2 Die Herausforderung durch Kant Inhalt |49 S.49-68 2.1 Kants Kritik der Metaphysik Kants Stellungnahme zu den Gottesbeweisen stützt sich auf seine allgemeine Kritik der Metaphysik und auf eine spezielle Kritik der ihm in der rationalistischen Philosophie vorliegenden Gottesbeweise. Die allgemeine Kritik der Metaphysik ist eine Folge seiner Transzendentalphilosophie, die er zunächst in seiner >Kritik der reinen Vernunft< entfaltet hat. Dieser Denkansatz kann verständlich gemacht werden als Versuch zur Lösung von zwei Gegensätzen. Der eine Gegensatz betrifft ein erkenntnistheoretisches Problem. Gemäß der empiristischen Kritik von Hume können nur auf Sinnesgehalte zurückführbare Erkenntnisgehalte gültige Wirklichkeitserkenntnis enthalten. Für Kant ist der Geltungsanspruch nicht nur der Mathematik, sondern auch der Newtonschen Physik mit ihren allgemeinen Gesetzesaussagen und auch der alltäglichen Erfahrungserkenntnis grundsätzlich berechtigt, obwohl darin empiristisch nicht begründbare Gehalte tragend sind: z. B. Gesetzesaussagen, Dingbegriffe. Wie kann dann aber dieser Geltungsanspruch begründet werden? Der andere Gegensatz betrifft die mechanistisch-materialistischen Folgerungen, die sich aus der Naturwissenschaft zu ergeben scheinen. Ihnen gemäß wäre menschliche Freiheit unmöglich. Dennoch ist Kant persönlich überzeugt von der grundlegenden Bedeutung von Verantwortung und Pflicht im menschlichen Leben, die aber ohne Freiheit sinnlos wären. Kants Lösungsversuch soll zugleich beide Gegensätze aufheben. Die in der wissenschaftlichen und auch vorwissenschaftlichen Erfahrungserkenntnis wirksamen Einsichten, die nicht durch Sinneswahrnehmung begründet werden können, sind nach ihm dadurch gerechtfertigt, dass sie Erfahrungserkenntnis überhaupt erst mög- |50 lich machen. Ihre Geltung sei jedoch nur für Aussagen über Erfahrungsgegenstände erwiesen, nicht aber für ein darüber hinausgehendes Denken. Daher könnten auch keine Folgerungen für das Ding an sich, also Folgerungen für metaphysische Aussagen, für Aussagen mit weltanschaulicher Relevanz, gezogen werden. Dies gilt sowohl für Aussagen des mechanistischen Materialismus wie auch für Aussagen über Gott, über die Seele oder die Freiheit des Menschen. So wird die Grenze der theoretischen Vernunft enger gezogen. Das Faktum der menschlichen Freiheit und die nach Meinung Kants damit zusammenhängenden Postulate der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes ergeben sich für ihn im Rahmen der praktischen Vernunft. Die Eingrenzung der Zuständigkeit des Erkennens, der theoretischen Vernunft, habe dafür den Raum geschaffen. 2.2 Das Unbedingte als regulative Idee Der Schwerpunkt von Kants Kritik der Gottesbeweise liegt wohl in seiner allgemeinen Kritik an der Möglichkeit von Metaphysik, das heißt von Erkenntnis über Gegenstände, die nicht dem Bereich der Gegenstände möglicher Erfahrung angehören. Wenn wir auch notwendig die Idee des Unbedingten denken, so können wir dieses Unbedingte doch nicht erkennen. Für Kant sind solche Ideen nur regulativ, nicht konstitutiv, das heißt, sie leiten unseren Erkenntnisfortschritt, sie sind aber nicht selbst Erkenntnisinhalte. Diesem Standpunkt zufolge gelten Begriffe, die wir in unserer Erfahrungserkenntnis zu Recht verwenden, wie jene der Kausalität und der Substanz, wie auch allgemeine Aussagen, in denen diese Begriffe vorkommen, nur für den Erfahrungsbereich. Das hat zur Folge, dass wir nach Kant keine Begriffe von einer Ursache bilden können, welche nicht die charakteristischen Züge der erfahrbaren Dinge trägt. Damit sind aber auch keine Schlüsse möglich, die uns mittels eines Kausalprinzips zu einer vorausgesetzten absoluten Erstursache hinführen könnten. Eine solche Erstursache ist nach Kant nicht begrifflich