1.3 Adaptive Landschaften

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1.2 Proximate Mechanismen und ultimate Ursachen
19
| 1.8 |
Warum pflanzen sich die Menschen fort?
John Lennon: »Neunzig Prozent der Menschen auf
diesem Planeten, vor allem im Westen, verdanken
ihre Existenz einer Flasche Whisky in einer Samstagnacht. Meist bestand nicht die Absicht, Kinder
zu haben. Neunzig Prozent von uns sind Missgeschicke – ich kenne niemanden, der ein Kind
geplant hat. Wir alle sind Samstagnachtsonderausgaben.« (The Beatles Anthology. Ullstein,
München 2000)
Miloslav Stingl: »… wenn ich nun die Spuren
des Sexuallebens der Steinzeitmenschen erörtere,
muss ich gleich am Anfang die vielleicht überraschendste Tatsache erwähnen: einige australische
Einheimische oder zumindest Angehörige einiger
lokaler Stämme, verstanden bzw. kannten die
Beziehung zwischen Geschlechtsverkehr und Empfängnis nicht. Sie wussten nicht, dass der Mann
beim Koitus die Frau befruchtet … Weil also der
Geschlechtsverkehr mit der Kinderzeugung nicht
in Zusammenhang gebracht wurde, betrachteten
die ursprünglichen Australier den Beischlaf nicht
als etwas, das von wesentlicher Bedeutung für
die Erhaltung des Klans wäre, sondern als eine
angenehme Unterhaltung, Freude, die sie sich im
möglichst größten Maße und so lange gönnen
wollten, wie es ihnen die Gesundheit erlaubt.« (Sex
na peti kontinentech [Sex auf fünf Kontinenten].
Jota, Brno 2006)
| 1.9 |
Warum lieben wir Babys?
Die Kombination von Körpermerkmalen und Verhaltensweisen, die beim Menschen eine als Betreuungsreaktion deutbare Gefühlstönung, Zärtlichkeitshandlungen und insgesamt eine positive
Einstellung auslöst, wird als Kindchenschema bezeichnet (Abb. 1.3). Hierzu gehören kindliche Proportionen (relativ großer, runder Kopf mit „Pausbacken“,großen Augen und kleiner Stupsnase), aber
auch eine unbeholfene Motorik. Es besteht eine
gewisse Parallele zwischen den ins Kindchenschema fallenden Merkmalen und den Jugendmerkmalen vonTieren (z. B. Jugendkleid, Sperrrachen vieler
Vögel), die Auslöser für Brutpflegehandlungen
darstellen und Aggressionen hemmen (bzw. keine
aggressiven Handlungen auslösen). Das Kindchenschema wurde zunächst von Konrad Lorenz
(1903–1989, Verhaltensforscher, Nobelpreis für
Medizin oder Physiologie 1973 ( S. 319), zusammen mit Karl von Frisch und Niko Tinbergen) postuliert. Erwachsene verhalten sich gegenüber Individuen, die Merkmale des Kindchenschemas
tragen, stärker beschützend, fürsorglicher und
weniger aggressiv, als sie sich gegenüber Merkmalen älterer Individuen verhalten. Auch sogenannte
„Schoßtiere“ des Menschen weisen mitunter eine
der Merkmalskombination des Kindchenschemas
entsprechende Kopfform auf, und es erscheint nicht
ausgeschlossen, dass an ihrer Entwicklung eine
bewusste Zuchtwahl beteiligt war. Das Kindchenschema führt wahrscheinlich zu einem Anstieg des
Prolaktinspiegels. Prolaktin löst bei allen bislang
getesteten Säugetierarten sowie auch bei vielen
anderen Wirbeltieren Brutpflegeverhalten aus, und
zwar sowohl bei Weibchen als auch bei Männchen,
wenn diese an der Brutpflege beteiligt sind.
1.3 Die wichtigsten Merkmale des von Konrad
Lorenz entwickelten Kindchenschemas sind große
Augen, hohe Stirn, „Pausbacken“ und „Stupsnase“. Diese Merkmale lösen beim Menschen
eine positive, als Betreuungsreaktion deutbare
Gefühlstönung aus. (Nach Veselovský 2005)
20
1 Einleitung
Die meisten Organismen
sind sich weder ihrer Existenz noch ihres Verhaltens
bewusst, dennoch „streben“ sie danach, die ultimaten Ziele zu erreichen.
unvollkommenen, aber mehr oder weniger gut funktionierenden Programmen
zu behaupten, denn der zusätzlicher Reproduktionserfolg, den es seinen Trägern
bringen könnte, ist – falls überhaupt vorhanden – eigentlich ganz gering. Billiger
ist es, sich mit den zeitweiligen Fehlern abzufinden.
Alles geschieht so, wie es sich in der Vergangenheit bewährt hat und wie es
wahrscheinlich auch in der Gegenwart erfolgreich sein wird. Im folgenden Text
werden wir immer wieder behaupten, dass der Organismus oder das Allel etwas
„will“, sich um etwas bemüht, etwas vermeidet. Ein sehr einfaches Gegenargument wäre, dass die Organismen, geschweige die Allele, natürlich nichts wollen,
weil sie sich weder ihrer Existenz noch ihrer Ziele bewusst sind. Aber darum geht
es nicht. Die Organismen sind sich bestimmt nicht ihres Verhaltens bewusst,
was sie jedoch nicht daran hindert, sich so zu verhalten, dass sie diese ultimaten
Ziele, besser oder schlechter, erreichen. Es ist wie mit der Funktion unserer inneren Organe. Die Nieren dienen uns, ohne dass sie sich ihrer Aufgabe bewusst
sind. Und nicht nur das: Die Nieren funktionieren, ohne dass wir uns dessen
bewusst sind, ohne dass wir wissen, was und wie sie es machen sollen und ohne
dass wir ihre Tätigkeit irgendwie bewusst steuern können. Das ist auch besser
so. Jeder vor uns, der sich selbst aktiv um die Funktion seiner Nieren kümmern
müsste, wäre bald tot. Eine Pflanze kennt die Struktur von Chlorophyll nicht
und trotzdem läuft bei ihr die Photosynthese ab. Ein Hund kann die Bahn des
geworfenen Stockes nicht berechnen und fängt ihn trotzdem. Auch in sozialen
und sexuellen Beziehungen stellt niemand Berechnungen an, welches Verhalten
seinen Allelen zugutekommt. Nur einige Sozialverhaltenstypen sind erfolgreich,
andere sind nicht erfolgreich, und falls sie genetisch bedingt sind, haben die
Allele, die verschiedene Verhaltenstypen beeinflussen, unterschiedliche Fähigkeit
zu überdauern. Der Mensch hat – ähnlich wie die Nachtigall – natürlich eine
vollkommene persönliche Freiheit. Üblicherweise nutzt er sie zugunsten seiner
Allele, von deren Existenz er aber vielleicht noch nie gehört hat.
