Theoretische Physik T2 Quantenmechanik I Helmut Neufeld Fakultät für Physik Universität Wien Sommersemester 2012 ii Inhaltsverzeichnis 1 Einführung 1 1.1 Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Grundprinzipien der Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Quantenleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2 Elementare Quantenmechanik 15 2.1 Wellenfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.2 Ortsmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.3 Hilbertraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.4 Lineare Operatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.5 Skalarprodukt und Erwartungswert . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.6 Ortsoperator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.7 Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.8 Diracschreibweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.9 Unschärferelation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.10 Zeitentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3 Eindimensionale Probleme 41 3.1 Unendlich hoher Potentialtopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.2 Harmonischer Oszillator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.3 Kohärente Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3.4 Potentialstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 iii iv INHALTSVERZEICHNIS 3.5 Streuung eines Wellenpakets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.6 Potentialwall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.7 Deltapotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.8 Potentialtopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 4 Mathematische Struktur der Quantentheorie 71 4.1 Klassische Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.2 Axiome der Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.3 Schrödingerbild und Heisenbergbild . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.4 Zweidimensionaler Zustandsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 5 Spin 1/2 91 5.1 Spinmatrizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 5.2 Magnetisches Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 5.3 Drehungen im Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 5.4 Experiment von Stern und Gerlach . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 5.5 Bewegung eines Spins in einem Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . 101 Kapitel 1 Einführung 1.1 Historischer Überblick Die Einführung des Wirkungsquantums h durch Max Planck im Jahr 1900 gilt gemeinhin als die Geburtsstunde der Quantentheorie. Dennoch dauerte es noch ein Vierteljahrhundert bis zur Entdeckung jener Naturgesetze, welche die Vorgänge im atomaren Bereich beschreiben und eine radikale Abkehr von den Vorstellungen der klassischen Physik bedeuteten. Die wichtigsten Schritte, die schließlich zu einer endgültigen Formulierung der nichtrelativistischen Quantenmechanik führten, werden hier stichwortartig aufgelistet. Max Planck (1900): Einführung des Planckschen Wirkungsquantums h zur Beschreibung des Energiespektrums der Hohlraumstrahlung“. Energie” dichte des elektromagnetischen Feldes im Frequenzintervall [ν, ν + dν]: u(ν)dν = 8πh ν3 dν. c3 exp(hν/kT ) − 1 Für hν ≪ kT ergibt sich die klassische Formel (Rayleigh-Jeans) u(ν) → ukl (ν) = 8πν 2 kT /c3 , die zur sog. Ultraviolettkatastrophe Z∞ 0 dν ukl (ν) = ∞ führt. → Klares Versagen der klassischen Physik für große Frequenzen. Idee Plancks: Atome in den Wänden werden als harmonische Oszillatoren aufgefasst, die Energie nur in ganzzahligen Vielfachen von hν (ν = Schwingungsfrequenz 1 2 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG des Oszillators) emittieren oder absorbieren. Aber nach wie vor Vorstellung eines klassischen Strahlungsfeldes. Albert Einstein (1905): Seine Lichtquantenhypothese besagt, dass Licht aus Teilchen mit Impuls ~p = ~~k ~k = 2π/λ, ~ = h/2π und Energie E = c|~p | = c~~k = 2πc~/λ = hν = ~ω besteht. Man beachte, dass E = c|~p | die Energie-Impuls-Beziehung eines masselosen Teilchens ist. → Erklärung des Planckschen Strahlungsgesetzes und des Photoeffekts. Spektroskopie (ab 1885) lieferte Informationen über die Struktur der Atome: Atome absorbieren und emittieren elektromagnetische Strahlung mit bestimmten charakteristischen Frequenzen (Spektrallinien). Joseph John Thomson (1903): Gugelhupfmodell des Atoms. Elektronen sitzen wie die Rosinen im Teig in einer homogenen positiven Ladungsverteilung. Hans Geiger, Ernest Marsden (1908): Messung der Winkelverteilung von α Au → α Au → Ablenkung der α-Teilchen auch bei sehr großen Streuwinkeln θ > π/2 beobachtet. Durch Gugelhupfmodell nicht erklärbar! Ernest Rutherford (1911): Klassische Berechnung des differentiellen Wirkungsquerschnitts zweier Punktladungen: dσ = dΩ mZ1 Z2 e2 2~p 2 sin2 (θ/2) !2 → Erklärung des Experiments von Geiger und Marsden: positive Ladung des Goldatoms in sehr kleinem Kern ∼ 10−14 m konzentriert → Rutherfordsches Pla” netenmodell“ des Atoms: Z Elektronen (mit negativer Gesamtladung −Ze) umkreisen einen winzigen Kern mit positiver Ladung Ze, der fast die gesamte Masse des Atoms enthält. Ungelöste Probleme: Diskrete Spektren, Stabilität der Atome (beschleunigte elektrische Ladungen strahlen → Elektronen stürzen innerhalb kürzester Zeit in den Kern → klassisches“ Atom ist instabil). ” Niels Bohr (1913): Diskrete Frequenzen der Spektrallinien durch Übergänge zwischen diskreten Energieniveaus der Atome zu erklären: hνnm = En − Em . 3 1.1. HISTORISCHER ÜBERBLICK Bohrsches Atommodell für das H-Atom: klassische Mechanik + aufgepfropfte Quantenbedingungen → Aussonderung erlaubter Bahnen“ → diskrete Energie” niveaus 2 2 13.6 eV me c α =− , n = 1, 2, . . . , En = − 2 2n n2 mit der Sommerfeldschen Feinstrukturkonstanten e2 1 ≃ . ~c 137 Allerdings: Drehimpuls im Grundzustand des Bohrschen Atommodells falsch: ℓ = ~ (tatsächlich: ℓ = 0). α= ältere Quantentheorie (1913-1925): Versuch einer Weiterentwicklung der Bohrschen Ideen (Arnold Sommerfeld u.a.), versagte jedoch bereits bei der Anwendung auf das He-Atom! Louis de Broglie (1923): Jedes Teilchen besitzt ~Welleneigenschaften. Zusammenhang zwischen Impuls p~ und Wellenzahlvektor k p~ = ~~k ~k = 2π/λ und Energie E und Kreisfrequenz ω: E=c p q p~ 2 + m2 c2 = c ~2~k 2 + m2 c2 = ~ω. Beschreibung eines Teilchens mit Impuls p~ = ~~k durch monochromatische ebene Welle h i exp i ~k · ~x − ω ~k t . Werner Heisenberg (1925): Radikale Abkehr von den Vorstellungen der klassischen Mechanik. Position Q und Impuls P eines Teilchens werden durch unendlichdimensionale Matrizen mit der Vertauschungsrelation QP − P Q = i~1 dargestellt. Ausbau der Matrizenmechanik durch Werner Heisenberg, Max Born und Pascual Jordan. Wolfgang Pauli (1925): Lösung des Wasserstoffproblems mit den Methoden der Matrizenmechanik. Erwin Schrödinger (1926): Aufstellung einer Wellengleichung für de Broglie-Wellen (Schrödinger Gleichung). Lösung des Wasserstoffproblems. Beweis der mathematischen Äquivalenz von Matrizen- und Wellenmechanik: Darstellung von Q als Multiplikations- und von P als Differentialoperator Q → q, P → −i~ ∂ , ∂q 4 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG die auf eine Wellenfunktion ψ(q) wirken. Max Born (1926): Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Wellenfunk- tion. |ψ(q)|2 dq ist die Wahrscheinlichkeit das Teilchen im Ortsintervall [q, q + dq] anzutreffen. Heisenbergsche Unschärferelation (1927) als Folgerung aus der Quan- tenmechanik: ∆Q∆P ≥ ~/2. 1.2 Grundprinzipien der Quantentheorie Anhand eines Streuexperiments werden die Spielregeln der Quantentheorie erläutert. Zu jedem Ereignis gibt es eine komplexe Wahrscheinlichkeitsamplitude, deren Absolutquadrat die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten des Ereignisses angibt. Gibt es mehrere ununterscheidbare Möglichkeiten für den Übergang eines physikalischen System von einem gegebenen Anfangszustand in einen bestimmten Endzustand, so werden die entsprechen Amplituden addiert. Zerlegt man eine Amplitude in verschiedene (z.B. hintereinander stattfindende) Teile, so werden die dazugehörigen Teilamplituden miteinander multipliziert. Die mikroskopische Struktur eines Kristalls soll durch ein Streuexperiment untersucht werden. Von einer Quelle Q, die sich in sehr großem Abstand von dem zu untersuchenden Objekt befindet, wird ein Teilchen (z.B. ein Neutron) mit dem Impuls ~p ausgesandt. Ebenfalls in großem Abstand von dem Streuzentrum sind Detektoren aufgestellt, die feststellen können, in welches Raumwinkelelement das Teilchen gestreut wurde. Dabei soll der gesamte Raumwinkel 4π durch Detektoren erfasst werden. Detektor D u Quelle Q - * θ Kristall Abbildung 1.1: Streuung eines Teilchens an einem Kristall. Man beobachtet nun, dass stets genau einer der Detektoren anspricht und nicht etwa mehrere gleichzeitig oder manchmal gar keiner. Das ist genau das Verhal- 1.2. GRUNDPRINZIPIEN DER QUANTENTHEORIE 5 ten, das man von einem Teilchen“ erwartet. Wir nehmen natürlich an, dass wir ” ideale“ Detektoren zur Verfügung haben, die stets richtig ansprechen und nie ” eine Fehlmeldung abgeben. (Das ist das Schöne an Gedankenexperimenten: Wir müssen uns um die technische Realisierung nicht kümmern!) Das gestreute Teilchen landet mit dem Impuls p~ ′ im Detektor, der Impulsübertrag p~ − p~ ′ soll von dem gesamten Kristall aufgenommen werden. Da wir den Kristall (verglichen mit dem Sondenteilchen) als unendlich schwer betrachten können, ist |~p ′ | = |~p |. Wir wollen weiters annehmen, dass der Durchgang des Teilchens durch den Kristall dort keinerlei Spuren hinterlässt, wir also bei einer nachherigen Untersuchung des Kristalls auch im Prinzip nicht feststellen können, mit welchem Gitteratom eine Wechselwirkung stattgefunden hat.1 D.h. der Endzustand des Kristalls nach dem Streuvorgang soll gleich seinem ursprünglichen Anfangszustand sein. Der Kristall wirkt also, unter den gegebenen Annahmen, wie ein äußeres Kraftfeld auf das Sondenteilchen. Der besprochene Vorgang wird nun sehr oft wiederholt. Das heißt, wir schießen ein Teilchen auf den Kristall und notieren in welchem Detektor es schließlich landet. Erst dann schicken wir das nächste Teilchen los, schauen welcher Detektor angesprochen hat und so weiter. Es befindet sich also immer nur ein Sondenteilchen in der Versuchsapparatur. Nach Auswertung der Daten erhält man eine Raumwinkelverteilung, die charakteristisch für das untersuchte Objekt ist. Man kann zwar bei einem einzelnen Streuvorgang nicht vorhersagen, in welchem Detektor das Teilchen landen wird (in diesem Sinn ist die Natur indeterministisch), für die Raumwinkelverteilung der Teilchen erhält man bei einer Wiederholung der Messreihe mit unveränderten Anfangsbedingungen (innerhalb der üblichen statischen Schwankungen) aber dasselbe Ergebnis (in diesem Sinn ist die Natur deterministisch). Wie kann man das Zustandekommen der beobachteten Winkelverteilung nun theoretisch beschreiben? Um dies anhand eines besonders einfachen Beispiels zu erklären, machen wir die folgende Annahme: In unserem Kristall sollen sich zwei Fremdatome A1 und A2 im Abstand d an den Gitterplätzen 1 und 2 befinden. Die Wechselwirkung des Sondenteilchens mit den übrigen Atomen im Kristall soll vernachlässigbar klein sein, sodass wir uns nur um die Wechselwirkung mit den zwei Streuzentren an den Punkten 1 und 2 kümmern müssen. Weiters wollen wir annehmen, dass die Abmessungen der beiden Atome viel kleiner sind, als die de Broglie-Wellenlänge λ = h/|~p | des Sondenteilchens. (D.h. die Atome können bei dem verwendeten Impuls als punktförmig angesehen werden.) 