dtv Taschenbücher Kant für Anfänger Die Kritik der Urteilskraft Bearbeitet von Ralf Ludwig 1. Auflage 2008. Taschenbuch. Paperback ISBN 978 3 423 34472 2 Format (B x L): 12,4 x 19,1 cm Gewicht: 194 g Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft > Metaphysik, Ontologie > Ethik, Moralphilosophie schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte. Nach der ›Kritik der reinen Vernunft‹ (1781) und der ›Kritik der praktischen Vernunft› (1788) erschien 1790 Kants ›Kritik der Urteilskraft‹, das dritte Hauptwerk des großen Philosophen. Es bildet den systematischen Schlußstein der kantischen Philosophie, untersucht die Begriffe des Schönen und des Erhabenen und analysiert die Bildung von Geschmacksurteilen. Kants Ausführungen sind noch heute unverzichtbarer Bestandteil aller Diskussionen, wenn es um die Wahrnehmung und Beurteilung von Kunst geht. Die ›Kritik der Urteilskraft‹ stellt den Leser allerdings vor größte Herausforderungen, gilt als schwierigstes aller Werke Kants. Ralf Ludwig, der sich bereits mit seinen LeseEinführungen zu den beiden ersten Kant-Kritiken vielen Lesern als erfolgreicher Begleiter erwiesen hat, versucht auch in diesem Band unserer Reihe ›Philosophie für Anfänger‹, Hilfestellung zur Lektüre zu geben. Dr. phil. Ralf Ludwig studierte evangelische Theologie sowie an der Jesuiten-Hochschule Philosophie und promovierte über Kant. Er lebt als freier Schriftsteller in München. Bei dtv erschienen von ihm Lese-Einführungen zu Kant, Hegel und den Vorsokratikern. Kant für Anfänger Die Kritik der Urteilskraft Eine Lese-Einführung von Ralf Ludwig Deutscher Taschenbuch Verlag Von Ralf Ludwig sind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen: Kant für Anfänger · Die Kritik der reinen Vernunft (30135) Kant für Anfänger · Der kategorische Imperativ (30144) Hegel für Anfänger · Phänomenologie des Geistes (30125) Die Vorsokratiker für Anfänger (30858) Für Marianne Kraus Originalausgabe April 2008 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de © 2008 Deutscher Taschenbuch Verlag, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: © Ralph Bittner Satz: K. Hülser, Konstanz Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany · isbn 978–3–423–34472–2 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffliche Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein kurzer Vorgriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein kurzer Blick auf das Buch . . . . . . . . . . . . . . . . Ein kurzer Blick auf Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine kleine Auffrischung: Die theoretische Philosophie Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine zweite Auffrischung: Die praktische Philosophie Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 13 14 21 23 27 28 ›Kritik der Urteilskraft‹ ...................... Die erste Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zweite Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 31 33 33 34 35 Teil 1: Die ästhetische Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . 40 I. Das Schöne oder Die subjektive Zweckmäßigkeit (1) . . . . . . . . 1. Die Qualität des Geschmacksurteils . . . . . . . . . 2. Die Quantität des Geschmacksurteils . . . . . . . 3. Die Relation des Geschmacksurteils . . . . . . . . 4. Die Modalität des Geschmacksurteils . . . . . . . Kurze Zusammenfassung der vier Momente des Geschmacksurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 43 47 52 62 65 II. Das Erhabene oder Subjektive Zweckmäßigkeit (2) . . . . . . . . . . . 67 A. Das Mathematisch-Erhabene . . . . . . . . . . . . . . 71 B. Das Dynamisch-Erhabene . . . . . . . . . . . . . . . . 73 III. Die Deduktion der reinen ästhetischen Urteile oder Die große Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 1. Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2. Die eigentliche Deduktion . . . . . . . . . . . . . . . . 