c Research Consortium on Nearby Stars (RECONS) Kennen Sie ω1 ? Kennen Sie ω1? Alpha Centauri AB, Infrarotaufnahme von Oliver Deiser ω1 nimmt in der mengentheoretischen Forschung seit Cantor und Hilbert bis zum heutigen Tag eine besondere Stellung ein. ω1 ist der Alpha-Centauri der Mengenlehre, es ist weit weg, aber durchaus in Reichweite. Machen wir uns also auf die Reise von den natürlichen Zahlen bis dorthin. Es ist ein Weg über Wohlordnungen. Wohlordnungen und Ordinalzahlen Wohlordnungen spielen in der Mengenlehre eine ausgezeichnete Rolle. Eine totale Ordnung (P, <) ist eine Wohlordnung, falls jede nichtleere Teilmenge von P ein <-kleinstes Element besitzt. Wohlordnungen sind „Perlenketten“, wobei Schlingen und „Häufungspunkte nach links“, also unendliche absteigende Teilketten nicht auftreten. „Häufungspunkte nach rechts“ können dagegen in großer Zahl vorhanden sein. Wohlordnungen sind durch ihre Länge bestimmt: Sind P1 und P2 Wohlordnungen, so ist P1 ordnungsisomorph zu einem Anfangsstück von P2 oder umgekehrt. Je zwei unserer Perlenketten können wir also nebeneinander legen und Perle für Perle einander zuordnen, bis wir das Ende einer der beiden Ketten erreicht haben. Dies ist das fundamentale Resultat über Wohlordnungen, und es ruft nach Repräsentanten für Wohlordnungen mit gleicher Länge. Hier kommen die Ordinalzahlen ins Spiel: Eine Menge α heißt Ordinalzahl, falls gilt: α ist transitiv und (α, ∈) ist eine Wohlordnung. Die ∈-Relation spielt also die Rolle von <. Eine Menge M heißt hierbei transitiv, falls aus x ∈ M folgt x ⊆ M . (Das „Hab und Gut“ des Lesers ist ein naives Beispiel für eine transitive Menge: Mit einer Sache besitzen Sie auch alle Teile dieser Sache.) Man kann nun zeigen, dass jede Wohlordnung ordnungsisomorph zu einer eindeutigen Ordinalzahl ist. DMV-Mitteilungen 1/2001 Die Ordinalzahlen bilden das Rückgrat der Wohlordnungen. Jede Ordinalzahl besteht ausschließlich aus Ordinalzahlen und für α, β definiert man α < β gdw α ∈ β. Die Ordinalzahlen werden dadurch wohlgeordnet und es gilt stets α = {β | β < α}, d. h. eine Ordinalzahl ist die Menge ihrer Vorgänger. Wie sieht diese Ordnung aus? Die ersten Ordinalzahlen sind die mengentheoretisch definierten natürlichen Zahlen 0 = ∅, 1 = {0}, 2 = {0, 1}, . . . , n + 1 = n ∪ {n} = {0, . . . , n} . Die Menge der natürlichen Zahlen {0, 1, . . .} bildet die nächstgrößere Ordinalzahl und wird mit N, ω oder auch ω0 bezeichnet. 䉳 0, 1, 2, ... 䉳 ω, ω +1, ... 䉳 ω + ω , ..., ..., ... ω1 , ... Die ersten Ordinalzahlen Allgemein kommt man von einer Ordinalzahl α zur nächstgrößeren durch die Operation α+ 1 := α∪{α}. Und wenn Γ eine Menge von Ordinalzahlen ist, so ist Γ := {β | β ∈ α für ein α ∈ Γ} eine Ordinalzahl und das Supremum von Γ. Nach ω kommen ω + 1, ω + 2 = (ω + 1) + 1, usw. Danach kommt ω + ω. Diese Perlenkette besteht aus zwei Kopien der natürlichen Zahlen. Jetzt kommt ω+ω+1, . . . , ω+ω+ω, . . . , . . . , ω+ω+ω+. . . =: ω·ω. Ordnen wir N × N lexikographisch, so erhalten wir eine Wohlordnung vom Typ ω · ω. Nach ω · ω kommt ω · ω + 1 usw. usf. Unauthenticated Download Date | 10/31/17 2:03 AM 17 Oliver Deiser ω1 und die Kontinuumshypothese Alle