1.3 Adaptive Landschaften
Das erfolgreiche Leben
eines Individuums führt
sekundär zur Anpassung seiner Art.
Die Arten passen sich ihrer Umwelt so an, dass die Individuen dieser Arten
im „Fortpflanzungswettbewerb“ unterschiedlich erfolgreich sind. Und sie sind
deshalb unterschiedlich erfolgreich, weil sie unterschiedliche Eigenschaften
besitzen. Das hat mehrere wichtige Konsequenzen. Vor allem ist es wichtig zu
erkennen, dass sich die Arten nebenbei adaptieren, denn die Anpassung einer
Art ist die sekundäre Konsequenz des erfolgreichen Lebens eines Individuums,
nicht das Ziel eines Individuums. Aber das bedeutet auch, dass das Ergebnis
solch einer Anpassung manchmal etwas anders aussieht, als wir es uns vorstellen
würden.
Die Lebensweisen von Wolf und Löwe ähneln sich mit Sicherheit stärker als
die von Wolf und Schimmelpilz, und zwar unabhängig davon, wie wir diese
„Ähnlichkeit“ messen. Die Millionen Lebensweisen verschiedener Arten unterscheiden sich selbstverständlich in Millionen verschiedener Parameter, mit denen
wir sie beschreiben können. Aber wir können versuchen, diese extrem kom-
1.3 Adaptive Landschaften
21
1.4 Bildhafte Darstellung
einer Fitnesslandschaft:
Die Eigenschaften der
Organismen werden in den
horizontalen Koordinaten
abgebildet. Ändert sich der
Phänotyp des Organismus,
ändert sich auch seine Position in der Landschaft. Die
Höhe beschreibt den Reproduktionserfolg unterschiedlicher Phänotypen: Die
Organismen können im Laufe ihrer Evolution nur ihre
Fitness erhöhen, d. h. bergauf steigen (z. B. entlang
der hier rot, gelb und blau
dargestellten „Bergwege“).
plizierte multidimensionale „Struktur“ verschiedener Lebensstrategien in eine
vereinfachte zweidimensionale „Karte“ zu transferieren. Eine solche Karte muss
unser Wissen von der Welt nicht wesentlich verzerren, sofern in ihr die Lebensweisen von Wolf und Löwe näher beieinanderliegen als die von Wolf und
Schimmelpilz. Wenn wir noch eine dritte Dimension hinzufügen – den Erfolg
der jeweiligen Lebensweise – entsteht die „adaptive Landschaft“ mit den adaptiven Gipfeln als Orten des Erfolgs und Tälern der tiefen Hoffnungslosigkeit
zwischen ihnen ( Box 1.10, Abb. 1.4).
Die Position einer Art auf der Karte der adaptiven Landschaft ergibt sich also
aus ihren morphologischen, genetischen, ökologischen oder physiologischen
Eigenschaften; im Prinzip können es völlig beliebige Eigenschaften sein. Unter
Evolution verstehen wir dann irgendeine Veränderung dieser Eigenschaften,
also die Verschiebung der Position einer Art auf der Karte. Natürlich können
wir in die adaptive Karte von dem Ort ausgehend, wo sich die Art gerade befindet, einen Pfeil in beliebiger Richtung zeichnen. Allerdings geht das nur bei
der zweidimensionalen Karte. Bestimmte Änderungen der Eigenschaften der
Arten sind nämlich verboten, da die Evolution in einer bestimmten Richtung
verläuft: Über die tatsächlichen evolutionären Veränderungen entscheidet die
dritte „Höhendimension“, die aus der Karte eine Landschaft macht. Die adaptive Evolution wäre dann ein langsames Hinaufsteigen an den Hängen der
adaptiven Berge hin zu ihren Gipfeln. Auf diesem Weg kommt es also zu einer
„Verbesserung“ der Organismen, von einer ursprünglichen Art am Bergfuß zu
einer abgeleiteten Art am Gipfel. Die Evolution kann adaptive Eigenschaften
der Organismen hervorbringen, aber üblicherweise nur allmählich, in kleinen
Schritten, mit vielen Übergangsgliedern. Jeder dieser „Zwischenschritte“ muss
natürlich ein realer, lebender und sich fortpflanzender Organismus sein. Jeder
„Zwischenschritt“ muss lebensfähig sein, und dies zumindest genauso gut wie,
wenn nicht sogar besser als sein Vorgänger. Wenn nämlich ein Organismus mit
einer neuen Eigenschaft schlechter wäre als sein Vorgänger, könnte er diesen nicht
reproduktiv überholen und damit verdrängen, sodass sich die neu erworbene
Die adaptive Landschaft
ist ein Modell der Evolution der Organismen in
ihrer Umwelt: Die KartenKoordinaten stellen zwei
unterschiedliche Eigenschaften der Organismen
dar, die Höhe - repräsentiert ihre Fitness.