fassbar. Das Kausalprinzip hat nach ihm die Form, dass jede Ursache wieder jene Züge an sich trägt, die nach |51 einer weiteren Ursache fragen lassen. Damit ist der Weg abgeschnitten, der zu einer Ursache führt, in der ein regressus in infinitum abbricht: eine erste Ursache, die selbst nicht verursacht ist, die nicht naturgesetzlich, sondern frei wirkt, die das Geschehen der erfahrbaren Welt ermöglicht, aber ihr selbst nicht angehört. Das ist die Folge von Kants Beschränkung der theoretischen Vernunft auf den Bereich der Gegenstände möglicher Erfahrung. In seiner >Kritik der reinen Vernunft<,1 seinem Hauptwerk, das die Wende des Denkens zur Transzendentalphilosophie kennzeichnet und in dem er seinen erkenntnistheoretischen Standpunkt herausarbeitet, beschäftigt sich Kant mit einer Kritik der in der philosophischen Gotteslehre verwendeten Gedankengänge vor allem an zwei Stellen, nämlich bei Behandlung der Antinomien der reinen Vernunft und im Kapitel über das transzendentale Ideal. 2.2.1 Antinomien der reinen Vernunft Die Antinomien suchen plausible Gedankengänge, die in ähnlicher Form in der Philosophie aufgetreten sind, aber zu entgegengesetzten Folgerungen führen, einander gegenüberzustellen. Sie entstehen, wenn wir allgemeine Sätze, die nach Kant nur für die Gegenstände der Erfahrung gelten, auf die Welt als ganze anwenden oder wenn wir das regulative Ideal der Vernunft, zum Bedingten das Unbedingte zu denken, selbst als Erkenntnis betrachten. So stellt die dritteAntinomie der These, dass Kausalität nach Gesetzen der Natur Kausalität aus Freiheit voraussetze, die Antithese gegenüber, dass es keine Freiheit gebe, sondern alles in der Welt nach Gesetzen der Natur geschehe. Die vierte Antinomie stellt der These, dass die sinnlich wahrnehmbaren Veränderungen ein schlechthin notwendiges Wesen voraussetzen, die Antithese gegenüber, ein unbedingtes Wesen widerstreite der Weise, wie wir etwas erklären können. Die Antinomien zeigen - und das ist wohl anzuerkennen -, dass die Erkenntnisweise der Erfahrungswissenschaft und die Weise, wie wir das Ganze der Wirklichkeit denken - also eine metaphysische |52 Denkweise -, zu unterscheiden und in ihrer Eigenart zu berücksichtigen sind. Offen bleibt zunächst die Frage, ob die eigentümliche Weise, wie wir das Ganze denken, doch als eine Art von Erkenntnis - nämlich als philosophische - aufzufassen sei, und zwar deshalb, weil das in ihr Angezielte auch die erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis erst ermöglicht und somit auch für diese konstitutiv ist. In diese Richtung wurde der transzendental-philosophische Ansatz später weiterentwickelt, sowohl im Deutschen Idealismus wie auch bei Marēchal. Von diesem Gesichtspunkt aus wird es als eine Grenze Kants angesehen, dass er dieses Denken des Ganzen und damit die Idee des Unbedingten nur für regulativ hält. 2.2.2 Possibilienbeweis Mit der Idee des Unbedingten beschäftigt sich Kant im Kapitel über das transzendentale Ideal, in dem er auch seine spezielle Kritik der Gottesbeweise darlegt. Diese Kritik findet sich im wesentlichen bereits in einer früheren Schrift Kants, nämlich in >Der einzige mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes< von 1763. Hier wird jedoch noch eine Art von Possibilienbeweis anerkannt. Im Possibilienbeweis (possibile = lat.: möglich, das Mögliche) wird ausgegangen von der Frage nach den Gründen der Möglichkeit von Dingen. Als gegeben wird angesehen, dass einige Dinge existieren und dass sie daher auch innerlich möglich sein müssen. Daher gibt es innerlich Mögliches, das existieren kann. Gefragt wird, was für diese Gegebenheit als Grund vorausgesetzt ist. Ein Grund für die tatsächliche Existenz ist die innere Möglichkeit der Dinge - denn was unmöglich ist, kann nicht existieren. Damit