Ordinalzahlen, die wir auf diese Weise erreichen, haben etwas gemeinsam: Sie sind alle endlich oder abzählbar unendlich. Es gibt aber eine kleinste Ordinalzahl, die nicht mehr abzählbar ist, und diese ist ω1 . Ihre Existenz beweist man aus den Basis-Axiomen der Mengenlehre ZFC (Zermelo-Fraenkel Axiomatik mit Auswahlaxiom). Die Definition ist: ω1 : = min{α | α ist α ist = sup{α | α ist α ist Ordinalzahl und überabzählbar} Ordinalzahl und abzählbar} ω1 verhält sich zu „abzählbar“ wie N zu „endlich“. Das ist sicher eine herausragende Stellung! ω1 taucht in der berühmten Cantorschen Kontinuumshypothese (CH) in natürlicher Weise auf: (CH) Es gibt eine Bijektion zwischen ω1 und R. Diese Formulierung von (CH) ist äquivalent zu der bekannten Form: „Jede Teilmenge von R ist endlich, abzählbar oder gleichmächtig zu R.“ Wahrscheinlich werden Sie davon gehört haben, dass (CH) im Rahmen der üblichen Mathematik weder beweisbar noch widerlegbar ist. Dieses fundamentale Resultat haben Kurt Gödel (1938) und Paul Cohen (1963) gezeigt. Im Rahmen der üblichen Mathematik heißt: Auf der Basis der Axiome der Mengenlehre ZFC. (CH) liegt außerhalb der Folgerungen, die wir aus unseren mathematischen Grund-Intuitionen ziehen können. Werden wir je erfahren, wie groß R ist? Ist eine unlösbare Hypothese überhaupt wahr oder falsch? Gibt es starke neue Axiome, die (CH) entscheiden? Welche Auswirkungen auf die Mathematik haben sie? Zurück zu ω1 ! Sie ist die erste überabzählbare Ordinalzahl, ähnlich faszinierend wie R, vielleicht kleiner als R, vielleicht gleichmächtig zu R. Wir haben nur die Definition. Um ω1 besser zu verstehen, betrachten wir nun Abschluss-Prozesse. Ein Abschluss-Prozess der Länge ω und diese beiden Bedingungen sind schnittstabil. Feiner als „separate and cut“ ist jedoch die Lösung „von unten“: Antwort B: Setze Y = „der Abschluss von X0 unter f “. Hierzu definiert man rekursivXn+1 = Xn ∪f [Xn ] für n ∈ ω, und setzt dann Y = n∈ω Xn . Wir fügen zu X0 das Bild von X0 unter f hinzu, und erhalten X1 . Dann fügen wir die Bilder von X1 unter f hinzu usw. Die Kenntnis der Rekursion über die natürlichen Zahlen vorausgesetzt, sind die Beweise der Korrektheit der beiden Antworten jeweils elementar. Die zweite Methode zur Identifizierung von Y liefert aber eine ⊆-aufsteigende Folge X0 ⊆ X1 ⊆ X2 ⊆ . . . von Approximationen an Y und damit ein δ : Y → ω, das die minimale Anzahl von Schritten angibt, die notwendig ist, um ein gegebenes y ∈ Y von X0 aus mittels der Funktion f zu erreichen: δ(y) = „dasjenige n ∈ ω mit y ∈ Xn − Xn−1 “, wobei X−1 := ∅. (Fassen wir G = (X, f ) als einen gerichteten Graphen auf, so ist δ(y) = d(y, X0 ) = min{d(y, x) | x ∈ X0 }, mit dem üblichen Abstand d auf G.) Die Darstellung Y = n∈ω Xn erlaubt zudem Induktionsbeweise über Y : Wir können für eine Eigenschaft φ die Aussage ∀x ∈ Y φ(x) zeigen durch einen induktiven Beweis von ∀n ∈ ω ∀x ∈ Xn φ(x). Solche Vorteile hat die erste Antwort nicht zu bieten. Würden Sie den von zwei Vektoren im R3 erzeugten Untervektorraum als Schnitt aller Untervektorräume definieren, die die beiden Vektoren enthalten? Der obige Abschluss-Prozess zur Gewinnung von Y hat die Länge ω; nach ω-vielen