Mit einer Veränderung der
Eigenschaften kommt es
zur Verschiebung der Position einer Art auf der Karte
der adaptiven Landschaft
und damit zur Evolution.
Adaptive Eigenschaften
der Organismen entstehen
üblicherweise in kleinen
Schritten, mit vielen
Übergangsgliedern, wobei
jeder „Zwischenschritt“
lebensfähig sein muss, und
dies zumindest genauso
gut wie sein Vorgänger.
22
1 Einleitung
Eigenschaft auch nicht durchsetzen kann. Die Folge dieser adaptiven Evolution
ist eine bestimmte Festlegung, die Arten können nur zu dem Gipfel emporsteigen, an dessen Fuß sie entstanden sind, und je höher sie gekommen sind, desto
geringer wird die Chance, dass sie diesen Gipfel wieder verlassen können und
irgendwo anders hin aufbrechen. Auch wenn der benachbarte adaptive Gipfel
höher ist (und eine erfolgreichere Lebensweise anbietet), so kann man ihn nicht
| 1.10 |
Adaptive Landschaft
Die Metapher der „adaptiven Landschaften“ bzw.
„Fitnesslandschaften“ führte Sewall Wright
( S. 31) in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts
ein. Nach diesem Modell kann man sich die Evolution der Organismen bzw. Populationen in der
Umwelt als plastische topographische Karte einer
hügeligen Landschaft vorstellen (Abb. 1.4). Die
Koordinaten x und y entsprechen den zwei Eigenschaften eines hypothetischen Organismus, z. B.
Körpermasse und Laufgeschwindigkeit, oder (im
Falle einer Population) den Allelfrequenzen an zwei
unterschiedlichen Loci. Die Höhe (z-Achse) beschreibt den Reproduktionserfolg (Fitness) unterschiedlicher Phänotypen oder Genotypen: DieTäler
in dieser Landschaft bedeuten einen geringeren
Reproduktionserfolg, Berge einen höheren. Die
Oberflächenform (Hügeligkeit) der adaptiven
Landschaft ist vorgegeben und unabhängig von
den Eigenschaften der Organismen; sie bestimmt
die Verteilung der Nischen ( Box 6.14) in der jeweiligen Umwelt. Da sich die Umwelt ständig
ändert, verschieben sich auch die Gipfel in der
Landschaft. Offensichtlich werden unterschiedliche
Kombinationen von Eigenschaften, d. h. unterschiedliche Koordinaten, auf unterschiedliche Orte
der adaptiven Landschaft abgebildet, weisen somit
also unterschiedliche Höhen und damit auch unterschiedliche Fitness auf und sind unter dem
Gesichtspunkt der natürlichen Selektion unterschiedlich vorteilhaft. Durch Mutationen ändern
sich die Eigenschaften und damit auch die Koordinaten, sodass die Organismen auf der Karte verschoben werden. Die natürliche Selektion kann nur
solche Mutationen fixieren, die einen Organismus
in der Ebene der Karte bergauf (also in Richtung
eines höheren z-Werts) verschieben.
Eine evolvierende Population steigt in der Fitnesslandschaft in vielen kleinen Schritten durch
genetische Änderungen bergauf, bis das lokale
Optimum erreicht wird. Dort bleibt sie, bis irgendeine seltene Mutation den Weg zu einem neuen,
noch höheren Fitnessgipfel öffnet. Da die Morphologie der Landschaft dynamisch ist, müssen die
Organismen (Populationen) den Gipfeln in einer
nie endenden Reise folgen. Falls zwischen zwei
Gipfeln ein tiefesTal liegt, können die Organismen
nicht von einem Gipfel zum anderen gelangen,
denn ein Mutant, der an einen tief liegenden Ort
geraten ist, wird durch natürliche Selektion eliminiert. So kann es passieren, dass bestimmte Orte
auf der Karte der adaptiven Landschaft unbesetzt
bleiben (in der Sprache der Ökologen sagt man,
dass einige Nischen nicht realisiert werden). Mit
anderen Worten, bestimmte Kombinationen von
Eigenschaften gibt es nicht, weil ihre Koordinaten
in einem Tal mit niedriger Fitness liegen, bzw.
selbst wenn sie auf einen Gipfel projiziert würden,
wäre dieser nur über ein tiefesTal zu erreichen. Dies
bedeutet, dass die Evolution nicht optimiert – dazu
müsste sie die Täler in der adaptiven Landschaft
überwinden; die Evolution kann nur verbessern.
Sie findet auch keine globalen, sondern nur die
lokalen Maxima. Es gibt keine Säugetiere, die mithilfe ihrer Ohrmuscheln gleiten oder sogar fliegen
könnten. Dieser Gipfel („fliegende Ohren“) ist in
der adaptiven Landschaft frei geblieben, denn die
Zwischenstufen von Ohrmuscheln normaler Größe
zu Ohrmuscheln enormer Größe, die das Fliegen
ermöglichen würden, sind selektiv nachteilig.
Eventuelle Mutanten befinden sich in den tiefen
Tälern der adaptiven Landschaft.
Das Wright‘sche Modell ist etwas komplizierter
als hier umrissen. Im Prinzip handelt es sich um
ein anspruchsvolles mathematisches Modell, bei
dem auch weitere Faktoren, u. a. die Populationsgröße, eine Rolle spielen. Das Konzept der
Fitnesslandschaft gewann auch für die Methoden
der evolutionären Optimierung an Bedeutung.
Hierbei versucht man, die Probleme unserer realen
Welt (wie z. B. logistische Probleme) durch Nachahmung der Dynamik der biologischen Evolution
zu lösen.
23
1.3 Adaptive Landschaften
über das Tal hinweg erreichen, denn der Weg hinunter ins Tal würde zumindest
vorübergehend einen Sieg der weniger angepassten, also weniger lebensfähigen
oder weniger reproduktiv erfolgreichen Individuen bedeuten.
