Genetik des erblichen Mammakarzinoms

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M E D I Z I N
DIE ÜBERSICHT
Elke Holinski-Feder1
Oliver Brandau1
Carolin Nestle-Krämling2
Popak Derakhshandeh-Peykar1
Jan Murken1
Michael Untch2
Alfons Meindl1
Genetik des
erblichen
Mammakarzinoms
Grundlagen – Forschung – Diagnostik
ZUSAMMENFASSUNG
Stichwörter: BRCA1, BRCA2, Ätiologie, Epidemiologie
Die beiden Tumorsuppressorgene BRCA1 und BRCA2
sind ursächlich an der Entstehung des familiär gehäuft auftretenden Mammakarzinoms beteiligt. Mutationen im BRCA1 Gen werden in etwa 80 Prozent aller Familien mit
Mamma- und Ovarialkarzinom gefunden. Ferner müssen
noch andere, bislang unbekannte Gene an der Entstehung
von Mammakarzinomen beteiligt sein. Die BRCA1- und
BRCA2-Proteine sind an der Reparatur von DNA-Doppel-
strangbrüchen und an der Regulation
der Zellteilung beteiligt. In beiden Genen können einzelne Mutationen mit einem unterschiedlichen Erkrankungsrisiko für das Mammakarzinom und mit
einer unterschiedlichen Häufigkeit bezüglich eines Ovarialkarzinoms assoziiert sein. Die Korrelation molekulargenetischer und klinischer Daten soll zu differenzierten Risikoziffern und individuellen Vorsorge- und Behandlungskonzepten führen.
Key words: BRCA1, BRCA2, etiology, epidemiology
The tumor suppressor genes BRCA1 und BRCA2 are
involved in the etiology of familial breast cancer. Mutations
in the BRCA1 gene are found in 80 per cent of families with
breast and ovarian cancer. However, other, unknown
genes are involved in families with isolated breast cancer.
BRCA1 and BRCA2 gene products are involved in the
DNA repair mechanism and in the regulation of
cell proliferation. Mutations in both genes seem
to be associated with a variable risk for breast cancer and a
variable frequency for ovarian cancer. The correlation of
molecular and clinical data should result in appropriate
genetic counselling and individual tumor prevention and
tumor therapy.
G
enmutationen im Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko für ein Mamma- oder Ovarialkarzinom waren in den letzten
Jahren Gegenstand intensiver Forschung. In der medizinischen Fachliteratur wurden mehr als 1 000 Artikel
zum Thema publiziert. Die BRCA1und BRCA2- (BRCA: breast cancer)Gene waren hierbei die am häufigsten
zitierten Vertreter. Die Lokalisation
und Isolierung der beiden Gene eröffnete zum einen neue Wege in der Diagnostik, zum anderen vielfältige Forschungsansätze zum besseren Verständnis der Tumorentstehung, der
Tumorprogression und hinsichtlich einer spezifischen Tumortherapie.
Mutationen in
Proto-Onkogenen und
Tumorsuppressorgenen
In der molekulargenetischen Pathogenese der Tumorentstehung werden zwei Klassen von Genen unterschieden: Onkogene und Tumorsuppressorgene. Onkogene entstehen aus
A-600
Proto-Onkogenen, die ein normaler
Bestandteil des menschlichen Genoms
sind. Erhält ein Proto-Onkogen durch
eine Mutation eine zusätzliche oder eine neue Funktion, die es in die Lage
versetzt, gesunde Zellen zu transformieren, so bezeichnet man es als Onkogen. Für die Initiation der Tumorentstehung ist die somatische Mutation in
einem Allel des Proto-Onkogens ausreichend. Dieser Transformationsweg
findet sich häufig bei der Entstehung
sporadischer Tumoren, bisher sind
über 30 verschiedene Onkogene isoliert und charakterisiert worden (11).
Auch Tumorsuppressorgene sind
ein normaler Bestandteil in unserem
Genom. Sie haben die Aufgabe, die
Zelle vor einer unkontrollierten Zellteilung zu schützen. Diese Schutzwirkung geht verloren, wenn beide Allele
eines Tumorsuppressorgens in einer
1Abteilung
Medizinische Genetik (Leiter: Prof.