Schritten bilden wir die Vereinigung und sind fertig. Bei komplexeren Problemen kann es vorkommen, dass ω-viele Schritte nicht ausreichen. Einen solchen Fall, bei welchem ω1 als Länge der Rekursion erscheint, haben wir bei einem Grundbegriff der Wahrscheinlichkeitstheorie. A ⊆ P(R) ist eine σ-Algebra auf R, wenn gilt: (1) R ∈ A, (2) A ∈ A folgt R − A ∈ A, (3) B ⊆ A und B höchstens abzählbar folgt B ⊆ A. Hier ist ein einfaches Problem. Sei X eine beliebige nichtleere Menge. Sei f : X → X eine Funktion und X0 ⊆ X. Frage: Was ist das ⊆-kleinste Y ⊆ X mit (i) X0 ⊆ Y , (ii) f |Y : Y → Y ? Jeder Mathematiker sieht schnell, dass Y existiert, und gibt wahrscheinlich eine der beiden folgenden Antworten. Antwort A: Setze Y = {Y ⊆ X | Y erfüllt (i) und (ii) }. Sei O das System der offenen Mengen auf R. Frage: Was ist das ⊆-kleinste A mit (i) O ⊆ A, (ii) A ist σ-Algebra auf R? Antwort A: Setze A = {A ⊆ P(R) | A erfüllt (i) und (ii) }. Dies ist die harte Lösung des Problems „von oben“. Die Überlegung ist hier: X selbst erfüllt (i) und (ii), Antwort B: Setze A = „der Abschluss von O unter abzählbaren Vereinigungen und Komplementbildung“. 18 Ein Abschluss-Prozess der Länge ω1 DMV-Mitteilungen 1/2001 Unauthenticated Download Date | 10/31/17 2:03 AM Kennen Sie ω1 ? Für B definieren wir rekursiv ω1 -Folgen Σα | α < ω1 und Πα | α < ω1 . Solche transfiniten Rekursionen verlaufen analog zu Rekursionen über den natürlichen Zahlen: Bei der Definition von Σα darf man auf alle Σβ zurückgreifen mit β < α. Ein allgemeiner Satz der Mengenlehre besagt, dass solche rekursiv definierten Objekte eindeutig existieren. Rekursionsanfang: Σ0 = O, Π0 = {R − A | A ∈ Σ 0 } = {A ⊆ R | A ist abgeschlossen } Rekursionsschritt: Sei α < ω1 und Σβ , Πβ bereits konstruiert füralle β < α. Setze Σα ={ B | B ist höchstens abzählbare Teilmenge von β<α (Σβ ∪ Πβ )}, Πα = {R−A | A ∈ Σα }. Dann ist A = α<ω1 Σα = α<ω1 Πα die gesuchte σAlgebra! (Man zeigt leicht Σβ ⊆ Σα , Σβ ⊆ Πα , Πβ ⊆ Σα , Πβ ⊆ Πα , für alle β ≤ α < ω1 .) Einige Bemerkungen zur Konstruktion. Σα ∪ Πα für α < ω1 sind unsere Approximationen an das gesuchte A. Die Definition von Σ0 und Π0 ist klar. Nun schließen wir Σ0 ∪ Π0 unter abzählbaren Vereinigungen ab. Danach bilden wir Komplemente. Dadurch gibt es u. U. neue abzählbare Vereinigungen. Also schließen wir unsere Approximation wieder unter diesen Vereinigungen ab und bilden Komplemente, usw. Aber auch nach ω-vielen Schritten sind wir nicht fertig: Bilden wir C = n∈ω (Σn ∪ Πn ),so existieren u. U. An ∈ Σn ∪ Πn für n ∈ ω mit n∈ω An ∈ C! Also müssen wir wieder unter abzählbaren Vereinigungen abschließen, usw. usf. Warum sind wir nach ω1 -vielen Schritten fertig? Nun, sei B ⊆ A = α<ω1 Σα und B höchstens abzählbar. Jeder Menge in B ordnen wir ihren Konstruktionsindex zu. Wir erhalten höchstens abzählbar viele Indizes, und das Supremum σ dieser Indizes ist kleiner als ω1 . Denn – etwas salopp: ω1 ist nicht in abzähl bar vielen Schritten erreichbar. Dann wird aber B spätestens an der Stelle σ < ω1 konstruiert, also ist B ∈ A. A ist die Borel -σ-Algebra auf R. Man zeigt leicht, dass die Inklusionen der Approximationen echt sind. Wir müssen also wirklich ω1 -viele Schritte machen, um zu A zu gelangen. Die Approximationen bilden die Borel-Hierarchie. Wie im ersten Beispiel haben wir gegenüber der Schnittdefinition Vorteile: 1. Ein besseres Verständnis von A. 2. Ein Maß für die Komplexität einer Menge in A: Die Stelle, an der die Menge zum ersten Mal in einer Approximation erscheint (Konstruktionsindex). 