M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT Elke Holinski-Feder1 Oliver Brandau1 Carolin Nestle-Krämling2 Popak Derakhshandeh-Peykar1 Jan Murken1 Michael Untch2 Alfons Meindl1 Genetik des erblichen Mammakarzinoms Grundlagen – Forschung – Diagnostik ZUSAMMENFASSUNG Stichwörter: BRCA1, BRCA2, Ätiologie, Epidemiologie Die beiden Tumorsuppressorgene BRCA1 und BRCA2 sind ursächlich an der Entstehung des familiär gehäuft auftretenden Mammakarzinoms beteiligt. Mutationen im BRCA1 Gen werden in etwa 80 Prozent aller Familien mit Mamma- und Ovarialkarzinom gefunden. Ferner müssen noch andere, bislang unbekannte Gene an der Entstehung von Mammakarzinomen beteiligt sein. Die BRCA1- und BRCA2-Proteine sind an der Reparatur von DNA-Doppel- strangbrüchen und an der Regulation der Zellteilung beteiligt. In beiden Genen können einzelne Mutationen mit einem unterschiedlichen Erkrankungsrisiko für das Mammakarzinom und mit einer unterschiedlichen Häufigkeit bezüglich eines Ovarialkarzinoms assoziiert sein. Die Korrelation molekulargenetischer und klinischer Daten soll zu differenzierten Risikoziffern und individuellen Vorsorge- und Behandlungskonzepten führen. Key words: BRCA1, BRCA2, etiology, epidemiology The tumor suppressor genes BRCA1 und BRCA2 are involved in the etiology of familial breast cancer. Mutations in the BRCA1 gene are found in 80 per cent of families with breast and ovarian cancer. However, other, unknown genes are involved in families with isolated breast cancer. BRCA1 and BRCA2 gene products are involved in the DNA repair mechanism and in the regulation of cell proliferation. Mutations in both genes seem to be associated with a variable risk for breast cancer and a variable frequency for ovarian cancer. The correlation of molecular and clinical data should result in appropriate genetic counselling and individual tumor prevention and tumor therapy. G enmutationen im Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko für ein Mamma- oder Ovarialkarzinom waren in den letzten Jahren Gegenstand intensiver Forschung. In der medizinischen Fachliteratur wurden mehr als 1 000 Artikel zum Thema publiziert. Die BRCA1und BRCA2- (BRCA: breast cancer)Gene waren hierbei die am häufigsten zitierten Vertreter. Die Lokalisation und Isolierung der beiden Gene eröffnete zum einen neue Wege in der Diagnostik, zum anderen vielfältige Forschungsansätze zum besseren Verständnis der Tumorentstehung, der Tumorprogression und hinsichtlich einer spezifischen Tumortherapie. Mutationen in Proto-Onkogenen und Tumorsuppressorgenen In der molekulargenetischen Pathogenese der Tumorentstehung werden zwei Klassen von Genen unterschieden: Onkogene und Tumorsuppressorgene. Onkogene entstehen aus A-600 Proto-Onkogenen, die ein normaler Bestandteil des menschlichen Genoms sind. Erhält ein Proto-Onkogen durch eine Mutation eine zusätzliche oder eine neue Funktion, die es in die Lage versetzt, gesunde Zellen zu transformieren, so bezeichnet man es als Onkogen. Für die Initiation der Tumorentstehung ist die somatische Mutation in einem Allel des Proto-Onkogens ausreichend. Dieser Transformationsweg findet sich häufig bei der Entstehung sporadischer Tumoren, bisher sind über 30 verschiedene Onkogene isoliert und charakterisiert worden (11). Auch Tumorsuppressorgene sind ein normaler Bestandteil in unserem Genom. Sie haben die Aufgabe, die Zelle vor einer