1 Das Gegenteil wäre der Fall, wenn etwa durch die Wechselwirkung mit dem Sondenteilchen ein Atom von seinem Gitterplatz entfernt wird. Thermische Neutronen haben eine Energie von etwa 1/40 eV, während die Bindungsenergie der Atome im Kristall einige eV beträgt. In diesem Fall wird der Atomkern nur mit sehr kleiner Wahrscheinlichkeit aus seiner Ruhelage ausgelenkt und es ist nicht feststellbar, an welchem Atom die Streuung stattgefunden hat. 6 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG - Q u p~ - D > p u ~′ > 1 x > S S θ S d S x d sin θ 2 Abbildung 1.2: Streuung an zwei Atomen. Man beobachtet nun folgendes: In vielen Fällen wird das Teilchen nicht abgelenkt und landet in dem Detektor, der dem Streuwinkel θ = 0 entspricht. Interessanter sind jene Fälle, in denen das Teilchen gestreut gestreut wird (θ 6= 0). Wir wollen nun die Wahrscheinlichkeit dafür finden, dass ein von der Quelle Q emittiertes Teilchen in einem bestimmten Detektor D (θ 6= 0) nachgewiesen wird. Nach der ersten Regel der Quantentheorie gibt es dafür eine komplexe (Wahrscheinlichkeits-) Amplitude, die wir mit hD, aus|Q, eini bezeichnen. Dabei haben wir eine in der Quantentheorie übliche Notation verwendet. Gewöhnungsbedürftig ist dabei, dass der Anfangszustand rechts vom Endzustand steht und man die Formel von rechts nach links lesen muss! Aus der Wahrscheinlichkeitsamplitude erhält man die Wahrscheinlichkeit für das dazugehörige Ereignis dadurch, dass man die Länge der Amplitude quadriert. In unserem Fall ist also die gesuchte Wahrscheinlichkeit durch |hD, aus|Q, eini|2 gegeben.2 Um gleich zur zweiten Regel der Quantentheorie zu kommen, stellen wir fest, dass das Teilchen zwei Möglichkeiten3 hat von Q nach D zu gelangen: 1. Das Teilchen bewegt sich von der Quelle Q zum Gitterpunkt 1, dort findet eine Wechselwirkung mit dem Atom A1 statt und anschließend bewegt sich das Teilchen vom Punkt 1 zum Detektor D. Die entsprechende Amplitude bezeichnen wir mit hD|Qi1. Wäre das zweite Atom nicht vorhanden, so wäre die Wahrscheinlichkeit, dass der Detektor D anspricht durch |hD|Qi1|2 gegeben. 2 3 Wir werden in Hinkunft ein“ und aus“ weglassen. ” ” Die zusätzliche Möglichkeit einer Mehrfachstreuung werden wir später besprechen. 1.2. GRUNDPRINZIPIEN DER QUANTENTHEORIE 7 2. Das Teilchen bewegt sich von der Quelle Q zum Punkt 2, dort findet eine Wechselwirkung mit dem Atom A2 statt und anschließend bewegt sich das Teilchen vom Punkt 2 zum Detektor D. Die entsprechende Amplitude bezeichnen wir mit hD|Qi2. Die Streuwahrscheinlichkeit wäre dann bei Abwesenheit des ersten Atoms einfach |hD|Qi2|2 . Da wir angenommen haben, dass die Wechselwirkung in dem Kristall keine Spuren hinterlässt, ist nicht feststellbar, welchen der beiden Wege das Teilchen tatsächlich genommen hat. Nach der zweiten Regel der Quantentheorie sind in diesem Fall die Amplituden für die beiden ununterscheidbaren Möglichkeiten zu addieren, um zur Gesamtamplitude zu gelangen: hD|Qi = hD|Qi + hD|Qi . | {z } | {z }1 | {z }2 φ12 φ1 φ2 Die beiden Amplituden φ1 und φ2 kann man nun in weitere Einzelteile zerlegen. So setzt sich der durch die Amplitude φ1 beschriebene Vorgang aus folgenden Abschnitten zusammen: 1. Das Teilchens bewegt sich von der Quelle Q zum Gitterpunkt 1. Die dazugehörige Amplitude nennen wir K(1, Q). Die Wahrscheinlichkeit, dass das Teilchen am Ort 1 eintrifft, wenn es von der Quelle Q produziert wurde, ist daher |K(1, Q)|2. Bemerkung: Eine Amplitude, welche die (freie) Bewegung eines Teilchens beschreibt, wird manchmal auch Ausbreitungskern oder Propagator genannt. 2. Zwischen dem Teilchen und dem Atom A1 findet eine Wechselwirkung statt. Die entsprechende Amplitude bezeichnen wir mit W1 . |W1 |2 ist daher die Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei 1 eine Wechselwirkung stattfindet. 3. Das Teilchen bewegt sich vom Punkt 1 zum Detektor D mit Amplitude K(D, 1). Nach der dritten Regel der Quantentheorie erhält man nun die Amplitude φ1 dadurch, dass man die Teilamplituden für die drei hintereinander stattfinden Vorgänge miteinander multipliziert: φ1 = hD|Qi1 = K(D, 1) W1 K(1, Q). Die Zerlegung von φ2 erfolgt natürlich analog und man erhält schließlich die Gesamtamplitude für den Nachweis des bei Q ausgesandten Teilchens im Detektor D durch den Ausdruck hD|Qi = K(D, 1) W1 K(1, Q) + K(D, 2) W2 K(2, Q) . | {z } | {z } | {z } φ12 φ1 φ2 8 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG Wir schreiben nun die die beiden komplexen Zahlen φ1 und φ2 in der Form φ1 = |φ1 |eiϕ1 , φ2 = |φ2 |eiϕ2 , mit reellen Phasenwinkeln ϕ1 und ϕ2 . w1 = |φ1 |2 ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Detektor D anspricht, wenn nur das Atom A1 vorhanden ist und w2 = |φ2 |2 die entsprechende Wahrscheinlichkeit, wenn nur das Streuzentrum 2 vorhanden ist. Sind beide Streuatome vorhanden, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Detektor D anspricht durch w12 = |φ12 |2 = |φ1 + φ2 |2 = |φ1|2 + |φ2|2 + 2|φ1||φ2 | cos(ϕ2 − ϕ1 ) |{z} |{z} | {z } w1 w2 Interferenzterm gegeben. Das Ergebnis ist also nicht einfach die Summe der Wahrscheinlichkeiten w1 , w2 der Streuung an den beiden Atomen, sondern es tritt ein zusätzlicher In√ terferenzterm 2 w1 w2 cos(ϕ2 −ϕ1 ) auf, der von der Phasendifferenz der beiden Streuamplituden abhängt. Wir wollen nun die Abhängigkeit dieses Interferenzeffekts vom Streuwinkel θ genauer untersuchen. Wenn (wie in Abbildung 1.2) die Verbindungslinie von A1 und A2 normal auf p~ steht, haben wir keine Phasendifferenz zwischen K(1, Q) und K(2, Q) und wir können diese beiden Amplituden gleich setzen. Ebenso wollen wir annehmen, dass die beiden Atome gleich sind und daher W1 = W2 gilt. In diesem Fall ist φ12 ∼ K(D, 1) + K(D, 2) und wir müssen uns nur mehr um die Ausbreitungsamplituden von den Punkten 1 und 2 zum Detektor D kümmern. Diese haben die Form K(D, 1) ∼ eipr1 /~ , r1 K(D, 2) ∼ eipr2 /~ , r2 p = |~p | = |~p ′|, wobei r1,2 die Abstände der Gitterpunkte 1, 2 zum Detektor D sind. Da r1,2 ≫ d, gilt r2 − r1 = d sin θ. |φ1 |2 ≃ |φ2 |2 = w, |{z} |{z} w1 w2 Für die Phasendifferenz erhält man ϕ2 − ϕ1 = p(r2 − r1 )/~ = pd sin θ/~ und somit w12 = 2w [1 + cos(pd sin θ/~)] = 4w cos2 (pdπ sin θ/h) = 4w cos2 (dπ sin θ/λ), wobei λ = h/p die de Broglie-Wellenlänge ist. Das erste Interferenzminimum tritt für dπ sin θ/λ = π/2 auf, d.h. für jenen Winkel θ, der sin θ = λ/2d erfüllt. Da 1.2. GRUNDPRINZIPIEN DER QUANTENTHEORIE 9 | sin θ| ≤ 1, ist dies nur möglich, falls λ ≤ 2d. Das darauf folgende Interferenzmaximum tritt für dπ sin θ/λ = π, d.h. für sin θ = λ/d auf. Dies ist nur möglich, falls λ ≤ d. Bemerkungen: 1. Der Interferenzeffekt beim Doppelspaltversuch kann auf analoge Weise diskutiert werden. 2. Bei der Behandlung der Streuung an einem realistischen Kristall müssen die Beiträge von allen Atomen, die sich an den durch den Index i durchnumerierten Gitterplätzen befinden, summiert werden: hD|Qi = X K(D, i)Wi K(i, Q) i 3. Wir haben in unserer bisherigen Analyse nur jene Beiträge zur Gesamtamplitude berücksichtigt, bei denen das Teilchen genau einmal an einem Atom gestreut wird. Wie zusätzliche Beiträge infolge von Mehrfachstreuung einzubauen sind, sollte jetzt klar sein: hD|Qi = X i K(D, i)Wi K(i, Q) + X i,j K(D, j)Wj K(j, i)Wi K(i, Q) + O(W 3 ) Ein wesentlicher Punkt bei der bisherigen Diskussion war die Annahme, dass der Zustand des Kristalls durch die Wechselwirkung nicht geändert wird, dass wir also nicht sagen können, an welchem Atom die Streuung tatsächlich stattgefunden hat. Ein durchaus realistischer Fall, bei dem diese Annahme i.A. nicht mehr gerechtfertigt ist, tritt auf, wenn der Spin des in dem Streuexperiment verwendeten Teilchens und der Kernspin der Atome eine Rolle spielt. Tatsächlich besitzen Neutronen einen Eigendrehimpuls (Spin), der bezüglich einer willkürlich gewählten Richtung zwei mögliche Einstellungsrichtungen besitzt ( Spin hinauf“ und ” Spin hinunter“). Haben die Atomkerne keinen Spin, spielt der Spin des Neu” trons keine Rolle und wir haben die vorhin diskutierte Situation. Anders ist die Lage, wenn die Atomkerne des Kristalls ebenfalls einen Spin besitzen.4 Wenn der Spin des Neutrons und der Kernspin in dieselbe Richtung zeigen, kann während des Streuvorgangs keine Änderung des Spins auftreten. Zeigen aber der Spin des Neutrons und der Kernspin in entgegengesetzte Richtungen, dann gibt es für den Streuvorgang zwei Möglichkeiten: entweder beide Spins bleiben unverändert, oder beide klappen um und schauen dann in die jeweils andere Richtung. 4 Wir wollen der Einfachheit halber auch für den Kernspin nur zwei Einstellungsmöglichkeiten annehmen. 