevölkerung die Teilnahme an der Wahl verweigern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Reformen des Wahlrechts und Wahlsystems Einfluss
auf das Wahlverhalten ausüben können, aber nicht zwangsläufig müssen.7 Welche Strategien
sinnvoll und eventuell effektiv sind, muss im Einzelfall entschieden werden und sollte nicht
nur im Hinblick auf die Wahlbeteiligungsquote, sondern auch im Hinblick auf die Verbesserung der Qualität des Partizipationsangebots entschieden werden.
2.
Gestaltung von Wahlumgebung und Wahldurchführung
Welchen Einfluss die Wahlumgebung, der Wahlablauf und die Form der Wahlabgabe auf die
Wahlbeteiligung haben, ist bisher empirisch kaum untersucht worden. Ob die Sterilität, die
Wahllokale manchmal ausstrahlen oder Unübersichtlichkeiten beim Wahlablauf sich negativ
auf das Wahlverhalten auswirken kann deshalb allenfalls hypothetisch erörtert werden. Eine
entsprechende Wirkung ist ja nur bei Wählern zu unterstellen, die bereits an einer Wahl teilgenommen haben, sich durch die Wahlumgebung und den Wahlablauf verunsichert fühlten
und deshalb nicht motiviert sind, an weiteren Wahlen teilzunehmen. Nichtwählerstudien bieten wenig Anhaltspunkte dafür, dass es sich dabei um eine zahlenmäßig relevante Gruppe
handelt.
Beobachtungen, die im Rahmen eines kleinen Wahlbeobachtungsprojekts des Instituts für
Politikwissenschaft der Universität Bremen (Wahl zum Europäischen Parlament 2004) gemacht worden sind, sprechen dennoch dafür, auch die Wahlumgebung und den Wahlablauf
für die Wähler möglichst übersichtlich, vertrauenserweckend und einfach zu gestalten. Die
Beobachtungen fanden in Bremer Wahllokalen statt, die für die Durchführung des Wahlaktes
repräsentativ sind (Schulen). Die Anordnung von Tischen und Wahlkabinen entsprach dem
„Merkblatt für Mitglieder des Wahlvorstandes“8. Die im Rahmen des Projekts eingesetzten
Wahlbeobachter stellten fest, dass viele Wähler, obgleich die Sitzordnung für einen ordnungsgemäßen Ablauf logisch im Raum aufgebaut war, zunächst Schwierigkeiten hatten, sich zu
7
Eine Untersuchung von Wahlrechtsänderungen auf Landesebene und ihres Einflusses auf die Wahlbeteiligung
im Nachbarland Österreich zeigt die relativ begrenzte Wirkung solcher Änderungen, auch wenn im Einzelnen
durchaus Effekte nachgewiesen werden konnten (vgl. Samhaber et al. 2005).
8
Vgl. Landeswahlordnung (siehe http://www2.bremen.de/info/statistik/lw2003/pdf/blwolw03.pdf).
36
orientieren und unsicher fragten, in welche Richtung sie zuerst gehen sollten. Diese Wähler
hatten nach Betreten des Wahlraums in der Regel nicht verstanden, bei wem sie ihre Wahlbenachrichtigung (Wahlhelfer A) kontrollieren lassen müssen. Diese Beobachtung traf insbesondere auf ältere Wähler zu, war aber auch bei jüngeren Personen anzutreffen. Die Wahlbeobachter führten diese Verunsicherung zum einen auf die besondere Bedeutung des Wahlaktes als eine Art hoheitliche Handlung zurück, zum anderen darauf, dass vielen Wählern die
Handlungsabläufe während einer Wahl bis hin zur Stimmauszählung und Weitergabe der Ergebnisse an die Wahlämter nicht wirklich vertraut sind. Hervorgehoben wurde in diesem Zusammenhang die Rolle der ehrenamtlichen Wahlhelfer als „Vertrauensstifter“. Sie können
wesentlich dazu beitragen, dass die Wähler Vertrauen in den einwandfreien Ablauf sowie in
die korrekte Auszählung und Weitergabe der Stimmen haben.
Ob eine Veränderung der Wahlumgebung durch die Einrichtung von Wahllokalen, die mehr
Berührungspunkte mit dem Alltagsleben vieler Bürger aufweisen (z.B. Kneipen, Tankstellen),
ein Anreiz zur Verbesserung der Wahlbeteiligung darstellt, lässt sich ebenfalls nicht überzeugend beantworten, weil es dazu keine Untersuchungen gibt. Gleichwohl könnte man in einem
Bremer Stadtteil einen entsprechenden Probelauf durchführen, um zu überprüfen, ob dies einen nachweisbaren Einfluss auf die Wahlbeteiligung hätte. Wie bei einem solchen Probelauf
die wahlrechtlichen und technischen Voraussetzungen (Gewährleistung der Wahlvorschriften,
der geheimen Wahl, Zugänglichkeit des Wahlortes) gewährleistet werden können, müsste mit
dem Wahlleiter in Bremen geklärt werden.
3.