Dr. med. Jan Murken), Klinikum Innenstadt, Kinderpoliklinik der LMU, München
2Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und
Geburtshilfe (Direktor: Prof. Dr. med. H. Hepp),
Klinikum Großhadern der LMU, München
(44) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998
SUMMARY
Zelle funktionslos sind (Grafik 1).
Mutationen in diesen Genen sind
häufiger an der Entstehung der
hereditären Tumoren beteiligt, wobei die erste Mutation in einem Allel in Form einer Keimbahnmutation von einem betroffenen Elternteil
vererbt wird. Wird in einer Zelle
durch eine somatische Mutation
auch das zweite Allel funktionslos,
so kann es zur Tumorentstehung
kommen (Grafik 1, Tabelle 1). Mutationen in Protoonkogenen beziehungsweise Tumorsuppressorgenen
stehen am Anfang der Tumorentstehung, für die Tumorprogression sind
vermutlich Mutationen in verschiedenen anderen Genen notwendig.
Es gibt mindestens
zwei Klassen von
Tumorsuppressorgenen
Ursprünglich hatte man die Vorstellung, daß Tumorsuppressorgene in
erster Linie an der Regulation der
Zellteilung beteiligt sind. Zunehmend
stellt sich aber heraus, daß Mutationen
M E D I Z I N
DIE ÜBERSICHT
in Genen, die für DNA-Reparaturenzyme kodieren, ebenfalls zu Tumorerkrankungen prädisponieren. Solche
Gene müssen somit auch zur Klasse
der Tumorsuppressorgene gerechnet
werden.
Mutationen in DNA-Reparaturgenen führen vermutlich indirekt zur
Tumorentstehung. Eine Zelle ohne
funktionierende DNA-Reparatur akkumuliert Mutationen, unter ande-
iert als Keimbahnmutationen in Regulationsgenen. Denn selbst vor dem
Hintergrund eines defekten DNAReparatursystems ist das Ereignis von
drei zusätzlichen Mutationen in einer
Zelle unwahrscheinlicher als das Ereignis nur einer zusätzlichen Mutation
(Tabelle 1).
Die Genese sporadischer und
hereditärer Tumorerkrankungen läßt
sich jedoch nicht streng trennen. Ei-
nerseits findet man Keimbahnmutationen in Proto-Onkogenen auch bei
den erblichen Tumorerkrankungen,
wie beispielsweise in RET-Proto-Onkogenen bei der multiplen endokrinen
Neoplasie (Tabelle 1). Andererseits
führen somatische Mutationen in beiden Allelen eines Tumorsuppressorgens zum Beispiel bei Neurofibromatose zum Auftreten einer sporadischen Tumorerkrankung (Tabelle 1).
Grafik 1
BRCA1 und BRCA2 sind
Tumorsuppressorgene
Gesunde Frau
Zwei intakte Allele von
BRCA1 in allen Zellen.
Anlageträgerin
Ein intaktes und ein
mutiertes Allel
in allen Zellen.
rem auch in Genen, die an der Regulation der Zellteilung beteiligt sind.
Ein Ausfall dieser Regulation führt zu
einer unkontrollierten Zellteilung
und damit zur Tumorentstehung (13).
Bei einer prädisponierenden Keimbahnmutation in einem DNA-Reparaturgen müssen zur Tumorentstehung noch das zweite Allel des DNAReparaturgens sowie beide Allele eines Regulationsgens eine Mutation
erfahren. Tritt die prädisponierende
Keimbahnmutation jedoch in einem
Regulationsgen auf, kann bereits eine
zweite Mutation zur Tumorentstehung führen. Aufgrund des komplexeren Mutationsweges sind Keimbahnmutationen in Reparaturgenen
vermutlich mit einer geringeren Erkrankungswahrscheinlichkeit assozi-
Erkrankte Frau
Trägerin einer Keimbahnmutation
in allen Zellen.
Zusätzlich ist eine somatische
Mutation in einer Zelle
des Brustgewebes aufgetreten.
Auch wenn in allen Zellen die
prädisponierende Keimbahnmutation
in einem der beiden Allele der Tumorsuppressorgene BRCA1 oder
BRCA2 vorhanden ist, werden Tumoren nur in ganz bestimmten Geweben
beobachtet. Mutationen im BRCA1Gen führen zu einem gegenüber der
Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhten Risiko für ein Mamma- beziehungsweise Ovarialkarzinom und zu
einer geringen Risikoerhöhung für
ein Kolonkarzinom und ein Prostatakarzinom.