10 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG Wir kehren nun wieder zu unserem Gedankenexperiment mit den zwei Atomen zurück, diese sollen jetzt aber jeweils zwei Spinfreiheitsgrade besitzen. Wir führen die folgende Notation ein: n↑ , n↓ bezeichnet ein Neutron mit Spin hinauf“ bzw. Spin hinunter“, ” ” Ai↑ , Ai↓ ein am Gitterplatz i (i = 1, 2) befindliches Atom mit Kernspin hinauf“ bzw. ” hinunter“. ” Wenn wir annehmen, dass die beiden Kernspins vor der Streuung hinauf zeigen und der Spin des einlaufenden Neutrons nach unten, dann gibt es folgende Möglichkeiten für die Endzustände des Streuexperiments: 1. Es kommt zu keinem Umklappen des Spins des Neutrons. Da sich der Zustand der beiden Atome nicht ändert, tritt ein Interferenzeffekt auf und die Streuamplitude ist durch ψ0 = hD n↓ , A1↑ , A2↑ |Q n↓ , A1↑ , A2↑ i = K(D, 1) W1 K(1, Q) + K(D, 2) W2 K(2, Q) gegeben, wobei Wi jetzt die Amplitude für die Streuung des Neutrons am Atom Ai ohne Umklappen des Spins bedeutet. 2. Der Spin des Neutrons klappt durch die Wechselwirkung mit dem Kern des ersten Atoms um. Die Streuamplitude lautet jetzt ψ1 = hD n↑ , A1↓ , A2↑ |Q n↓ , A1↑ , A2↑ i = K(D, 1) W1′ K(1, Q), mit der Amplitude W1′ für die Wechselwirkung des Neutrons mit dem Kern des ersten Atoms, wenn die Spins umgeklappt werden. Da das zweite Atom an dem Streuvorgang nicht beteiligt ist, tritt kein Interferenzeffekt auf. 3. Der Spin des Neutrons des Elektrons klappt durch die Wechselwirkung mit dem Kern des zweiten Atoms um. Die Streuamplitude lautet ψ2 = hD n↑ , A1↑ , A2↓ |Q n↓ , A1↑ , A2↑ i = K(D, 2) W2′ K(2, Q), mit der Amplitude W2′ für die Wechselwirkung des Neutrons mit dem Kern des zweiten Atoms mit Umklappen der Spins. Da das erste Atom an dem Streuvorgang nicht beteiligt ist, tritt wieder kein Interferenzeffekt auf. 1.2. GRUNDPRINZIPIEN DER QUANTENTHEORIE 11 Obwohl der Spin des im Detektor nachgewiesenen Neutrons sowohl im zweiten als auch im dritten Fall nach unten zeigt, dürfen die entsprechenden Amplituden keinesfalls addiert werden, da die beiden Endzustände verschieden (und damit unterscheidbar) sind. Die vollständige Beschreibung des Endzustandes erfordert nämlich auch die Berücksichtigung der beiden Atome! Im zweiten Fall zeigt der Kernspin des ersten Atoms nach dem Streuvorgang nach unten und der des zweiten Atoms nach oben, im dritten Fall ist es gerade umgekehrt. Man könnte daher durch eine Untersuchung des Kristalls im Prinzip feststellen, an welchem Atom die Streuung stattgefunden hat. (Für den Ausgang des Experiments ist es natürlich unerheblich, ob man tatsächlich nachschaut“, wesentlich ist nur, dass ” man es im Prinzip könnte.) Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Neutron im Detektor D (unabhängig von seiner Spineinstellung) landet, erhält man daher durch die Addition der Wahrscheinlichkeiten für die drei verschiedenen Endzustände: |ψ0 |2 + |ψ1 |2 + |ψ2 |2 . Bemerkung: Übertragen auf den Doppelspaltversuch bedeutet dies: Wenn ich auf irgendeine Weise feststellen kann, durch welchen Spalt das Teilchen gegangen ist, tritt keine Interferenz auf. Diese ist nur möglich, wenn prinzipiell nicht festgestellt werden kann, welchen der beiden Wege das Teilchen genommen hat. Wir wollen jetzt noch eine weitere Variante unseres Gedankenexperiments besprechen. Dabei nehmen wir wieder an, dass die beiden Kernspins vor der Streuung nach oben“ polarisiert sind, der Spin des von der Quelle produzierten Neutrons ” jedoch in 50 % der Fälle nach oben und in 50 % der Fälle nach unten zeigt. Die drei möglichen Amplituden ψ0 , ψ1 , ψ2 für einen Anfangszustand mit Neutronspin nach unten haben wir oben bereits besprochen. Zeigt der Spin des Neutrons im Anfangszustand nach oben, so kann es bei der Streuung zu keinem Umklappen der Kernspins kommen, da diese ja ebenfalls nach oben zeigen. Die dazugehörige Amplitude χ0 wird daher wieder vom Interferenztyp“ sein, da man ja nicht ” feststellen kann, ob die Streuung am ersten oder am zweiten Atom erfolgt ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Detektor (unabhängig vom Spin des Neutrons im Endzustand) ein Signal gibt, ist in diesem Fall 1 1 |ψ0 |2 + |ψ1 |2 + |ψ2 |2 + |χ0 |2 , 2 2 d.h. man muss über die zwei möglichen Spineinstellungen im Anfangszustand mitteln. Sind die Neutronen im Anfangszustand teilweise polarisiert, so lautet die entsprechende Formel p |ψ0 |2 + |ψ1 |2 + |ψ2 |2 + (1 − p)|χ0 |2 , 0 ≤ p ≤ 1, 12 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG wobei p die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Spin des einlaufenden Neutrons nach unten zeigt. Man spricht in diesem Fall übrigens von einem gemischten Anfangszustand, im Gegensatz zu dem früher diskutierten Fall eines reinen Zustands, bei dem der Spin des einlaufenden Neutrons immer nach unten zeigte (dies entspricht dem Grenzfall p = 1). Literatur: R.P. Feynman, R.B. Leighton, M. Sands: The Feynman Lectures on Physics, vol. 3 (Quantum Mechanics), Addison-Wesley, Reading, Massachusetts, 1965 1.3 Quantenleiter Wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, gibt das Interferenzmuster in einem Streuexperiment einen Hinweis auf zwei (i. A. mehrere) Streuzentren. Da aber Interferenz nur dann auftritt, wenn die de Broglie-Wellenlänge des Sondenteilchens kleiner als der Abstand der Streuzentren ist (λ = h/p ≤ d) ist das Auflösungsvermögen durch λ (bzw. die Größe des verwendeten Impulses) beschränkt. Ein Lichtmikroskop verwendet als Sondenteilchen Photonen des sichtbaren Lichts mit Wellenlängen zwischen λ = 360 nm = 3.6 × 10−7 m (violettes Licht) und λ = 780 nm = 7.8 × 10−7 m (rotes Licht). Deshalb ist die Untersuchung von Bakterien ∼ 10−6 m mit Hilfe eines Lichtmikroskops möglich. Viren (∼ 10−7 m) sind dagegen für Untersuchungen durch ein Lichtmikroskop zu klein und erfordern daher eine kleinere de Broglie-Wellenlänge (bzw. einen größerer Impuls) des Sondenteilchens. Man benötigt daher in diesem Fall ein Elektronenmikroskop. Die Röntgenstrukturanalyse gestattet die Untersuchung der Gitterstruktur eines Kristalls mit Gitterabständen von ∼ 10−10 m, was gerade der Wellenlänge von Röntgenstrahlung entspricht. Eine oft verwendete Energieeinheit ist das Elektronvolt. Ein Elektronvolt (eV) entspricht jener kinetischen Energie, die ein Teilchen mit Elementarladung e (z.B. e+ , p) gewinnt, wenn es die Potentialdifferenz von einem Volt durchläuft. Man erhält daraus sofort eV/c als Impulseinheit und eV/c2 als Masseneinheit. Typische Beispiele für die Verwendung dieser Einheiten sind me ≃ 0.5 MeV/c2 , mp ≃ mn ≃ 940 MeV/c2 . Mit Hilfe der Quantenleiter lässt sich der Zusammenhang zwischen dem Impuls eines Teilchens und dem Auflösungsvermögen auf einen Blick sehen: h = λp 1.3. QUANTENLEITER h = = = = = 13 (1.2 × 10−6 m) · (1 eV/c) (1.2 × 10−10 m) · (104 eV/c) = (1.2 × 10−10 m) · (10 keV/c) (1.2 × 10−15 m) · (109 eV/c) = (1.2 × 10−15 m) · (1 GeV/c) (1.2 × 10−17 m) · (1011 eV/c) = (1.2 × 10−17 m) · (100 GeV/c) (1.2 × 10−18 m) · (1012 eV/c) = (1.2 × 10−18 m) · (1 TeV/c) Immer größere Impulse gestatten die Untersuchung immer kleinerer Strukturen. Auf den Sprossen dieser Quantenleiter gelangt man von der Lichtmikroskopie (Untersuchung von Zellen, Bakterien, ...) zur Elektronenmikroskopie (Viren, ...) über die Röntgenstreuung (Struktur von Atomgittern, ...) zu den Experimenten der Kernphysik (Untersuchung von Atomkernen, ...) und schließlich der Teilchenphysik (Substruktur der Nukleonen → Quarks, Gluonen, ...). In den Experimenten der Teilchenphysik konnten die elektroschwache und die starke Wechselwirkung bisher bis zu Distanzen von ∼ 10−18 m untersucht werden. Selbst bei diesen winzigen Abständen konnte keine Abweichung von den Grundregeln der Quantentheorie5 festgestellt werden. Typische Energien von Hochenergiebeschleunigern: • LEP (1989-2000) e+ e− 100 GeV + 100 GeV • LHC (seit 2009) 5 pp 3.5 TeV + 3.5 TeV ( 7 TeV + 7 TeV) Pb Pb 287 TeV + 287 TeV Bei diesen großen Energien erfolgt die Beschreibung der erwähnten fundamentalen Wechselwirkungen durch eine so genannte relativistische Quantenfeldtheorie, welche die Spielregeln der (speziellen) Relativitätstheorie mit jenen der Quantentheorie verbindet. 14 KAPITEL 1. EINFÜHRUNG Kapitel 2 Elementare Quantenmechanik Die quantenmechanische Beschreibung eines spinlosen, nichtrelativistischen Teilchens wird besprochen. Grundkonzepte der Quantentheorie (reiner Zustand, Observable, mögliche Messwerte einer Observablen, Mittelwert) werden zusammen mit ihren mathematischen Entsprechungen (Wellenfunktion, hermitescher Operator, Spektrum eines hermiteschen Operators, Erwartungswert) anhand dieses einfachen Beispiels erläutert. Die Diracschreibweise gestattet die Formulierung der Quantenmechanik ohne Bezugnahme auf eine spezielle Darstellung (wie etwa die Orts- oder Impulsdarstellung). Die allgemeine Form der Unschärferelation ist eine unmittelbare Konsequenz der Nichtkommutativität von Observablen. Die Zeitentwicklung eines reinen Zustands wird durch die Schrödingergleichung beschrieben. 