674_724_BIOsp_0611 714 21.09.2011 12:58 Uhr Seite 714 K A R R I E R E , KÖ P F E & KO N Z E P T E Gendiagnostik Multi-Gentests für ein Präkonzeptions-Screening Unwiederstehliches Halbwissen? CHRISTOPH REHMANN-SUTTER INSTITUT FÜR MEDIZINGESCHICHTE UND WISSENSCHAFTSFORSCHUNG, UNIVERSITÄT ZU LÜBECK ó Die von der Gruppe um Stephen F. Kingsmore aus Santa Fe kürzlich publizierte Studie zu einem Multi-Gentest für 448 monogen-rezessive Kinderkrankheiten [1], die weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat, ist von einer bemerkenswerten Logik getragen. Für die 1.139 heute bekannten Gene für rezessive Erbkrankheiten werden nur ganz wenige (in den USA fünf) Tests zum Screening angeboten, und das nur, wenn ein familiäres Risiko für die betreffende Krankheit bekannt ist. Die Technik erlaubt es aber, für weniger als einen Dollar pro Gen, sehr viele Gene auf einmal zu testen. Es wurden deshalb für einen Kombi-Test 448 besonders schwere rezessiv vererbte Kinderkrankheiten ausgewählt. Bei einer Untersuchung von 104 Personen ergab sich eine durchschnittliche Trägerlast von 2,8 dieser rezessiven Gene pro Person (in einem Intervall von 0 bis 7). Dies bedeutet, dass wir alle damit rechnen müssen, Träger von zwei bis drei dieser 448 Mutationen zu sein. Eltern vor dem Zeugen eines Kindes testen Am meisten Nutzen – im Sinne der Reduktion des Krankheitsvorkommens – hat dieser Test, wenn sich alle Paare, die Kinder möchten, bereits präkonzeptiv (vor der Zeugung) testen lassen. In dem seltenen Fall, dass sie beide Träger desselben Gens sind, könnten sie entweder auf Fortpflanzung verzichten, eine Samen- oder Eispende in Anspruch nehmen, oder eine in vitro-Fertilisation mit Präimplantationsdiagnostik durchführen lassen. Sie könnten das Risiko aber auch bewusst eingehen, eine Pränataldiagnostik durchführen lassen und sich dann über die Fortführung der Schwangerschaft entscheiden. Weil die testbaren Krankheiten schwer und nicht heilbar sind, werden Paare mit Kinderwunsch ein starkes Motiv haben, so einen Test durchzuführen. Eine Firma, die den Test zuverlässig und zu günstigem Preis anbietet, kann mit einem beträchtlichen Absatz rechnen. Das ist offensichtlich ein überzeugendes Business-Modell, das sich sogar im Rahmen der Prävention rechtfertigen lässt. Belastete Freiwilligkeit Es sind aber auch ethische und psychosoziale Aspekte zu beachten. Ein Bericht der britischen Human Genetics Commission (HGC) sieht insgesamt Vorteile einer präkonzeptiven Testung von Eltern im Vergleich zu einem pränatalen Test. „If antenatal carrier screening is offered for a genetic condition then, where technically feasible, preconception screening should also be offered for that same condition“ [2]. Diese Empfehlung der HGC orientiert sich aber an einzelnen testbaren Krankheiten und bezieht sich nicht auf umfassende Multi-Gentests. Ich glaube nicht, dass man die ethischen Implikationen von Multi-Gentests verstehen kann, wenn man sie nur mit Einzel-Gentests vergleicht. Mit umfassenden Carriertests entsteht eine neue Situation. Weil alle Träger von einigen rezessiven Genen sind, werden auch alle zu einer Risikogruppe. Jede Frau und jeder Mann mit Kinderwunsch wäre dann einem moralischen Druck ausgesetzt, den Test durchführen zu lassen. Auch wenn die Freiwilligkeit formell gewährleistet wäre, kann sie materiell kaum bestehen, weil verantwortliche Eltern praktisch keine Argumente finden würden, den Test abzulehnen. Eltern können doch ihrem Kind kein vermeidbares Krankheitsrisiko bewusst zumuten. Der Test schält aus einer allgemeinen Gefahr einen Teil heraus und macht ihn zu einem kalkulierbaren Risiko. Die schiere Unübersichtlichkeit des MultiTests trägt zu seiner Unwiderstehlichkeit bei. Man braucht sich dann nämlich nicht über einzelne Krankheiten den Kopf zu zerbrechen [3]. Das Halbwissen zu ein paar der schlimmsten Beispiele, die sich auf der Liste finden (z. B. Tay-Sachs, Fragiles X-Syndrom), genügt. Paare würden rechtfertigungspflichtig, wenn sie entweder ohne Test ein Kind einfach aus Liebe zeugen würden, oder trotz partnerschaftlich bedingtem, durch den Test erst bekannt gewordenem Risiko ein Kind bekommen möchten. Dies würde die Partnerwahl beeinflussen, die reproduktiven Verhältnisse unabsehbar verändern und die Beziehung der Elternschaft vor vielfältige und neuartige Herausforderungen stellen. Das testbare genetische Wissen ist ein typisches Halbwissen. Denn man kann bei vielen Krankheiten weder den Schweregrad oder den Zeitpunkt des Beginns vorhersehen. Und man kann selbstverständlich nicht wissen, ob das Kind zu den 25 Prozent Homozygoten gehören wird. Ich sehe eine Gefahr darin, dass durch geschickte Vermarktung genetisches Halbwissen sozusagen unwiderstehlich wird. Ob das wirklich wünschbar ist, ist für mich eine offene Frage. Die Antwort darauf gibt uns der Markt nicht. ó Literatur [1] Bell CJ et al. (2011) Carrier testing for severe childhood recessive diseases by next-generation sequencing. Sci Transl Med 3:65ra4 [2] Human Genetics Commission (2011) Increasing options, informing choice: A report on preconception genetic testing and screening. HGC, London. [3] Rehmann-Sutter C, Müller HJ (2009) Disclosure Dilemmas: Ethics of Genetic Prognosis after the ‘Right to Know/Not to Know’ Debate. Ashgate, Aldershot Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Christoph Rehmann-Sutter Theorie und Ethik der Biowissenschaften IMGWF, Universität zu Lübeck Königsstraße 42 D-23552 Lübeck Tel.: 0451-7079-9812 Fax: 0451-7079-9899 [email protected] BIOspektrum | 06.11 | 17. Jahrgang