Ein statistisch signifikant gehäuftes Auftreten von Tumoren in anderen Geweben wird nicht beobachtet.
Mutationen im BRCA2-Gen scheinen mit einem breiteren Tumorspektrum assoziiert zu sein. Hierzu
gehören neben dem Mamma- und
Ovarialkarzinom vor allem Pankreaskarzinome, Tumoren des Oro-
Grafik 2
BRCA
1/2-Mutationen: Genotyp
Genotyp/Phänotyp-Korrelation
BRCA1/2-Mutationen:
– Phänotyp Korrelation
BRCA1-Gen:
Exon 1–10
Exon 11
Exon 12–24
OC
BC
BRCA2-Gen:
Exon 1–9
Exon 10
Exon 11
Exon 12–27
OC
BC
BC = Mammakarzinom;
Mammakarzinom;OC
OC==Ovarialkarzinom
Ovarialkarzinom
(Gaytheretetal,al.,1995
1995)
Gayther
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (45)
A-601
M E D I Z I N
DIE ÜBERSICHT
pharynx, Kolonkarzinome und Lymphome (8). Bei Männern mit Mutationen im BRCA2-Gen ist das Auftreten
von Mammakarzinomen gehäuft,
neue Untersuchungen zeigen dies jedoch auch in Familien mit Mutationen
im BRCA1-Gen (18).
Insgesamt sind für die BRCA1beziehungsweise BRCA2-Gene bislang über 100 verschiedene Mutationen beschrieben worden. Eine Zu-
sammenfassung der Daten erfolgt
weltweit in der BIC-Datenbank unter
http://www.nchgr.nih.gov/dir/lab
BRCA1 und BRCA2 haben
Reparatur- und
Regulationsfunktion
Für Gene wie BRCA1 und
BRCA2, die sehr groß sind (7 800 be-
ziehungsweise 11 300 Nukleotide und
1 863 beziehungsweise 3 418 Aminosäuren) (14, 22) und vermutlich über
mehrere funktionelle Domänen verfügen, ist es kompliziert, die für die
Tumorentstehung relevanten Funktionen herauszuarbeiten, zumal sie
hinsichtlich ihrer Nukleotidabfolge
weder zueinander noch zu anderen
Genen eine deutliche Ähnlichkeit zeigen. In jüngsten Arbeiten konnte je-
Tabelle 1
Beteiligung von Tumorsuppressorgenen und Onkogenen an der Entstehung erblicher Tumorerkrankungen
Tumorerkrankung Mutationstyp
Erkrankung
Genfunktion
Erblich
Familiäres nicht-polypöses Kolonkarzinom
Muir-Torre Syndrom
Mammakarzinom
Ataxia teleangiectasia
Reparaturgene:
hMLH1, hMSH2,
PMS1, PMS2
hMSH2
BRCA1, BRCA2
ATM
KM, 1. SM, 2. SM, 3. SM
Xeroderma pigmentsum
Erblich
Erblich
KM, 1. SM
KM
1. SM, 2. SM
AD
Kolon, Uterus
AD
AD
AR
Kolon, Haut
Brust, Ovarien
Lymphatisches
Organ, Brust
Haut
AR
AD
Familiäre adenomatöse
Polyposis Coli
Retinoblastom
von Hippel-Lindau
APC
AD
RB-1
VHL
AD
AD
Wilms-Tumor
Neurofibromatose Typ 1
Neurofibromatose Typ 2
Tuberöse Sklerose
Familiäres Melanom
Cowden-Syndrom
WT-1
NF1
NF2
TSC1, TSC2
CDKN2A
PTEN
AD
AD
AD
AD
AD
AD
Onkogene:
RET
AD
RET
AD
Schilddrüse,
Nebenniere,
Nebenschilddrüse
Schilddrüse
PTC
AD
Haut
Neumutation
Neumutation
Neumutation
verschiedene
Gewebe
peripheres NS
Multiple endokrine
Neoplasie Typ IIa
Verschiedene Tumoren
Regulationsgene:
p53
Neurofibromatose Typ1
NF1
Tuberöse Sklerose
TCS1, TSC2
KM: Keimbahnmutation; SM: Somatische Mutation; AD: Autosomal dominant; AR: Autosomal rezessiv
(Kinzler und Vogelstein, 1997; Hunter, 1997)
A-602
Betroffene
Organe
Regulationsgene:
p53
Li-Fraumeni-Syndrom
Familiäres medulläres
Schilddrüsenkarzinom
Gorlin-Syndrom
Nicht erblich
ERCC1-6, XPA,
XPC, XPE,
HHR23A,
HHR23B
Erbgang
(46) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998
Blutbild,
Organe,
Brust, Bindegewebe, Knochen
Kolon
Retina
Niere, ZNS,
Retina
Niere
peripheres NS
ZNS
Haut, ZNS
Haut
Brust, Haut,
Schilddrüse
Haut, ZNS
M E D I Z I N
DIE ÜBERSICHT
doch für die Genprodukte von
BRCA1 und BRCA2 in zwei Funktionen eine Verwandschaft gezeigt werden.