2.1 Wellenfunktion Ein Teilchen (allgemein ein physikalisches System) kann sich in vielen verschiedenen Zuständen befinden. Besitzt man die maximal mögliche Information über den Zustand eines Systems, so spricht man von einem reinen Zustand, ist die Information unvollständig, von einem gemischten Zustand. In der klassischen Mechanik ist ein reiner Zustand eines Teilchens (zu einem bestimmten Zeitpunkt) durch die Angabe der Position ~x und der Geschwindigkeit ~v des Teilchens festgelegt. In der Quantenmechanik wird ein reiner Zustand eines Teilchens mit Spin 0 durch eine komplexwertige Wellenfunktion ψ(~x) mit der Normierungsbedingung Z d3 x |ψ(~x)|2 = 1 R3 15 16 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK beschrieben. Erstreckt man die Integration nur über ein Teilgebiet V , so gibt der Ausdruck Z d3 x |ψ(~x)|2 V die Wahrscheinlichkeit an, das Teilchen irgendwo im Gebiet V ⊂ R3 anzutreffen. Die Normierungsbedingung bedeutet daher, dass die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen irgendwo im gesamten Raum zu finden gleich eins ist. ρ(~x) = |ψ(~x)|2 wird daher auch als Wahrscheinlichkeitsdichte bezeichnet. Bemerkung: In der Sprache von Abschnitt 1.2 ist h~x|ψi ≡ ψ(~x) die Amplitude, das Teilchen am Ort ~x zu finden, wenn es sich in dem reinen Zustand ψ befindet. Die experimentelle Realisierung eines Zustands kann man sich durch eine sehr große Zahl N gleich präparierter Kopien (ein Ensemble) des betrachteten physikalischen Systems (in unserem Fall: des Teilchens) vorstellen. Wir wollen nun annehmen, dass wir einen Detektor D haben, der feststellen kann, ob sich das Teilchen zu dem betrachteten Zeitpunkt irgendwo in dem Gebiet V ⊂ R3 befindet. Ein zweiter Detektor D ′ soll registrieren, ob sich das Teilchen außerhalb des Gebiets V aufhält. Wir führen diese Messung an allen N Kopien unseres Systems durch. Dabei stellen wir fest, dass bei einer gegebenen Kopie des Systems jeweils genau einer der beiden Detektoren anspricht, also nie beide gleichzeitig oder nie keiner von beiden. Das Teilchen wird also immer entweder in V oder in V ′ = R3 \V vorgefunden. Bezeichnen wir mit NV die Anzahl der Fälle, in denen der Detektor D angesprochen hat und mit NV ′ die entsprechende Anzahl für den Detektor D ′ , so ist daher NV + NV ′ = N. Im Grenzfall N → ∞ ist NV N →∞ N wV = lim die Wahrscheinlichkeit, dass das Teilchen im Gebiet V angetroffen wird. Wurde der durch die Wellenfunktion ψ(~x) beschriebene Zustand präpariert, so ist Z wV = d3 x |ψ(~x)|2 , V R d.h. der theoretische Wert V d3 x |ψ(~x)|2 ist der Erwartungswert für das Verhältnis NV /N, welches für endliches N gemäß den bekannten statistischen R Regeln um den theoretischen Wert V d3 x |ψ(~x)|2 verteilt ist. 17 2.2. ORTSMESSUNG Man kann zwar nicht vorhersagen, bei welcher Kopie des Systems gerade der Detektor D ansprechen wird1 (in diesem Sinn ist die Quantenmechanik nicht deterministisch). Man kann aber sehr wohl die Wahrscheinlichkeit angeben, mit der der Detektor D ein Signal geben wird, wenn der durch die Wellenfunktion ψ beschriebene Zustand präpariert wurde (in diesem Sinn ist die Quantenmechanik deterministisch). Aufgaben: 1. Die oben beschriebene Messung werde an N Kopien des Systems durchgeführt. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit pn , dass das Teilchen bei genau n Kopien (n = 1, . . . , N) im Gebiet V nachgewiesen wird. Bestimmen Sie den Mittelwert und die Schwankung von n. (Hinweis: Binomialverteilung) 2. Verallgemeinern Sie die Dikussion dieses Abschnitts auf den Fall von K Detektoren Dk (k = 1, . . . , K > 2), welche feststellen können, ob sich das S 3 V Teilchen innerhalb der disjunkten Gebiete Vk befindet ( K k=1 k = R ). 2.2 Ortsmessung Wie wird der durch die Wellenfunktion ψ beschriebene Zustand durch eine Messung verändert? Wenn der Detektor D angesprochen hat, wissen wir nun, dass sich das Teilchen mit Sicherheit im Gebiet V befindet. War der ursprüngliche Zustand des Teilchens durch die Wellenfunktion ψ beschrieben, so können wir behaupten, dass die Wellenfunktion nach der Messung durch cV (~x)ψ(~x) qR d3 x |ψ(~x)|2 V gegeben ist, wobei cV (~x) die charakteristische Funktion (Indikatorfunktion) des Gebietes V ist: ( 1 falls ~x ∈ V . cV (~x) = 0 sonst Der hier beschriebene Vorgang wird manchmal auch Zustandsreduktion (oder Reduktion des Wellenpakets) genannt. Die Vorschrift Multipliziere ψ(~x) mit der Funktion cV (~x)!“ ist ein typisches ” Beispiel für einen linearen Operator: cV (~x) a1 ψ1 (~x) + a2 ψ2 (~x) = a1 cV (~x)ψ1 (~x) + a2 cV (~x)ψ2 (~x), a1,2 ∈ C. 1 Es sei denn, die Wellenfunktion würde entweder außerhalb des Gebiets V oder auf ganz V verschwinden. 18 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK Unter einer Eigenfunktion φ(~x) dieses linearen Operators versteht man eine nicht verschwindende Funktion mit der Eigenschaft cV (~x)φ(~x) = λφ(~x), λ ∈ C. Die Zahl λ bezeichnet man als Eigenwert des Operators und die obige Gleichung als Eigenwertgleichung (des betrachteten Multiplikationsoperators). Da im vorliegenden Fall cV (~x)cV (~x) = cV (~x) gilt, folgt aus der Eigenwertgleichung die Beziehung λ2 = λ, sodass als Eigenwerte nur 0 oder 1 in Frage kommen. Die Menge der Eigenwerte eines linearen Operators bezeichnet man auch als sein Spektrum. Im Fall unseres Multiplikationsoperators ist das Spektrum also die Menge {0, 1}. Es gibt also für den Multiplikationsoperator cV (~x) zwei Typen von Eigenfunktionen: Ist φ(~x) = 0 ∀ ~x ∈ / V , so ist der dazugehörige Eigenwert λ = 1. Ist dagegen φ(~x) = 0 ∀ ~x ∈ V , so ist λ = 0. Physikalisch steht der Multiplikationsoperator cV (~x) in unmittelbarer Beziehung zu dem Ja/Nein-Experiment Befindet sich das Teilchen im Gebiet V ?“. Den ” beiden möglichen Ergebnissen der Messung (Ja oder Nein) entsprechen die Eigenwerte 1 oder 0. Die normierten Eigenfunktionen zum Eigenwert 1 sind genau jene Wellenfunktionen, bei denen das Teilchen mit Sicherheit im Gebiet V angetroffen wird, dagegen sind die normierten Eigenfunktionen zum Eigenwert 0 genau jene Wellenfunktionen, bei denen das Teilchen immer außerhalb von V vorgefunden wird. Der Erwartungswert Z d3 x ψ(~x)∗ cV (~x)ψ(~x), R3 des Operators cV (~x) in dem durch die Wellenfunktion ψ(~x) beschriebenen Zustand, ist gerade die bereits früher besprochene Wahrscheinlichkeit wV , das Teilchen im Gebiet V zu finden. Weitere Beispiele für lineare (Multiplikations-) Operatoren sind die Ortsoperatoren x1 , x2 , x3 : ψ(~x) → xi ψ(~x), i = 1, 2, 3. Betrachten wir etwa die Eigenwertgleichung für x1 , x1 φ(~x) = y1 φ(~x), so ist die Lösung des Eigenwertproblems durch φ(~x) = δ(x1 − y1 )f (x2 , x3 ) gegeben, wobei y1 beliebige reelle Werte annehmen kann. Das Spektrum von x1 ist also ganz R. Die Eigenfunktionen (genauer Eigendistributionen) sind in diesem 19 2.2. ORTSMESSUNG Fall allerdings nicht normierbar, was bei einem kontinuierlichen Spektrum charakteristisch ist. Man kann auch Distributionen angeben, die simultane Eigendistributionen von x1 , x2 , x3 sind: φ~y (~x) = δ(x1 −y1 )δ(x2 −y2 )δ(x3 −y3 ) = δ (3) (~x −~y ), xi δ (3) (~x −~y ) = yi δ (3) (~x −~y ). Die nicht normierbaren Eigendistributionen φ~y (~x) = δ (3) (~x − ~y ) stellen gewissermassen den Grenzfall von Wellenfunktionen dar, bei denen das Teilchen immer besser am Ort ~y lokalisiert ist. Wird der Zustand eines Teilchens durch die Wellenfunktion ψ(~x) beschrieben, so ist der Erwartungswert des Ortsoperators ~x durch Z Z 3 ∗ d x ψ(~x) ~x ψ(~x) = d3 x |ψ(~x)|2~x R3 R3 gegeben. Man kann sich die entsprechende experimentelle Situation so vorstellen, dass man Ortsmessungen mit beliebig großer Genauigkeit durchführen kann. Für die Messung der Position des Teilchens ergibt sich dann bei der k-ten Kopie des Systems der Messwert ~x(k) und als Mittelwert von sehr vielen Messungen N X ~x(k) k=1 N N →∞ −→ Z R3 d3 x |ψ(~x)|2~x. Bemerkungen: 1. Aus einer Ortsmessung lassen sich auch andere beobachtbare Größen (Observable) gewinnen. Man kann z.B. den Mittelwert N 1 Xp lim x1 (k)2 + x2 (k)2 + x3 (k)2 N →∞ N k=1 bestimmen und die entsprechende theoretische Größe Z Z q 3 ∗ 2 2 2 d x ψ(~x) x1 + x2 + x3 ψ(~x) = d3 x |ψ(~x)|2 |~x| R3 R3 berechnen. Dieser Ausdruck ist der Erwartungwert für die Observable Ab” stand des Teilchens vom Ursprung des Koordinatensystems“. 20 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK 2. Die Annahme der beliebig scharfen räumlichen Lokalisierbarkeit eines Teilchens ist nur im Rahmen einer nichtrelativistischen Näherung gerechtfertigt. Versucht man nämlich die Bewegungsfreiheit eines Teilchens auf ein Gebiet einzuschränken, dessen Dimensionen kleiner als die Comptonlänge ~/mc des Teilchens sind, kommen wegen der Unschärferelation Impulse im relativistischen Bereich in Spiel, was u.a. zur Erzeugung von TeilchenAntiteilchen-Paaren führt. Damit endet die Möglichkeit der theoretischen Beschreibung durch eine Einteilchentheorie. Eine Quantentheorie, die auch bei relativistischen Energien Gültigkeit beanspruchen kann, ist daher notwendigerweise eine Mehrteilchentheorie, eine so genannte relativistische Quantenfeldtheorie. 2.3 Hilbertraum Als geeigneter mathematischer Rahmen erweist sich der Funktionenraum der komplexwertigen, quadratintegrablen Funktionen auf R3 : Z n o 3 3 2 L (R ) = ψ : R → C d3 x |ψ(~x)|2 < ∞ R3 Die Wellenfunktionen sind genau jene Elemente ψ von L2 (R3 ), welche die R also 3 Normierungsbedingung R3 d x |ψ(~x)|2 = 1 erfüllen. Man kann zeigen, dass L2 (R3 ) einen Vektorraum über C bildet. Weiters kann man durch Z hϕ|ψi = d3 x ϕ(~x)∗ ψ(~x), ϕ, ψ ∈ L2 (R3 ) R3 ein (komplexes) Skalarprodukt definieren, das die folgenden Eigenschaften besitzt (a1,2 ∈ C): (S1) hϕ|a1 ψ1 + a2 ψ2 i = a1 hϕ|ψ1 i + a2 hϕ|ψ2 i (S2) hϕ|ψi = hψ|ϕi∗ (S3) hψ|ψi ≥ 0, hψ|ψi = 0 ⇔ ψ = 0 Bemerkungen: 1. Aus (S1) und (S2) folgt: ha1 ϕ1 + a2 ϕ2 |ψi = a∗1 hϕ1 |ψi + a∗2 hϕ2 |ψi 21 2.4. LINEARE OPERATOREN 2. Das Integral ist im Sinn von Lebesgue zu verstehen. 3. Man kann zeigen, dass der so definierte Raum bezüglich der durch das Skalarprodukt induzierten Norm ||ψ|| = hψ|ψi1/2 vollständig ist (d.h. jede Cauchyfolge besitzt einen Limes). 4. hψ|ψi = 0 ⇒ ψ = 0 lässt sich dadurch garantieren, dass man Funktionen, die sich nur auf einer Nullmenge“ (die bei der Integration nichts beiträgt) ” unterscheiden, identifiziert. (Die Elemente von L2 (R) sind also eigentlich Äquivalenzklassen von (messbaren) Funktionen.) L2 (R3 ) ist ein Beispiel für einen Hilbertraum, darunter versteht man einen (i.A. unendlichdimensionalen) Vektorraum (über C) mit einem Skalarprodukt, der bezüglich der durch ||ψ|| = hψ|ψi1/2 definierten Norm vollständig ist. Ein weiteres Beispiel für einen in der Quantenmechanik oft verwendeten Hilbertraum ist Z+∞ n o 2 L (R) = ψ : R → C dx |ψ(x)| < ∞ , 2 −∞ Z+∞ hϕ|ψi = dx ϕ(x)∗ ψ(x), −∞ der bei der Beschreibung eines Teilchens in einer Raumdimension zum Einsatz kommt. Die aus der linearen Algebra bekannten unitären Vektorräume sind Beispiele für endlichdimensionale Hilberträume. 