83 IV. Indirektes und direktes Interesse oder Das Interesse der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Das indirekte Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Das direkt-unmittelbare Interesse . . . . . . . . . . . 88 V. Eine Theorie der Kunst oder Schöne Kunst, Genie und ästhetische Idee . . 1. Kunst und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Genie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ästhetische Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 91 93 96 VI. Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft oder Begriff gegen Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eine kurze Vorarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft . . . 3. Die Antinomie des Geschmacks . . . . . . . . . . . 4. Die Auflösung der Antinomie . . . . . . . . . . . . . 5. Schönheit als Symbol der Sittlichkeit . . . . . . . . 6. Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 105 106 107 108 110 113 VII. Zwischen ästhetischer und teleologischer Urteilskraft. Eine Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . 1. Ausklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Berechtigung und Einwände . . . . . . . . . . . . . . 3. Kant und Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 114 114 116 Teil 2: Die teleologische Urteilskraft . . . . . . . . . . . . I. Analytik der teleologischen Urteilskraft . . . . . . . . . 1. Formale Zweckmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materiale Zweckmäßigkeit (1): Äußere oder relative Zweckmäßigkeit . . . . . . . 3. Materiale Zweckmäßigkeit (2): Innere Zweckmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 123 124 124 125 4. 5. 6. 7. Die Organismen als Naturzwecke . . . . . . . . . . Das teleologische Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Natur als System der Zwecke . . . . . . . . . . Teleologie oder Theologie? . . . . . . . . . . . . . . . . 127 129 130 131 II. Dialektik der teleologischen Urteilskraft . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Antinomie der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auflösung der Antinomie, Teil 1 . . . . . . . . . . . 5. Auflösung der Antinomie, Teil 2 . . . . . . . . . . . 134 134 134 137 140 142 III. Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft . . . 1. Mechanische und teleologische Naturbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Frage nach dem letzten Zweck der Natur 3. Natur und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Endzweck der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . 5. Physische und ethische Teleologie . . . . . . . . . . 6. Der moralische »Beweis« Gottes . . . . . . . . . . . 7. Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Wiederholungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Moralischer Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Das Finale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Kurzfassung der Methodenlehre . . . . . . . . . . . 144 145 146 147 148 149 150 152 154 155 157 159 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Kleine Wortkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Vorwort Kant – bei keinem anderen Philosophen trifft eine Empfindung beim Lesen mehr zu als bei ihm: Ehrfurcht. Ehrfurcht nicht vor dem unscheinbaren äußeren Leben dieses Mannes aus Königsberg, sondern vor dem riesigen Gedankenbauwerk, das er nachfolgenden Philosophengenerationen aufgebürdet hat. Aber letztlich kennt auch der gebildete Laie zwei Teilgebäude dieses Bauwerks, die wie gewaltige Meteore den philosophischen Gedankenhimmel Kants beherrschen: die theoretische Philosophie der ›Kritik der reinen Vernunft‹ und die praktische des kategorischen Imperativs. Seine dritte ›Kritik‹ hingegen führt ein recht stiefmütterliches Dasein. Und das ist schade. Denn in der ›Kritik der Urteilskraft‹ geht es primär um Ästhetik, es geht um die Theorie des Schönen und der Kunst. Ästhetik ist für Kant Geschmackskritik, d. h. die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftbedingungen. Man stelle sich das vor: Ein Geschmacksurteil, dies