Daraus folgt allerdings, dass die Evolution keine vollkommenen, durch und
durch optimalen Lösungen anstreben kann, da jeder Evolutionsschritt fest mit
einem konkreten „Ort“ in der adaptiven Landschaft verbunden ist. Das ist an
und für sich nichts Seltsames (dass die Anerkennung der Bedeutung vergangener – und damit einzigartiger – Änderungen wesentlicher Bestandteil der
Evolutionsidee ist, haben wir schon gesagt), aber trotzdem ist es wichtig, sich
klar zu machen, dass die allmählichen Änderungen der realen Organismen, die
sich zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum abspielen, keine
„Ingenieurslösung“ ihrer Probleme sind. Oft können wir uns eine „bessere“
Lösung vorstellen als die von den Organismen tatsächlich umgesetzte, aber
was wir uns vorstellen oder nicht vorstellen können, spielt hier keine Rolle. Die
Organismen haben bei der Auswahl der Lösungen nicht die notwendige Freiheit,
eben weil sie die historische Kontinuität nicht unterbrechen können, die sie
mit ihrer Vergangenheit, also mit ihren Vorfahren verbindet. Wenn jede Art
unabhängig von allen anderen entstehen würde, könnten die Organismen viel
perfekter sein, als sie es sind. Gerade die augenscheinliche Unvollkommenheit
der Organismen wird so zu einem „Beweis“ der Evolution.
Die so verstandene Evolution ist kein allgemeines Prinzip, das über das
Schicksal der Welt herrscht, sondern eine allmähliche Lösung der momentanen
Probleme, mit denen die Organismen konfrontiert werden, wobei die alternative Lösung dieser Probleme der Tod des Individuums oder das Aussterben
einer Art ist. Wir erwähnen dies, weil es auch Leute gibt, die die evolutionäre
Geschichte zu ernst und mystisch nehmen und die EVOLUTION oft groß
schreiben, sozusagen als Pendant zu GOTT). Nicht jede „Evolutionstheorie“ ist
mit der gegenwärtigen Evolutionsbiologie vereinbar. Die Evolution, wie sie von
der Evolutionsbiologie verstanden wird, ist vor allem nicht jemandes Ziel. Die
Organismen haben keine Pflicht oder einen Bedarf sich zu ändern und die Arten,
die sich langfristig nicht ändern, sind deswegen nicht schlechter als die, die sich
Allmähliche Änderungen
der realen Organismen
zu einer bestimmten Zeit
an einem bestimmten
Ort stellen keine „Ingenieurslösung“ ihrer
Probleme dar. Wir selbst
können uns oft „bessere“
Lösungen vorstellen.
Die augenscheinliche
Unvollkommenheit der
Organismen kann als
Beweis der Evolution
angesehen werden.
1.5 Beispiele für evolutionär ursprüngliche Arten oder Linien, die seit Langem relativ unverändert als Taxa überleben und damit auch Vorteile manch konservativer Eigenschaften zeigen. Von links nach rechts, untere Reihe:
Brückenechse, Ginkgo, Quastenflosser, Farne; obere Reihe: Pfeilschwanzkrebs, Skorpion, Hai, Gürteltier.
24
1 Einleitung
ständig ändern. Eher ist es umgekehrt: Die stark konservativen Arten sind doch
die, die sich nicht zu ändern brauchen, und damit dem am nächsten kommen,
was wir vielleicht als „Vollkommenheit“ bezeichnen würden (Abb. 1.5).
1.4 Genetik und Neodarwinismus
Damit die Organismen um
den Fortpflanzungserfolg
konkurrieren können,
muss die Fortpflanzung mit der Vererbung
verbunden werden.
Die Übertragung der
Eigenschaften auf die
nächste Generation darf
nicht 1:1 erfolgen, damit die
Variabilität der Eigenschaften in der Nachkommenschaft gewährleistet wird.
Die Grundlage der biologischen Variabilität, also die
primäre Quelle evolutionärer Neuheiten, konnte
Darwin nicht erklären.
Damit wir zwischen konkreten Individuen überhaupt einen reproduktiven
Wettlauf erwarten können, der seit Darwins Zeiten als Motor evolutionärer
Veränderungen gilt, müssen wir ein paar Dinge voraussetzen. Zunächst müssen
die Eigenschaften von Generation zu Generation verlässlich weitergegeben
werden, weil die Individuen sterblich sind. Ein Individuum muss Nachkommen hinterlassen und die Nachkommenschaft muss ihren Eltern (zumindest
einem der Elternteile) mehr oder weniger ähneln. Eine notwendige Bedingung
ist also die mit der Vererbung verbundene Fortpflanzung. Diese Bedingung ist
natürlich erfüllt, wie auch immer dies erreicht wird (Darwin selbst war sich
darüber nicht im Klaren).
Eine weitere Bedingung ist aber paradoxerweise gerade, dass die Übertragung
der Eigenschaften zwischen den Generationen nicht vollkommen zuverlässig
abläuft. Daraus ergibt sich die zufällige Variabilität der Eigenschaften in der
Nachkommenschaft, sodass potenzielle Paarungspartner unter verschiedenen
Varianten wählen können, wodurch sich die Sieger von den Verlierern im reproduktiven Wettbewerb unterscheiden. Auf diese Weise können die vorteilhafteren
Eigenschaften erhalten bleiben, sich in der Population manifestieren und sich
allmählich verbessern. Mit jedem Evolutionsschritt unterscheiden sich die
Nachkommen sowohl von ihren Eltern wie auch untereinander. Manche dieser
Abweichungen beeinflussen ihr Leben (bzw. ihren Fortpflanzungserfolg) nicht,
manche verschlechtern es und wiederum andere (die wenigsten) verbessern es.
So bekommt die Selektion das Material, mit dem sie effektiv arbeiten kann.