ist aber die Suche nach dem Grund noch nicht zu Ende. Denn ob etwas möglich ist oder nicht, hängt nicht von unserer Willkür 1 1781, 21787, abgekürzt »KrV«, 1. Aufl. zitiert mit »A« und Seitenzahl, 2. Aufl. mit »B« und Seitenzahl. ab, sondern ist vorgegeben. Was ist aber das Maß dafür? Worin gründet die innere Möglichkeit der Dinge? Der Grund der Möglichkeit liegt nicht in der Existenz der Dinge, denn diese setzt bereits die Möglichkeit voraus. Dieser Grund muss zwei Elemente vereinen: Erstens muss dieser Grund selbst notwendig sein. Während nämlich die tatsächlich existierenden Dinge sein, zu anderer |53 Zeit aber auch nicht existieren können, also kontingent sind, trifft das für die vorauszusetzende Seinsmöglichkeit nicht zu, denn diese ist, unabhängig von der Zeit, gegeben oder nicht gegeben: Etwas ist notwendig möglich oder notwendig unmöglich. Zweitens muss dieser Grund der Daseinsordnung angehören, existieren. Denn die Möglichkeiten sind Möglichkeiten zum Dasein, zum Existieren. Dieser notwendige Grund der Möglichkeit zum Dasein muss also selbst der Daseinsordnung angehören, existieren. Der gesuchte, von der Möglichkeit kontingent existierender Dinge vorausgesetzte Grund muss daher ein Notwendiges in der Ordnung des Daseins sein, das inhaltlich daher so zu bestimmen ist, dass es Grund aller Daseinsmöglichkeiten sein kann: »Alle Möglichkeit setzet etwas Wirkliches voraus, worin und wodurch alles Denkliche gegeben ist. Demnach ist eine gewisse Wirklichkeit, deren Aufhebung selbst alle innere Möglichkeit überhaupt aufheben würde. Dasjenige aber, dessen Aufhebung oder Verneinung alle Möglichkeit vertilgt, ist schlechterdings notwendig. Demnach existiert etwas absolut notwendiger Weise.«2 In der >Kritik der reinen Vernunft< distanziert sich Kant aufgrund seiner erkenntniskritischen Position auch von diesem Argument, weil zwar das Ideal als Urbild durchgängiger Bestimmtheit gedacht werden könne, nicht aber mit Recht vergegenständlicht, das heißt als erkennbarer Gegenstand aufgefasst werden dürfe: »Das Ideal ist also das Urbild aller Dinge, welche insgesamt, als mangelhafte Copien, den Stoff zu ihrer Möglichkeit daher nehmen, und, indem sie demselben mehr oder weniger nahe kommen, dennoch jederzeit unendlich weit daran fehlen, es zu erreichen. «3 »Nun können uns in der Tat keine anderen Gegenstände, als die der Sinne, und nirgends, als in dem Context einer möglichen Erfahrung gegeben werden, folglich ist nichts für uns ein Gegenstand, wenn es nicht den Inbegriff aller empirischen Realität als Bedingung seiner Möglichkeit voraussetzt. Nach einer natürlichen Illusion sehen wir nun das für einen Grundsatz an, der von allen Dingen überhaupt gelten müsse, welcher eigentlich nur von denen gilt, die als Gegenstände unserer Sinne gegeben werden. Folglich werden wir das empirische Prinzip unserer Begriffe der Möglichkeit der |54 Dinge, als Erscheinungen, durch Weglassung dieser Einschränkung für ein transzendentales Prinzip der Möglichkeit der Dinge überhaupt halten. Dass wir aber hernach diese Idee vom Inbegriffe aller Realität hypostasieren, kommt daher: weil wir die distributive Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die collective Einheit eines Erfahrungsganzen dialektisch verwandeln, und an diesem Ganzen der Erscheinung uns ein einzelnes Ding denken, was alle empirische Realität in sich enthält, welches denn, vermittelst der schon gedachten transzendentalen Subreption, mit dem Begriffe eines Dinges verwechselt wird, was an der Spitze der Möglichkeit aller Dinge steht, zu deren durchgängiger Bestimmung es die realen Bedingungen hergibt.«4 2 Der einzige mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, '1763, A 29. KrV B 606. 