Die erste funktionelle Verwandtschaft bezieht sich auf ihre Reparatureigenschaft. BRCA1- und BRCA2-Proteine können an Rad51, einem Protein, das an der Reparatur
von Brüchen im DNA-Doppelstrang
beteiligt ist, binden (17, 19). Diese
Mutationen im BRCA1-Gen
sind in etwa 80 Prozent
krankheitsverursachend
Erste Studien zur Häufigkeit von
BRCA1- und BRCA2-Mutationen
wurden in Form von Kopplungsanalysen durchgeführt. Hierbei wurde die
Vererbung des BRCA1-Gens innerhalb von Familien mit mindestens vier
Tabelle 2
Familiärer Brustkrebs – BRCA-Gene – Kopplungsdaten
Familien
BRCA1
BRCA2
BRCAX
4–6 BC
vor dem 60. Lebensjahr
32
9
59
mehr als 6 BC
vor dem 60. Lebensjahr
19
66
15
4 oder mehr BC
vor dem 60. Lebensjahr
und ein OC
80
15
5
4 oder mehr BC
vor dem 60. Lebensjahr
und 2 oder mehr OC
88
12
0
3 oder mehr OC
50
0
50
BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom; Häufigkeiten der nachgewiesenen Kopplungen in %(Easton, 1996)
Wechselwirkung scheint die Reparaturfunktion von Rad51 zu unterstützen.
Die zweite funktionelle Verwandschaft von BRCA1 und BRCA2
bezieht sich auf ihre Regulationseigenschaft (2, 15). Für beide Genprodukte konnten transkriptionsaktivierende Domänen nachgewiesen werden. Bei solchen Transkriptionsfaktoren handelt es sich um Proteine, die
positiv oder negativ regulierend auf
die Transkription eines oder mehrerer Gene wirken. Das BRCA1-Protein beeinflußt vermutlich Gene, die
an der Zellteilung beteiligt sind, denn
eine zelluläre Überexpression von
BRCA1-Protein in vitro führt zu einer Drosselung der Zellteilung (10).
Mutationen, die zu einem Funktionsverlust dieser transkriptionsaktivierenden Domänen führen, konnten
für beide Gene bei Mammakarzinompatientinnen nachgewiesen werden. In welchem Umfang diese beiden Funktionen an der Tumorentstehung beteiligt sind, muß noch geklärt
werden.
Betroffenen mit Mamma- und/oder
Ovarialkarzinom analysiert (5). Haben alle Betroffenen einer Familie das
gleiche Allel geerbt, deutet dies auf
die ursächliche Beteiligung des Gens
am Krankheitsgeschehen.
Differenziert man die in der
Kopplungsanalyse untersuchten Familien hinsichtlich ihrer Klinik, so erkennt man, daß bei etwa 80 Prozent
der Familien mit Mamma- und Ovarialkarzinom der BRCA1-Genort involviert ist. In Familien, in denen mehr als
sechs Mammakarzinome aufgetreten
sind, ist das BRCA2-Gen in zirka 66
Prozent der Fälle involviert. Bei 59
Prozent der Familien, in denen nur
Mammakarzinome, und bei 50 Prozent der Familien, in denen nur Ovarialkarzinome aufgetreten sind, konnte
keine Kopplung zu BRCA1 oder
BRCA2 nachgewiesen werden, so daß
vor allem an Hand dieser Familien
nach den Genorten von anderen Tumorsuppressorgenen (BRCAX) gesucht werden muß (Tabelle 2) (8).