2.4 Lineare Operatoren H sei ein Hibertraum. Unter einem linearen Operator A : H → H versteht man eine Vorschrift, die jedem Element ψ ∈ H wieder ein Element Aψ ∈ H zuordnet, mit der Eigenschaft A(c1 ψ1 + c2 ψ2 ) = c1 Aψ1 + c2 Aψ2 ∀ ψ1,2 ∈ H, ∀ c1,2 ∈ C. Mit Hilfe des Skalarprodukts kann man den zu A adjungierten Operator A† einführen: hϕ|A† ψi = hAϕ|ψi ∀ ϕ, ψ ∈ H. Es gelten die folgenden Rechenregeln (A, B sind lineare Operatoren, a, b ∈ C): (aA + bB)† = a∗ A† + b∗ B † , (AB)† = B † A† , (A† )† = A. 22 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK Ein linearer Operator A heißt hermitesch, falls A† = A erfüllt ist. Jede beobachtbare Größe (Observable) wird in der Quantenmechanik durch einen hermiteschen Operator dargestellt. Beispiel: Auf H = L2 (R) wird durch die Vorschrift (CI ψ)(x) = cI (x)ψ(x), ψ ∈ L2 (R), I ⊂ R ein hermitescher Operator definiert. (Überprüfen Sie diese Behauptung!) Ein etwas allgemeineres Beispiel für einen hermiteschen Operator auf L2 (R) ist durch die Vorschrift (F ψ)(x) = f (x)ψ(x) gegeben, wobei f (x) eine reellwertige Funktion mit f (x)ψ(x) ∈ L2 (R) ∀ ψ ∈ L2 (R). Einen vom Nullvektor verschiedenen Vektor φ ∈ H mit der Eigenschaft Aφ = aφ bezeichnet man als Eigenvektor des linearen Operators A, a ∈ C ist der dazugehörige Eigenwert Aufgabe: Zeigen Sie, dass die Eigenwerte eines hermiteschen Operators reell sind. In der Quantenmechanik sind die Eigenwerte eines hermiteschen Operators A die möglichen Messwerte der dazugehörigen Observablen. So repräsentiert z.B. der Operator CI das Ja/Nein-Experiment Befindet sich das Teilchen im Intervall ” I?“. Wie wir bereits wissen, besteht das Spektrum von CI nur aus den Werten {0, 1}. Bemerkung: Einen Operator Π mit den Eigenschaften Π† = Π, Π2 = Π nennt man (orthogonalen) Projektor oder Projektionsoperator. Ein Projektionsoperator kann nur die Eigenwerte 0 oder 1 besitzen, in der Quantenmechanik kann er stets mit einer Ja/Nein-Messung in Verbindung gebracht werden. Besitzt ein hermitescher Operator zwei verschiedene Eigenwerte a1 6= a2 mit dazugehörigen Eigenvektoren φ1 und φ2 , so gilt hφ1 |φ2 i = 0, d.h. die beiden Eigenvektoren stehen aufeinander orthogonal. (Beweisen Sie diese Behauptung!) Beispiel: Projektionsoperator CI CI φ1 = φ1 φ1 ist eine Eigenfunktion zum Eigenwert 1 CI φ2 = 0 φ2 ist eine Eigenfunktion zum Eigenwert 0 23 2.4. LINEARE OPERATOREN φ1 φ2 - a I R b Abbildung 2.1: Zwei Beispiele für Eigenfunktionen des Projektionsoperators CI . hφ1 |φ2 i = +∞ R dx φ1 (x)∗ φ2 (x) = 0 √ −∞ Besitzt ein hermitescher Operator A = A† mehrere linear unabhängige Eigenvektoren zum gleichen Eigenwert a (im Fall von CI sind es sogar unendlich viele), so kann dennoch ein Orthonormalsystem von Eigenvektoren gewählt werden (d.h., man wählt eine Orthonormalbasis für den Eigenraum von a). Allgemein gilt für einen hermiteschen Operator A mit rein diskretem Spektrum der folgende Spektralsatz: Es gibt ein vollständiges Orthonormalsystem (VONS) {φ1 , φ2 , . . .} von Eigenvektoren, Aφn = an φn . Orthonormalsystem (ONS) bedeutet: hφm |φn i = δmn Vollständigkeit bedeutet, dass man jeden Vektor ψ ∈ H als Linearkombination der Basisvektoren {φ1 , φ2 , . . .} schreiben kann: X φn cn , cn ∈ C. ψ= n Bemerkungen: 1. In einem unendlichdimensionalen Hilbertraum ist die Konvergenz der Summe im Sinne der durch das Skalarprodukt induzierten Norm zu verstehen. 2. Wir beschäftigen uns ausschließlich mit separablen Hilberträumen, welche ein abzählbares VONS besitzen. Aufgabe: Zeigen Sie, dass cn = hφn |ψi ist. Für H = L2 (R) hat man ψ(x) = X n φn (x)hφn |ψi = X n Z+∞ Z+∞ X φn (x) dy φn (y)∗ψ(y) = dy φn (x)φn (y)∗ ψ(y), −∞ −∞ n 24 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK das heißt, man kann die Vollständigkeitsrelation in der Form X φn (x)φn (y)∗ = δ(x − y) n schreiben. 2.5 Skalarprodukt und Erwartungswert Ein physikalisches System befinde sich in einem reinen Zustand, der durch den Zustandsvektor ψ beschrieben wird. Der hermitesche Operator A repräsentiere eine bestimmte Observable mit dem VONS von Eigenvektoren φ1 , φ2 , . . . und Eigenwerten a1 , a2 , . . .. Man kann ψ nach diesem VONS entwickeln, X ψ= φn hφn |ψi. n Kommt der Eigenwert an nur einmal vor, dann ist |hφn |ψi|2 die Wahrscheinlichkeit, bei einer Messung der Observablen A den Messwert an zu erhalten. hφn |ψi wird als dazugehörige Wahrscheinlichkeitsamplitude bezeichnet. Man kann den durch den Vektor ψ beschriebenen Zustand auch durch die Angabe aller Wahrscheinlichkeitsamplituden hφn |ψi vollständig charakterisieren.2 Die Relation X n |hφn |ψi|2 = hψ|ψi = 1 bedeutet einfach, dass die Wahrscheinlichkeit irgendeinen der möglichen Messwerte a1 , a2 , . . . zu messen gleich 1 ist. Kommt ein bestimmter Eigenwert in der Folge a1 , a2 , . . . mehrmals vor, z.B. a1 = a2 =: a, so ist die Wahrscheinlichkeit bei einer Messung der Observablen A den Messwert a zu erhalten durch |hφ1|ψi|2 + |hφ2 |ψi|2 gegeben. Der Erwartungswert einer Observablen A (mit rein diskretem Spektrum) in dem durch den normierten Vektor ψ ∈ H beschriebenen reinen Zustand ist durch X X X X an |hφn |ψi|2 = an hψ|φn ihφn |ψi = hψ|φn ihan φn |ψi = hψ|φn ihAφn |ψi n n = X n 2 n n X hψ|φn ihφn |Aψi = ψ| φn hφn |Aψi = hψ|Aψi |n {z Aψ } Darauf beruht der Zusammenhang zwischen der Schrödingerschen Wellenmechanik und der Heisenbergschen Matrizenmechanik. 2.5. SKALARPRODUKT UND ERWARTUNGSWERT 25 gegeben. Besitzt der betrachtete Operator ein kontinuierliches Spektrum, müssen die oben angegebenen Formeln etwas modifiziert werden. Ich diskutiere hier als Beispiel den Ortsoperator ψ(x) → xψ(x) für ein Teilchen in einer Raumdimension. Die Eigenfunktionen (Eigendistributionen) sind in diesem Fall φy (x) = δ(x − y) und für die Eigenwerte y sind alle reellen Zahlen möglich. Die Eigenfunktionen φy (x) sind zwar nicht auf 1 normierbar, sie sind jedoch orthogonal in dem Sinn, dass Z+∞ Z+∞ ∗ dx δ(x − y)δ(x − y ′ ) = δ(y − y ′) dx φy (x) φy′ (x) = hφy |φy′ i = −∞ −∞ Das System der Ortseigenfunktionen φy (x) ist in dem Sinn vollständig, dass sich jede normierbare Funktion ψ(x) als Linearkombination der Ortseigenfunktionen schreiben lässt, Z+∞ Z+∞ dy φy (x)ψ(y), dy δ(x − y)ψ(y) = ψ(x) = −∞ −∞ wobei Z+∞ Z+∞ ψ(y) = hφy |ψi = dx φy (x)∗ ψ(x) = dx δ(x − y)ψ(x). −∞ −∞ Bemerkung: Statt hφx |ψi schreibt man üblicherweise kurz hx|ψi, d.h. hx|ψi ≡ ψ(x). Da |hx|ψi|2dx = |ψ(x)|2 dx die Wahrscheinlichkeit ist, das Teilchen im Intervall [x, x + dx] vorzufinden, kann man die Wellenfunktion ψ(x) als Wahrscheinlichkeitsamplitude dafür ansehen, das Teilchen am Ort x zu finden. Dementsprechend erhält man für den Erwartungswert des Ortsoperators die bekannte Formel: Z∞ Z∞ 2 dx x|hx|ψi| = dx ψ(x)∗ xψ(x). −∞ −∞ 26 2.6 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK Ortsoperator Der durch (Xψ)(x) = xψ(x) definierte Ortsoperator X ist ein Beispiel für einen unbeschränkten Operator. Ist nämlich ψ(x) ∈ L2 (R), dann ist xψ(x) nicht notwendigerweise in L2 (R). Ein Beispiel für eine derartige Funktion wäre ψ(x) = denn Z∞ 2 dx |ψ(x)| = Z∞ dx a > 0, 1 π = < ∞, x2 + a2 a −∞ −∞ aber 1 , x + ia Z∞ dx |xψ(x)|2 = −∞ Z∞ dx x2 x2 + a2 −∞ ist divergent. Das heißt, der Ortsoperator kann nicht auf dem ganzen Hilbertraum L2 (R) definiert werden, sondern nur auf dem Definitionsbereich D(X) = ϕ(x) ∈ L2 (R)xϕ(x) ∈ L2 (R) . D(X) ist dicht in L2 (R), d.h. ∀ ψ ∈ L2 (R) und ∀ ε > 0 ∃ ϕ ∈ D(X) mit ||ψ − ϕ|| < ε. Definition: Ein linearer Operator A : H → H heißt beschränkt, falls eine Konstante C ≥ 0 existiert, sodass ||Aϕ|| ≤ C||ϕ|| ∀ ϕ ∈ H. Das ist gleichbedeutend damit, dass ||A|| = sup ||Aϕ|| < ∞. ||ϕ||=1 (||A|| wird als Operatornorm von A bezeichnet.) Alle Operatoren in endlichdimensionalen Hilberträumen (unitären Vektorräumen) sind beschränkt. Ebenso ist der früher besprochene Multiplikationsoperator CI beschränkt. Der Ortsoperator X ist klarerweise unbeschränkt. Man betrachte z.B. die Funktionenfolge ϕn (x) = c[n,n+1] (x), n ∈ N. Dann gilt ||ϕn || = 1, ϕn ∈ D(X) und n+1 Z 1 ||Xϕn || = dx x2 = n2 + n + −→ ∞. 3 n→∞ 2 n Hat man es ganz allgemein mit einem unbeschränkten Operator A zu tun, der daher nicht auf ganz H definiert sein kann (D(A) ⊂ H, D(A) dicht in H), so wird der dazu adjungierte Operator A† folgendermaßen definiert: D(A† ) = ϕ ∈ H|hϕ|Aψi = hχψi ∀ ψ ∈ D(A), χ ∈ H . 27 2.6. ORTSOPERATOR Da D(A) dicht in H vorausgesetzt ist, ist χ = A† ϕ eindeutig festgelegt. Es gibt genau dann ein χ mit der obigen Eigenschaft, falls |hϕ|Aψi| ≤ C||ψ|| ∀ ψ ∈ D(A). A heißt selbstadjungiert, falls D(A† ) = D(A) und A = A† . A heißt hermitesch, falls D(A) ⊆ D(A† ) und A = A† auf D(A). Ist A beschränkt, so ist D(A) = H = D(A† ) und die beiden Begriffe fallen zusammen. Wir haben bereits bemerkt, dass X keine Eigenvektoren besitzt, da die Eigenwertgleichung xφ(x) = yφ(x) nur die Lösungen“ φ(x) ∼ δ(x − y) besitzt, welche ” aber keine Elemente von L2 (R) sind. Der Grund dafür ist bekanntlich, dass der Ortsoperator ein rein kontinuierliches Spektrum besitzt. Eine mathematisch präzise Definition des Spektrums eines linearen Operators A erhält man, indem man die Resolvente des Operators A, RA (z) = 1 , z−A z ∈ C, betrachtet. Das Spektrum von A besteht dann aus allen z ∈ C, für die RA (z) kein beschränkter Operator ist. Ist φ ∈ H ein Eigenvektor von A mit Eigenwert a, so ist der Operator a − A nicht invertierbar und RA (a) existiert nicht, d.h. a gehört zum Spektrum von A. Wir wenden jetzt diese Definition des Spektrums auf den Ortsoperator X an: 1 ϕ(x), z−x Z+∞ 1 2 |ϕ(x)|2 = dx z − x (RX (z)ϕ)(x) = ||RX (z)ϕ||2 −∞ Z+∞ dx = −∞ |ϕ(x)|2 (Rez − x)2 + (Imz)2 1 ≤ (Imz)2 Z+∞ dx |ϕ(x)|2 . −∞ | {z ||ϕ||2 } Die Resolvente RX (z) ist beschränkt, falls Imz 6= 0, daher besteht das Spektrum aus allen Zahlen z ∈ C mit Imz = 0 ⇒ das Spektrum des Ortsoperators ist ganz R. Literatur: Walter Thirring, Lehrbuch der Mathematischen Physik, Band 3: Quantenmechanik von Atomen und Molekülen, Springer, Wien, New York, 1994 28 2.7 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK Impuls Wie aus T1 bekannt ist, besteht ein Zusammenhang zwischen den räumlichen Verschiebungen und dem Impuls eines physikalischen Systems. Wir betrachten daher die Verschiebung einer Wellenfunktion ψ(x) um die Strecke a, die durch den Translationsoperator (Ta ψ)(x) = ψ(x − a) bewirkt wird. Bemerkungen: Der Operator Ta besitzt die folgenden Eigenschaften: Ta Tb = Ta+b , To = 1, Ta† = T−a , Ta Ta† = Ta† Ta = 1. Einen Operator U mit der Eigenschaft UU † = U † U = 1 bezeichnet man als unitären Operator. Sein Spektrum ist eine Teilmenge des Einheitskreises in der komplexen Zahlenebene. Für infinitesimales a erhält man ψ(x − a) ≃ ψ(x) − a d ia ~ d ψ(x) = ψ(x) − ψ(x). dx ~ i dx Den hermiteschen Operator ~ d i dx bezeichnet man als Impulsoperator (der Zusammenhang mit dem üblichen“ ” Impuls wird im klassischen Limes ~ → 0 klar werden). P = Aufgabe: Überzeugen Sie sich davon, dass der Impulsoperator tatsächlich hermitesch ist. Es ist also zu zeigen, dass ∗ Z+∞ Z+∞ ~ d ∗~ d dx ϕ(x) ψ(x) = dx ϕ(x) ψ(x) i dx i dx −∞ −∞ erfüllt ist. Dabei können Sie annehmen, dass die Funktionen ϕ und ψ im Unendlichen verschwinden. Um die Eigenfunktionen des Impulsoperators zu bestimmen, betrachten wir die Eigenwertgleichung ~ d f (x) = pf (x), i dx welche die Lösungen 1 eipx/~ fp (x) = √ 2π~ 29 2.7. IMPULS besitzt. Für den Impulseigenwert p kommen alle reellen Zahlen in Betracht, das Spektrum ist also (wie beim Ortsoperator) kontinuierlich, daher sind die Impulseigenfunktionen fp (x) nicht normierbar, sie erfüllen aber die Orthogonalitätsrelation Z+∞ Z+∞ dx −ipx/~ ip′ x/~ e e = δ(p − p′ ). dx fp (x)∗ fp′ (x) = hfp |fp′ i = 2π~ −∞ −∞ √ (Das erklärt die Wahl des seltsamen Normierungsfaktors 1/ 2π~.) Analog zu den Eigenfunktionen des Ortsoperators sind die Impulseigenfunktionen Grenzfälle von Wellenfunktionen mit immer schärferem Impuls. Wieder kann jede Wellenfunktion ψ(x) (hψ|ψi = 1) als Superposition von Impulseigenfunktionen geschrieben werden: Z+∞ Z+∞ eipx/~ dp √ dp fp (x)ψ̃(p) = ψ(x) = ψ̃(p). 