Föderalismusreform
Die in der Bundesrepublik seit mehreren Jahren geführte Diskussion über eine Föderalismusreform, deren erste Stufe bereits beschlossen ist, ist sehr stark von der Frage nach der Leistungsfähigkeit und Effektivität der Entscheidungsstrukturen in der Bundesrepublik durchdrungen. Demokratietheoretische Überlegungen fanden zwar Eingang in die Diskussion,
spielten aber öffentlich nur eine nachgeordnete Rolle. Dabei lässt sich die Entflechtung von
Kompetenzen zwischen Bund und Ländern durchaus im Hinblick auf eine politische Aufwertung der Länder und ihrer Parlamente diskutieren. Die zunehmende politische Entwertung der
Länderparlamente, ihrer Abgeordneten und politischen Repräsentanten hat sich in den vergangenen Jahren u. a. darin niedergeschlagen, dass Landtagswahlen häufig im Zeichen der
Bundespolitik und der allgemeinen Stimmungslage standen, landesspezifische Themen dagegen zunehmend in der Hintergrund zu geraten drohten (vgl. Decker/Blumenthal 2002). Die
37
polarisierende und politisierende Auseinandersetzung um landesspezifische Probleme, die in
den Verantwortungsbereich der jeweiligen regionalen politischen Entscheidungsträger fallen,
kann aber ein wichtiger Beitrag zur Mobilisierung der Wähler sein. Vor diesem Hintergrund
kommt einer Rückverlagerung von Entscheidungskompetenzen in wichtigen Politikfeldern
auf die Landesebene auch wahlpolitisch durchaus eine wichtige Rolle zu, wenngleich auch
hier nicht prognostiziert werden kann, welche Auswirkungen dies letzten Endes auf die
Wahlbeteiligung hätte. Dass diese Frage im Bewusstsein der Präsidenten der Landtage inzwischen eine wichtige Rolle spielt, zeigen verschiedene Initiativen, die in den letzten Jahren
ergriffen wurden (vgl. Lübecker Erklärung der deutschen Landesparlamente9 und SchleswigHolsteinischer Landtag 2003a und b).
4.
Gestaltung der Parlamentsarbeit und Informationspolitiken der Parlamente
Parlamente sind von ihrer Grundfunktion in der parlamentarischen Demokratie keine Vollzugsorgane für die Umsetzung der Politik der jeweiligen Regierungsfraktion(en), sondern
stehen als Repräsentativorgane in einer engen Beziehung zur gesamten Bevölkerung. Diese
Beziehung bildet sich keinesfalls nur im Wahlakt heraus, sondern sollte durch Responsivität
und Transparenz gegenüber den Bürgern während einer gesamten Legislaturperiode hergestellt werden. Das Parlament und seine Vertreter sollten also einerseits offen für die Anliegen
und Präferenzen der Bevölkerung sein, andererseits sollte die Bevölkerung die Möglichkeit
haben, Einblick in die Arbeitsweise des Parlaments sowie die dort verhandelten Themen zu
erhalten.
Tatsächlich sieht die politische Praxis häufig anders aus. So leiden die Sitzungen der Länderparlamente oft unter einer gewissen Ereignislosigkeit bzw. unter der Routine von eingespielten parlamentarischen Abläufen. Zum Teil degenerieren Parlamentssitzungen zu langatmigen
und langweilen Fachdebatten, in denen die Experten der jeweiligen Fraktionen noch einmal
die Standpunkte austauschen, die größtenteils schon in den Parlamentsausschüssen vordiskutiert worden sind.10 Das hat auch mit der Tatsache zu tun, dass die Parlamente in der Bundesrepublik – im Unterschiede zur angelsächsischen Tradition des Redeparlaments – eher als
Arbeitsparlamente konstruiert sind. Nicht nur für Journalisten, sondern auch für Abgeordnete,
die vom jeweiligen Fachthema nicht betroffen sind, geraten Plenarsitzungen des Parlaments
9
Die Erklärung wurde am 31. März 2003 auf dem Föderalismuskonvent der deutschen Landesparlamente in
Lübeck verabschiedet. Sie kann unter folgender Internetadresse herunter geladen werden:
http://www.lvn.ltsh.de/aktuell/daten_aktuell/luebecker-konvent/konvent_luebecker-erklaerung.pdf
10
Im Weser Kurier wurde diese Tendenzen anschaulich in einem Artikel unter der Überschrift „Vergebliche
Suche nach den zentralen Themen“ beschrieben (Weser-Kurier vom 10. Mai 2006, S. 10).
38
dadurch aber oft zu einer Veranstaltung, die man möglichst schnell hinter sich bringt. Nur
selten werden Plenarsitzungen noch ihrer ursprünglichen Funktion gerecht, nämlich ein Ort
der lebendigen Auseinandersetzung zwischen Abgeordneten zu sein, die in freier Rede über
politische Grundsatzfragen und Grundorientierungen streiten und nach sachgerechten Lösungen von Problemen suchen. Stattdessen sorgen Fraktionszwang und die in interfraktionellen
Sitzungen sorgfältig austarierte Tagesordnung dafür, dass es kaum mehr zu Überraschungsmomenten kommt, sondern die Tagesordnung nach Plan abgearbeitet wird. Die eigentliche
Aufgabe des Parlaments (und das heißt aller Abgeordneten), nämlich die Exekutive zu kontrollieren und ein unbequemer Begleiter der Regierung zu sein, wird durch den Fraktionszwang häufig schon im Keim erstickt. Dadurch entwerten sich die Parlamente selbst und vermitteln den Bürgern den Eindruck, dass dort eigentlich nicht wirklich etwas entschieden wird.