Man sollte aber auch Familien
mit nur zwei betroffenen Frauen
berücksichtigen. In diesen Familien
ist eine genetische Prädisposition
zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber
auch nicht ausgeschlossen. Mit den
Daten einer BRCA1-Mutationsanalyse in 169 Familien mit zwei oder
mehr Betroffenen wurde berechnet,
mit welcher Wahrscheinlichkeit bei einer bestimmten familiären Belastung
in Abhängigkeit vom durchschnittlichen Diagnosealter der Probandin eine Mutation im BRCA1-Gen gefunden wird (Tabelle 3) (4).
Im Rahmen solcher Analysen
wurden eine Vielzahl verschiedener
Mutationen gefunden. Der prozen-
Tabelle 3
Wahrscheinlichkeit für BRCA1-Mutationen in Mammakarzinomfamilien
Diagnosealter
für BC
< 35
35–39
40–44
45–49
50–54
55–59
> 59
Vorhergesagte Wahrscheinlichkeit für eine
BRCA1-Mutation (in Prozent)
Familien mit
isoliertem
BC
Familien mit
BC und OC
Familien mit
BC und OC
bei einer
Person
Familien mit
mehreren
BC und OC
eine Person
mit beiden
Tumoren
17,4
11,7
7,7
5,1
3,2
2,1
1,3
55,1
43,5
32,5
23,4
16,2
10,8
7,1
77,1
67,8
57,1
54,5
34,6
25,1
17,3
96,6
92,4
88,5
82,9
75,4
65,9
54,9
BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom (Couch et al., 1997)
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (47)
A-603
M E D I Z I N
DIE ÜBERSICHT
tuale Anteil der einzelnen Mutationen schwankt in den verschiedenen
Populationen jedoch erheblich, wie
zum Beispiel bei den Askenasim, wo
im wesentlichen nur zwei Mutationen
gefunden werden, BRCA1-185delAG und BRCA2-6174delT (16). Dies
läßt sich durch sogenannte „founder“Mutationen erklären, die unter Umständen vor mehreren hundert Jahren
aufgetreten sind, seither über viele
Generationen weitervererbt wurden
und daher für viele familiär gehäuft
auftretende Mammakarzinomfälle in
einer Population verantwortlich sind.
Jede Population hat vermutlich ihr
spezifisches „Mutationsprofil“ für die
BRCA1- und BRCA2-Gene. Neumutationen in Form von Keimbahnmutationen sind selten.
185delAG, 1,5 Prozent trägt die Mutation BRCA2-6174delT (16). 43 Prozent der familiären Mammakarzinomerkrankungen werden durch die
Mutation BRCA1-185delAG verursacht, wohingegen nur 13 Prozent
durch BRCA2-6174delT zu erklären
sind. Rechnerisch ergibt sich für
die Mutation BRCA1-185delAG ein
etwa fünffach höheres ErkrankungsriGrafik 3
Erkrankungswahrscheinlichkeit
Erkrankungswahrscheinlichkeit
Unterschiedliches
Erkrankungsrisiko bei
einzelnen Mutationen
Verschiedene Mutationen führen
vermutlich zu einer unterschiedlich
starken Funktionseinschränkung beispielsweise des BRCA1-Proteins. Es
ist anzunehmen, daß eine bestimmte
Restfunktion mit einer bestimmten
Penetranz und damit mit einer spezifischen Erkrankungswahrscheinlichkeit
assoziiert ist. Zu diesem Aspekt liegen
erste Ergebnisse wiederum von den
Askenasim vor. Ein Prozent der Bevölkerung trägt die Mutation BRCA1-
Risiko % Mammakarzinom
Risiko % Ovarialkarzinom
100
100
50
50
10
10
40
50
60
Easton et al., 1993
70
siko als für die Mutation BRCA26174delT. Einzelne Mutationen scheinen nicht nur mit einem spezifischen
Erkrankungsrisiko, sondern auch mit
einem spezifischen Turmorspektrum
Familie 43
Familie 71
I
I
2
3
1
2
II
II
1
4
1
2 OC 67 3 BC 45 4 OC 52/BC 32
III
III
1
2
IV
1
2 BC 28 3 BC 71 4
IV
1
2 BC 31
1
2
V
1
Betroffene Familienmitglieder sind dunkelgrau schattiert, obligate Überträger sind mit einem Punkt gekennzeichnet. BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom. In Familie 43 treten relativ wenige Tumorerkrankungen
auf, da die Mutation zweimal über männliche Familienmitglieder vererbt wurde.