Indem sie das Überdauern von nur wenigen Eigenschaften erlaubt, arbeitet
die Selektion natürlich gar nicht „zufällig“, sondern sie ist im Gegenteil der
Hauptgestalter der Ordnung.
Die Natur der biologischen Variabilität, also die primäre Quelle der Evolutionsneuheiten, war der Ursprung einiger Kontroversen, die den Darwinismus
Anfang des 20. Jahrhunderts beinahe begraben hätten. Darwin wusste zwar
sehr wohl, dass Variabilität notwendig ist, damit die Selektion verschiedene
Alternativen testen kann, aber den Ursprung der Variabilität kannte er nicht.
Er nahm an, dass neue Eigenschaften während des Lebens eines Individuums
durch das aktive Anpassen an die Umwelt entstehen – solch einen Mechanismus
als Hauptmotor der Evolution hatte bereits ein halbes Jahrhundert zuvor JeanBaptiste Lamarck vorgeschlagen. Weiterhin ist Darwin aus Erfahrung davon
ausgegangen, dass die variable Nachkommenschaft irgendwie durch Kreuzung
der Eltern entsteht, wobei ihm die Prozesse unklar gewesen sein mussten. Die
Behauptung, dass Darwins Vorstellungen von Erblichkeit und Entstehung der
Variabilität irrtümlich waren, ist allerdings nicht ganz berechtigt, denn Darwin
gab eindeutig zu, dass es in diesem Bereich Dinge gibt, die er nicht versteht.
25
1.4 Genetik und Neodarwinismus
Die Geburtsstunde der Genetik, die eng mit Darwins Zeitgenossen, dem
Brünner Abt Gregor Mendel ( s. u.), verbunden ist, bedeutete für Darwins
Theorie zunächst allerdings einen großen Rückschlag. Die Versuche von Mendel
zeigten nämlich, dass die Variabilität der Nachkommen nicht mit der Entstehung
neuer Eigenschaften zusammenhängt, die dann von der natürlichen Auslese
getestet werden können. Für die Variabilität sind vor allem neue Kombinationen
von unveränderlichen und gegenseitig unabhängigen „Anlagen“ für diese Eigenschaften verantwortlich, und diese waren schon bei den Eltern vorhanden
(obwohl sie bei ihnen vielleicht nicht zum Ausdruck kamen). Eine dieser Anlagen
des Nachkommens vererbt der Vater, eine weitere die Mutter, im Nachkommen
kommt aber vielleicht auch nur eine von ihnen zum Ausdruck. Die Variabilität
entsteht durch die Kombination von etwas bereits Existentem, nicht durch die
Entstehung von etwas Neuem, und das Vorkommen von bestimmten Eigenschaften bei den Nachkommen kann man, wenn auch nur statistisch gesehen,
voraussagen. (Wir wissen nicht, welcher konkrete Nachkomme welche Eigenschaft erbt, aber wir können sagen, wie viele Nachkommen sie wahrscheinlich
haben werden.) Es schien, dass der Darwin‘schen Evolution kein genetisches
Material für die Entstehung von etwas wirklich Neuem zugrunde liegt.
Darwins Konzept der Evolution haben erst die Mutationen, d. h. die Änderungen der Erbanlagen, gerettet, die Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt
wurden. Man stellte fest, dass jene Anlagen, die von einer Generation in die
nächste übergehen, nicht ganz unveränderlich sind. Damals wusste niemand,
welcher Art diese Anlagen sind und erst recht konnte man nicht ahnen, dass
gelegentlich eine Abweichung entsteht, die es vorher nicht gab ( Box 1.11).
Als die Kontroversen zwischen dem Darwinismus und der Genetik nach und
nach gelöst wurden, entstand in den 20er- bis 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts
die neuere Form der Evolutionstheorie, die wir „Synthetische Evolutionstheorie“
oder einfach „Neodarwinismus“ nennen (und die die Evolutionsbiologie bis
heute beherrscht) ( Box 1.13, Abb. 1.7). Es kam allmählich auch zu einer
Änderung der Sichtweise. Der klassische Darwinismus hat die Auslese unter
den Nachkommen der Elterngeneration zugeschoben, ganz einfach deshalb,
weil nicht alle Nachkommen ihrerseits eigene Nachkommenschaft zeugen.
Wenn wir allerdings die Anlagen für die Eigenschaften der Organismen ins
Johann Gregor Mendel
Lebensdaten:
1822–1884
Nationalität:
tschechisch
Leistung:
Begründer der modernen Genetik. Augustinermönch und
Naturforscher, der die Regeln der Vererbung beschrieb, die als Mendel‘sche
Gesetze (heute Mendel‘sche Regeln) allgemein bekannt sind. In den 20erund 30er-Jahren des 20. Jh. diente Mendels Arbeit als Basis für die moderne
Evolutionsbiologie. Mit der Erkenntnis, dass sich die genetische Gesamtinformation eines Organismus aus einzelnen Genen zusammensetzt, wurden Einwände von Gegnern der Selektionstheorie entkräftet. Diese hatten
behauptet, dass neu entstandene Merkmale durch „mischende Vererbung“
im Lauf der Generationen ausgedünnt und verschwinden würden.
Mendel zeigte, dass die
Variabilität auf neuen
Kombinationen von bereits
existierenden Anlagen
beruht, was für den Darwinismus zunächst einen
Rückschlag bedeutete.
Erst mit der Entdeckung
der Mutationen wurde
klar, wie neue Varianten
entstehen können.
Die Vereinigung der Konzepte des Darwinismus
und der Genetik führte
zum Neodarwinismus
(auch „Synthetische
Evolutionstheorie“).
26
1 Einleitung
Die Populationsgenetik
betrachtet die Evolution als Änderung in den
prozentualen Anteilen
einzelner Erbanlagen
in den Populationen.
Die natürliche Auslese ist
nach neodarwinistischer
Auffassung ein Wettbewerb
zwischen den verschiedenen Anlagen für die
gegebene Eigenschaft.