3. Die Möglichkeit, Aussagen über A durch Induktion (der Länge ω1 ) zu zeigen, und Rekursionen mit Hilfe der Borel-Hierarchie zu führen. Borel-Determiniertheit und projektive Mengen Ein wichtiges Beispiel für eine Hierarchie-Induktion ist der Beweis der Borel-Determiniertheit (Donald Martin, 1975). Für A ⊆ R betrachten wir das unendlich lange „Spiel“ GA für zwei Spieler I und II: I spielt zu Beginn eine ganze Zahl z. Danach spielen I und II abwechselnd Nachkommastellen αi ∈ {0, . . . , 9}, i ∈ ω. Spieler I gewinnt die Partie, falls die reelle Zahl z, α0 α1 . . . in A liegt. Sonst gewinnt II. A ⊆ R heißt determiniert, falls eine Gewinnstrategie für I oder II für das Spiel GA existiert. (Der Leser möge die exakte Definition von „Gewinnstrategie“ hier einfügen.) Es existieren Mengen von reellen Zahlen, die nicht determiniert sind, wie man mit Hilfe des Auswahlaxioms zeigt. Borel-Determiniertheit ist nun die Aussage, dass jedes Element der Borel-σ-Algebra determiniert ist. Man sieht relativ leicht, dass jede offene Menge determiniert ist (Gale, Stewart 1953).1 Der Beweis für die Borel-σ-Algebra zieht sich dann mittels eines nichttrivialen Induktionsschritts durch die Borel-Hierarchie. Warum ist Determiniertheit mehr als eine Spielerei? Determiniertheit impliziert viele gute Regularitätseigenschaften! Für interessante Teilklassen A von P(R) gilt z. B.: Sind alle Elemente von A determiniert, so sind alle Elemente von A auch Lebesgue-meßbar; und sie sind endlich, abzählbar oder von der Größe des Kontinuums R, d. h. es gilt (CH) eingeschränkt auf A. Große Kardinalzahlen Jede Borel-Menge ist determiniert. Andererseits gibt es nicht determinierte Teilmengen der reellen Zahlen. Von selbst stellt sich nun die Frage: Welche Teilmengen von R sind determinert? Eines der besten Ergebnisse der Mengenlehre der letzten Jahre lautet vereinfacht: Es gibt eine Erweiterung der Basis-Axiome ZFC um sogenannte große Kardinalzahl-Axiome, mit deren Hilfe – und nicht ohne diese – man beweisen kann, dass jede projektive Menge determiniert, und also insbesondere Lebesguemeßbar ist. Die projektiven Mengen P entstehen wieder durch einen Abschluss-Prozess: Wir schließen die Borel-σ-Algebra B auf R ab unter Bildern von stetigen Funktionen f : R → R und Komplementbildung. 1 Details unter http://www.mathematik.uni-muenchen.de/~deiser/omega1-fn.ps DMV-Mitteilungen 1/2001 Unauthenticated Download Date | 10/31/17 2:03 AM 19 Oliver Deiser Ist also A ∈ P und f stetig, so ist f [A] ∈ P und R − A ∈ P. Dieser einfache Abschluss-Prozess hat Länge ω und liefert die sogenannte projektive Hierarchie. Ist es nicht überraschend, dass die Lebesgue-Meßbarkeit der Elemente einer so natürlichen Klasse nur mit starken neuen Axiomen gezeigt werden kann? Die Lebesgue-Meßbarkeit der projektiven Mengen ist schon recht erdnah. Und