A-604
50
60
70
Die Risikoziffern nach Easton et al. gelten für Familien, in denen nur Mammakarzinome aufgetreten sind. Die Zahlen
nach Whittemore et al. wurden für Familien, in denen Mamma- und Ovarialkarzinome aufgetreten sind, erhoben.
Familien mit
mit BRCA1-Mutation
BRCA1-Mutation
2 BC 57
40
Whittemore et al., 1997
Grafik 4
1
assoziiert zu sein. Die Erhebung der
Familienanamnese zeigt in betroffenen Familien eine relativ geringe intrafamiliäre Variabilität hinsichtlich
des zusätzlichen Auftretens von Ovarialkarzinomen. Die Korrelation klinischer und molekulargenetischer Daten deutet darauf hin, daß Mutationen
in den Exons 1 bis 11 des BRCA1Gens mit abnehmender Häufigkeit
(48) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998
und im Exon 11 des BRCA2-Gens
vermehrt mit Ovarialkarzinomen assoziiert sind (Grafik 2) (9).
Solche mutationsspezifischen Daten liegen bislang nur für wenige Mutationen vor. Für die genetische Beratung von Familien, bei denen nur
Mammakarzinome aufgetreten sind,
müssen auch weiterhin die kumulativen Risikoziffern entsprechend den
Daten von Easton et al. 1995 (7) in
Grafik 3 verwendet werden. Für deren
Erhebung sind nur Familien mit vier
oder mehr betroffenen Frauen berücksichtigt worden. Es handelt sich
also um Mutationen mit einer relativ
hohen Penetranz, die zu entsprechend
hohen Risikoziffern führen.
Differenziertere kumulative Risikoziffern liegen für Familien vor, in denen Mamma- und Ovarialkarzinome
aufgetreten sind. Um in diesen Familien auch Mutationen mit einer niedrigen Penetranz zu erfassen, sind auch
Familien mit nur zwei Fällen berücksichtigt worden. Dies führt zu einer
Korrektur der kumulativen Risikozif-
M E D I Z I N
DIE ÜBERSICHT
fern für diese Familien entsprechend
Whittemore et al. (21) in Grafik 3. Die
Auswertung von über 900 Familien ergab für BRCA1-Gendefektträger bis
zum 70. Lebensjahr ein Risiko von 68,6
Prozent (vorher 82 Prozent) für ein
bestimmten BRCA1- oder BRCA2Mutationen in der europäischen Bevölkerung und in Familien mit gehäuftem Auftreten von Mamma- und/oder
Ovarialkarzinomen kann beim derzeitigen Stand der Untersuchungen noch
Tabelle 4
Indikation für eine BRCA1- und BRCA2-Mutationsanalyse
Gruppe
Familienanamnese
1
Mindestens zwei Frauen in der Familie mit BC oder
OC, wobei eine Frau vor dem 50. Lebensjahr erkrankt ist.
2
Eine Frau mit einem beidseitigen BC, wobei die
Erkrankung vor dem 40. Lebensjahr aufgetreten ist.
3
Eine Frau mit einem BC vor dem 30. Lebensjahr, oder einem
OC vor dem 40. Lebensjahr.
4
Ein BC und zwei weitere, andere
Karzinomerkrankungen in der Familie, unabhängig vom Alter.
BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom
Mammakarzinom und ein Risiko von
zirka 22,5 Prozent (vorher 44 Prozent)
für ein Ovarialkarzinom (20).
Häufigkeit von BRCA1und BRCA2-Mutationen
in Deutschland
Nach epidemiologischen Studien
trägt 1 von 250 bis 1 von 1 000 Frauen
in den USA eine Mutation im BRCA1- oder BRCA2-Gen (6). Da es für
die Bundesrepublik Deutschland bisher keine entsprechenden Daten gibt,
scheint es sinnvoll, für Familien entsprechend der Tabelle 4 molekulargenetische Untersuchungen durchzuführen. Nach diesem Indikationsschema sind wir in unserer Arbeitsgruppe
vorgegangen.