Gleichzeitig gewinnt die Exekutive auf diese Weise immer stärker die Oberhand über die Legislative.
In der Vergangenheit sind wiederholt Vorschläge zu Reform der Parlamentsarbeit unterbreitet
worden, die in der politikwissenschaftlichen Diskussion normativ und analytisch den drei
Dimensionen Partizipation, Transparenz und Effizienz (vgl. Thaysen 1972) zugeordnet werden. Zu den wichtigsten Reformvorschlägen gehören:
•
Eine Stärkung der Rechte der Oppositionsparteien im Hinblick auf die Kontrollmöglichkeiten der Regierung,
•
eine Stärkung der Rechte des einzelnen Abgeordneten und zwar sowohl in Bezug auf das
Verhältnis des einzelnen Abgeordneten zu der Fraktion, der er angehört, als auch in Bezug
auf die absolute Stellung, die er im parlamentarischen Geschehen einnimmt,
•
eine Verbesserung der Effizienz der parlamentarischen Arbeit durch Konzentration und
Gewichtung der jeweiligen parlamentarischen Anliegen. Dadurch soll auch den begrenzten Informationsverarbeitungsmöglichkeiten der einzelnen Abgeordneten Rechnung getragen werden,
•
die Stärkung einer eigenen Informations- und Öffentlichkeitsarbeit durch die Parlamente
und ihrer obersten Repräsentanten. Gerade weil die Parlamente keine Vollzugsorgane der
Regierung sind, müssen sie ihre Unabhängigkeit von der Regierung im Rahmen einer eigenständigen und überparteilichen Öffentlichkeitsarbeit, in der die Grundanliegen der parlamentarischen Arbeit vermittelt werden, ausbauen.
In Bremen wurde einigen der hier kurz skizzierten Reformvorschläge bereits Rechnung getragen (so wurden der Opposition Sonderrechte bei der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen zugestanden), aber viele Spielräume für eine durchgreifende Stärkung der Eigenständig39
keit des Parlaments und der einzelnen Abgeordneten werden noch nicht ausreichend genutzt.
Zumindest sollte auch dieser Weg ins Auge gefasst werden, um den Wahlbürgern die Bedeutung der parlamentarischen Arbeit besser zu vermitteln und sie zur Stimmabgabe zu motivieren.
II.
Strategien zur Mobilisierung von (Nicht-)Wählern durch politische und gesellschaftliche Akteure
1.
Nichtwähler als Zielgruppe der Parteien
Nichtwähler sind in der Regel eine vernachlässigte Gruppe im Rahmen strategisch orientierter
Wahlkämpfe der Parteien. Angesichts begrenzter materieller Ressourcen umwerben die
Volksparteien vor allem ihre Kernwählerschichten und potentielle Wechselwähler, die kleineren Parteien die Zielgruppen, von denen sie den meisten Zuspruch erwarten können. Nur
Randparteien versuchen immer wieder mit mobilisierungsträchtigen Themen gezielt Nichtwähler zu gewinnen.11 Dass Nichtwähler durchaus ein zu erschließendes Reservoir für die
Parteien sind, zeigt z.B. die Tatsache, dass die SPD bei der „Ausnahmewahl“ 1998 über eine
Millionen Stimmen aus dem Reservoir der Nichtwähler hinzugewinnen konnte. Auch der
PDS gelang es, in Ostdeutschland bei verschiedenen Landtagswahlen im Laufe der 1990er
Jahre Nichtwähler auf ihre Seite zu ziehen. Die Linkspartei.PDS konnte bei der Bundestagswahl 2005 sogar gut zehn Prozent Nichtwähler für sich mobilisieren (Schoen/Falter 2005: 36).
Die Schwierigkeit für die Parteien besteht darin, dass die Ursachen von Wahlenthaltung im
Rahmen von Wahlkämpfen nur schwer oder gar nicht zu beeinflussen sind. So kann z.B. eine
generelle Unzufriedenheit mit dem politischen System von den Parteien im Wahlkampf nicht
aufgefangen werden, es sei denn, sie wird von Antisystem-Parteien systematisch geschürt.
Auch sozial isolierte und randständige Nichtwählergruppen lassen sich von den demokratischen Parteien ebenfalls nur noch schwer erreichen. Sie reagieren bestenfalls auf Protestparolen. Wie die zu Beginn des Forschungsberichts dokumentierte Nichtwählerforschung zeigt,
handelt es sich jedoch bei Nichtwählern nicht um eine homogene Gruppe, sondern um sehr
unterschiedliche Typen. Hierunter könnten vor allem die „konjunkturellen Nichtwähler“ sowohl zahlenmäßig als auch von ihrem motivationalen Profil her für die Parteien durchaus
mögliche Adressaten ihrer Wahlkämpfe sein. Da sie meistens keine starke Parteiidentifikation
herausgebildet haben, reagieren sie vor allem auf aktuelle Themen und Personen. Umso er11
So hat die Schill-Partei bei der Bürgerschaftswahl 2003 eine gezielte Nichtwählerkampagne gestartet (DIE
WELT, 21. Februar 2003). Immerhin konnte die Partei aus dem Stand ein Ergebnis von 4,4 % erzielen.