sobald es ein derartiges Resultat mit einer direkt greifbaren Implikation gibt, etwa „große Kardinalzahlen implizieren, dass jede gerade Zahl größer als zwei Summe zweier Primzahlen ist“, werden Sie so häufig über Mengenlehre lesen wie in den 60er Jahren, als Paul Cohen das forcing erfand. Warum darf man überhaupt hoffen, dass eine einfache zahlentheoretische Aussage wie die Goldbachsche Vermutung mit (und nur mit) großen KardinalzahlAxiomen bewiesen werden kann? Weil man weiß, dass diese Axiome tatsächlich neue zahlentheoretische Aussagen von der logischen Komplexität (Anzahl der Quantorenwechsel) der Goldbachschen Vermutung beweisbar machen. Es handelt sich hier um sogenannte Π1 -Aussagen über die natürlichen Zahlen: Ein oder mehrere Allquantoren, gefolgt von einer Aussage, in der alle Quantoren beschränkt sind. Von dieser Form ist die Goldbachsche Vermutung: ∀x („x > 2“ ∧ „x gerade“ → (∃p < x)(∃q < x) („p ist prim“ ∧ „q ist prim“ ∧ p + q = x)). [Die Teilaussagen „x gerade“, „p ist prim“ usw. lassen sich als Aussagen mit beschränkten Quantoren schreiben, welche nur noch +, ·, 0, 1 enthalten.] Bisher jedoch gibt es noch keine neue Π1 -Konsequenz der großen Kardinalzahl-Axiome mit einem unmittelbar greifbaren zahlentheoretischen Gehalt. Ein Resultat von der Qualität der projektiven Determiniertheit steht noch aus. Hier ist nicht der Ort, um Ihnen eines der großen Kardinalzahl-Axiome im Detail vorzustellen (vgl. Fußnote 1). Denken Sie an Aussagen der Form „N existiert“ oder „ω1 existiert“, die die Länge der Perlenkette der Ordinalzahlen betreffen. Viele solche Aussagen sind aus den Basis-Axiomen beweisbar. Für andere braucht man neue Axiome. Dass es derartige zusätzliche Prinzipien überhaupt gibt, kann einen in Erstaunen versetzen. Ihre Existenz ist vergleichbar mit der Existenz ferner Galaxien. Es müßte sie nicht geben. Sie sind eine Entdeckung der Fernrohre und zeigen uns den Reichtum des Universums. Konsistenzstärke ω1 habe ich Ihnen vorgestellt als Grenze des Abzählbaren und als Kandidaten für die Größe von R. Und 20 mit der Borel-σ-Algebra auf R haben wir ein Stück der Mathematik beobachtet, in dem ω1 die Bühne betritt und eine Hierarchie liefert, mit der man tiefe Sätze beweisen kann. Das unscheinbare ω1 steht nun darüber hinaus in erstaunlichem Kontakt mit den fernen Galaxien der großen Kardinalzahl-Axiome. Stanisław Ulam hat 1930 gezeigt (vgl. Fußnote 1):„Es existiert kein (nichttriviales) σ-additives Maß auf ω1 .“ [Als Korollar erhält man das bekannte Ergebnis (Banach-Kuratowski 1929): „(CH) und die Existenz eines (nichttrivialen) σ-additiven Maßes auf den reellen Zahlen sind unverträglich.“] Abschwächungen der Forderung nach einem σadditiven Maß auf ω1 führen nun zu Aussagen mit bemerkenswerten Konsequenzen. Diese Abschwächungen sind etwa von der Form: „Es gibt ein σ-additives Maß auf einer σ-Algebra auf ω1 , welche fast die ganze Potenzmenge von ω1 ist“, „Es gibt ein fast-σ-additives Maß auf ω1 .