oder das sei schön, wird einem Vernunftanspruch unterworfen! Das verspricht spannend zu werden. Und jetzt kommt das große Aber: Diese Schrift Kants lesen zu wollen, ist nicht leicht. Liest man Kant, so ist es einem, als trete man in ein helles Zimmer, meinte Goethe. Als ich die ›Kritik der Urteilskraft‹ erstmals zu lesen versuchte, geriet ich in tiefste Finsternis, obwohl mir Kant nicht unvertraut war. Als das Angebot vom Verlag kam, nach den großen Erfolgen meiner beiden ersten Kant-Bände ›Kant für Anfänger · Die Kritik der reinen Vernunft‹ und ›Kant für Anfänger · Der kategorische Imperativ‹ eine weitere Einführung in die Philosophie Kants folgen zu lassen, nahm ich es zuerst nur zögernd an. 11 Nach recht schwierigem Einlesen wich manche Verzweiflung allmählich einem ungläubigen Staunen. Und noch später brach sich eine Faszination Bahn, eine Faszination über die Art, wie hier der zu trockenen Formulierungen neigende Denkriese Kant die Gefühlsebene des Menschen einer akribisch-wissenschaftlichen Untersuchung unterzieht, die ihresgleichen sucht. Manchem Zeitgenossen werden diese Ausführungen Kants sicher fremd bleiben. Aber gerade in einer Welt, in der die Berufung auf das Gefühl oft als Ersatz für mangelnde Intelligenz zur Gefühlsduselei ausartet und leere Begriffshülsen wie Selbstfindung, Feeling und »Auf-denBauch-Hören« uns lawinenartig eindecken, gewinnen die Überlegungen des großen Mannes aus Königsberg eine überraschend neue Bedeutsamkeit – als heilsames Korrektiv in einer gefühlsübersättigten Zeit. Dem Romanisten und Freund Axel Schmidt möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich für manch anregendes Gespräch danken. München, im Frühjahr 2008 Ralf Ludwig Einführung Erste Orientierung Immanuel Kant gehört unstreitig zu den größten Denkern des Abendlandes. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, er habe die gesamte Philosophie revolutioniert. Er markiert eine Schaltstelle: Es gibt eine Philosophie vor Kant und es gibt eine nach Kant. > In seiner ersten ›Kritik‹, der ›Kritik der reinen Vernunft‹, stellte er die Frage: Was kann ich wissen? Er entwickelte darum ein fein geschliffenes Instrumentarium, mit dem er die Leistungsfähigkeit des menschlichen Verstandes überprüfte. Natürlich hatten schon vor ihm Generationen von Philosophen über das Denken nachgedacht, aber noch nie hat das Denken so überzeugend über sich selbst nachgedacht wie bei ihm. > In seiner zweiten ›Kritik‹, der ›Kritik der praktischen Vernunft‹, entwickelte er aus der Überzeugung, Wissen könne nicht vom Handeln getrennt werden, das Herzstück seiner Philosophie: den kategorischen Imperativ. Mit ihm erhebt die Vernunft einen Absolutheitsanspruch, der rücksichtslos persönliche Moralerfahrungen und menschliche Neigungen aus der Sittlichkeit verbannt. Damit hatte Kant etwas Neues über die Moral gesagt: Mit diesem Imperativ hat der Mensch ein Prinzip von Sittlichkeit, das losgelöst von jeder Situation für alle Menschen und zu allen Zeiten Anspruch auf Gültigkeit erhebt. Dieser Absolutheitsanspruch der Vernunft beeindruckt und macht es auch heute noch lohnend, Kant zu lesen. Dies gilt gerade in einer Zeit, in welcher der Relativismus und die Beliebigkeit als zeitgemäß gelten. > In seiner dritten großen Schrift wird dieser Absolutheitsanspruch der Vernunft auf das Gebiet der Ästhetik 13 ausgeweitet. In uns, die wir bis jetzt Kant folgen konnten und wollten, wehrt sich zunächst einmal alles instinktiv gegen diesen Anspruch auf Absolutheit im Bereich unserer persönlichen und subjektiven Empfindungen von Schönheit, Geschmack und Lust. Aber gerade das mutet Kant uns in seiner dritten ›Kritik‹, der ›Kritik der Urteilskraft‹, zu. Er sieht auch auf dem weitläufigen Gebiet des Gefühls Prinzipien der Vernunft am Werke. Das ist ungewohnt, das macht neugierig. Trotz unserer Bedenken gegen Prinzipien in unseren ästhetischen Empfindungen müssen wir doch zugeben: Die Welt als harmonisches Gefüge, auch auf dem Gebiet der Kunst – auch das kann Ziel der Sehnsucht sein. Weitere Fragen drängen sich auf: Gibt es eine Messbarkeit von Schönheit? Obwohl bestimmte Vorstellungen von Schönheit bei allen Menschen ähnlich sind und wir auf bestimmte gewohnte Proportionen angewiesen sind – können wir da trotz wiederkehrender ästhethischer Vorstellungen sagen, dass alle Menschen den gleichen Geschmack haben? Welche Rolle spielen Bildung und Kultur? Wenn wir so fragen, sind wir offen für Kants Worte, auch wenn diese alles andere als leicht verständlich daherkommen. Aber gerade deshalb gibt es diese Lese-Einführung. Begriffliche Klärungen Kants dritte ›Kritik‹, die ursprünglich ›Kritik des Geschmacks‹ heißen sollte, hieß am Ende ›Kritik der Urteilskraft‹. Der Titel muss mit Bedacht gewählt worden sein und ist Programm. Man kann dies erkennen, wenn man sich die einzelnen Bestandteile des Buchtitels vor Augen führt. 14 Kritik Das Wort ist von der Wortbedeutung des griechischen krinein als »untersuchen, prüfen, scheiden und beurteilen« abgeleitet. Die kritikè techné bezeichnete die Kunst der Beurteilung und ist heute der Grundbegriff eines am methodischen Denken der Aufklärung ausgerichteten Denkens. In der Antike war dieser Grundbegriff zuerst in der politisch-rechtlichen Sphäre, dann im Bereich rhetorischer und philologischer Kunstfertigkeiten angesiedelt. Als historisch früheste Form der kritikè techné kann man die Mäeutik bezeichnen (wörtlich: Hebammenkunst), die raffinierte Fragetechnik des Sokrates, die wie die Kunst einer Hebamme Wahres und Falsches ans Tageslicht bringt, um sie zu unterscheiden. Diese Anlehnung des Begriffs an die Philosophie erfuhr in der lateinischen Tradition der mittelalterlichen Scholastik eine Verschiebung in Richtung Philologie, während das 16. Jahrhundert wieder auf die Antike zurückgriff und zu einer schwerpunktmäßigen Verlagerung des Begriffs auf methodisch-philosophische Inhalte neigte. Den Höhepunkt historischer Wirksamkeit erfuhr der »Kritik«-Begriff in der Aufklärung, insbesondere bei Kant. Bei ihm ist Kritik keine Lehre, keine Doktrin und kein System, sondern nur eine Vorbereitung (Kant: Propädeutik) für ein solches mittels der Analyse der Grenzen und Bedingtheiten des Erkenntnis- und Urteilsvermögens. Im Grunde steht auch heute noch der Aspekt der methodischen Rekonstruierbarkeit der Wissensbildung im Vordergrund. Die meisten modernen Kritikbegriffe schließen an Kants transzendentale (= nach der Bedingung der Möglichkeit fragende) Konzeption an, auch wenn sie in methodischer Hinsicht abweichende Positionen einnehmen. 15 Urteilskraft Urteilen ist (nicht nur bei Kant) die maßgebliche Vollzugsform des Denkens. Denktätigkeit ist die Tätigkeit des Urteilens. Urteilskraft ist aber nicht die Fähigkeit, beliebige Urteile fällen zu können, sondern die Bildung von richtigen und sachgemäßen Urteilen zu ermöglichen. Zum philosophischen Gegenstand wurde die Urteilskraft erstmals durch Kant gemacht: in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ nennt er sie bestimmende Urteilskraft, in der ›Kritik der praktischen Vernunft‹ ist ihre Aufgabe die Durchsetzung der transzendentalen Kritik im Bereich von Ethik bzw. Moralphilosophie, und im vorliegenden Buch tritt sie als selbstständiges Erkenntnisvermögen (hier nennt er sie reflektierende Urteilskraft) zwischen beide und wendet ihre transzendentale Methode auf das Gebiet von Geschmack und Naturbetrachtung an. Mit diesen beiden Begriffen von Urteilskraft (bestimmend und reflektierend) erreichen wir einen Punkt, an dem äußerste Sorgfalt geboten ist. Wer diese zentrale Unterscheidung innerhalb der Urteilskraft nicht versteht, wird die gesamte ›Kritik der Urteilskraft‹ nicht begreifen. Die entscheidende Frage lautet: Von welchem Ausgangspunkt aus soll geurteilt werden? 