2π~ −∞ −∞ Wegen hfp |fp′ i = δ(p − p′ ) ist Z+∞ e−ipx/~ ψ̃(p) = hfp |ψi = dx √ ψ(x). 2π~ −∞ |ψ̃(p)|2 dp = |hfp |ψi|2dp ist die Wahrscheinlichkeit, bei einer Impulsmessung einen Messwert im Impulsintervall [ p, p + dp] zu erhalten, wenn der durch die Wellenfunktion ψ(x) beschriebene Zustand präpariert wurde. Üblicherweise wird statt hfp |ψi kurz hp|ψi geschrieben. hp|ψi ist die Wahrscheinlichkeitsamplitude, bei einer Impulsmessung den Messwert p zu erhalten. ψ̃(p) = hp|ψi wird auch Impulsraumwellenfunktion genannt, sie enthält dieselbe Information wie die Ortsraumwellenfunktion ψ(x) = hx|ψi. Zusammenfassung des Zusammenhangs zwischen Orts- und Impulsdarstellung: Z+∞ ψ(x) = hx|ψi = dp hx|pi hp|ψi, | {z } | {z } −∞ ipx/~ e√ 2π~ ψ̃(p) Z+∞ ψ̃(p) = hp|ψi = dx hp|xi hx|ψi, | {z } | {z } −∞ e−ipx/~ √ 2π~ ψ(x) 30 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK Beobachtung: +∞ R dx|xihx| = −∞ +∞ R −∞ dp|pihp| = 1. Es ist egal, ob man ein Skalarprodukt in der Orts- oder der Impulsdarstellung berechnet, Z+∞ Z+∞ dp hϕ|pi hp|ψi . hϕ|ψi = dx hϕ|xi hx|ψi = | {z } | {z } | {z } | {z } −∞ ϕ(x)∗ ψ(x) −∞ ϕ̃(p)∗ ψ̃(p) Aufgabe: Zeigen Sie, dass der Impulsoperator in der Impulsdarstellung durch die Multiplikationsvorschrift ψ̃(p) → pψ̃(p) gegeben ist, während der Ortsoperator d jetzt durch den Differentialoperator i~ dp dargestellt wird. Orts- und Impulsoperator kommutieren nicht miteinander, denn ~ d ~ d ~ ~ ~ x − x ψ(x) = x ψ ′ (x) − ψ(x) − x ψ ′ (x) = i~ψ(x). i dx i dx i i i In der Impulsdarstellung erhält man das gleiche Ergebnis: d d ψ̃(p) = i~ψ̃(p) + i~pψ̃ ′ (p) − i~pψ̃ ′ (p) = i~ψ̃(p). i~ p − p i~ dp dp Unabhängig von der gewählten Darstellung erhält man die fundamentale Vertauschungsrelation [X, P ] = XP − P X = i~1 | {z } Kommutator zwischen Orts- und Impulsoperator. Die Verallgemeinerung der obigen Formeln auf den Fall von drei Raumdimen- 31 2.8. DIRACSCHREIBWEISE sionen ist offensichtlich: ~ x) = ψ(~x) − ψ(~x − ~a) ≃ ψ(~x) − ~a · ∇ψ(~ i~a ~ ~ · ∇ψ(x), ~ i ~ P~ = −i~∇, ~ p~ (~x) = p~fp~(~x), −i~∇f ei~p·~x/~ , (2π~)3/2 hfp~ |fp~ ′ i = h~p |~p ′ i = δ (3) (~p − ~p ′ ), Z ψ(~x) = h~x|ψi = d3 p h~x|~p i h~p |ψi, | {z } | {z } fp~ (~x) = h~x|~p i = p·~ x/~ ei~ (2π~)3/2 ψ̃(~p ) = h~p |ψi = Z [Xk , Pl ] = i~δkl 1. 2.8 ψ̃(~ p) d3 x h~p |~xi h~x|ψi, | {z } | {z } p·~ x/~ e−i~ (2π~)3/2 ψ(~ x) Diracschreibweise Wir haben gesehen, dass die Ortsraumwellenfunktion ψ(x), die Impulsraumwellenfunktion ψ̃(p) oder die Folge von Skalarprodukten hφ1 |ψi, hφ2|ψi, . . . bezüglich eines beliebigen VONS φ1 , φ2 , . . . jeweils dieselbe Information über den betrachteten Zustand enthalten. P.A.M. Dirac folgend spricht man daher von dem abstrakten“ Zustandsvektor ” ( ket-Vektor“) |ψi ∈ H (ohne Bezug auf eine bestimmte Darstellung“). Das ” ” Skalarprodukt hϕ|ψi (bracket) interpretiert man dann als Multiplikation des bra” Vektors“ hϕ| (Element des Dualraums von H) mit dem ket-Vektor |ψi. Die Skalarprodukte hφn |ψi sind die Komponenten des Vektors |ψi bezüglich des VONS |φ1 i, |φ2i, . . .. Oft schreibt man statt |φn i kurz |ni. Die Zerlegung des Vektors |ψi bezüglich des VONS lautet dann |ψi = X n |nihn|ψi und die Orthogonalitäts- und Vollständigkeitsrelation haben in dieser Schreibweise die Form X hm|ni = δmn , |nihn| = 1. n 32 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK Sind die Vektoren des VONS |φ1 i, |φ2i, . . . Eigenvektoren eines Operators A mit dazugehörigen Eigenwerten a1 , a2 , . . ., so lautet die Spektraldarstellung des Operators X A= an |nihn|. n Funktionen von A kann man dann leicht durch X f (A) = f (an )|nihn| n angeben. Im obigen Sinn kann man die Ortsraumwellenfunktion ψ(x) als Projektion des Zustandvektors |ψi auf die kontinuierliche Basis“ der Eigenfunktionale |xi des ” Ortsoperators X interpretieren: X|xi = x|xi, X = hx|yi = δ(x − y), Z+∞ −∞ Z+∞ dx |xihx| = 1, dx x |xihx|, −∞ Z+∞ f (X) = −∞ dx f (x) |xihx|. Analog interpretiert man die Impulsraumwellenfunktion ψ̃(p) als Projektion des Zustandvektors |ψi auf die kontinuierliche Basis“ der Eigenfunktionale |pi des ” Impulsoperators P : P |pi = p|pi, Z+∞ dp |pihp| = 1, hp|p′i = δ(p − p′ ), −∞ P = Z+∞ dx p |pihp|, −∞ Z+∞ dp f (p) |pihp|. f (P ) = −∞ Der Zusammenhang zwischen Orts- und Impulsdarstellung wird durch die Formel eipx/~ hx|pi = √ 2π~ hergestellt. Aufgabe: Verallgemeinern Sie die Diskussion der Orts- und Impulsdarstellung im Diracformalismus auf den Fall von drei Raumdimensionen. 33 2.9. UNSCHÄRFERELATION 2.9 Unschärferelation Gegeben sei ein Zustandsvektor |ψi. Der Erwartungswert hψ|Aψi einer Observablen A in diesem Zustand werde mit hAi bezeichnet. Unter dem Schwankungsquadrat (∆A)2 von A im Zustand |ψi versteht man den Erwartungswert des Operators (A − hAi)2 , d.h. (∆A)2 = h(A − hAi)2 i = hA2 i − hAi2 ⇒ ∆A = p p h(A − hAi)2 i = hA2 i − hAi2 . Für einen beliebigen (nicht notwendigerweise hermiteschen) Operator C gilt: hC † Ci = hψ|C † Cψi = hCψ|Cψi ≥ 0. Für zwei beliebige hermitesche Operatoren A, B sei der Operator C durch C= A − hAi B − hBi +i . ∆A ∆B definiert. Für diese Wahl von C erhält man * † + A − hAi B − hBi B − hBi A − hAi +i +i hC † Ci = ∆A ∆B ∆A ∆B = A − hAi B − hBi −i ∆A ∆B A − hAi B − hBi +i ∆A ∆B i (∆A)2 (∆B)2 + + hAB − BAi = 2 2 (∆A) (∆B) ∆A∆B = 2+ i hAB − BAi ≥ 0. ∆A∆B Man erhält also die Ungleichung i ∆A∆B ≥ − h[A, B]i 2 und nach Vertauschen von C und C † die Ungleichung i ∆A∆B ≥ + h[A, B]i. 2 Somit ergibt sich die allgemeine Form der Unschärferelation: ∆A∆B ≥ 1 |hi[A, B]i| . 2 34 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK Für den Spezialfall A = X und B = P ist der Kommutator durch [X, P ] = i~1 gegeben und man erhält die Unschärferelation für Ort und Impuls: ~ . 2 ∆X∆P ≥ Die folgende experimentelle Überprüfung der Unschärferelation für Ort und Impuls ist (theoretisch) denkbar: • Präparation von N Kopien des Systems im Zustand |ψi • Durchführung einer Ortsmessung mit Messwerten x(1), x(2), . . . , x(N) • Berechnung des Mittelwerts x̄ = • Berechnung von x2 = 1 N N P 1 N N P x(k) k=1 x(k)2 k=1 • Daraus erhält man (x − x̄)2 = x2 − x̄2 −→ (∆X)2 N →∞ • Präparation von N weiteren Kopien des Systems im Zustand |ψi • Durchführung einer Impulsmessung mit Messwerten p(1), p(2), . . . , p(N) • Berechnung von p̄ = 1 N • Berechnung von p2 = N P p(k) k=1 1 N N P p(k)2 k=1 • Daraus erhält man (p − p̄)2 = p2 − p̄2 −→ (∆P )2 N →∞ • Kombination der Ergebnisse beider Messreihen liefert das Produkt q q (x − x̄)2 (p − p̄)2 −→ ∆X∆P N →∞ Bemerkungen: 1. Die Unschärferelation ist eine direkte Folge der Beschreibung des Zustands eines Teilchens durch eine Wellenfunktion. Sie folgt direkt aus den Postulaten der Quantenmechanik und ist keine aufgepfropfte Zusatzbedingung. Die Formulierung dass man nicht genauer messen kann“ ist falsch, rich” tig ist, dass man keinen Zustand mit ∆X∆P < ~/2 präparieren kann: Es gibt keinen Zustand mit ∆X∆P < ~/2! Insbesondere gibt es keine theoretische Einschränkung an die Messgenauigkeit einer Orts- oder Impulsmessung (aber natürlich praktische Grenzen). 35 2.10. ZEITENTWICKLUNG 2. Unsere Herleitung der Unschärferelation hat nichts mit der Hintereinanderausführung von Orts- und Impulsmessung an ein und dem selben Teilchen zu tun (das wäre eine alternative Variante, bei der die Zustandsreduktion zu berücksichtigen ist). 3. Die Unschärferelation ist i.A. weniger von experimentellem, sondern von theoretischem Interesse (erklärt Grundzustandsenergie des harmonischen Oszillators, Stabilität des H-Atoms, etc.). Wir wollen jetzt jene Zustände finden, für die das Produkt aus Orts- und Impulsunschärfe den minimalen Wert ∆X∆P = ~/2 annimmt. Das Gleichheitszeichen entspricht hCψ|Cψi = 0 ⇒ C|ψi = 0, C= X − x0 P − p0 +i , σ ~/2σ wobei der Ortsmittelwert mit x0 , der Impulsmittelwert mit p0 , die Ortsschwankung mit σ und dementsprechend die Impulsunschärfe mit ~/2σ bezeichnet wurde. In der Ortsdarstellung entspricht C|ψi = 0 der Differentialgleichung x − x0 2iσ ~ d + − p0 ψ(x) = 0, σ ~ i dx als deren Lösung man 2 /4σ 2 ψ(x) = N e−(x−x0 ) eip0 x/~ erhält. Bemerkung: Die Gleichung C † |ψi = 0 ergibt keine normierbare Lösung. 