40
staunlicher ist, dass die Parteien – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auf gezielte Nichtwählerkampagnen mit geeigneten Instrumenten in der Regel verzichten. Geht man, wie
Kleinheinz in seiner Nichtwählerstudie, davon aus, dass die Wählermobilisierung für die Parteien im Rahmen ihrer Wahlkampagnen immer wichtiger wird, weil mehr Bürger als früher
einen Grund zum Wählen bräuchten (Kleinheinz 1995: 227) anstatt eines Grundes, nicht zu
wählen, dann macht es für die Parteien durchaus Sinn, auch die Nichtwähler stärker ins Visier
ihrer Wahlkampfplanung zu nehmen.
Allen Parteien steht ein gewisses Potenzial an Mobilisierungsstrategien zur Verfügung, um
Einfluss auf die Wahlbeteiligung zu nehmen bzw. um Nichtwähler gezielt anzusprechen. So
kommt es im Vorfeld einer Wahl u.a. darauf an, ob es einer Partei bzw. den Parteien gelingt,
den Wahlbürgern deutlich zu machen, dass die jeweils bevorstehende Wahl sowohl für das
Land als auch für die Bürger von großer Bedeutung sind (vgl. Lutter/Hickersberger 2000: 74).
Der Grad der Betroffenheit der Bürger hat zumindest Auswirkung auf die Bereitschaft, an der
Wahl teilzunehmen. Auch die klare Unterscheidbarkeit der Parteien und ihrer Kandidaten
können ebenso ein Mittel der Mobilisierung sein wie gezielte Polarisierungskampagnen, in
denen in binären Mustern diese Unterscheidbarkeit herausgearbeitet wird. Welche Mobilisierungsstrategie im Einzelnen verfolgt wird, ist eine Frage der professionellen Kampagnenplanung.
Wie sieht es aber mit den tatsächlichen Anstrengungen der Parteien aus, Nichtwähler in ihrer
professionell geführten Wahlkampagne zu berücksichtigen? In einer bisher nicht veröffentlichten Studie hat Melanie Haas von der Universität Leipzig die Nichtwählermobilisierungsstrategien der Bundestagsparteien genauer untersucht.12 Dabei kommt sie zu dem Ergebnis,
dass SPD, FDP und PDS spezielle Nichtwählertypen zur Zielgruppe ihres Wahlkampfes zählen. Für die SPD sind in erster Linie ehemalige, ins Lager der Nichtwähler abgewanderte
Stammwähler und soziale Randständige, die früher von ihr erreicht wurden, eine vorrangige
Zielgruppe. Die Grünen verfolgen keine spezifische Nichtwählermobilisierung, sondern sind
vor allem darum bemüht, ein Abdriften von Stammwählern ins Nichtwählermilieu zu verhindern. Bei der PDS ist man bestrebt, durch die Hervorkehrung ihrer Rolle als systemkritische
Partei besonders solche Nichtwähler anzusprechen, die mit dem politischen System und der
gesamten Richtung der Politik nicht einverstanden sind. Die CDU, so die Autorin, interessiert
sich für die Nichtwähler in ihren Wahlkämpfen nur insoweit, als sie in ihnen eine spezielle
Gruppe der Wechselwähler sieht, die mal SPD, mal CDU und mal gar nicht wählen.
12
Die Studie der Autorin liegt der Projektgruppe vor.
41
Die Projektgruppe hat auch bei den Parteien in Bremen nachgefragt, ob es spezielle Mobilisierungsstrategien für Nichtwähler gibt. Eine verwertbare schriftliche Antwort liegt nur vom
CDU-Landesverband Bremen vor. Darin wird noch einmal hervorgehoben, dass eine gezielte
Nichtwählerwerbung kaum „den höheren Finanzaufwand“ rechtfertigen würde. Nichtwähler
werden deshalb nur im Rahmen der allgemeinen „breit gefächerten Werbe- und Informationskampagne“ angesprochen. Außerdem wird davon gesprochen, dass Nichtwähler „generell ein
geringeres politisches Problembewusstsein“ besitzen und deshalb als Zielgruppe weniger interessant sind.13
2.
Erst- und Jungwählerkampagnen
Aufgrund der niedrigen Beteiligungsquoten von Erst- und Jungwählern sind in den vergangenen Jahren verschiedene Kampagnen ins Leben gerufen worden, die diese Gruppe verstärkt
zur Wahlteilnahme mobilisieren sollen. Solche Kampagnen wurden auf Initiative sowohl von
Institutionen der politischen Bildung gestartet als auch von politischen und privaten Akteuren.