1. Ist der Ausgangspunkt das Allgemeine, oder: ist als Allgemeines ein Prinzip, ein Gesetz gegeben, so handelt es sich um die bestimmende Urteilskraft. Die dazu korrespondierende Formulierung lautet in Kants Worten: Die Urteilskraft subsumiert das Besondere unter dem Allgemeinen. Thematisch ist sie angesiedelt in der ›Kritik der reinen Vernunft‹. Zwei Beispiele: > Lasse ich einen Stein aus meiner Hand fallen, fliegt er nach unten. Das Besondere ist meine einzelne Handlung, den Stein fallen zu lassen. Das Allgemeine ist in dem Fall das Gesetz, nämlich das Naturgesetz der Schwerkraft, die den Stein nach unten zieht. 16 > Jetzt ein Gerichtsurteil als Beispiel: Ein Mensch wird angeklagt, einen anderen getötet zu haben. Der Richter wird in diesem Falle die einzelne Tat unter das Gesetz eines allgemeinen Tatbestandes stellen, des Mordes oder des Totschlags: Die Urteilskraft subsumiert das Besondere unter das Allgemeine. 2. Ist der Ausgangspunkt das Besondere, d. h., ist das Besondere gegeben, zu dem das Allgemeine gefunden werden soll, so handelt es sich dabei um die reflektierende Urteilskraft. Ein Beispiel: Ich stehe vor einem Gemälde und will ein Urteil fällen, ob es mir gefällt. In diesem Falle ist das Besondere gegeben (das einzelne Kunstwerk), und ich suche für mein Urteil, ob es schön ist, das Allgemeine (ein Gesetz, ein Prinzip, eine Richtlinie) dazu. Eine kleine Warnung: Man könnte versucht sein, bei dem Stein-Beispiel zu denken: Ich gehe von dem Fallenlassen des Steines als dem Besonderen aus und suche nach einem allgemeinen Gesetz, das ich schließlich in dem der Gravitation finde. Das ist falsch, da es sich hier nicht um die reflektierende Urteilskraft handelt. Aber warum? Kant schreibt: »Die bestimmende Urteilskraft unter allgemeinen transzendentalen Gesetzen, die der Verstand gibt, ist nur subsumierend; das Gesetz ist ihr a priori vorgezeichnet, und sie hat also nicht nötig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können.« (A XXIV) Im Klartext heißt das: Im Stein-Beispiel braucht kein Gesetz gedacht/gesucht werden, das Gesetz (der Gravitation) ist in ihm a priori bereits enthalten. Im Gemälde-Beispiel ist kein Gesetz (Prinzip) der Beurteilung von schön a priori enthalten, es muss erst noch gesucht werden. Fazit: Die reflektierende Urteilskraft sucht vom Besonderen aus eine Allgemeinheit, die nicht schon von vornherein feststeht (wie es beim Stein-Beispiel der Fall war)! 17 Es ist häufig zu lesen, Kants Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft sei nicht in seiner ›Kritik der reinen Vernunft‹ enthalten. Dem ist aber nicht so. In KrV A 646f. nennt er das Vermögen, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten, den apodiktischen Gebrauch der Vernunft. Ist das Besondere gewiss, aber die Allgemeinheit dazu noch ein Problem, liegt ein hypothetischer Gebrauch der Vernunft zugrunde. Die späteren Bezeichnungen konstitutiv/bestimmend und reflektiv für die Urteilskraft haben hier die Namen apodiktisch und regulativ. Die endgültige Ausarbeitung der allgemeinen Bestimmung des Vermögens, unter Regeln zu subsumieren, und zwar nach den Regeln von konstitutiver und reflektiver Urteilskraft, bleibt allerdings der ›Kritik der Urteilskraft‹ vorbehalten. Ästhetik Wer vielleicht die ›Kritik der reinen Vernunft‹ noch vor Augen hat, ist überrascht. Dort verwendet Kant den Begriff noch im strengen übertragenen Sinn: aisthesis bedeutet im Griechischen Wahrnehmung, genauer noch: sinnliche Wahrnehmung. Somit meint »transzendentale Ästhetik« bei Kant ursprünglich die Bedingung der Möglichkeit für Wahrnehmung, oder einfacher: die Voraussetzungen, etwas wahrnehmen zu können. Diese Voraussetzungen wurden in den reinen Anschauungsformen Raum und Zeit gefunden. Ganz anders nun die ›Kritik der Urteilskraft‹. Hier verwendet Kant das Wort Ästhetik im heute noch gängigen (groben) Sinn von der Wissenschaft vom Schönen und der Kunst. Als Begründer der Ästhetik als philosophischer Disziplin darf der Lehrer Kants, Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), gelten, der das Schöne als »erscheinende Vollkommenheit« deutete. Aber schon vor Baumgarten hatte der Begriff des Schönen einen langen Deutungswandel