unkontrollierten Zellteilung zu schützen. Diese Schutzwirkung geht verloren, wenn beide Allele eines Tumorsuppressorgens in einer 1Abteilung Medizinische Genetik (Leiter: Prof. Dr. med. Jan Murken), Klinikum Innenstadt, Kinderpoliklinik der LMU, München 2Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe (Direktor: Prof. Dr. med. H. Hepp), Klinikum Großhadern der LMU, München (44) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 SUMMARY Zelle funktionslos sind (Grafik 1). Mutationen in diesen Genen sind häufiger an der Entstehung der hereditären Tumoren beteiligt, wobei die erste Mutation in einem Allel in Form einer Keimbahnmutation von einem betroffenen Elternteil vererbt wird. Wird in einer Zelle durch eine somatische Mutation auch das zweite Allel funktionslos, so kann es zur Tumorentstehung kommen (Grafik 1, Tabelle 1). Mutationen in Protoonkogenen beziehungsweise Tumorsuppressorgenen stehen am Anfang der Tumorentstehung, für die Tumorprogression sind vermutlich Mutationen in verschiedenen anderen Genen notwendig. Es gibt mindestens zwei Klassen von Tumorsuppressorgenen Ursprünglich hatte man die Vorstellung, daß Tumorsuppressorgene in erster Linie an der Regulation der Zellteilung beteiligt sind. Zunehmend stellt sich aber heraus, daß Mutationen M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT in Genen, die für DNA-Reparaturenzyme kodieren, ebenfalls zu Tumorerkrankungen prädisponieren. Solche Gene müssen somit auch zur Klasse der Tumorsuppressorgene gerechnet werden. Mutationen in DNA-Reparaturgenen führen vermutlich indirekt zur Tumorentstehung. Eine Zelle ohne funktionierende DNA-Reparatur akkumuliert Mutationen, unter ande- iert als Keimbahnmutationen in Regulationsgenen. Denn selbst vor dem Hintergrund eines defekten DNAReparatursystems ist das Ereignis von drei zusätzlichen Mutationen in einer Zelle unwahrscheinlicher als das Ereignis nur einer zusätzlichen Mutation (Tabelle 1). Die Genese sporadischer und hereditärer Tumorerkrankungen läßt sich jedoch nicht streng trennen. Ei- nerseits findet man Keimbahnmutationen in Proto-Onkogenen auch bei den erblichen Tumorerkrankungen, wie beispielsweise in RET-Proto-Onkogenen bei der multiplen endokrinen Neoplasie (Tabelle 1). Andererseits führen somatische Mutationen in beiden Allelen eines Tumorsuppressorgens zum Beispiel bei Neurofibromatose zum Auftreten einer sporadischen Tumorerkrankung (Tabelle 1). Grafik 1 BRCA1 und BRCA2 sind Tumorsuppressorgene Gesunde Frau Zwei intakte Allele von BRCA1 in allen Zellen. Anlageträgerin Ein intaktes und ein mutiertes Allel in allen Zellen. rem auch in Genen, die an der Regulation der Zellteilung beteiligt sind. Ein Ausfall dieser Regulation führt zu einer unkontrollierten Zellteilung und damit zur Tumorentstehung (13). Bei einer prädisponierenden Keimbahnmutation in einem DNA-Reparaturgen müssen zur Tumorentstehung noch das zweite Allel des DNAReparaturgens sowie beide Allele eines Regulationsgens eine Mutation erfahren. Tritt die prädisponierende Keimbahnmutation jedoch in einem Regulationsgen auf, kann bereits eine zweite Mutation zur Tumorentstehung führen. Aufgrund des komplexeren Mutationsweges sind Keimbahnmutationen in Reparaturgenen vermutlich mit einer geringeren Erkrankungswahrscheinlichkeit assozi- Erkrankte Frau Trägerin einer Keimbahnmutation in allen Zellen. Zusätzlich ist eine somatische Mutation in einer