2.10 Zeitentwicklung Wir haben bis jetzt Wellenfunktionen zu einem fixen Zeitpunkt betrachtet. Gemäß den de Broglie-Beziehungen ~p = ~~k, E(~p ) = p~ 2 /2m = ~ω wird die Zeitentwicklung eines freien Teilchens mit scharfem Impuls p~ durch die ebene Welle p ~2 ei~p·~x/~ e−i 2m t/~ beschrieben. Wir beschränken uns (zunächst) wieder auf den Fall der eindimensionalen Bewegung. Die de Broglie-Welle p2 eipx/~ e−i 2m t/~ 36 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK entspricht der Zeitentwicklung des (nicht normierbaren) Grenzfalls eines Zustands mit scharfem Impuls p. Die Zeitentwicklung von normierbaren Wellenfunktionen (also tatsächlichen Zuständen) lässt sich als Superposition von de BroglieWellen schreiben: Z+∞ eipx/~ −i p2 t/~ dp √ ψ(x, t) = e 2m ψ̃(p) . {z } 2π~ | −∞ ψ̃(p,t) p2 ψ̃(p, t) = e−i 2m t/~ ψ̃(p) ist die Impulsraumwellenfunktion zum Zeitpunkt t. Für ein freies Teilchen ist die Impulsverteilung |ψ̃(p, t)|2 = |ψ̃(p)|2 zeitunabhängig. ψ̃(p, t) erfüllt die Schrödingergleichung i~ ∂ ψ̃(p, t) p2 ψ̃(p, t). = ∂t 2m Für die Ortswellenfunktion lautet die Schrödingergleichung (−i~∂/∂x) 2 ∂ψ(x, t) = ψ(x, t). i~ ∂t 2m Jener hermitesche Operator, welcher der Observablen Energie des Teilchens“ ” entspricht, wird als (Hamiltonoperator) bezeichnet. Für ein freies Teilchen enthält er nur die kinetische Energie, H= P2 , 2m im Impulsraum wird er als Multiplikationsoperator p2 2m und im Ortsraum als Differentialoperator − ~2 ∂ 2 2m ∂x2 dargestellt. Unabhängig von der gewählten Darstellung ist die Zeitentwicklung eines Zustandsvektors eines freien Teilchens durch die (zeitabhängige) Schrödingergleichung d P2 i~ |ψ(t)i = H|ψ(t)i, H = dt 2m bestimmt, ihre Lösung ist |ψ(t)i = e−iHt/~ |ψ(0)i. 37 2.10. ZEITENTWICKLUNG Befindet sich das System zum Zeitpunkt t = 0 im Anfangszustand |ψ(0)i, so wird es zum Zeitpunkt t im Zustand |ψ(t)i vorgefunden, wenn die Zeitentwicklung ohne äußere Störung (also insbesondere ohne zwischenzeitliche Messung einer Observablen des Systems) erfolgt. Will man von der abstrakten Form wieder zur Ortsdarstellung zurückkehren, bildet man das Skalarprodukt hx|ψ(t)i = hx|e−iHt/~ |ψ(0)i und fügt zwischen Zeitentwicklungsoperator und Anfangszustand den Einheitsoperator in der Form Z+∞ 1 = dp |pihp| −∞ ein: Z+∞ dp hx|e−iHt/~ |pihp|ψ(0)i. hx|ψ(t)i = −∞ 2 Wegen H = P /2m ist |pi auch ein Eigenvektor des Hamiltonoperators, p2 P2 p2 |pi = |pi ⇒ e−iHt/~ |pi = e−i 2m t/~ |pi 2m 2m und man erhält somit wieder die oben angegebene Formel: Z+∞ p2 dp hx|pi e−i 2m t/~ hp|ψ(0)i . hx|ψ(t)i = | {z } | {z } | {z } H|pi = ψ(x,t) −∞ ipx/~ e√ 2π~ ψ̃(p,t=0) Beispiel: Zeitentwicklung eines Zustands, der zum Zeitpunkt t = 0 durch das Gaußsche Wellenpaket 1 2 2 ψ(x, t = 0) = e−x /4σ eip0 x/~ 1/4 1/2 (2π) σ beschrieben wird. Die dazugehörige Wellenfunktion im Impulsraum hat die Form 2 ψ̃(p, t = 0) = 2 e−(p−p0 ) /4(∆p) , (2π)1/4 (∆p)1/2 ∆p = ~/2σ. Z+∞ eipx/~ −i p2 t/~ e 2m ψ̃(p, t = 0) ⇒ ψ(x, t) = dp √ 2π~ −∞ Z+∞ 2 2 eipx/~ −i p2 t/~ e−(p−p0 ) /4(∆p) 2m . e = dp √ (2π)1/4 (∆p)1/2 2π~ | {z } −∞ ψ̃(p,t) 38 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK Die Berechnung dieses Gaußschen Integrals ergibt das Resultat ip20 t (x−p0 t/m)2 exp − 4(σ exp ip~0 x exp − 2m~ 2 +i~t/2m) ψ(x, t) = . (2π)1/4 (σ + i∆p t/m)1/2 Daraus erhält man als Wahrscheinlichkeitsdichte die Gaußverteilung (x−p0 t/m)2 exp − 2[σ2 +(∆p t/m)2 ] , |ψ(x, t)|2 = (2π)1/2 [σ 2 + (∆p t/m)2 ]1/2 deren Maximum sich längs x = p0 t/m mit der Geschwindigkeit p0 /m bewegt3 p σ 2 + (∆p t/m)2 gegeben ist und deren zeitabhängige Breite durch ∆x(t) = ( Zerfließen“ des Wellenpakets). ” Bewegt sich das Teilchen unter dem Einfluss einer äußeren Kraft −∂V (x)/∂x, so hat der Hamiltonoperator die Gestalt H= P2 + V (X) , | {z } 2m pot. Energie wobei die Zeitentwicklung wieder durch die (zeitabhängige) Schrödingergleichung bestimmt ist: P2 d + V (X). i~ |ψ(t)i = H|ψ(t)i, H = dt 2m In der x-Darstellung lautet die Schrödingergleichung jetzt i~ ∂ψ(x, t) ~2 ∂ 2 ψ(x, t) =− + V (x)ψ(x, t). ∂t 2m ∂x2 Aufgabe: Welche Form hat die Schrödingergleichung in der p-Darstellung? Um die formale Lösung |ψ(t)i = e−iHt/~ |ψ(0)i nutzbringend anwenden zu können, muss man zunächst das Eigenwertproblem des Hamiltonoperators,4 H|φi = E|φi, lösen. Wir wollen der Einfachheit halber annehmen, dass H nur diskrete Eigenwerte E0 , E1 , . . . mit einem dazugehörigen VONS von Eigenvektoren |0i, |1i, . . . besitzt: X H|ni = En |ni, hm|ni = δmn , |nihn| = 1. n 3 Das bestätigt unsere Interpretation von −i~∂/∂x als Impulsoperator. Manchmal wird die Eigenwertgleichung des Hamiltonoperators auch als zeitunabhängige Schrödingergleichung bezeichnet. 4 39 2.10. ZEITENTWICKLUNG Die Spektraldarstellungen von H und exp(−iHt/~) lauten daher X X H= En |nihn|, e−iHt/~ = e−iEn t/~ |nihn| n n und |ψ(t)i = e−iHt/~ |ψ(0)i = X n e−iEn t/~ |nihn|ψ(0)i. Die Wahrscheinlichkeitsdichte ρ(x, t) = |ψ(x, t)|2 und der Wahrscheinlichkeitsstrom ∂ψ(x, t)∗ ~ ∗ ∂ψ(x, t) ψ(x, t) − ψ(x, t) j(x, t) = 2im ∂x ∂x erfüllen die Kontinuitätsgleichung ∂ρ(x, t) ∂j(x, t) + = 0. ∂t ∂x Aufgabe: Überprüfen Sie diese Behauptung. Die physikalische Bedeutung der Kontinuitätsgleichung sieht man so: wI (t) = Zb dx ρ(x, t) a ist die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen zum Zeitpunkt t im Intervall I = [a, b] anzutreffen. Differenziert man diesen Ausdruck nach der Zeit, dwI (t) = dt Zb a ∂ρ(x, t) dx =− ∂t Zb a dx ∂j(x, t) = j(a, t) − j(b, t), ∂x so sieht man, dass die zeitliche Änderung von wI (t) durch den am Randpunkt a eintretenden Wahrscheinlichkeitsstrom j(a, t) minus den am Randpunkt b austretenden Wahrscheinlichkeitsstrom j(b, t) gegeben ist. Im Limes a → −∞, b → +∞ erhält man (die Wellenfunktion verschwindet im Unendlichen) Z+∞ d dx ρ(x, t) = 0, dt −∞ 40 KAPITEL 2. ELEMENTARE QUANTENMECHANIK das heißt, die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen irgendwo anzutreffen ist zeitunabhängig (nämlich gleich 1). In drei Raumdimensionen haben wir H= P~ 2 ~ + V (X), 2m die Schrödingergleichung in der Ortsdarstellung lautet i~ ∂ψ(~x, t) ~2 =− ∆ψ(~x, t) + V (~x)ψ(~x, t). ∂t 2m Die Wahrscheinlichkeitsdichte ρ(~x, t) = |ψ(~x, t)|2 und die Wahrscheinlichkeitsstromdichte h i ~ x, t) − ∇ψ(~ ~ x, t)∗ ψ(~x, t) ~j(~x, t) = ~ ψ(~x, t)∗ ∇ψ(~ 2im erfüllen die Kontinuitätsgleichung ∂ρ(~x, t) ~ + ∇ · j(~x, t) = 0. ∂t Die Größe wV (t) = Z d3 x ρ(~x, t) V ist die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen zum Zeitpunkt t im Gebiet V ⊂ R3 anzutreffen. Für ihre zeitliche Änderung erhält man Z Z Z dwV (t) x, t) 3 ∂ρ(~ 3 ~ ~ = dx = − d x ∇ · j(~x, t) = − df~ · ~j(~x, t), dt ∂t V V ∂V wobei im letzten Schritt der Integralsatz von Gauß verwendet wurde. Die Gleichung besagt, dass die zeitliche Änderung der Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Teilchens im Gebiet V gleich dem durch den Rand von V eintretenden Wahrscheinlichkeitsstrom ist. Kapitel 3 Eindimensionale Probleme Die bisher entwickelten Methoden werden auf die Behandlung einfacher quantenmechanischer Probleme in einer Raumdimension angewandt. Die Energie eines Teilchens, das in einer Schachtel eingesperrt ist, kann nur bestimmte, diskrete Werte annehmen. Die Heisenbergsche Unschärferelation bestimmt die Grundzustandsenergie des harmonischen Oszillators, sein Eigenwertproblem lässt sich rein algebraisch untersuchen, kohärente Zustände zeigen quasiklassisches Verhalten. Das Verhalten eines Teilchens in Anwesenheit einer Potentialstufe dient zur Illustration von Reflexion und Transmission an einem Hindernis. Dass ein Teilchen, entgegen der klassischen Erwartung, durch einen Potentialwall tunneln kann, erklärt den α-Zerfall von Kernen und findet eine wichtige praktische Anwendung in der Rastertunnelmikroskopie. Die Bewegung eines Teilchens in einem (anziehenden) Deltapotential liefert ein Beispiel für ein System, in dem sowohl ein Bindungszustand als auch Streuzustände auftreten. Die Anwendung von Feynmanregeln bei Streuproblemen stellt den Zusammenhang mit den bereits besprochenen Regeln der Addition und Multiplikation von Amplituden her. Das Auftreten von Bindungszuständen in einem Potentialtopf und der Knotensatz werden qualitativ diskutiert. 3.1 Unendlich hoher Potentialtopf Beschränkt man die Bewegungsfreiheit eines Teilchens auf das Intervall [0, L], so genügen die Wellenfunktionen den Randbedingungen ψ(0) = ψ(L) = 0 und die Eigenwertgleichung für die Energieeigenfunktionen lautet ~2 d 2 − φ(x) = Eφ(x), 2m dx2 41 φ(0) = φ(L) = 0. 42 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME Die Lösungen des Eigenwertproblems sind Funktionen der Form ~2 k 2 . 2m Lösungen der Form der Form ∼ cos kx sind wegen der Randbedingung bei x = 0 ausgeschlossen. Die zusätzliche Berücksichtigung der Randbedindung bei x = L führt zu einer Quantisierung der möglichen Werte von k: φ(x) ∼ sin kx, sin kL = 0 ⇒ E= kn L = nπ (n = 1, 2, . . .). Somit erhält man die Energieeigenfunktionen und Energieeigenwerte φn (x) ∼ sin nπ x, L |{z} En = ~2 n2 π 2 ~2 kn2 = , 2m 2mL2 (n = 1, 2, . . .). kn Die Berücksichtigung der Normierungsbedingung 1 = |N | 2 ZL dx sin2 0 nπ L x = |N |2 L 2 liefert schließlich das Endergebnis r 2 sin kn x, φn (x) = L En E1 ~2 kn2 , = 2m 1 = 2m kn = hφm |φn i = ~π L 2 nπ L ZL ⇒ |N |2 = 2 L (n = 1, 2, . . .), dx φm (x)∗ φn (x) = δmn , 0 , E2 = 4E1 , E3 = 9E1 , . . . . Jede beliebige Wellenfunktion ψ(x) auf [0, L], welche die Randbedingungen ψ(0) = ψ(L) = 0 erfüllt, lässt sich als Superposition der Energieeigenfunktionen φn schreiben: ψ(x) = ∞ X φn (x)cn , n=1 cn = hφn |ψi = ZL dx φn (x)∗ ψ(x). 0 Die Zeitentwicklung einer Wellenfunktion ist durch ∞ ∞ X X −iEn t/~ −iHt/~ φn (x)cn ψ(x, t) = e φn (x)cn = e n=1 |n=1 {z ψ(x,t=0) gegeben. } 43 3.2. HARMONISCHER OSZILLATOR 3.2 Harmonischer Oszillator Wir kommen nun zur Behandlung des Eigenwertproblems w des harmonischen Oszillators, 1 2 mω 2 2 P + X . H= 2m | 2{z } V (X) In der klassischen Mechanik ist jener Zustand des harmonischen Oszillators, welcher die kleinst mögliche Energie besitzt, durch x = 0, p = 0 charakterisiert, die klassische Grundzustandsenergie ist daher gleich Null. In der Quantenmechanik ist das Energiespektrum zwar sicher ⊆ R+ , weil der Hamiltonoperator H nicht negativ ist, 1 mω 2 hψ|P 2ψi + hψ|X 2 ψi 2m 2 1 mω 2 = hP ψ|P ψi + hXψ|Xψi ≥ 0, 2m | {z } 2 | {z } hψ|Hψi = ≥0 ≥0 aber die Grundzustandsenergie kann nicht gleich Null sein, da dies im Widerspruch zur Unschärferelation wäre. Ja man kann sogar den tatsächlichen Wert der Grundzustandsenenergie aus der Unschärferelation erhalten. Wir bezeichnen die Grundzustandsenergie mit E0 und den dazugehörigen Eigenzustand des Hamiltonoperators mit |φ0i: H|φ0i = E0 |φ0 i, hφ0 |φ0i = 1. E0 ist der kleinste Eigenwert von H (E0 < E1 < . . .). Es ist klar, dass für den Grundzustand hXiφ0 = 0, hP iφ0 = 0 gelten musss, wobei die Kurzschreibweise hAiφ0 = hφ0 |Aφ0 i verwendet wurde. Wir betrachten daher die Menge aller Zustände |φi mit verschwindendem Erwartungswert von X und P . Für diese lautet die Unschärferelation 2 ~ hX iφ hP iφ ≥ . 