4 KrV B 610f. 3 Die Stellungnahme zu dieser Kritik, dergemäß die Idee des Unbedingten problematisch bleibt, hängt davon ab, ob die Idee des Unbedingten für unser Erkennen konstitutiv ist.5 2.3 Das Dasein Gottes als Postulat der praktischen Vernunft Für Kant ist die Idee des Unbedingten nur regulativ, daher bleibt das Ideal der reinen Vernunft für die theoretische Vernunft unzugänglich, nicht erkennbar. In der praktischen Vernunft jedoch wird sie als Postulat des sittlichen Anspruchs der Pflicht erwiesen. 2.3.1 Rekonstruktion der Gedankenführung Ausgangspunkt für die Postulate der praktischen Vernunft ist für Kant die Gegebenheit der sittlichen Verantwortung, der unbedingten Verpflichtung, das Phänomen des Sollens, der Pflicht. Die Eigenart dieses unbedingten praktischen Gesetzes findet ihre Formulierung im kategorischen Imperativ. Für Kant steht dieser unbedingte Anspruch der Pflicht fest als »Faktum der Vernunft«.6 Menschliches Handeln, das dem unbedingten Sollensanspruch genügt, wird nun in einen bestimmten begrifflichen Rahmen hinein |55 gestellt. Zunächst ist es für Kant eine unabweisbare Erfahrung, dass damit, dass wir dem Gewissen folgen und unsere Pflicht tun, nicht gewährleistet ist, dass es uns auch gutgeht, dass wir glücklich sind in dem Sinn, in dem gewöhnlich das Glück der Menschen vorgestellt und erstrebt wird. Diese leidvolle Erfahrung wird zunächst dadurch verständlich, dass unsere Erfüllung von anderen Bestimmungsgründen abhängt, die in der Natur liegen und auf die unser Wille nicht ohne weiteres Einfluss hat. So stellt sich folgendes Problem: Einerseits gehört es zur sittlichen Pflicht, das Glück des Menschen zu fördern. Andererseits ist das Glück selbst noch keine moralische Kategorie, das heißt, das Fehlen des Glücks kann nicht als Aufhebung des Bestehens der Pflicht angesehen werden. Die Unbedingtheit der Pflicht verbietet also, dass der Mensch der Pflicht zuwiderhandelt, um sein Glück zu erstreben. Wenn aber bei pflichtgemäßem Handeln der Mensch nicht des Glücks teilhaft wird, scheint das Handeln sinnlos zu werden. Wie ist nun menschliches Handeln aufzufassen, damit die Spannung von Glück und Pflicht nicht den Sinn des Handelns und die Unbedingtheit des Sollens aufhebt? Nach Kant muss gefolgert werden, dass gegen den Anschein »jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat«.7 In dem begrifflichen Rahmen, in dem dieses Problem gestellt wurde, wird nun weiter gefolgert: Da das sittliche Handeln unbedingt geboten ist und da außerdem das Streben nach Glückseligkeit notwendig zum Menschen gehört, muss dazu auch gehören, dass Sittlichkeit und Glückseligkeit, deren Verbindung Kant als »höchstes Gut« bezeichnet, so aufeinander bezogen sind, dass das Bewirken des höchsten Gutes das notwendige Objekt eines durch das moralische Gesetz bestimmbaren Willens ist.8 Nach dem Zeugnis der Erfahrung können wir in diesem Leben nicht durch unser Tun dieses höchste Gut verwirklichen. Dieses höchste Gut gehört aber zu den notwendigen Voraussetzungen des sittlich bestimmten menschlichen Handelns. |56 Die Verwirklichung des höchsten Gutes geschieht daher nicht in diesem Leben, und sie wird bewirkt durch eine Ursache, welche sowohl die Natur wie auch die Sittenordnung begründet und dadurch den Grund der Zusammenordnung von Natur- und Sittenordnung beinhaltet. Nach Kant ist daher ein Grund der Natur zu postulieren, welcher Übereinstimmung von 5 W. Brugger, Das Unbedingte in Kants Kritik der reinen Vernunft, in: J. B. Lotz (Hrsg.), Kant und die Scholastik heute, Pullach 1955, 109-153, sucht aus Ansätzen bei Kant den konstitutiven Charakter der Idee des Unbedingten zu zeigen. 6 KpV A 56; »KpV«=Kritik der praktischen Vernunft, 1783. Zum »Faktum der Vernunft« vgl. O. Schwemmer, Philosophie der Praxis, Frankfurt 1980,193-206. 