Zelle des Brustgewebes aufgetreten. Auch wenn in allen Zellen die prädisponierende Keimbahnmutation in einem der beiden Allele der Tumorsuppressorgene BRCA1 oder BRCA2 vorhanden ist, werden Tumoren nur in ganz bestimmten Geweben beobachtet. Mutationen im BRCA1Gen führen zu einem gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhten Risiko für ein Mamma- beziehungsweise Ovarialkarzinom und zu einer geringen Risikoerhöhung für ein Kolonkarzinom und ein Prostatakarzinom. Ein statistisch signifikant gehäuftes Auftreten von Tumoren in anderen Geweben wird nicht beobachtet. Mutationen im BRCA2-Gen scheinen mit einem breiteren Tumorspektrum assoziiert zu sein. Hierzu gehören neben dem Mamma- und Ovarialkarzinom vor allem Pankreaskarzinome, Tumoren des Oro- Grafik 2 BRCA 1/2-Mutationen: Genotyp Genotyp/Phänotyp-Korrelation BRCA1/2-Mutationen: – Phänotyp Korrelation BRCA1-Gen: Exon 1–10 Exon 11 Exon 12–24 OC BC BRCA2-Gen: Exon 1–9 Exon 10 Exon 11 Exon 12–27 OC BC BC = Mammakarzinom; Mammakarzinom;OC OC==Ovarialkarzinom Ovarialkarzinom (Gaytheretetal,al.,1995 1995) Gayther Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (45) A-601 M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT pharynx, Kolonkarzinome und Lymphome (8). Bei Männern mit Mutationen im BRCA2-Gen ist das Auftreten von Mammakarzinomen gehäuft, neue Untersuchungen zeigen dies jedoch auch in Familien mit Mutationen im BRCA1-Gen (18). Insgesamt sind für die BRCA1beziehungsweise BRCA2-Gene bislang über 100 verschiedene Mutationen beschrieben worden. Eine Zu- sammenfassung der Daten erfolgt weltweit in der BIC-Datenbank unter http://www.nchgr.nih.gov/dir/lab BRCA1 und BRCA2 haben Reparatur- und Regulationsfunktion Für Gene wie BRCA1 und BRCA2, die sehr groß sind (7 800 be- ziehungsweise 11 300 Nukleotide und 1 863 beziehungsweise 3 418 Aminosäuren) (14, 22) und vermutlich über mehrere funktionelle Domänen verfügen, ist es kompliziert, die für die Tumorentstehung relevanten Funktionen herauszuarbeiten, zumal sie hinsichtlich ihrer Nukleotidabfolge weder zueinander noch zu anderen Genen eine deutliche Ähnlichkeit zeigen. In jüngsten Arbeiten konnte je- Tabelle 1 Beteiligung von Tumorsuppressorgenen und Onkogenen an der Entstehung erblicher Tumorerkrankungen Tumorerkrankung Mutationstyp Erkrankung Genfunktion Erblich Familiäres nicht-polypöses Kolonkarzinom Muir-Torre Syndrom Mammakarzinom Ataxia teleangiectasia Reparaturgene: hMLH1, hMSH2, PMS1, PMS2 hMSH2 BRCA1, BRCA2 ATM KM, 1. SM, 2. SM, 3. SM Xeroderma pigmentsum Erblich Erblich KM, 1. SM KM 1. SM, 2. SM AD Kolon, Uterus AD AD AR Kolon, Haut Brust, Ovarien Lymphatisches Organ, Brust Haut AR AD Familiäre adenomatöse Polyposis Coli Retinoblastom von Hippel-Lindau APC AD RB-1 VHL AD AD Wilms-Tumor Neurofibromatose Typ 1 Neurofibromatose Typ 2 Tuberöse Sklerose Familiäres Melanom Cowden-Syndrom WT-1 NF1 NF2 TSC1, TSC2 CDKN2A PTEN AD AD AD AD AD AD Onkogene: RET AD RET AD Schilddrüse, Nebenniere, Nebenschilddrüse Schilddrüse PTC AD Haut Neumutation Neumutation Neumutation verschiedene Gewebe peripheres NS Multiple endokrine Neoplasie Typ IIa Verschiedene Tumoren Regulationsgene: p53 Neurofibromatose Typ1 NF1 Tuberöse Sklerose TCS1, TSC2 KM: Keimbahnmutation; SM: Somatische Mutation; AD: Autosomal dominant; AR: Autosomal rezessiv (Kinzler und Vogelstein, 1997; Hunter, 1997) A-602 Betroffene Organe Regulationsgene: p53 