Dabei konkurrieren Allele
um einen bestimmten
chromosomalen Locus.
1.6 Schema der Proteinbiosynthese anhand der
in der DNA verankerten
genetischen Information.
Auge fassen, betrachten wir etwas, das sich kaum oder nur selten ändert, und
sicherlich nicht bei jedem Fortpflanzungsakt. Es handelt sich also weniger um
die Auslese zwischen den Individuen, sondern um die Auswahl zwischen verschiedenen Anlagen in ganzen Populationen, denn verschiedene Individuen
tragen dieselben Anlagen in sich (wenn auch in verschiedenen Kombinationen),
und unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung einer bestimmten Anlage ist es
eigentlich egal, in welchem Körper sie sich gerade befindet. Wenn wir uns mit
der natürlichen Selektion auf dieser Ebene beschäftigen wollen, müssen wir die
Ausbreitung, Konkurrenz und Überdauerung von nichtveränderlichen oder
sich sehr langsam ändernden Anlagen in den Populationen untersuchen. Das
war die Geburtsstunde der Populationsgenetik, die Evolution vor allem als
Änderung in den prozentualen Anteilen einzelner Anlagen in den Populationen
betrachtet. Die Populationsgenetik wurde zu einer wichtigen Gedankenquelle
des Neodarwinismus.
Die natürliche Auslese ist nach der neodarwinistischen Auffassung ein Wettbewerb zwischen den verschiedenen Anlagen für eine gegebene Eigenschaft. Es
konkurrieren allerdings nur solche Anlagen, die wechselseitig alternativ sind, die
sich also gegenseitig ersetzen können. Diese alternativen Anlagen nennen wir
Allele, und der Satz von sich gegenseitig vertretenden Allelen, die verschiedene
Versionen einer Eigenschaft oder Funktion bestimmen, ist ein Gen. Das, wodurch
sich die Allele eines Gens unterscheiden, sind die Mutationen; eine Mutation
kann aus einem Allel ein anderes Allel machen. So schließt z. B. das „Gen für
die Blütenfarbe der Rose“ mehrere konkurrierende Allele ein, z. B. „das Allel
für gelbe Blütenfarbe“ und „das Allel für rote Blütenfarbe“. Ihre Konkurrenz
besteht darin, real existierenden Rosen, von denen es auf der Welt natürlich eine
endliche Anzahl gibt, die entsprechende Ausprägungsform aufzuzwingen.
Heute wissen wir, dass wir Gene räumlich identifizieren können, nämlich
als bestimmte Loci (Orte) auf den Chromosomen, und dass die Allele, also
verschiedene Versionen eines Gens, deshalb konkurrieren, weil an einem Locus
eines Chromosoms nicht mehr als eine Variante der jeweiligen Anlage vorhanden
sein kann. (Hier stoßen wir zum ersten Mal auf ein bedeutendes terminologisches Problem – unter dem Begriff „Gen“ versteht man in der gegenwärtigen
1.4 Genetik und Neodarwinismus
27
| 1.11 |
Genetisches Repetitorium
Nach der klassischen Vorstellung beginnt Evolution
mit einer zufällig entstandenen, durch Mutationen
hervorgerufenen Variabilität. Es handelt sich um
kleine Änderungen im „genetischen Material“, also
im Molekül der Desoxyribonucleinsäure (DNA), das
wir in jedem Zellkern finden. Dieses Kettenmolekül besteht aus vier verschiedenen Bausteinen,
den Nucleotiden (konkret Adenosin-, Cytidin-,
Guanosin- und Thymidin-Monophosphat). In der
Reihenfolge dieser Nucleotide ist die Information
enthalten, vergleichbar mit der Information, die in
der Anordnung der Zahlen einer Telefonnummer
verborgen ist. Eine kleine Abweichung von der richtigen Reihenfolge genügt, und Sie erhalten keine
Verbindung zum gewünschten Gesprächspartner.
Diese genetische Information wird in eine Reihenfolge von Aminosäuren übersetzt, die schließlich
die Proteine, also Eiweiße, bilden. Die Übersetzung
erfolgt so, dass jeder konkreten Dreiergruppe der
Nucleotide (Basentriplett oder Codon) genau eine
Aminosäure entspricht (die Umkehrung gilt jedoch
nicht, da dieselbe Aminosäure durch verschiedene
Codons bestimmt werden kann). Der eigentliche
Prozess der Proteinherstellung besteht aus zwei
Schritten: der Transkription (der Synthese von Ribonucleinsäure [RNA] – also eines DNA-ähnlichen
Zwischenprodukts – , aufbauend auf der DNA-Information) und der Translation (der Synthese eines
völlig anderen Produkts – nämlich des Proteins –,
aufbauend auf der RNA-Information) (Abb. 1.6).
Das nichtzufällige, systematische Schema, mit
dem die Information aus den Nucleinsäuren in die
Information der Proteine übersetzt wird, ist der
genetische Code, der bei allen Organismen bis auf
einige geringe Abweichungen identisch ist. Daher
ist es Unsinn, was man immer wieder in Zeitungen
liest, dass Wissenschaftler den genetischen Code
des Menschen oder des Reises geknackt haben
bzw. zu knacken versuchen. Der genetische Code,
also die Art der Übersetzung aus der Sprache der
Nucleinsäuren in die Sprache der Proteine ist seit
Langem bekannt, und das, womit sich die Biologen
heutzutage beschäftigen, ist die konkrete Sequenz
der Nucleotide im Genom des Menschen oder
des Reises. Der genetische Code ist ein einfaches
Nucleotid-Aminosäuren-Wörterbuch, in dem es
nichts zu lösen gibt. Dagegen stellen die Genome
der Millionen von Arten von Organismen Millionen
von unterschiedlich langen Büchern dar, von denen
bislang nur ein paar Hundert, üblicherweise die kürzeren, gelesen, jedoch nicht verstanden wurden.
