Multi-Gentests für ein Präkonzeptions-Screening

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21.09.2011
12:58 Uhr
Seite 714
K A R R I E R E , KÖ P F E & KO N Z E P T E
Gendiagnostik
Multi-Gentests für ein
Präkonzeptions-Screening
Unwiederstehliches Halbwissen?
CHRISTOPH REHMANN-SUTTER
INSTITUT FÜR MEDIZINGESCHICHTE UND WISSENSCHAFTSFORSCHUNG,
UNIVERSITÄT ZU LÜBECK
ó Die von der Gruppe um Stephen F. Kingsmore aus Santa Fe
kürzlich publizierte Studie zu
einem Multi-Gentest für 448
monogen-rezessive Kinderkrankheiten [1], die weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat, ist von einer
bemerkenswerten Logik getragen.
Für die 1.139 heute bekannten
Gene für rezessive Erbkrankheiten werden nur ganz wenige (in den USA fünf)
Tests zum Screening angeboten, und das nur,
wenn ein familiäres Risiko für die betreffende Krankheit bekannt ist. Die Technik erlaubt
es aber, für weniger als einen Dollar pro Gen,
sehr viele Gene auf einmal zu testen.
Es wurden deshalb für einen Kombi-Test
448 besonders schwere rezessiv vererbte Kinderkrankheiten ausgewählt. Bei einer Untersuchung von 104 Personen ergab sich eine
durchschnittliche Trägerlast von 2,8 dieser
rezessiven Gene pro Person (in einem Intervall von 0 bis 7). Dies bedeutet, dass wir alle
damit rechnen müssen, Träger von zwei bis
drei dieser 448 Mutationen zu sein.
Eltern vor dem Zeugen eines Kindes
testen
Am meisten Nutzen – im Sinne der Reduktion des Krankheitsvorkommens – hat dieser
Test, wenn sich alle Paare, die Kinder möchten, bereits präkonzeptiv (vor der Zeugung)
testen lassen. In dem seltenen Fall, dass sie
beide Träger desselben Gens sind, könnten
sie entweder auf Fortpflanzung verzichten,
eine Samen- oder Eispende in Anspruch nehmen, oder eine in vitro-Fertilisation mit Präimplantationsdiagnostik durchführen lassen.
Sie könnten das Risiko aber auch bewusst
eingehen, eine Pränataldiagnostik durchführen lassen und sich dann über die Fortführung der Schwangerschaft entscheiden.
Weil die testbaren Krankheiten
schwer und nicht heilbar sind,
werden Paare mit Kinderwunsch
ein starkes Motiv haben, so einen
Test durchzuführen. Eine Firma,
die den Test zuverlässig und zu
günstigem Preis anbietet, kann
mit einem beträchtlichen Absatz
rechnen. Das ist offensichtlich ein
überzeugendes Business-Modell,
das sich sogar im Rahmen der Prävention
rechtfertigen lässt.
Belastete Freiwilligkeit
Es sind aber auch ethische und psychosoziale Aspekte zu beachten. Ein Bericht der britischen Human Genetics Commission (HGC)
sieht insgesamt Vorteile einer präkonzeptiven Testung von Eltern im Vergleich zu einem
pränatalen Test. „If antenatal carrier screening is offered for a genetic condition then,
where technically feasible, preconception screening should also be offered for that same condition“ [2]. Diese Empfehlung der HGC orientiert sich aber an einzelnen testbaren Krankheiten und bezieht sich nicht auf umfassende Multi-Gentests.
Ich glaube nicht, dass man die ethischen
Implikationen von Multi-Gentests verstehen
kann, wenn man sie nur mit Einzel-Gentests
vergleicht. Mit umfassenden Carriertests entsteht eine neue Situation. Weil alle Träger von
einigen rezessiven Genen sind, werden auch
alle zu einer Risikogruppe. Jede Frau und
jeder Mann mit Kinderwunsch wäre dann
einem moralischen Druck ausgesetzt, den Test
durchführen zu lassen.
Auch wenn die Freiwilligkeit formell
gewährleistet wäre, kann sie materiell kaum
bestehen, weil verantwortliche Eltern praktisch keine Argumente finden würden, den
Test abzulehnen. Eltern können doch ihrem
Kind kein vermeidbares Krankheitsrisiko
bewusst zumuten. Der Test schält aus einer
allgemeinen Gefahr einen Teil heraus und
macht ihn zu einem kalkulierbaren Risiko.
Die schiere Unübersichtlichkeit des MultiTests trägt zu seiner Unwiderstehlichkeit bei.
Man braucht sich dann nämlich nicht über
einzelne Krankheiten den Kopf zu zerbrechen
[3]. Das Halbwissen zu ein paar der schlimmsten Beispiele, die sich auf der Liste finden
(z. B. Tay-Sachs, Fragiles X-Syndrom), genügt.
Paare würden rechtfertigungspflichtig, wenn
sie entweder ohne Test ein Kind einfach aus
Liebe zeugen würden, oder trotz partnerschaftlich bedingtem, durch den Test erst
bekannt gewordenem Risiko ein Kind bekommen möchten. Dies würde die Partnerwahl
beeinflussen, die reproduktiven Verhältnisse
unabsehbar verändern und die Beziehung der
Elternschaft vor vielfältige und neuartige Herausforderungen stellen.
Das testbare genetische Wissen ist ein typisches Halbwissen. Denn man kann bei vielen Krankheiten weder den Schweregrad oder
den Zeitpunkt des Beginns vorhersehen. Und
man kann selbstverständlich nicht wissen, ob
das Kind zu den 25 Prozent Homozygoten
gehören wird. Ich sehe eine Gefahr darin, dass
durch geschickte Vermarktung genetisches
Halbwissen sozusagen unwiderstehlich wird.
Ob das wirklich wünschbar ist, ist für mich
eine offene Frage. Die Antwort darauf gibt
uns der Markt nicht.
ó
Literatur
[1] Bell CJ et al. (2011) Carrier testing for severe childhood
recessive diseases by next-generation sequencing. Sci Transl
Med 3:65ra4
[2] Human Genetics Commission (2011) Increasing options,
informing choice: A report on preconception genetic testing
and screening. HGC, London.
[3] Rehmann-Sutter C, Müller HJ (2009) Disclosure
Dilemmas: Ethics of Genetic Prognosis after the ‘Right to
Know/Not to Know’ Debate. Ashgate, Aldershot
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Christoph Rehmann-Sutter
Theorie und Ethik der Biowissenschaften
IMGWF, Universität zu Lübeck
Königsstraße 42
D-23552 Lübeck
Tel.: 0451-7079-9812
Fax: 0451-7079-9899
[email protected]
BIOspektrum | 06.11 | 17. Jahrgang
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