Die Kampagnen reichen von klassischen Informationskampagnen über spezielle Wahltouren
für Jugendliche bis hin zu dem Versuch von Parteien, durch die Platzierung von jungen
Nachwuchspolitikern auf aussichtsreichen Listenplätzen Erst- und Jungwähler zur Stimmabgabe zu motivieren.
a)
Projekte der Bundeszentrale für politische Bildung und der Landeszentralen für politi-
sche Bildung
Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat seit 2002 das Internetprojekt Wahl-O-Mat eingeführt, damit sich vor allem Jugendliche spielerisch mit dem Thema Wahlen und Wählen
auseinandersetzen können. Auch die Landeszentralen für politische Bildung haben in den
vergangenen Jahren zahlreiche Initiativen ergriffen, um der sinkenden Wahlbeteiligung unter
Jungwählern entgegenzutreten. In Thüringen wurde eine studentische Kommunikationsagentur 2004 mit der Aufgabe beauftragt, eine gezielte Erstwählerkampagne zur Landtags- und
Europawahl zu entwerfen. Zu den Kampagnenelementen, mit denen Jugendliche motiviert werden sollten, an Wahlen teilzunehmen, gehörten eine Schultour, Plakate, Postkarten, Flyer, eine
eigene Webseite und eine Wahlhotline. In Berlin wurde bei der Kommunikationsagentur Poli13
Der Pressesprecher von CDU-Fraktion und Landesverband in Bremen, Dr. Jochen W. Wagner, verfasste für
die Projektgruppe ein zweiseitiges Thesenpapier mit dem Titel „Maßnahmen der CDU Bremen zur Ansprache
von Nichtwählern“.
42
tikfabrik zur Bundestagswahl 2005 eine Erstwählerkampagne in Auftrag gegeben und von der
dortigen Landeszentrale für politische Bildung unterstützt. Unter dem Namen Wahl Gang 05
fanden zahlreiche Aktivitäten statt. U.a. wurde eine Wahl-Lounge eingerichtet, in der bis zur
Bundestagswahl regelmäßig Veranstaltungen mit Politikern und Experten stattfanden. Außerdem wurden prominente Unterstützer wie Sandra Maischberger gewonnen, Kino- und TVSpots produziert und Streetsoccer-Turniere veranstaltet.
b)
Das Projekt Juniorwahlen
Unter den Kampagnen, die von privater Seite aus gestartet wurden, ist insbesondere das Projekt Juniorwahlen hervorzuheben. Es wurde 2001 von dem Berliner Verein Kumulus e.V. ins
Leben gerufen, einem überparteilichen und gemeinnützigen Verein engagierter junger Bürger.
Das Projekt orientiert sich an dem amerikanischen Vorbild des Kids-Voting. Ausgehend von
der wissenschaftlichen durch Zahlen untermauerten Beobachtung, dass die Wahlbeteiligung
und Partizipation von jungen Menschen in Demokratien überproportional abnimmt und die
Distanz zur Demokratie insgesamt wächst, geht es bei der Juniorwahl um das Üben und Erleben von Demokratie. Dazu werden im Unterricht simulierte Wahlen inhaltlich vorbereitet und
durchgeführt. Etwa einen Monat begleiten die Schülerinnen und Schüler ab Klassenstufe 7
(meistens ab Klassenstufe 9) aller Schulformen das Projekt.
Der Schwerpunkt der Juniorwahl liegt in der politischen Bildung. Den Lehrerinnen und Lehrern stehen hierfür zahlreiche spezielle handlungs- und produktionsorientierte Unterrichtsvorschläge zum Thema „Wahlen und Demokratie” als Anregung und Ergänzung zur Verfügung.
Der Höhepunkt für die Schülerinnen und Schüler liegt in einer bundes- bzw. landesweiten und
schulübergreifenden Wahl – der Juniorwahl – in der Woche vor dem jeweiligen Wahlsonntag,
die als Online-Wahl am Computer durchgeführt wird. Das Ergebnis wird dann am Wahlsonntag um 18.00 Uhr bekannt gegeben.
Das Projekt steht in den Schulen auf zwei Hauptsäulen: Dem Unterricht und dem Wahlakt.
Zum einen sind es die Lehrerinnen und Lehrer, die das Thema im Unterricht behandeln, zum
anderen sind es die Schülerinnen und Schüler, die den Wahlakt selbst organisieren. Als Wahlhelferinnen und Wahlhelfer eingesetzt, verteilen sie Wahlbenachrichtigungen und bilden einen Wahlvorstand. Die Juniorwahl ist ein Angebot, lebendig wird es durch das Engagement in
den Schulen. Die Teilnahme an der Juniorwahl ist für die Schulen und die Schülerinnen und
Schüler freiwillig und kostenlos.
43
Seit der Einführung der Juniorwahlen im Jahr 2001 wird das Projekt regelmäßig bei den
Landtagswahlen in allen Bundesländern, bei Bundestagswahlen und bei den Wahlen zum Europäischen Parlament durchgeführt. Dadurch liegen inzwischen wertvolle Erfahrungen vor,
die in die Planung und Vorbereitung jeder neuen Juniorwahl einfließen.
