kritik - Merkur

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Vorschau - Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung
KRITIK
Leiden an Amerika
Der Verlag hat sich entschlossen, eine
soziologisch-psychologische
Untersuchung des europäischen und amerikanischen Romans als Reißer zu tarnen. Aus Leslie Fiedlers Originaltitel
Liebe und Tod im
amerikanischen
Roman wurde Liebe, Sexualität und
Tod, Amerika und die Frau (Propyläen Verlag 1964). Alle Fußnoten und
damit alle bibliographischen Hinweise wurden einfach weggelassen. Der
Text wurde gekürzt, ist aber für einen
Reißer immer noch zu lang. Wer erwartet hat, der amerikanischen Sexualität auf den Spuren von Sinclair
Lewis, Upton Sinclair, Henry Miller,
Paul Bowles, Mary McCarthy, William Burroughs oder Katherine Ann
Porter zu begegnen, sieht sich enttäuscht. Die werden alle nicht behandelt, weil sie als realistische oder obszöne Erzähler nicht in das Fiedlersche
System passen würden. Stattdessen
werden Rousseau, Samuel Richardson,
solche längst vergessenen Amerikaner
wie Charles Brockdon Brown, und die
als Paradigmata gesicherten Cooper,
Hawthorne, E. A. Poe, Harriet Beecher-Stowe, Mark Twain, Melville,
Henry James, Hemingway, Faulkner,
Nathanael West und Herman Wouk
ausführlich analysiert.
Langweilig ist Fiedler nie. Man
kann sich bei ihm darauf verlassen,
mindestens auf jeder dritten Seite
eine verblüffende Formulierung zu
finden: Lederstrumpf wirke »wie ein
Faust in Buckskins«, die stereotype
Figur des auf der Flucht befindlichen
Mädchens bedeute »die entwurzelte
Seele des Künstlers«. Ein vom Spüreifer besessenes Kritikertalent streut
köstliche Schiefheiten, freche Vergleiche, scharfsinnige Enthüllungen und
witzige Verfälschungen, unter denen
man aufstöhnt, freigebig über seine
Seiten aus. Präzision ist Fiedlers Sache nicht. Unerschrocken und ganz
auf eigene Faust dringt er vor, nicht
auf Stilanalysen und Erzähltechniken
bedacht, sondern auf typische Inhalte.
Statt in einem Pantheon sieht sich der
Leser in einem weitläufigen Kindergarten, dessen Insassen von Europäern
ausgesetzte Buben sind, die vor der
psychiatrischen Abteilung dieses Instituts Schlange stehen. (Fiedlers Stil
ist ansteckend.)
Zunächst wehrt Fiedler sich heftig
gegen gewisse europäische Klischeevorstellungen, die die amerikanische
Literatur »naiv« und »antitraditionell«
finden wollen; danach füllt er sein
Buch mit Interpretationen, die alle
die naive und antitraditionelle Seite
der amerikanischen Erzähler aufdekken. Ihre Gefühlswelt, sagt er, entspreche »genau der von noch nicht
erwachsenen Menschen«. Der amerikanische Erzähler müsse »immer wieder neu anfangen, zum erstenmal sagen (ohne echte Tradition gibt es kein
zweites Mal)«. »Unsere Romanliteratur i s t . . . eine Literatur des Dunklen
und Grotesken in einem Lande des
Lichts und der Bejahung.« Die Folge
davon ist, daß »unsere Literatur . . .
eine Grusellektüre f ü r Knaben« ist.
»Wir besitzen keine wirklich schockierenden, keine ehrlich obszönen Autoren.« »Unsere Schreckensromane (A/oby Dick, The Scarlet Letter, Huckleberry Finn, die Erzählungen von Poe)
stehen auf den genehmigten Bücherlisten der Elternausschüsse.« Die amerikanischen Dichter glauben zwar an
die Hölle, aber die öffentlichen Moralhüter nicht, und so hätten denn
auch die amerikanischen Literaturkritiker die Schliche der Autoren immer
übersehen. Der Roman ist eine europäische Gattung, die aus europäischen
soziologischen Gegebenheiten, Klassengegensätzen von Adel und Bürgertum
etc., entstanden ist und dann in eine
fremde Erfahrungswelt
verpflanzt
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