7 KrV B 837 8 KpV A 219. Natur- und Sittenordnung schafft und damit ermöglicht, dass das höchste Gut als sittlicher Endzweck des Menschen verwirklicht werden kann. Dieser Urgrund der Natur muss daher zugleich als »moralisches Wesen«, als »moralischer Weltherrscher«9 verstanden werden und daher als ein Wesen, das fähig ist zu Handlungen nach der Vorstellung von Gesetzen, das heißt als personaler Gott. 2.3.2 Voraussetzungen Dieser Gedankengang hängt von folgenden Voraussetzungen ab: Die ganze Überlegung läuft unter der Annahme, dass menschliches Handeln sinnvoll sei. Diese Annahme scheint dadurch gestützt, dass eine Verneinung dieser Sinnhaftigkeit zu einer Relativierung des kategorischen Imperativs und damit zur Aufhebung der als grundlegend angesehenen Erfahrung bzw. des Faktums der Vernunft führen würde. Weiter wird die Annahme als berechtigt angesehen, dass man bei der Auslegung der Frage nach der Sinnhaftigkeit menschliches Handeln unter bestimmten Begriffen denken könne. Das wird gestützt durch die Begriffe, mit denen ein Einwand gegen die Sinnhaftigkeit formuliert wird. Aus diesen Voraussetzungen wird gefolgert, dass ein Widerspruch zum unbedingten Anspruch des Sollens entstünde, würde man nicht den Inhalt des Postulats annehmen, nämlich das Dasein Gottes, des letzten Grundes der Natur- und Sittenordnung, als notwendige Bedingung für das Phänomen des sittlichen Sollens. Der Inhalt des Postulats ist mit den Mitteln des begrifflichen Rahmens formuliert. Da die Aussagen dieses begrifflichen Rahmens nicht für sich erweisbare Erkenntnisse sind, unterscheidet sich das Ergebnis, das als Postulat der praktischen Vernunft bezeichnet wird, von theoretischer Erkenntnis im Sinne Kants. |57 Diese Folgerung hat also eine Art projektiven Charakter: Es werden Voraussetzungen an das gegebene Phänomen des unbedingten Sollens herangetragen. DieBerechtigungdieserVoraussetzungenwird nicht für sich als Erkenntnis überprüft. Unter Annahme dieser Voraussetzungen werden Folgerungen gezogen, die dadurch gerechtfertigt erscheinen, dass ihr Gegenteil mit dem Phänomen unvereinbar wäre. Insofern handelt es sich um notwendige Bedingungen, die jedoch im Bereich der herangebrachten Voraussetzungen formuliert sind, im vorausgesetzten begrifflichen Rahmen. Von Kant wird dies nicht als Erkenntnis angesprochen, weil diese Voraussetzungen selbst nicht als Erkenntnis begründet sind - und auch nicht den Forderungen, die Kant für Erkenntnis aufstellt, entsprechen. Allerdings kommt den Voraussetzungen große Plausibilität zu. 2.3.3 Bedeutung für das Anliegen Kants Damit wird nun deutlich, wie sich das Vorhaben Kants erfüllt, nämlich gerade durch Lösung des erkenntnistheoretischen Problems, das ihn zur Einschränkung des Gebrauchs der theoretischen Vernunft auf Gegenstände möglicher Erfahrung und damit zur Kritik der Metaphysik und auf sie gegründeter Gottesbeweise führt, Raum zu bekommen für das Ernstnehmen menschlicher Freiheit und für ein auf Gott bezogenes Verständnis menschlicher Verantwortung: »Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten benehme, weil sie sich, um zu diesen zu gelangen, solcher Grundsätze bedienen muss, die, indem sie in der Tat bloß auf Gegenstände möglicher Erfahrung reichen, wenn sie gleichwohl auf das angewandt werden, was nicht ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, wirklich dieses jederzeit in Erscheinung verwandeln, und so alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft für unmöglich erklären. Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatism der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fort zukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.