Die Juniorwahlen haben in den letzten Jahren eine breite Unterstützung durch politische Institutionen und Meinungsträger sowie Stiftungen erfahren, weil sie in diesem Ansatz ein wertvolles Instrument der politischen Bildung zur Stärkung der Demokratie im Jugendbereich
gesehen haben. So wurde die Juniorwahl bei den Bundesstagswahlen 2002 und 2005 u.a. von
den Bundespräsidenten Rau bzw. Köhler, von der Bundeszentrale für politische Bildung, von
der Hertie-Stiftung, von der Robert Bosch Stiftung sowie vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstützt.
Bremer Schulen nehmen seit 2002 regelmäßig am Projekt Juniorwahlen teil (Bundestagswahl
2002, Bürgerschaftswahl 2003, Europawahl 2004, Bundestagswahl 2005). Die Gesamtbeteiligung liegt bei ca. 50 Schulen (inkl. Mehrfachbeteiligungen). Wie gut das Projekt mittlerweile
an Bremer Schulen etabliert ist, zeigt die Juniorwahl bei der Bundestagswahl 2005. Das
kleinste Bundesland mit 0,7 % aller Schüler/innen in Deutschland stellte bei dieser Wahl 12,5
% von insgesamt ca. 50.000 teilnehmenden Schülern an der Juniorwahl. 6254 Bremer Schülerinnen und Schüler der Klassen 7-13 waren zur Juniorwahl aufgerufen, nur in NordrheinWestfalen war die absolute Zahl etwas höher. Fast jeder siebte Schüler des Landes Bremen,
der von Klasse 9-13 öffentliche allgemein- bzw. berufsbildende Schulen besucht, hat an der
Juniorwahl teilgenommen. Dieser Anteil ist bundesweit einmalig. Bremen nimmt vor diesem
Hintergrund eine Spitzenstellung in der Verwirklichung der Juniorwahlen unter allen Bundesländern ein. In Bremen wird die Durchführung der Juniorwahlen u.a. von der Landeszentrale
für politische Bildung, der Bremischen Bürgerschaft und dem Senator für Bildung und Wissenschaft unterstützt. Unter den verschiedenen Projekten, die versuchen, Erstwählern kognitiv
und affektiv das Wählen näher zu bringen, scheint es nach dem Eindruck der Projektgruppe
besonders förderungswürdig zu sein.
c)
Parteiliche und überparteiliche Erstwählerkampagnen
Die PDS startete im Bundestagswahlkampf 2002 eine gezielte Kampagne, um Erstwähler zu
umwerben. Der Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter Dietmar Bartsch begründete die
Kampagne damals folgendermaßen: „Unser besonderes Augenmerk gilt […] den Erstwählerinnen und Erstwählern. Wir wollen mit einer eigenständigen Kampagne intensiv um ihre
44
Zustimmung werben. Zwar machen sie mit 3,3 Millionen von über 61 Millionen Wahlberechtigten eine relativ kleine Gruppe aus, aber gerade im Westen ist dies die Gruppe, die am wenigsten durch Vorurteile belastet ist, sondern die PDS als gleichberechtigte Partei wahrnimmt
und wählt. Die 33 % ErstwählerInnen, die bei den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin PDS
gewählt haben, sind unser Ausgangspunkt.“ (Pressedienst der PDS, Nummer 10 vom 7. März
2002). Aus den Äußerungen von Bartsch geht hervor, dass die PDS hofft, mit Hilfe der Kampagne besonders Erstwähler für die PDS zu gewinnen. Elemente der Kampagne waren die
Platzierung von jungen Kandidaten und Kandidaten auf aussichtsreichen Listenplätzen sowie
gezielte Aktionen zu Themen wie Bildung, Ausbildungsplätze und Zukunftsgerechtigkeit für
jungen Menschen.
Eine parteiübergreifende Erstwählerkampagne wurde von den Nachwuchsorganisationen
mehrerer Parteien, dem Stadtjugendring und dem Stadtparlament bei der Bürgerschaftswahl in
Lübeck im März 2003 initiiert. Die Kampagne stützte sich auf drei Elemente: Eine Broschüre
in einer Auflage von 5000 Exemplaren für Erstwähler behandelte Fragen wie „Dein erstes
Mal mit 16 – Warum nicht?“, „Was heißt Politik“ und „Wo kommt die Bürgerschaft her?“,
eine begleitende Internetplattform informierte ausführlich über die Wahl und für Schulen
wurde jeweils eine überparteiliche Podiumsdiskussion angeboten.
3.
Wahlaufrufe
In der Vergangenheit wurde immer wieder versucht, über gezielte Aufrufe zur Wahlbeteiligung von überparteilichen Institutionen und Initiativen dem Trend zur Wahlabstinenz entgegenzutreten. Dabei engagieren sich häufig Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Medien, Wissenschaft, Kultur und Kunst, um die Bürger von der Bedeutung und Wichtigkeit des Wählens zu
überzeugen. Die entsprechenden Wahlaufrufe richten sich entweder an alle Wahlberechtigten
oder an spezielle Wählergruppen. Bei der Bundestagswahl 2002 forderte z.B. eine Erstwählerkampagne aus der Musikbranche, unterstützt vom Magazin Stern und dem Musiksender
Viva, unter dem Titel „Vote! – Ohne Stimme hört dich keiner“ junge Wähler dazu auf, an der
Wahl teilzunehmen. Deutsche Popsängerinnen wie Sarah Connor, die No Angels und Jeanette
Biedermann gehörten zu den Initiatoren der Kampagne.