Li-Fraumeni-Syndrom Familiäres medulläres Schilddrüsenkarzinom Gorlin-Syndrom Nicht erblich ERCC1-6, XPA, XPC, XPE, HHR23A, HHR23B Erbgang (46) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 Blutbild, Organe, Brust, Bindegewebe, Knochen Kolon Retina Niere, ZNS, Retina Niere peripheres NS ZNS Haut, ZNS Haut Brust, Haut, Schilddrüse Haut, ZNS M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT doch für die Genprodukte von BRCA1 und BRCA2 in zwei Funktionen eine Verwandschaft gezeigt werden. Die erste funktionelle Verwandtschaft bezieht sich auf ihre Reparatureigenschaft. BRCA1- und BRCA2-Proteine können an Rad51, einem Protein, das an der Reparatur von Brüchen im DNA-Doppelstrang beteiligt ist, binden (17, 19). Diese Mutationen im BRCA1-Gen sind in etwa 80 Prozent krankheitsverursachend Erste Studien zur Häufigkeit von BRCA1- und BRCA2-Mutationen wurden in Form von Kopplungsanalysen durchgeführt. Hierbei wurde die Vererbung des BRCA1-Gens innerhalb von Familien mit mindestens vier Tabelle 2 Familiärer Brustkrebs – BRCA-Gene – Kopplungsdaten Familien BRCA1 BRCA2 BRCAX 4–6 BC vor dem 60. Lebensjahr 32 9 59 mehr als 6 BC vor dem 60. Lebensjahr 19 66 15 4 oder mehr BC vor dem 60. Lebensjahr und ein OC 80 15 5 4 oder mehr BC vor dem 60. Lebensjahr und 2 oder mehr OC 88 12 0 3 oder mehr OC 50 0 50 BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom; Häufigkeiten der nachgewiesenen Kopplungen in %(Easton, 1996) Wechselwirkung scheint die Reparaturfunktion von Rad51 zu unterstützen. Die zweite funktionelle Verwandschaft von BRCA1 und BRCA2 bezieht sich auf ihre Regulationseigenschaft (2, 15). Für beide Genprodukte konnten transkriptionsaktivierende Domänen nachgewiesen werden. Bei solchen Transkriptionsfaktoren handelt es sich um Proteine, die positiv oder negativ regulierend auf die Transkription eines oder mehrerer Gene wirken. Das BRCA1-Protein beeinflußt vermutlich Gene, die an der Zellteilung beteiligt sind, denn eine zelluläre Überexpression von BRCA1-Protein in vitro führt zu einer Drosselung der Zellteilung (10). Mutationen, die zu einem Funktionsverlust dieser transkriptionsaktivierenden Domänen führen, konnten für beide Gene bei Mammakarzinompatientinnen nachgewiesen werden. In welchem Umfang diese beiden Funktionen an der Tumorentstehung beteiligt sind, muß noch geklärt werden. Betroffenen mit Mamma- und/oder Ovarialkarzinom analysiert (5). Haben alle Betroffenen einer Familie das gleiche Allel geerbt, deutet dies auf die ursächliche Beteiligung des Gens am Krankheitsgeschehen. Differenziert man die in der Kopplungsanalyse untersuchten Familien hinsichtlich ihrer Klinik, so erkennt man, daß bei etwa 80 Prozent der Familien mit Mamma- und Ovarialkarzinom der BRCA1-Genort involviert ist. In Familien, in denen mehr als sechs Mammakarzinome aufgetreten sind, ist das BRCA2-Gen in zirka 66 Prozent der Fälle involviert. Bei 59 Prozent der Familien, in denen nur Mammakarzinome, und bei 50 Prozent der Familien, in denen nur Ovarialkarzinome aufgetreten sind, konnte keine Kopplung zu BRCA1 oder BRCA2 nachgewiesen werden, so daß vor allem an Hand dieser Familien nach den Genorten von anderen Tumorsuppressorgenen (BRCAX) gesucht werden muß (Tabelle 2) (8). Man sollte aber auch Familien mit nur zwei betroffenen Frauen berücksichtigen. In diesen Familien ist eine genetische Prädisposition zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen. Mit