1. Die axiomatische Grundlage Wir arbeiten in der üblichen Mathematik. Dies lässt sich wie folgt präzisieren: Wir führen unsere Beweise mit Hilfe der klassischen Schlussregeln (z. B. modus ponens, tertium non datur) in der Theorie ZFC, der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik mit Auswahlaxiom, in der jedes mathematische Objekt eine Menge ist. Dieser Rahmen lässt sich prädikatenlogisch formalisieren, was hier wie oft auch anderswo nicht zwingend notwendig ist. Informal lauten die Axiome von ZFC: Extensionalitätsaxiom Zwei Mengen sind genau dann gleich, wenn sie die gleichen Elemente haben. Existenz der leeren Menge Es gibt eine Menge, die kein Element enthält. Paarmengenaxiom Zu je zwei Mengen x, y existiert eine Menge z, die genau x und y als Elemente hat. Vereinigungsmengenaxiom Zu jeder Menge x existiert eine Menge y, deren Elemente genau die Elemente der Elemente von x sind. Potenzmengenaxiom Zu jeder Menge x existiert eine Menge y, die genau die Teilmengen von x als Elemente besitzt. Aussonderungsschema Zu jeder Eigenschaft % und jeder Menge x gibt es eine Menge y, die genau die Elemente von x enthält, auf die % zutrifft. Die Eigenschaft % darf hierbei endlich viele Mengen als Parameter enthalten. Ersetzungsschema Das Bild einer Menge unter einer Funktion ^ ist eine Menge. Die Funktion ^ kann hierbei mit Hilfe von endlich vielen Mengen als Parameter definiert sein. Unendlichkeitsaxiom Es existiert eine Menge x, die die leere Menge als Element enthält, und die mit jedem ihrer Elemente y auch y ∪ { y } als Element enthält. Fundierungsaxiom (oder Regularitätsaxiom) Jede nichtleere Menge x hat ein Element y, das mit x kein Element gemeinsam hat. © Oliver Deiser Reelle Zahlen 522 Anhänge Auswahlaxiom Ist x eine Menge, deren Elemente nichtleer und paarweise disjunkt sind, so existiert eine Menge y, die mit jedem Element von x genau ein Element gemeinsam hat. Alle Argumente in diesem Text lassen sich auf der Grundlage dieser Axiome streng rechtfertigen. Dabei legen wir die klassische Logik zugrunde, bei der etwa die doppelte Verneinung einer Aussage äquivalent zur Aussage ist. Mit ZF bezeichnen wir die Theorie ZFC ohne Auswahlaxiom. Der Teiltheorie ZF und Erweiterungen von ZF, die dem Auswahlaxiom widersprechen, kommt ein spezielles Interesse zu, auch wenn heute allgemein das Auswahlaxiom als ein wesentlicher Bestandteil der Mathematik gesehen wird. Es gilt zumeist als ebenso „wahr“ oder „gültig“ wie etwa das Unendlichkeitsaxiom. Was „wahr“ heißt oder heißen soll, ist hier wie andernorts eine schwierige Frage. Das Aussonderungsschema erlaubt beschränkte Zusammenfassungen der Form { y P x | y hat die und die Eigenschaft } als Ersatz für die inkonsistente Komprehension { y | y hat die und die Eigenschaft }. Im Ersetzungsschema ist ^ eine sprachliche Funktion (eine sog. funktionale Klasse), so wie % eine sprachliche Eigenschaft im Aussonderungsschema ist. Eine Präzisierung kann durch die Konstruktion einer formalen Kunstsprache erreicht werden. Das beste naive Verständnis des Ersetzungsschemas liefert nach wie vor seine naive Lesart: Wir ersetzen in jeder Menge jedes Element gemäß irgendeiner Vorschrift durch eine andere Menge. So gelangen wir etwa von N = { 0, 1, 2, … } zur Menge M = { N, P(N), P(P(N)), … } durch die Ersetzung von n durch P n (N) für alle n P N. M können wir mit Hilfe der anderen Axiome nicht bilden. Dagegen folgt bereits aus dem Aussonderungsschema: Ist f eine Funktion (eine Menge von geordneten Paaren), so ist das Bild von f , also rng(f ), eine Menge. Das Ersetzungsschema wird in vielen Teilen der Mathematik in der Tat selten gebraucht. Für den Beweis der Borel-Determiniertheit ist das Ersetzungsschema aber nachweisbar unersetzlich. Das Fundierungsaxiom wird in der mengentheoretischen Untersuchung des mathematischen Universums gebraucht, um eine hierarchische Strukturierung desselben zu erreichen. Es schließt Relationen wie „ x P x“ oder „ x = { x }“ für jede Menge x aus. Die wesentlichen „Mengengeneratoren“, die starken „Aufwärtsaxiome“ der Theorie sind das Unendlichkeitsaxiom, das Potenzmengenaxiom und das Ersetzungsschema. Ersteres genügt für die Existenz von N. Für das Kontinuum R, den Baireraum 1 oder ω 1 braucht man noch P(N). Dass sich viel Mathematik in einem kleinen Teil des mengentheoretischen Universums abspielt, ist kein Argument gegen ein starkes Fundament, das sogar nach Erweiterungen von ZFC sucht. Das Komplement von „viel Mathematik“ ist ein weites Feld und mit „Randgebiet“ nicht treffend bezeichnet. In der Mengenlehre hat sich eine kanonische Liste von sog. großen Kardinalzahlaxiomen herauskristallisiert, die sich zur Erweiterung von ZFC anbieten (vgl. auch 2.6). Eine andere Erweiterung wird durch das Gödelsche Axiom „V = L“ = „jede Menge ist konstruktibel“ gegeben (vgl. das Intermezzo in Abschnitt 2). Reelle Zahlen © Oliver Deiser 1. Die axiomatische Grundlage S 523 Literatur S Deiser, Oliver 2004 Einführung in die Mengenlehre. Die Mengenlehre Georg Cantors und ihre Entwicklung durch Ernst Zermelo. 2. erweiterte Auflage. Springer, Berlin. Ebbinghaus, Heinz-Dieter 1994 Einführung in die Mengenlehre. 3. Auflage. Bibliographisches Institut, Mannheim. Felgner, Ulrich (Hrsg.) 1979 Mengenlehre. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. Fraenkel, Abraham 1922 Zu den Grundlagen der Cantor-Zermeloschen Mengenlehre. Mathematische Annalen 86 (1922), S. 230 − 237. − 1928 Einleitung in die Mengenlehre. 3. Auflage. Springer, Berlin. Halmos, Paul Richard 1960 Naive Set Theory. Van Nostrand, Princeton, N J. − 1976 Naive Mengenlehre. Vierte Auflage 1960. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Übersetzung von „Naive Set Theory“. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Manfred Armbrust und Fritz Ostermann. Hbracek, Karel / Jech, Thomas 1999 Introduction to Set Theory. 3. Auflage. Marcel Dekker, New York. Moore, Gregory H. 1978 The origins of Zermelo’s axiomatisation of set theory. Journal of Philosophical Logic 7 (1978), S. 307 − 329. − 1982 Zermelo’s Axiom of Choice: Its Origins, Development and Influence. Springer, New York. Zermelo, Ernst 1908 Untersuchungen über die Grundlagen der Mengenlehre. I. Mathematische Annalen 65 (1908), S. 261 − 281. − 1930 Über Grenzzahlen und Mengenbereiche: Neue Untersuchungen über die Grundlagen der Mengenlehre. Fundamenta Mathematicae 16 (1930), S. 29 − 47. S © Oliver Deiser S Reelle Zahlen