Auch in Bremen hat es in der Vergangenheit immer wieder überparteiliche Aufrufe zur Wahlbeteiligung gegeben, die von den hiesigen Medien und öffentlichen Personen unterstützt wur-
45
den, zuletzt bei der Bürgerschaftswahl 2003 – ohne dass dies allerdings eine spürbare Wirkung auf die tatsächliche Wahlbeteiligung gehabt hat.
Das ist das Problem bei allen Mobilisierungsstrategien und Kampagnen, die in relativ allgemeiner und abstrakter Form darauf abzielen, die Wahlbürger insgesamt oder bestimmte Zielgruppen (Erstwähler) zur Wahl zu motivieren. Bisher konnte nicht überzeugend nachgewiesen
werden, dass sie einen stimulierenden Effekt auf die Stimmabgabebereitschaft der Bürger
haben.
46
D
Zusammenfassung
Wahlenthaltung stellt auch in Bremen für Politik und Gesellschaft ein ernst zu nehmendes
Problem dar. Bei der Bürgerschaftswahl 1999 erreichte die Wahlbeteiligung mit 60,1 % einen
historischen Tiefstand. 4 von 10 Wählern verweigerten damals die Wahl aus unterschiedlichen Gründen. Noch dramatischer sind die Zahlen im Wahlbereich Bremerhaven. Dort ging
1999 fast nur noch jeder zweite Wahlberechtigte zur Wahl (51,8 %). Die „Repräsentative
Landeswahlstatistik“ des Statistischen Landesamtes zeigt darüber hinaus, dass der Rückgang
der Wahlbeteiligung in den letzten Jahren in der Altersgruppe der 21–30-Jährigen besonders
drastisch ausfällt. In der Altersgruppe der 21–25-Jährigen Frauen haben 2003 nur noch 35,6 %
an der Bürgerschaftswahl teilgenommen. Besorgniserregend ist darüber hinaus, dass der Anteil
von Jungwählern, die rechtsextreme Parteien wählen, deutlich über dem Durchschnitt anderer
Alterskohorten liegt. Im Land Bremen konnte die DVU bei der Bürgerschaftswahl 1991 bei
Erstwählern 13,9 %, 1995 8,3 Prozent und 2003 8 Prozent der Stimmen erzielen. In Wahlbezirken mit hohem Arbeiter- und Erwerbslosenanteil und niedrigem formalen Bildungsstand
wählte bei der Bürgerschaftswahl 1991 nahezu jeder fünfte männliche Jungwähler (19,4 %)
die DVU (vgl. Freie Hansestadt Bremen 1993).
Die Gründe für Wahlenthaltung sind vielfältig und nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Im Verlaufe der letzten 30 Jahre sind in Deutschland, inspiriert durch entsprechende
Forschungen in anderen Ländern, jedoch Nichtwählerstudien entstanden, die relativ genau
über die Motive sowie politischen und sozialen Profile von Nichtwählern Aufschluss geben.
Die Studien sind zwar in ihren Forschungsansätzen und methodischen Designs durchaus different, kommen aber in einer Reihe von Punkten zu übereinstimmenden Schlussfolgerungen.
Lavies (1973) und Eilfort (1994) heben in ihren Studie hervor, dass es sich bei einem Teil der
Nichtwähler (ca. 4 -5 Prozent) – u. a. aufgrund von Fehlern in der amtlichen Statistik – um
„unechte“ Nichtwähler handelt, also um Wähler, die aus verschiedenen Gründen nicht richtig
erfasst wurden, denen die Wahlberechtigungskarte nicht richtig zugestellt wurde oder die
kurzfristig erkrankt sind. In Bezug auf die „echten“ Nichtwähler hat die Wahlforschung eine
Reihe von übereinstimmenden Merkmalen festgestellt. Bei Wahlberechtigten, die eines oder
mehrere der folgenden sozialstrukturellen Merkmale aufweisen, steigt die Wahrscheinlichkeit
der Nichtwahl: geringe Schulbildung, ledig, arbeitslos, unter 30 und über 60 Jahre alt, Bewohner einer Großstadt, sozial wenig integriert. Korrelieren diese Merkmale mit bestimmten
politischen Einstellungen wie Unzufriedenheit mit dem politischen System bzw. mit Parteien
47
und Politikern, Desinteresse an Politik oder Privatismus steigt die Wahrscheinlichkeit der
Wahlenthaltung. Umgekehrt gilt: Wahlberechtigte im mittleren Alter, mit hohem beruflichen
Status und hohem formalen Bildungsabschluss, die über vielfältige soziale Kontakte verfügen,
neigen sehr viel weniger zur Nichtwahl. Im Kontext der Deutschen Nationalen Wahlstudie
entstandene Arbeiten weisen darauf hin, dass die Abschwächung der Wahlnorm eine zentrale
Bezugsgröße für die sinkende Wahlbeteiligung ist. Zudem neigen Personen ohne Parteibindung wesentlich stärker zur Nichtwahl als Personen mit Parteibindung. Da die Parteibindung
insgesamt zurückgeht, wirkt sich dies auch auf die Wahlteilnahme aus. Angesichts der Ausdifferenzierung der Gesellschaft hat man im Rahmen der Milieu- und Lebensstilforschung die
Nichtwähler darüber hinaus bestimmten Milieugruppen zugeordnet und sie weiter differenziert. Dadurch konnten auch Nichtwähler identifiziert, die in älteren Studien noch nicht erfasst
wurden. So zählt man heute zu den Nichtwählertypen nicht nur „sozial Randständige“ und
„desinteressierte Passive“, sondern auch „aktive Postmaterialisten“, „gehobene Jungkonservative“ und „junge Individualisten“. Im Rahmen einer solchen Typologisierung zeigt sich, dass
auch unter besser situierten und gebildeten Wählergruppen die Neigung zur Wahlenthaltung
durchaus steigt. Wahlenthaltung ist schon lange kein „Privileg“ von politisch Desinteressierten mehr, sondern wird zunehmend auch von Bürgern praktiziert, die durchaus politisch interessiert und engagiert sind.
