V A R I A GESCHICHTE DER MEDIZIN Civil War Medicine Museum Erinnerung an die Namenlosen „. . . auf daß die Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk nicht von der Erde verschwindet.“ Diese hehren Worte Abraham Lincolns verkörpern für die Amerikaner nach wie vor die Essenz des Bürgerkrieges, in dem von 1861 bis 1865 Bruder gegen Bruder stand und ein Riß durch die Nation ging, der nach mehr als einem Jahrhundert nur mühselig, wenn überhaupt, geheilt ist. Der erste moderne Krieg Während des Amerikanischen Bürgerkrieges wurde eine medizinische Versorgung bisher unbekannten Ausmaßes aufgebaut. nem unvorstellbaren Ausmaß amputiert, ein Eingriff, der als einziger Ausweg erachtet wurde, um das Leben des Patienten vor dem Wundstarrkrampf und anderen Infektionen zu retten. Augenzeugen beschrieben voll Grauen die Berge amputierter Gliedmaßen, die am Rande jedes Feldlazarettes zu beobachten waren, an den Orten, die sich in blutroten Lettern ins Buch der amerikanischen Geschichte einschrieben: Antietam und Gettysburg, Chancellorsville und Cold Harbor, Atlanta und Richmond. Im Amerikanischen Bürgerkrieg wurde die medizinische Versorgung, das gesamte ärztliche Können der Epo- che auf eine Probe von gigantischen Proportionen gestellt – und diese Probe wurde, wenngleich unter vielen Opfern, bestanden. Es war dem Einsatz Tausender von Menschen, von Ärzten, aber auch von Krankenschwestern und freiwillig sich dem humanitären Dienst verpflichtender Frauen zu verdanken, daß eine medizinische Versorgung bislang unbekannten Ausmaßes aufgebaut werden konnte und der Steckschuß, das Fieber, die Enteritis nicht automatisch einem Todesurteil gleichkamen. Eine knappe Autostunde nordwestlich von Washington erinnert ein einzigartiges Museum an das Wirken der Medizin im Schatten jener Giganten, die in Amerika jedes Schulkind kennt. Im Civil War Medicine Museum in Frederick, Maryland, wird nicht von Abe Lincoln und Ulysses S. Grant, von Robert E. Lee und Stonewall Jackson berichtet, sondern von den Namenlosen, die das unermeßliche Leid des ersten modernen Krieges zu lindern versuchten. Bemühungen um Hygiene Die Aufgabe, vor der sich die Ärzte und ihre Helfer geWeit prosaischer als die stellt sahen, begann, lange Worte des Märtyrerpräsibevor die Rekrutierten sich denten, doch von ebensolin Marsch setzten. Junge cher Symbolkraft für das giMänner aus allen Teilen des gantische Ringen zwischen Landes strömten mit einem Nord und Süd, zwischen Unidem Nachgeborenen kaum on und Konföderierten, ist verständlichen Hurra-Pajenes Instrument, das im triotismus zusammen – und samtbeschlagenen Arztkofwaren schon in akuter Lefer trotz kleiner Rostflecken bensgefahr, lange bevor sie unheimlich im den Feind zu GeScheinwerferlicht sicht bekamen. funkelt – die KnoBinnen kurzem erchensäge. Der krankten bereits in Amerikanische den AusbildungslaBürgerkrieg wird gern viele jener Reder erste moderne kruten schwer an Krieg genannt, mit Masern, Mumps Massenarmeen und und Windpocken, Panzerschiffen, mit die nie mit Kinderdem ersten U-Boot krankheiten in und mit LuftaufBerührung gekomklärung per Fesselmen waren. Viele ballon – seine mestarben, bevor sie dizinische Seite sich an ihre Uniwird jedoch domiform gewöhnt hatniert von jenem Inten. strument, das auf Doch diese viraallen Schlachtfellen Erreger waren dern der Neuzeit noch fast harmlos ultima ratio der im Vergleich zu jeChirurgen war. nen Bakterien, die Auch im Amerifür das weite Feld ka jener bewegten Krücken und Rollstühle waren in den Lazaretten des Bürgerkrieges unverzichtbar – die Amputation war der Enteritiden Jahre wurde in ei- die mit Abstand häufigste Operation. verantwortlich waFotos: Ronald D. Gerste A-636 (60) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 10, 12. März 1999 V A R I A GESCHICHTE DER MEDIZIN ren. Die Diarrhö forderte während des Krieges mehr Opfer als die Kampfhandlungen selbst. Ob als (in ihrer Symptomatik den Ärzten oft kaum unterscheidbar) Enterokolitis, Typhus oder Ruhr, es war jene Art des Sterbens, die am allerwenigsten mit der angeblichen Glorie des Krieges gemein hat. Die bis an die Grenze der körperlichen und psychi- bruch in der Medizin des 19. Jahrhunderts machten sich die Armeeärzte – entgegen anderslautenden Klischees – in hohem Maße zunutze. Die segensreiche Erfindung der