Proteine (Eiweiße) sind große und komplizierte
Moleküle, die nicht nur eine der Hauptkomponenten
der Zellen und der zwischenzellulären Substanz
darstellen, sondern insbesondere auch die notwendigen biochemischen Reaktionen ermöglichen,
die ohne die Beteiligung von Eiweißkatalysatoren
(Enzymen) praktisch nicht ablaufen könnten. Weiterhin bilden Proteine auch die Zellrezeptoren,
also Fenster, durch die bestimmte Moleküle aus
der Außenwelt kontrolliert in die Zelle eintreten
(bzw. an ihrem Zutritt gehindert werden) oder sie
fungieren als Signalmoleküle, die Informationen
innerhalb der Zelle oder aus der Zelle nach außen übertragen. Ohne Proteine kann also kaum
irgendein biologischer Vorgang ablaufen, und die
Funktion der Proteine, die unmittelbar durch ihre
Aminosäurenstruktur bestimmt ist, geht aus der
genetischen Information der DNA hervor.
In jeder lebenden Zelle (und der menschliche
Körper besteht aus Billionen lebender Zellen) finden
wir DNA, die bei der Zellteilung repliziert werden
muss. Der alte DNA-Strang wird im Verlauf der
Replikation zum Muster für die Synthese zweier
neuer Stränge. Beim Kopieren der Information
schleichen sich jedoch gelegentlich Fehler ein. Wie
schnell das geht, können Sie leicht ausprobieren,
indem Sie versuchen das Alte Testament oder
den Faust fehlerfrei abzuschreiben. Und da in den
nächsten Replikationsrunden die kopierte und somit
schon leicht veränderte Version als Muster dient,
häufen sich die Kopierfehler allmählich an. Diese
Fehler nennen wir Mutationen und sie treten rein
zufällig auf. (Die Mutationen können auf der Veränderung der Abfolge der Nucleinbasen oder der
Chromosomenstruktur oder -zahl beruhen.) Ändern
Mutationen die Struktur des entstehenden Proteins
so weit, dass sich auch seine Funktion ändert, so
unterliegt diese Funktionsänderung ebenfalls dem
Zufall. Manchmal wird die Funktion des Proteins
dadurch verschlechtert, manchmal verbessert; oft
ändert sich zwar die Struktur, aber die Funktion
bleibt unverändert. Entsprechend können wir die
Mutationen in negative, positive und neutrale einteilen. Neben den Mutationen, die ganz spontan
entstehen, kommen jedoch auch solche Mutationen
vor, die durch Umwelteinflüsse (z. B. Chemikalien
oder Strahlung) induziert werden. Aber auch diese
Mutationen sind in dem Sinne zufällig, als dass
sie nicht zielgerichtet zur besseren Anpassung des
betroffenen Organismus an die Umwelt führen, die
für die Auslösung der Mutation verantwortlich ist.
28
1 Einleitung
Die Eigenschaften entstehen nicht völlig aus dem
Nichts, sondern aufgrund
einer überdauernden Information, die vererblich ist.
Evolutionsbiologie manchmal das „Allel“, manchmal den „Locus“ und manchmal
noch etwas anderes). Die „Konkurrenz“ von verschiedenen Allelen desselben
Gens ist natürlich kein aktiver oder sogar absichtlich geführter Kampf, es ist
lediglich unsere Beschreibung der Tatsache, dass unterschiedliche Allele in der
Besetzung von verfügbaren Loci unterschiedlich erfolgreich sind, und dass sie
daher unterschiedlich lange in der Population bleiben.
Dass verschiedene Erscheinungen (z. B. Merkmale, Funktionen oder Verhaltensweisen) unterschiedlich lange überleben, und dass dies oft auf Kosten der
Konkurrenten erfolgt, ist ein ganz allgemeines Prinzip, das alle Erscheinungen,
nicht nur die Allele, betrifft. Allerdings ist die Mehrheit der Erscheinungen in
der Biologie ohnehin von kurzer Dauer und kann langfristig nicht überleben,
weil zum Leben auch der Tod eines Individuums gehört. Im Prinzip haben alle
Individuen denselben Lebenslauf: Sie entstehen, vermehren sich und sterben
anschließend – Individuen haben keine nennenswerte Geschichte. Formen,
Farben, Verhalten und konkrete Kombinationen der Allele in den Zellen gehen
mit dem Tod eines Individuums unter. In den einzelligen Stadien, den Keimzellen (Gameten) und im befruchteten Ei (Zygote), die vielzellige Organismen
durchlaufen, finden wir weder Formen, Farben noch Verhalten der erwachsenen
Individuen, und während der individuellen Entwicklung (Ontogenese) müssen
all diese Eigenschaften erneut entstehen. Die Eigenschaften sind dabei vererblich, sodass sie offensichtlich nicht ganz aus dem Nichts entstehen, sondern
aufgrund einer überdauernden Information. Daher muss uns interessieren, welche
Strukturen oder Informationen den Tod eines Individuums überleben, was also
| 1.12 |
Meiose, Rekombination, Segregation
Die Meiose, auch Reduktions- bzw. Reifeteilung genannt, ist ein Vorgang, bei dem sich (ausschließlich)
die Keimzellen teilen. Bei derTeilung kommt es zur
Halbierung des diploiden Chromosomensatzes,
sodass anschließend ein haploider Satz vorliegt.
Durch die Verschmelzung zweier haploider Gameten entsteht wieder eine diploide Zelle, die Zygote.
Die Meiose ist somit die Voraussetzung jeder sexuellen Fortpflanzung, denn ohne sie würde jede
nachfolgende Befruchtung zur Verdopplung des
Chromosomensatzes führen. Die Meiose ist auch
die Grundlage der Entstehung der genetischen Variabilität und Amphimixis (= Mischung von Allelen).
Sie ist durch zwei Prozesse gekennzeichnet: die
genetische Rekombination und die Segregation.