den Daten einer BRCA1-Mutationsanalyse in 169 Familien mit zwei oder mehr Betroffenen wurde berechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei einer bestimmten familiären Belastung in Abhängigkeit vom durchschnittlichen Diagnosealter der Probandin eine Mutation im BRCA1-Gen gefunden wird (Tabelle 3) (4). Im Rahmen solcher Analysen wurden eine Vielzahl verschiedener Mutationen gefunden. Der prozen- Tabelle 3 Wahrscheinlichkeit für BRCA1-Mutationen in Mammakarzinomfamilien Diagnosealter für BC < 35 35–39 40–44 45–49 50–54 55–59 > 59 Vorhergesagte Wahrscheinlichkeit für eine BRCA1-Mutation (in Prozent) Familien mit isoliertem BC Familien mit BC und OC Familien mit BC und OC bei einer Person Familien mit mehreren BC und OC eine Person mit beiden Tumoren 17,4 11,7 7,7 5,1 3,2 2,1 1,3 55,1 43,5 32,5 23,4 16,2 10,8 7,1 77,1 67,8 57,1 54,5 34,6 25,1 17,3 96,6 92,4 88,5 82,9 75,4 65,9 54,9 BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom (Couch et al., 1997) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (47) A-603 M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT tuale Anteil der einzelnen Mutationen schwankt in den verschiedenen Populationen jedoch erheblich, wie zum Beispiel bei den Askenasim, wo im wesentlichen nur zwei Mutationen gefunden werden, BRCA1-185delAG und BRCA2-6174delT (16). Dies läßt sich durch sogenannte „founder“Mutationen erklären, die unter Umständen vor mehreren hundert Jahren aufgetreten sind, seither über viele Generationen weitervererbt wurden und daher für viele familiär gehäuft auftretende Mammakarzinomfälle in einer Population verantwortlich sind. Jede Population hat vermutlich ihr spezifisches „Mutationsprofil“ für die BRCA1- und BRCA2-Gene. Neumutationen in Form von Keimbahnmutationen sind selten. 185delAG, 1,5 Prozent trägt die Mutation BRCA2-6174delT (16). 43 Prozent der familiären Mammakarzinomerkrankungen werden durch die Mutation BRCA1-185delAG verursacht, wohingegen nur 13 Prozent durch BRCA2-6174delT zu erklären sind. Rechnerisch ergibt sich für die Mutation BRCA1-185delAG ein etwa fünffach höheres ErkrankungsriGrafik 3 Erkrankungswahrscheinlichkeit Erkrankungswahrscheinlichkeit Unterschiedliches Erkrankungsrisiko bei einzelnen Mutationen Verschiedene Mutationen führen vermutlich zu einer unterschiedlich starken Funktionseinschränkung beispielsweise des BRCA1-Proteins. Es ist anzunehmen, daß eine bestimmte Restfunktion mit einer bestimmten Penetranz und damit mit einer spezifischen Erkrankungswahrscheinlichkeit assoziiert ist. Zu diesem Aspekt liegen erste Ergebnisse wiederum von den Askenasim vor. Ein Prozent der Bevölkerung trägt die Mutation BRCA1- Risiko % Mammakarzinom Risiko % Ovarialkarzinom 100 100 50 50 10 10 40 50 60 Easton et al., 1993 70 siko als für die Mutation BRCA26174delT. Einzelne Mutationen scheinen nicht nur mit einem spezifischen Erkrankungsrisiko, sondern auch mit einem spezifischen Turmorspektrum Familie 43 Familie 71 I I 2 3 1 2 II II 1 4 1 2 OC 67 3 BC 45 4 OC 52/BC 32 III III 1 2 IV 1 2 BC 28 3 BC 71 4 IV 1 2 BC 31 1 2 V 1 Betroffene Familienmitglieder sind dunkelgrau schattiert, obligate Überträger sind mit einem Punkt gekennzeichnet. BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom. In Familie 43 treten relativ wenige Tumorerkrankungen auf, da die Mutation zweimal über männliche Familienmitglieder vererbt wurde. A-604 