“ Derartige Abschwächungen reihen sich ein in eine Vielzahl von kombinatorischen Prinzipien über ω1 , welche wie (CH) unabhängig von den Basis-Axiomen ZFC sind – in vielen Fällen aber mit einem wesentlichen Unterschied: Ist Φ ein solches Prinzip, so genügt ZFC, um zu zeigen, dass Φ nicht beweisbar ist. Anders als bei (CH) müssen wir aber nun, um zu zeigen, dass Φ konsistent, also nicht widerlegbar ist, die großen Kardinalzahl-Axiome bemühen – und die Zusatzannahme, dass diese Prinzipien keine Widersprüche erzeugen. Grob vereinfacht ist die Situation die folgende. Es hat sich eine Liste von zusätzlichen Axiomen oder SemiAxiomen – nennen wir sie A, B, C, . . . – herauskristallisiert, die den Reichtum des mengentheoretischen Universums beschreiben. Diese großen KardinalzahlAxiome haben nichts mehr von „unmittelbar einleuchtend“ an sich, dürfen aber aus vielerlei Gründen als die kanonische Erweiterung der Basis-Axiome gelten. Ein Grund für ihre ausgezeichnete Stellung – neben ihren Antworten auf Fragen der Determiniertheit (und in Zukunft vielleicht auf Fragen der Zahlentheorie) – ist die verblüffende empirische Tatsache, dass für kombinatorische Aussagen Φ immer genau ein großes Kardinalzahl-Axiom, sagen wir K, existiert, das exakt die logische Stärke von Φ besitzt. Gleiche logische Stärke bedeutet: Aus der Widerspruchsfreiheit der Theorie „Basis-Axiome + K“ folgt die Widerspruchsfreiheit der Theorie „Basis-Axiome + Φ“ – und umgekehrt. Und diese Äquivalenz ist falsch, wenn wir statt K das Axiom J oder L einsetzen. Man nennt das Axiom K auch die Konsistenzstärke der Aussage Φ. DMV-Mitteilungen 1/2001 Unauthenticated Download Date | 10/31/17 2:03 AM Kennen Sie ω1 ? Die Bestimmung der Konsistenzstärke einer Aussage verwendet in der Regel zwei verschiedene Techniken, nämlich „innere Modelle“ (Kernmodelle) und „iteriertes forcing“. Es ist eine komplizierte Angelegenheit und oft sind nur Abschätzungen bekannt. Beide Techniken wurden in den beiden letzten Jahrzehnten intensiv weiterentwickelt. Den inneren Modellen – natürlichen mengentheoretischen Welten für bestimmte Axiome – kommt zudem die Rolle zu, die Widerspruchsfreiheit der großen Kardinalzahl-Axiome relativ zu den Basis-Axiomen zu untermauern. Ein strenger Beweis selbst dieser relativen Widerspruchsfreiheit ist wegen den Gödelschen Unvollständigkeitssätzen zwar nicht möglich; die Konstruktion eines kanonischen inneren Modells für große Kardinalzahlen ist jedoch das schmackhafteste Surrogat für den notwendig fehlenden Beweis ihrer relativen Konsistenz. Für einige besonders starke große KardinalzahlAxiome konnte ein inneres Modell noch nicht konstruiert werden, und die Frage etwa der Existenz eines solchen Modells für das sehr starke Axiom „es existiert eine superkompakte Kardinalzahl“ hat inoffiziellen Millenniumsrang unter Mathematikern, die sich für Grundlagenfragen interessieren (vgl. John Steel, 2000). Das Phänomen der Konsistenzstärke zeigt, dass bereits Fragen über das verhältnismäßig kleine Objekt ω1 zwangsläufig zu den großen KardinalzahlAxiomen führen. Ein bestimmtes natürliches Prinzip Φ, das die Existenz eines Maßes auf einer großen σ-Algebra auf ω1 fordert („es existiert ein ω1 dichtes Ideal“; vgl. Fußnote 1), hat die Konsistenzstärke W = „es existieren unendlich viele WoodinKardinalzahlen“, und W ist das zentrale Axiom im Umfeld der Determiniertheit: Es impliziert