durchlaufen. Bei Platon waren Maß und Harmonie das Wesen des Schönen, bei Aristoteles »Wohlabgemessenheit« und Begrenzung, während die Renaissance wieder auf Platon zurückgriff. Im 18 Großen und Ganzen kann man sagen, dass neben dem Aspekt der subjektiven ästhetischen Erfahrung das Schöne hauptsächlich als objektives Phänomen begriffen wurde. Der Begriff Vollkommenheit als Definition von Schönheit taucht schon bei Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) auf. Der Aufklärer Christian Wolff (1679–1754) führt diesen Gedanken weiter und schreibt: »Die Schönheit besteht in der Vollkommenheit der Sache, sofern sie in Kraft derselben geschickt ist, Lust in uns hervorzubringen.«1 Noch ist Schönheit etwas Objektives, das den Dingen anhaftet. Nur graduell vom logischen Erkennen unterschieden, ist Schönheit für Leibniz und Wolff eine »verworrene« Erkenntnis von Vollkommenheit. Kant würdigt dieses Verständnis im § 15 seines Buches mit den Worten: Eine objektive innere Zweckmäßigkeit, d. i. Vollkommenheit, kommt dem Prädikate der Schönheit schon näher, und ist daher auch von namhaften Philosophen, doch mit dem Beisatze, wenn sie verworren gedacht wird, für einerlei mit der Schönheit gehalten worden. Der Kant-Lehrer Baumgarten greift auf Wolff zurück und übernimmt den Gedanken von der Schönheit als Vollkommenheit, ebenso sein Schüler G. F. Meier, dessen Buch Kant bei seinen Vorlesungen zugrunde lag. Nach H.-G. Juchem scheint es schon bei Baumgarten einen Wandel gegeben zu haben, denn bei Kant regen sich erste Zweifel, ob alle Seelenäußerungen Erkenntnisse seien. Schönheit müsse etwas sein, meint er schon früh, das mit dem Subjekt zusammenhänge, sie sei also kein objektiv Erkanntes, das nicht zu einem Begriff, sondern zu einem Gefühl führe. Bestätigt wurde Kant von seinem Zeitgenossen, dem Schweizer Philosophen J. G. Sulzer, mit dem er in Briefkontakt stand und den er den »vortrefflichen Sulzer« nannte. »Die Empfindung«, schreibt Sulzer, »ist eine Handlung der Seele, die mit dem Gegenstand, der sie hervorbringt, nichts gemein hat ... Nicht den Gegenstand empfindet man, sondern sich selbst.«2 19 Ausschlaggebend für die Entstehung der wissenschaftlichen Ästhetik ist somit die Überwindung der Auffassung von – wenn auch verworrener – Vollkommenheit. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Kant die Widerlegung dessen, was bislang über Ästhetik gelehrt wurde, dem Ergebnis der Überlegungen seiner Zeitgenossen verdankt, die vor ihm eine Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien für nicht möglich gehalten hatten. Subjekt und Individualität Die Wende hin zum Subjektiven war vollzogen. Sie ist nicht denkbar ohne den Einbruch des Individualismus in die abendländische Welt. Zwar wurde in der Renaissance Individualität erlebt, aber sie kam nicht zum Bewusstsein. Erst da, wo der Mensch sich reflektiert, beginnt die Epoche der Ästhetik, behauptet Alfred Baeumler. Es ist die Ästhetik, die das Subjekt im Erlebnis des Geschmacks voraussetzt und die Individualität zum Gegenstand des Denkens macht. Somit ist der Oberbegriff von Ästhetik und Teleologie (= der Zweckgerichtetheit) die Individualität, da beide nicht durch das Allgemeine eines Gesetzes zu erfassen sind. Baeumler hat zu Recht darauf hingewiesen, dass im Gegensatz zum ästhetischen Menschen der Mensch als Subjekt der Religion an eine (von diesem empfundene) Objektivität gebunden ist, die sich jeder begrifflichen Erkenntnis entzieht. Als Subjekt der Wissenschaft ist der Mensch nur Gegenstand des Wissens; als Subjekt der Biologie unterliegt er den allgemeinen Gesetzen der Natur; nur als Subjekt der Ethik scheint der Mensch in seinem Gesamtsein berücksichtigt zu sein, allerdings unter der Gefahr, dort unter einer »individualauslöschenden Norm« zu stehen. Seiner Einzigartigkeit wird der Mensch sich nur als Subjekt der Ästhetik bewusst.3 So kann man abschließend sagen, dass Ästhetik die Individualität zu begreifen lehrt; zugleich ist damit der Weg 20