50 60 70 Die Risikoziffern nach Easton et al. gelten für Familien, in denen nur Mammakarzinome aufgetreten sind. Die Zahlen nach Whittemore et al. wurden für Familien, in denen Mamma- und Ovarialkarzinome aufgetreten sind, erhoben. Familien mit mit BRCA1-Mutation BRCA1-Mutation 2 BC 57 40 Whittemore et al., 1997 Grafik 4 1 assoziiert zu sein. Die Erhebung der Familienanamnese zeigt in betroffenen Familien eine relativ geringe intrafamiliäre Variabilität hinsichtlich des zusätzlichen Auftretens von Ovarialkarzinomen. Die Korrelation klinischer und molekulargenetischer Daten deutet darauf hin, daß Mutationen in den Exons 1 bis 11 des BRCA1Gens mit abnehmender Häufigkeit (48) Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 und im Exon 11 des BRCA2-Gens vermehrt mit Ovarialkarzinomen assoziiert sind (Grafik 2) (9). Solche mutationsspezifischen Daten liegen bislang nur für wenige Mutationen vor. Für die genetische Beratung von Familien, bei denen nur Mammakarzinome aufgetreten sind, müssen auch weiterhin die kumulativen Risikoziffern entsprechend den Daten von Easton et al. 1995 (7) in Grafik 3 verwendet werden. Für deren Erhebung sind nur Familien mit vier oder mehr betroffenen Frauen berücksichtigt worden. Es handelt sich also um Mutationen mit einer relativ hohen Penetranz, die zu entsprechend hohen Risikoziffern führen. Differenziertere kumulative Risikoziffern liegen für Familien vor, in denen Mamma- und Ovarialkarzinome aufgetreten sind. Um in diesen Familien auch Mutationen mit einer niedrigen Penetranz zu erfassen, sind auch Familien mit nur zwei Fällen berücksichtigt worden. Dies führt zu einer Korrektur der kumulativen Risikozif- M E D I Z I N DIE ÜBERSICHT fern für diese Familien entsprechend Whittemore et al. (21) in Grafik 3. Die Auswertung von über 900 Familien ergab für BRCA1-Gendefektträger bis zum 70. Lebensjahr ein Risiko von 68,6 Prozent (vorher 82 Prozent) für ein bestimmten BRCA1- oder BRCA2Mutationen in der europäischen Bevölkerung und in Familien mit gehäuftem Auftreten von Mamma- und/oder Ovarialkarzinomen kann beim derzeitigen Stand der Untersuchungen noch Tabelle 4 Indikation für eine BRCA1- und BRCA2-Mutationsanalyse Gruppe Familienanamnese 1 Mindestens zwei Frauen in der Familie mit BC oder OC, wobei eine Frau vor dem 50. Lebensjahr erkrankt ist. 2 Eine Frau mit einem beidseitigen BC, wobei die Erkrankung vor dem 40. Lebensjahr aufgetreten ist. 3 Eine Frau mit einem BC vor dem 30. Lebensjahr, oder einem OC vor dem 40. Lebensjahr. 4 Ein BC und zwei weitere, andere Karzinomerkrankungen in der Familie, unabhängig vom Alter. BC: Mammakarzinom, OC: Ovarialkarzinom Mammakarzinom und ein Risiko von zirka 22,5 Prozent (vorher 44 Prozent) für ein Ovarialkarzinom (20). Häufigkeit von BRCA1und BRCA2-Mutationen in Deutschland Nach epidemiologischen Studien trägt 1 von 250 bis 1 von 1 000 Frauen in den USA eine Mutation im BRCA1- oder BRCA2-Gen (6). Da es für die Bundesrepublik Deutschland bisher keine entsprechenden Daten gibt, scheint es sinnvoll, für Familien entsprechend der Tabelle 4 molekulargenetische Untersuchungen durchzuführen. Nach diesem Indikationsschema sind wir in unserer Arbeitsgruppe vorgegangen. Mutationen im BRCA1- und BRCA2-Gen wurden bisher nur in den Gruppen 1 und 2 gefunden. Innerhalb der Gruppe 1 findet man die meisten Mutationen in Familien mit drei oder mehr Betroffenen. Es werden aber