direkt die Determiniertheit der projektiven Mengen und ist die exakte Konsistenzstärke der Determiniertheit aller Teilmengen von R – über der Basistheorie ZF = ZFC ohne Auswahlaxiom (Hugh Woodin, 90’er Jahre). Dies ist ein Beispiel einer überraschenden Vernetzung verschiedener Teildisziplinen der Mengenlehre – Determiniertheit, Kombinatorik, große Kardinalzahlen –, „one that speaks of the great achievements that have been made and the promise of deeper insights to come“ (Akihiro Kanamori). menschlichen Verstandes nach wie vor wesentlich beiträgt (zeitgemäßer klingt „wissenschaftliche Kultur“). Der Mathematik hat sie ihre moderne Sprache und ihre Klarheit gegeben. Und im hier und jetzt, wo die Mathematik die interdisziplinäre Kommunikationsfähigkeit zu verlieren beginnt, kann der Mengenlehre neben ihrer Hauptaufgabe der Grundlagenforschung für die Zukunft eine weitere, bislang nur zu Beginn ihrer Geschichte wahrgenommene Rolle zukommen, nämlich auch der Mitteilung von Mathematik ein sprachliches Vorbild zu sein. In einem ist sie nämlich unter den mathematischen Disziplinen der Physik am ähnlichsten: Neben den Entdeckungen ist auch eine Interpretation der Entdeckungen zu leisten. Und diese Interpretation ist jedem wissenschaftlich interessierten Hörer zugänglich, wenn sie entsprechend formuliert und präsentiert wird. Literaturhinweise Zwei allgemeinverständliche Artikel über moderne Mengenlehre sind: R. B. Jensen (1992). Innere Modelle und große Kardinalzahlen; Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Jubiläumstagung 100 Jahre DMV (Bremen, 1990); B. G. Teuber, Stuttgart, 265–281. W. H. Woodin (1994). Large Cardinal Axioms and Independence: The Continuum Problem Revisited; The Mathematical Intelligencer Vol. 16/3; Springer, New York; 31–35. Aktuell zur Diskussion um neue Axiome: J. Steel (2000). Mathematics Needs New Axioms; Bulletin of Symbolic Logic, Vol. 6/4, 422–433. Zur Determiniertheit: D. A. Martin (1975) Borel Determinacy; Ann. Math. 102, 363– 371. D. A. Martin, J. Steel (1989). A proof of Projective Determinacy; J. Amer. Math. Soc. 2, 71–125. Bücher zur Mengenlehre: T. Jech (1978). Set Theory; Academic Press, New York. A. Kanamori (1994). The Higher Infinite; Perspectives in Mathematical Logic; Springer, Berlin. A. Kechris (1995). Classical Descriptive Set Theory; Graduate Texts in Mathematics Vol. 156, Springer, New York. K. Kunen (1980). Set Theory – An Introduction to Independence Proofs; Studies in Logic and the Foundations of Mathematics Vol. 102, North-Holland, Amsterdam. W. H. Woodin (1999). The Axiom of Determinacy, Forcing Axioms and the Nonstationary Ideal ; de Gruyter, Berlin, New York. Warum Mengenlehre? Die Mengenlehre ist nun seit über hundert Jahren die erste Adresse der mathematischen Grundlagenforschung, mit großen Erfolgen gerade in der jüngsten Zeit. Einige Rauchzeichen davon finden Sie oben. Wäre der Hilbertsche Sprachjargon heute noch üblich, könnte man sagen, dass sie zum Ruhm des DMV-Mitteilungen 1/2001 Adresse des Autors Dr. Oliver Deiser Mathematisches Institut der LMU München Theresienstraße 39 80333 München [email protected] Unauthenticated Download Date | 10/31/17 2:03 AM 21