Mutationen im BRCA1- und BRCA2-Gen wurden bisher nur in den
Gruppen 1 und 2 gefunden. Innerhalb
der Gruppe 1 findet man die meisten
Mutationen in Familien mit drei oder
mehr Betroffenen. Es werden aber
auch Mutationen in Familien mit nur
zwei betroffenen Familienmitgliedern
gefunden (Grafik 4). Daraus ergibt
sich, daß die Indikation für die Durchführung einer molekulargenetischen
Analyse der BRCA1- und BRCA2Gene auch für Familien mit zwei Betroffenen und nur einem prämenopausalen Tumor gestellt werden sollte.
Über die prozentuale Häufigkeit von
keine Aussage gemacht werden. Es
zeigt sich aber bereits jetzt, daß es
auch in unserer Population zumindest
eine häufiger auftretende Mutation –
BRCA1-5382insC – gibt, so daß man
bei der Durchführung der molekulargenetischen Analyse zuerst nach dieser Mutation suchen sollte (20).
Patientenversorgung
und Forschung sollte
vereinbar sein
Erste Ergebnisse aus Untersuchungen an Familien in Deutschland
weisen darauf hin, daß ein Teil der familiär gehäuft auftretenden Mammakarzinome durch Mutationen im BRCA1- oder BRCA2-Gen verursacht
werden. Aufgrund des geringen Anteils an Neumutationen sollte es möglich sein – durch Untersuchung einer
großen Anzahl von Familien –, für unsere Bevölkerung erstens die tatsächliche prozentuale Beteiligung dieser Gene, zweitens das Mutationsspektrum
und drittens das mit diesen Mutationen
assoziierte klinische Bild zu erfassen.
Unter Berücksichtigung aller Daten
muß versucht werden, differenziertere
Risikoziffern und individuelle Vorsorge- und Therapiekonzepte zu erarbeiten. An Hand der bisherigen Ergebnisse kann man eine vorläufige Indikationsstellung für eine molekulargenetische Untersuchung aussprechen. Um
auch Mutationen mit niedriger Penetranz und einem breiten Tumorspektrum zu erfassen, sollte Familien entsprechend der Tabelle 4 weiterhin eine
Mutationsanalyse angeboten werden.
Wie bei jeder anderen genetischen Erkrankung sollte auch bei erblichen Tumorerkrankungen eine ausführliche humangenetische Beratung
erfolgen. Wesentliche Inhalte der Beratung sind die Abschätzung des Erkrankungsrisikos für nicht betroffene
Ratsuchende, die Erläuterung eines
autosomal dominanten Erbgangs und
die Vorgehensweise bei einer molekulargenetischen Untersuchung. Alle
Betroffenen oder Ratsuchenden sollten immer über den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgeklärt
werden, denn die letzte Entscheidung
bezüglich einer molekulargenetischen
Untersuchung muß immer bei dem
Ratsuchenden bleiben. Eine falsche Sicherheit aufgrund eines negativen Testergebnisses muß ausgeschlossen sein.
Um eine optimale Beratung und
Versorgung zu gewährleisten, sollten
die humangenetische Beratung, die
molekulargenetische Diagnostik, die
klinische und die psychoonkologische
Betreuung sowie die umfangreiche
Datenerfassung interdisziplinär an
dafür spezialisierten Zentren durchgeführt werden. In diesem Sinne werden seit Oktober 1996 im Rahmen des
Förderungsprogrammes „Familiärer
Brustkrebs“ bundesweit zehn Zentren von der Deutschen Krebshilfe finanziell unterstützt (12). Nur auf diesem Wege wird den beiden wesentlichen Zielen Rechnung getragen, der
richtigen Patientenversorgung und
der Erlangung neuer Erkenntnisse.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-600–605
[Heft 11]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de)
erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Dipl.-Chem.
Elke Holinski-Feder
Abteilung Medizinische Genetik
Ludwig-Maximilians-Universität
Goethestraße 29 · 80336 München
Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (49)
A-605
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