Bei der Rekombination kommt es bei zwei homologen Chromosomen an derselben Stelle zum
Bruch der DNA-Moleküle. Die beiden Bruchstücke
können sich wieder korrekt verbinden, oder aber
der Faden des einen Chromosoms verbindet sich
mit dem Faden des anderen Chromosoms; in
diesem Fall kommt es zur Rekombination. Das
rekombinierte Chromosomenpaar wird sich nun in
der Kombination seiner Allele von den ursprünglichen Chromosomen unterscheiden. Vor der
Rekombination konnten wir sagen, dass ein Chromosom vom Vater und das andere von der Mutter
stammt. Dagegen enthalten die rekombinierten
Chromosomen jeweils einen Teil der Allele vom
Vater und einen Teil der Allele von der Mutter. Bei
der Segregation trennen sich die Chromosomenpaare und die homologen Chromosome wandern
zu den gegenüberliegenden Polen der Zelle. Welches Chromosom des jeweiligen Paares zum einen
oder zum anderen Pol der Zelle wandert, bestimmt
der Zufall. Auch wenn zuvor keine Rekombination
stattgefunden hätte, würde allein die Segregation
bereits dafür sorgen, dass jede der neu entstandenen Zellen eine andere Kombination von Allelen
trägt als jedes der beiden Elternteile.
1.4 Genetik und Neodarwinismus
29
genau von einer Generation an die nächste übergeben wird, was überhaupt in
Millionen und Milliarden Jahren der Geschichte der Organismen irgendwie
zum Ausdruck gebracht werden kann.
Bei den sich geschlechtlich fortpflanzenden Organismen sind dies die einzelnen
Allele. Die Genome dieser Organismen, also die Sätze der von den Vätern und
Müttern vererbten Allele, werden nämlich nicht im Ganzen an die Nachkommen
weitergegeben. Das Genom der jeweiligen Elternteile wird während der Bildung
der Keimzellen in einem Prozess, den wir Rekombination nennen, „aufgebrochen“, die ursprünglich väterlichen und die ursprünglich mütterlichen Allele
trennen sich voneinander und gehen auf die verschiedenen Nachkommen über,
allerdings in neuen Kombinationen ( Box 1.12). Daher ist jeder von uns
genetisch einzigartig: Unsere Allele haben wir von unseren Eltern geerbt, aber
1.7 Chronologische Darstellung der Geschichte
der Evolutionsbiologie
und ihrer Hauptrepräsentanten. Länge und
Position der einzelnen
Balken entsprechen den
Lebensdaten der jeweiligen
Wissenschaftler. Der rote
Vertikalstrich kennzeichnet
das Jahr der Publikation
der bedeutenden Entdeckungen bzw. Konzepte.
30
1 Einleitung
Hugo de Vries
Lebensdaten:
1848–1935
Nationalität:
niederländisch
Leistung:
Botaniker, Genetiker, Pflanzenphysiologe. Einer der
Wiederentdecker der von G. Mendel aufgestellten Vererbungsregeln. Mit
seinen 1901 und 1903 erschienenen Schriften zur Mutationstheorie gab er
der Evolutionsforschung neue Impulse. In ihnen postulierte er, dass eine
neue Art außer durch graduelle Evolution auch sprunghaft entstehen kann
(Saltationismus). Was de V. als „Mutation“ bezeichnete, entspricht jedoch
nicht ganz dem heutigen Begriff der genetischen Mutation.
William Bateson
Lebensdaten:
1861–1926
Nationalität:
britisch
Leistung:
Genetiker und Hauptpopularisierer der Ideen von
Gregor Mendel. B. prägte die Begriffe „Genetik“, „Epistase“, „Homeosis“.
Zusammen mit Reginald Punnett entdeckte er die Genkopplung, also das
Phänomen, dass manche durch Gene kodierte Merkmale stets gemeinsam
vererbt werden. Wie de Vries war er ein Vertreter des Saltationismus.
Thomas Hunt Morgan
Lebensdaten:
1866–1945
Nationalität:
US-amerikanisch
Leistung:
Genetiker, Embryologe. Durch Kreuzungsversuche und
Studien von Mutationen bei der Taufliege Drosophila melanogaster klärte
M. die grundlegende Struktur der Chromosomen auf. Er zeigte, dass Gene
hintereinander auf den Chromosomen liegen und ermittelte ihre Reihenfolge
und Abstände zueinander. Der genetische Abstand zweier Loci auf einem
Chromosom wird in der nach ihm benannten Einheit Centimorgan bestimmt
und bildet die Grundlage für die Chromosomenkarten (Genkarten). 1933
erhielt er den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Dank seiner Arbeit
wurde Drosophila zu einem Modellorganismus in der Genetik.
Sir Ronald Aylmer Fisher
Lebensdaten:
1890–1962
Nationalität:
britisch
Leistung:
Einer der bedeutendsten theoretischen Biologen,
Genetiker, Evolutionstheoretiker und Statistiker des 20. Jh. und einer der
Mitbegründer der Populationsgenetik. F. trug wesentlich zur Entstehung
des Neodarwinismus bei. Er führte u. a. das Maximum-Likelihood-Prinzip
und das statistische Verfahren der Varianzanalyse (ANOVA, ANalysis Of
VAriance) ein. Nach ihm ist die sogenannte F-(Fisher)Verteilung benannt. Er
entwickelte Konzepte zur sexuellen Selektion, zur Mimikry und zur Evolution
der Dominanz. F. zeigte, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutation die
Fitness des Organismus erhöhen wird, mit dem Ausmaß der Mutation sinkt.
Er bewies, dass größere Populationen mehr Variation tragen und damit höhere Überlebenschancen
haben als kleinere. Einflussreich war sein Buch The Genetical Theory of Natural Selection (1930), das
eine mathematische Grundlage für die Evolutionsgenetik lieferte.
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