«9 |58 2.3.4 Struktur postulatorischen Denkens Daraus lässt sich eine Grundstruktur postulaiorischen Denkens hervorheben: In grundlegenden (oder als grundlegend angesehenen) Erfahrungen werden Werte, Aufgaben des Menschen sichtbar. Zugleich wird durch die Erfahrung der Nichtverwirklichung des dem Menschen Aufgegebenen und unabdingbar zu Realisierenden ein Widerstreit zu jenen Werten aufgezeigt. Im Hinblick auf eine Fassung des Verständnisses des Menschen mittels bestimmter Begriffe wird dann eine Auffassung formuliert, die deshalb als berechtigt postuliert wird, weil ihr Gegenteil dem in der grundlegenden Erfahrung Gegebenen widersprechen würde. Diese Struktur postulatorischen Denkens führt bei Kant zum Postulat des Daseins Gottes. Bei anderen Denkern führt sie zu dem Postulat, dass nicht an Gott geglaubt werden könne. Die Problematik dieser Gedankengänge, die sich in gegensätzlichen Folgerungen zeigt, scheint begründet zu sein im Verzicht darauf, den begrifflichen Rahmen als Erkenntnis anzusehen und dementsprechend zu begründen. Deshalb dürfte es notwendig sein, den begrifflichen Rahmen, in dem derartige Fragen formuliert werden, einer entsprechenden Analyse zu unterziehen. Unserer Meinung nach war dies eine der Hauptaufgaben der Philosophie, besonders der Metaphysik. Gegenüber dieser Stellung Kants zur Gottesfrage ist die in der >Kritik der reinen Vernunft< im wesentlichen aus seiner vorkritischen Zeit übernommene Kritik einzelner Gottesbeweise nachrangig. 2.4 Kants spezielle Kritik der Gottesbeweise Die Gottesbeweise, die Kant von der rationalistischen Philosophie her vorliegen, werden von ihm in drei Gruppen eingeteilt: entweder sie schließen von bloßen Begriffen auf das Dasein einer höchsten Ursache (ontologischer Beweis), oder sie gehen von der unbestimmten Erfahrung aus, dass irgend etwas existiert (kosmologischer Beweis), oder von besonderen Beschaffenheiten unserer Sinnenwelt (physikotheologischer Beweis). Der ontologische Beweis krankt, so Kant, daran, dass die Existenz irrtümlich genauso als Eigenschaft behandelt wird wie etwa eine |59 Eigenschaft, die als für ein Dreieck notwendig erkennbar ist, z. B. dass es eine Winkelsumme von 180 Grad hat. Aus einer begrifflichen Analyse allein kann aber nie etwas über die Wirklichkeit ausgemacht werden. Der kosmologische Beweis führt zu einem notwendig Existierenden. Will man aber dessen Eigenschaften näher bestimmen, muss man nach Kant einen Gedankengang verwenden, der dem ontologischen Beweis gleichwertig ist (vgl. 6.1.3). Der physikotheologische oder teleologische Beweis »verdient jederzeit mit Achtung genannt zu werden. Er ist der älteste, klarste und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessene«.10 Er führt jedoch nach Kant nur zu einem Weltbaumeister, nicht aber zu einem Weltschöpfer - außer man mache wieder eine Anleihe beim kosmologischen Beweis, der auf den ontologischen und dessen Ungenügen zurückführe. Bei der Analyse einzelner Beweise wird zu beachten sein, ob in ihnen die von Kant beanstandeten Fehler vorkommen! 9 KrV B XXX. KrVB 650f. 10 Literatur W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, Frankfurt 1967 J. Schmucker, Die positiven Ansätze Kants zur Lösung des philosophischen Gottesproblems, in: K. Krenn (Hrsg.), Die wirkliche Wirklichkeit Gottes, Paderborn 1974, 61-76 W. Brugger, Summe einer philosophischen Gotteslehre, München 1979, n. 17, S. 250-276 Ders., Das Unbedingte in Kants >Kritik der reinen Vernunft<, in: J. B. Lotz (Hrsg.), Kant und die Scholastik heute, Pullach 1955, 109-153 INHALT: Die Herausforderung durch Kant Kants Kritik der Metaphysik Das Unbedingte als regulative Idee Antinomien der reinen Vernunft Possibilienbeweis Das Dasein Gottes als Postulat der praktischen Vernunft Rekonstruktion der Gedankenführung Voraussetzungen Bedeutung für das Anliegen Kants Struktur postulatorischen Denkens Kants spezielle Kritik der Gottesbeweise