auch Mutationen in Familien mit nur zwei betroffenen Familienmitgliedern gefunden (Grafik 4). Daraus ergibt sich, daß die Indikation für die Durchführung einer molekulargenetischen Analyse der BRCA1- und BRCA2Gene auch für Familien mit zwei Betroffenen und nur einem prämenopausalen Tumor gestellt werden sollte. Über die prozentuale Häufigkeit von keine Aussage gemacht werden. Es zeigt sich aber bereits jetzt, daß es auch in unserer Population zumindest eine häufiger auftretende Mutation – BRCA1-5382insC – gibt, so daß man bei der Durchführung der molekulargenetischen Analyse zuerst nach dieser Mutation suchen sollte (20). Patientenversorgung und Forschung sollte vereinbar sein Erste Ergebnisse aus Untersuchungen an Familien in Deutschland weisen darauf hin, daß ein Teil der familiär gehäuft auftretenden Mammakarzinome durch Mutationen im BRCA1- oder BRCA2-Gen verursacht werden. Aufgrund des geringen Anteils an Neumutationen sollte es möglich sein – durch Untersuchung einer großen Anzahl von Familien –, für unsere Bevölkerung erstens die tatsächliche prozentuale Beteiligung dieser Gene, zweitens das Mutationsspektrum und drittens das mit diesen Mutationen assoziierte klinische Bild zu erfassen. Unter Berücksichtigung aller Daten muß versucht werden, differenziertere Risikoziffern und individuelle Vorsorge- und Therapiekonzepte zu erarbeiten. An Hand der bisherigen Ergebnisse kann man eine vorläufige Indikationsstellung für eine molekulargenetische Untersuchung aussprechen. Um auch Mutationen mit niedriger Penetranz und einem breiten Tumorspektrum zu erfassen, sollte Familien entsprechend der Tabelle 4 weiterhin eine Mutationsanalyse angeboten werden. Wie bei jeder anderen genetischen Erkrankung sollte auch bei erblichen Tumorerkrankungen eine ausführliche humangenetische Beratung erfolgen. Wesentliche Inhalte der Beratung sind die Abschätzung des Erkrankungsrisikos für nicht betroffene Ratsuchende, die Erläuterung eines autosomal dominanten Erbgangs und die Vorgehensweise bei einer molekulargenetischen Untersuchung. Alle Betroffenen oder Ratsuchenden sollten immer über den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgeklärt werden, denn die letzte Entscheidung bezüglich einer molekulargenetischen Untersuchung muß immer bei dem Ratsuchenden bleiben. Eine falsche Sicherheit aufgrund eines negativen Testergebnisses muß ausgeschlossen sein. Um eine optimale Beratung und Versorgung zu gewährleisten, sollten die humangenetische Beratung, die molekulargenetische Diagnostik, die klinische und die psychoonkologische Betreuung sowie die umfangreiche Datenerfassung interdisziplinär an dafür spezialisierten Zentren durchgeführt werden. In diesem Sinne werden seit Oktober 1996 im Rahmen des Förderungsprogrammes „Familiärer Brustkrebs“ bundesweit zehn Zentren von der Deutschen Krebshilfe finanziell unterstützt (12). Nur auf diesem Wege wird den beiden wesentlichen Zielen Rechnung getragen, der richtigen Patientenversorgung und der Erlangung neuer Erkenntnisse. Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1998; 95: A-600–605 [Heft 11] Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist. Anschrift für die Verfasser Dr. med. Dipl.-Chem. Elke Holinski-Feder Abteilung Medizinische Genetik Ludwig-Maximilians-Universität Goethestraße 29 · 80336 München Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 11, 13. März 1998 (49) A-605