Neben den allgemeinen in der Forschung diskutierten Ursachen für die zunehmende Wahlenthaltung lassen sich in Bezug auf Bremen eine Reihe von sozialen und politischen Umweltbedingungen ausmachen, die zur Wahlabstinenz beitragen. Die hohe soziale Integration, die
Bremen noch in den 1970er Jahren auszeichnete, hat sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte in eine soziale Exklusion von Bevölkerungsgruppen, die nicht mehr oder nur noch im
Rahmen prekärer Bedingungen am Erwerbsleben teilnehmen, verwandelt. Bei den von sozialer Exklusion betroffenen Gruppen treten in der Regel Arbeitslosigkeit, Einkommens- und
Bildungsarmut sowie staatlicher Transferbezug gemeinsam auf. In den entsprechenden Milieus sinkt der Erwartungshorizont an Hilfe und Unterstützung durch die Politik, politisches Desinteresse, bis hin zur politischen Apathie, ist oft die Folge. Hinzu kommt, dass die SPD, die
als hegemoniale Volkspartei Bremen über Jahrzehnte ihren Stempel aufgedrückt hat, ihre politische Bindungskraft und Integrationsfähigkeit in unterschiedlichen Milieus eingebüßt hat.
Die CDU in Bremen als bürgerliche Volkspartei konnte aufgrund ihrer marginalen Position
nie in jene Milieus vorstoßen, die die SPD im Laufe der Jahre verloren hat. Ein Teil dieser frei
48
„vagabundierenden“ Wähler ist entweder in die Wahlenthaltung abgeglitten oder anfällig für
die Wahl von Randparteien.
In der Nichtwählerforschung besteht Übereinstimmung in der Auffassung, dass es nicht „die“
Nichtwähler gibt. Nichtwähler bilden eine außerordentlich heterogene Gruppe, die aus verschiedenen Nichtwählertypen besteht. In Bezug auf das Problem der Wahlenthaltung sind
insbesondere die „konjunkturellen Nichtwähler“ als größte Gruppe interessant, weil sie keine
grundsätzlichen Vorbehalte gegen das Wählen hegen, sondern von Wahl zu Wahl ihre Wahlbereitschaft abwägen. Ob sie wählen gehen oder nicht hängt von dem jeweiligen „Parteienangebot“ bei einer Wahl ab, von der jeweiligen Politikperformance der Partei, zu der diese
(Nicht-)Wähler eine gewisse Affinität aufweisen sowie von den Themen und Personen, mit
denen sich die Parteien bei einer Wahl um die Gunst der Wähler und Wählerinnen bemühen.
Aus diesem Befund ergeben sich auch Anhaltspunkte für mögliche Strategien zur Mobilisierung von Nichtwählern.
Im vorgelegten Forschungsbericht werden solche Strategien näher untersucht und bewertet.
Ein Hauptaugenmerk liegt dabei auf institutionellen Reformen wie Wahlrechtsänderungen,
Senkung des Wahlalters, Einführung einer Wahlpflicht, Gestaltung der Wahlumgebung und
Wahldurchführung, Aufwertung der Landesparlamente im Rahmen der Föderalismusreform
sowie Gestaltung der Parlamentsarbeit und Informationspolitiken der Parlamente. Es werden
aber auch Strategien von politischen und gesellschaftlichen Akteuren zur Mobilisierung von
(Nicht-)Wählern vorgestellt. Dazu gehören z.B. auf Nichtwähler orientierte Wahlkampagnen
der Parteien, Erst- und Jungwählerkampagnen, Projekte in der politischen Bildungsarbeit und
Wahlaufrufe. Angesichts der Komplexität des Wahlgeschehens und der vielfältigen Ursachen
für die Zunahme der Wahlenthaltung kann aber für keine der vorgestellten Strategien mit Sicherheit gesagt werden, ob und wenn welchen Einfluss sie auf die tatsächliche Wahlbeteiligung haben bzw. haben würden. Allerdings gilt auch: Ohne solche Strategien könnte in Zukunft die Wahlbeteiligung noch niedriger ausfallen.
49
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