Narkose, die nur 15 Jahre vor Ausbruch des Krieges in Boston ihre Uraufführung erlebt hatte, linderte die schlimmsten Qualen der Knochensäge, Chloroformund Ätherflaschen gehörten zur Grundausrüstung der mit nächsten Kirche oder Schule, überlebt hatte, wurde in eines jener Hospitäler gebracht, die auf beiden Seiten der Front aus dem Boden schossen und ein neues Zeitalter genormten Krankenhausbaus einläuteten. In der für das 19. Jahrhundert typischen Pavillonbauweise (noch heute an manch deutscher Uniklinik zu sehen) entstanden wahre Großkliniken. Unübertroffen war das Chimborazo genannte Hospital in Richmond, der Hauptstadt des Südens, das über 10 000 Bet- ten verfügte. In Kliniken wie dieser arbeiteten nicht nur Hunderte von Ärzten, sondern auch jene engagierten Frauen, die den Beruf der Krankenschwestern auch in Amerika endgültig etablierten. Die Medizin im Amerikanischen Bürgerkrieg – es ist die Geschichte von Hoffnung in der schlimmsten aller Zeiten. Anschrift des Verfassers Dr. med. Dr. phil. Ronald D. Gerste Büdericher Allee 37 40667 Meerbusch Der Berliner Untergrund Medizinische Geräte aus der Zeit des Amerikanischen Bürgerkrieges schen Erschöpfung arbeitenden Mediziner konnten allenfalls ahnen, daß ihr schlimmster Feind nur submikroskopisch zu identifizieren war – die großen Entdeckungen der Bakteriologie lagen in nicht mehr allzu ferner Zukunft. Doch mehr oder weniger unbewußt bemühten sie sich um eine Hygiene, die allmählich diesen Namen verdiente. Verbandsmaterial wurde zunehmend ausgekocht; überall im Land – daran erinnert der Ausstellungsraum über die „Home Front“ – wurde sauberer Stoff gesammelt. Die große Errungenschaft der Antisepsis kam für die Opfer des Bürgerkrieges zu spät, den anderen epochalen DurchWeitere Informationen: National Museum of Civil War Medicine, 48 East Patrick Street, Frederick, Maryland 21705-0470, USA. Tel 0 01/3 01/6 95-18 64. Fax: 0 01/3 01/6 95-68 23. den Armeen durch Virginia oder entlang dem Mississippi ziehenden Chirurgen. Großkliniken Doch nicht nur medizinisches Wissen und Können waren gefordert, sondern auch das Organisationstalent des Sanitätswesens. Die aufeinanderprallenden Armeen stellten größenmäßig fast alles in den Schatten, was die an Kriege bis zum Überdruß gewöhnte Menschheit je gesehen hatte. Wo Hunderttausende auf engstem Raum manövrierten, marschierten und fochten, stellte die Versorgung und der Transport der Verwundeten eine neue Dimension dar. Ambulanzwagen, wie sie das Museum in Frederick zeigt, von ein oder zwei Pferden gezogen, fuhren unter Gefahr für Sanitäter und Ärzte über die Blutäcker, um die um Hilfe Schreienden einzusammeln. Wer die ersten Stunden in einem Behelfs-Lazarett, im Zelt, häufiger noch in der Eine grüne Flasche mit Druck trat das Salzwasser an der Aufschrift „Berliner Sol- die Oberfläche. Findige Gewasser“ steht auf einem sil- schäftsleute gründeten bebernen Tablett. Ein weißhaa- reits 1888 eine AG, verriger Mann geht zögerlich schrieben die Ärzte damals auf die Flasche zu, schenkt doch Sole-Kuren bei Gicht, sich einen kleinen Becher ein Rheuma, Gelenk-, Magenund leert ihn, ohne mit der oder Darmleiden. Innerhalb Wimper zu zucken. Was wie kürzester Zeit wurden acht eine Szene aus Fellinis „8 ½“ wirkt, spielt sich nicht in einem mondänen Kurhaus, sondern in der Naturwissenschaftlichen Sammlung der Stiftung Stadtmuseum in Berlin (Schloßstraße 69a) ab. Noch bis zum 30. Juni ist dort die Ausstellung „Der Berliner Untergrund“ zu sehen. Anhand von Fotos, Modellen und Die Reproduktion eines Fotos von 1908 zeigt das abgeSchautafeln rissene Brunnenhäuschen des Luisenbades (heute: Gestellt die Aus- sundbrunnen). Foto: Stadtmuseum Berlin stellung die wesentlich von der letzten Eis- Solebadeanstalten in Berlin zeit geprägte erdgeschichtli- eröffnet. Der Badeboom che Entwicklung Berlins dar. ging mit dem Ersten WeltDaneben zeigt sie kon- krieg zu Ende, doch wer sich krete Anwendungen wissen- von dem Hinweis „Kein schaftlicher Erkenntnisse: Trinkwasser im rechtlichen 1887 drangen Geologen erst- Sinn“ nicht abschrecken läßt, mals bis in die in 210 Meter kann im Museum das eisenTiefe liegende sole-führende haltige salzige Heilwasser Gesteinsschicht vor. Durch probieren. Gerlind Vollmer Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 10, 12. März 1999 (61) A-637