2 2 2 Einsetzen der Unschärferelation in mω 2 2 1 2 hP iφ + hX iφ hHiφ = 2m 2 44 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME ergibt die Ungleichung hHiφ 1 ≥ 2m = 2 1 ~ mω 2 2 + hX iφ 2 hX 2 iφ 2 ~2 1 mω 2 2 + hX iφ . 8m hX 2 iφ 2 Wir verwenden die Abkürzung u := hX 2 iφ und betrachten die Funktion E(u) = ~2 1 mω 2 + u, 8m u 2 | {z } | {z } T (u) und bestimmen ihr Minimum: u≥0 V (u) ~2 1 mω 2 E (u) = − + , 8m u2 2 ′ E ′ (u) = 0 ⇒ umin = ~ω ~ ⇒ E(umin) = . 2mω 2 6 E ~ω 2 V T ~ 2mω u Abbildung 3.1: Erwartungswerte der kinetischen Energie T (u), der potentiellen Energie V (u) und der Gesamtenergie E(u) in Abhängigkeit vom Schwankungsquadrat des Ortes u = hX 2 i. Aufgrund der Unschärferelation müssen also alle Energieeigenwerte (und damit auch die Grundzustandsenergie) des harmonischen Oszillators ≥ ~ω/2 sein. Gibt es aber tatsächlich einen Eigenvektor |φ0 i mit E0 = ~ω/2? Diese Frage lässt sich leicht beantworten. Nimmt man nämlich als Grundzustandswellenfunktion ein Gaußsches Wellenpaket exp(−x2 /4σ 2 ) φ0 (x) = (2π)1/4 σ 1/2 45 3.2. HARMONISCHER OSZILLATOR mit Ortsunschärfe σ= ~ 2mω 1/2 , so ist die wegen ∆X∆P = ~/2 die Impulsunschärfe 1/2 ~ ~mω ∆P = = 2σ 2 und man erhält hHiφ0 = mω 2 2 1 hP 2iφ0 + hX iφ0 2m 2 = 1 ~mω mω 2 ~ + 2m 2 2 2mω = ~ω = E0 . 2 Durch die Unschärferelation ist der Beitrag der kinetischen Energie mit jenem der potentiellen Energie korreliert und man erhält als Grundzustandsenergie den optimalen Kompromiss der beiden Anteile in hHi. Man beachte, dass im Grundzustand der Erwartungswert der kinetischen Energie und der Erwartungswert der potentiellen Energie jeweils gleich große Beiträge zur Grundzustandsenergie E0 = ~ω/2 liefern. Da |φ0i ein Zustand mit minimalem Unschärfeprodukt ∆X∆P = ~/2 und hXiφ0 = hP iφ0 = 0 ist, wissen wir von früher, dass X P |φ0 i = 0 +i ∆X ∆P gilt, wobei in unserem Fall ∆X = ~ 2mω 1/2 , ∆P = ~mω 2 1/2 . Somit ist der Grundzustandsvektor des harmonischen Oszillators durch die Gleichung ! r r 2mω 2 X +i P |φ0 i = 0 ~ ~mω {z } | = 2a charakterisiert. Wir führen an dieser Stelle die Leiteroperatoren r r r r mω 1 mω 1 X +i P, a† = X −i P a = 2~ 2~mω 2~ 2~mω 46 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME ein, wobei man natürlich auch X, P durch a, a† ausdrücken kann: r r ~ ~mω † † X= (a + a ), P = i(a − a) 2mω 2 Die fundamentale Vertauschungsrelation [X, P ] = i~1 ist äquivalent zu der Kommutatorrelation [a, a† ] = 1. Mit Hilfe der nichthermiteschen Operatoren a und a† definieren wir den hermiteschen Operator N = a† a = 1 mω 2 i P2 + X + [X, P ] 2~mω 2~ 2~ | {z } i~1 1 = ~ω 1 1 2 mω 2 2 P + X − = N †. 2m 2 2 {z } | H Somit kann der Hamiltonoperator in der Form H = ~ω(|{z} a† a +1/2) N geschrieben werden. Die Kommutatorrelationen [N, a† ] = a† , [N, a] = −a gestatten die Bestimmung des Spektrums von N und damit auch das des Hamiltonoperators, für den analoge Relationen gelten: [H, a† ] = ~ωa† , [H, a] = −~ωa. Wir wissen bereits, dass die Gleichung a|φ0 i = 0 eine (bis auf einen Phasenfaktor) eindeutig bestimmte normierte Lösung |φ0 i besitzt (hφ0 |φ0 i = 1). Wegen N = a† a ist somit N|φ0 i = 0 und |φ0 i ist ein normierter Eigenvektor von N zum Eigenwert 0. Wir betrachten nun den Vektor a† |φ0 i, Na† |φ0 i = (Na† − a† N)|φ0 i = [N, a† ] |φ0i = a† |φ0 i, | {z } a† das heißt, a† |φ0i ist ein Eigenvektor von N zum Eigenwert 1 und aus ha† φ0 |a† φ0 i = hφ0 |aa† φ0 i = hφ0 | [a, a† ] φ0 i = hφ0|φ0 i = 1 | {z } 1 47 3.2. HARMONISCHER OSZILLATOR sieht man, dass |φ1 i = a† |φ0 i ein normierter Eigenvektor von N zum Eigenwert 1 ist. Man kann dieses Verfahren nun fortsetzen, indem man a† auf |φ1 i anwendet: Na† |φ1 i = (a† N + a† )|φ1i = 2a† |φ1 i. 2 a† |φ1 i = a† |φ0i ist somit ein Eigenvektor von N zum Eigenwert 2. Die Länge dieses Vektors kann man aus der Gleichung ha† φ1 |a† φ1 i = hφ1 | |{z} aa† φ1 i = 2hφ1|φ1 i = 2 N +1 ablesen. Durch 2 1 1 |φ2 i = √ a† |φ1 i = √ a† |φ0 i 2 2 erhält man daher einen normierten Eigenvektor von N zum Eigenwert 2. Auf diese Weise erhält man schließlich ein vollständiges Orthonormalsystem von Eigenvektoren von N und H und die dazugehörigen Energieeigenwerte des harmonischen Oszillators: a|φ0 i = 0, hφ0 |φ0 i = 1, 1 |φn i = √ (a† )n |φ0 i, n! N|φn i = n|φn i, hφm |φn i = δmn , ∞ X n=0 H|φn i = ~ω(n + 1/2) |φn i, {z } | |φn ihφn | = 1, (n = 0, 1, 2, . . .). En Bemerkungen: 1. a† heißt auch Erzeugungsoperator, er erzeugt“ bei Anwendung auf einen ” Zustandsvektor ein Energiequant“ ~ω. Den Operator a nennt man dagegen ” Vernichtungsoperator, da er bei der Anwendung auf einen Zustandsvektor die Energie um den Betrag ~ω erniedrigt. 2. Die Energieeigenfunktionen im Ortsraum erhält man durch Anwendung von a† in der Ortsdarstellung, mω 1/4 φ0 (x) = exp(−mωx2 /2~), π~ !n r r 1 mω 1 d φn (x) = √ x− φ0 (x) 2~ 2~mω dx n! = r α 2 √ e−(αx) /2 Hn (αx), n 2 n! π mit den Hermitepolynomen Hn . α= r 1 mω =√ , ~ 2 (∆X)φ0 48 3.3 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME Kohärente Zustände Der Grundzustand |0i ≡ |φ0i eines harmonischen Oszillators mit Masse m und Kreisrequenz ω ist ein Zustand mit minimalem Produkt von Orts- und Impulsunschärfe. Verschiebt man ihn um das Stück x0 im Ortsraum und um p0 im Impulsraum, so erfüllt der entsprechende Zustandsvektor |x0 , p0 i die Gleichung 1 X − x0 P − p0 |x0 , p0 i = 0, +i 2 ∆X ∆P wobei ∆X = ~ 2mω 1/2 , ∆P = ~mω 2 1/2 . Der Vektor |x0 , p0 i ist somit eine Lösung der Gleichung p0 1 x0 |x0 , p0 i. +i a|x0 , p0 i = 2 ∆X ∆P Durch die komplexe Zahl r mω p0 p0 1 x0 , = +i x0 + i √ z= 2 ∆X ∆P 2~ 2~mω die Gleichung a|zi = z|zi und die Normierungsbedingung hz|zi = 1 ist der kohärente Zustand |zi ≡ |x0 , p0 i (bis auf einen frei wählbaren komplexen Phasefaktor eiα ) eindeutig festgelegt. Wir machen den allgemeinen Ansatz |zi = f (a† )|0i und erkennen mit Hilfe der Vertauschungsrelation a, f (a† ) = f ′ (a† ), dass die Lösung der Gleichung a|zi = z|zi durch † |zi = Ceza |0i gegeben ist. Schreibt man den kohärenten Zustand |zi als Linearkombination der normierten Energieeigenzustände |ni ≡ |φn i des harmonischen Oszillators, |zi = C ∞ X zn n=0 ∞ X zn √ |ni, (a ) |0i = C n! n! n=0 † n 2 so sieht man, dass hz|zi = 1 gleichbedeutend mit |C|2 e|z| = 1 ist. Wir wählen unsere Phasenkonvention so, dass |zi = e−|z| 2 /2 † eza |0i 49 3.4. POTENTIALSTUFE ist. Wir wollen nun annehmen, dass sich der harmonische Oszillator zum Zeitpunkt t = 0 in dem kohärenten Zustand |zi befindet. Man rechnet leicht nach, dass dann der Zustandsvektor zum Zeitpunkt t wieder ein kohärenter Zustand ist, e−iHt/~ |zi = e−iωt/2 |ze−iωt i. Aus diesem Resultat liest man ab, dass die Erwartungswerte von Ort und Impuls wie die entsprechenden Größen eines klassischen harmonischen Oszillators schwingen, p0 hze−iωt |X|ze−iωt i = x0 cos ωt + sin ωt mω hze−iωt |P |ze−iωt i = p0 cos ωt − mωx0 sin ωt und die Schwankungen von Ort und Impuls zeitunabhängig sind. 3.4 Potentialstufe Wir betrachten nun die Bewegung eines Teilchens unter den Einfluss einer äußeren Kraft F (x) = −V0 δ(x) mit der potentiellen Energie ( 0 falls x < 0 V (x) = V0 θ(x) = , V0 > 0. V0 falls x ≥ 0 Es handelt sich somit um den Grenzfall einer Kraft, die nur in einem sehr kleinen Bereich um x = 0 (nach links) wirkt. 6V (x) V0 - 0 Abbildung 3.2: Potentialstufe. In der x-Darstellung hat der Hamiltonoperator die Gestalt ~2 d 2 + V0 θ(x). H=− 2m dx2 x 50 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME Unser Ziel ist es, das Eigenwertproblem (Hφ)(x) = Eφ(x) zu lösen. Wegen hHi ≥ 0 kommen für E nur nicht negative Werte in Frage. Für x < 0 lautet die Eigenwertgleichung − ~2 ′′ φ (x) = Eφ(x) 2m mit der Lösung Aeikx + Be−ikx , E= ~2 k 2 ≥ 0, 2m k ∈ R. Für x > 0 lautet die Eigenwertgleichung − ~2 ′′ φ (x) = (E − V0 )φ(x), 2m E= ~2 k 2 2m und man muss die Fälle (1) 0 ≤ E ≤ V0 , (2) V0 < E unterscheiden. Im Fall (1) ist die Lösung Ce−κx (κ > 0) mit ~2 k 2 ~2 κ2 = V0 − E = V0 − | {z } 2m 2m ≥0 ⇒ κ = p 2mV0 /~2 − k 2 , |k| ≤ √ 2mV0 . ~ Bemerkung: Die Lösung e+κx explodiert für x → ∞ und kommt daher nicht in Frage. Im Fall (2) ist die Lösung Ceik x + De−ik x (k ′ ∈ R) mit ′ ′ ~2 k ′2 ~2 k 2 = E − V0 = − V0 | {z } 2m 2m >0 ⇒ k ′ = p k 2 − 2mV0 /~2 , |k| > √ 2mV0 . ~ An der Stelle x = 0 müssen sowohl φ(x) als auch φ′ (x) stetig sein, da ein Sprung von φ(x) (an der Stelle x = 0) beim Bilden der zweiten Ableitung einen Term 51 3.4. POTENTIALSTUFE ∼ δ ′ (x) erzeugen würde, aber auch nur ein Knick von φ(x) (an der Stelle x = 0) würde einen Sprung der Funktion φ′ (x) (an der Stelle x = 0) bedeuten und somit einen Term ∼ δ(x) in φ′′ (x) erzeugen. Weder der eine noch der andere Term können aber in der Eigenwertgleichung − ~2 ′′ φ (x) + V0 θ(x)φ(x) = Eφ(x) 2m auftreten. Im Fall des vorliegenden Hamiltonoperators treten nur nicht normierbare Eigenfunktionen auf, das Spektrum von H ist R+ und somit rein kontinuierlich, es treten (wie zu erwarten war) keine Bindungszustände auf. Ein vollständiges System von Eigenfunktionen φk (x), (Hφk )(x) = ~2 k 2 φk (x) {z } |2m E(k) kann man folgendermaßen konstruieren: √ Für 0 < k < 2mV0 /~ (d.h. k > 0 und E(k) < V0 ) nimmt man ( eikx + Re−ikx für x ≤ 0 , φk (x) = Ce−κx für x ≥ 0 wobei κ= p 2mV0 /~2 − k 2 > 0. Die Stetigkeit der Funktion φk (x) bei x = 0 ergibt 1 + R = C, die Stetigkeit der ersten Ableitung von φk (x), ( ik eikx − Re−ikx für x ≤ 0 ′ , φk (x) = −κCe−κx für x ≥ 0 liefert ik(1 − R) = −κC. Die Amplituden R, C sind somit durch den Wert von k eindeutig bestimmt: C= 2k , k + iκ R= k − iκ , k + iκ κ= p 2mV0 /~2 − k 2 . Die gefundene Lösung beschreibt eine Welle mit drei verschiedenen Anteilen: Eine einlaufende Welle eikx θ(−x) bewegt sich von links auf die Potentialstufe zu. Der entsprechende Wahrscheinlichkeitsstrom ist jein = ~ −ikx ↔ ikx ~k e . ∂x e = 2im m 52 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME Der Anteil Re−ikx θ(−x) entspricht einer total reflektierten Welle mit jrefl = −~k/m. Der Anteil Ce−κx θ(x) entspricht dem Eindringen der Welle in den (klassisch verbotenen) Bereich x > 0 mit einer Eindringtiefe von ∼ 1/κ. √ Für k > 2mV0 /~ (d.h. k > 0 und E(k) > V0 ) nimmt man ( eikx + Re−ikx für x ≤ 0 , φk (x) = ′ T eik x für x ≥ 0 wobei k′ = p k 2 − 2mV0 /~2 > 0. Die Stetigkeitsbedingungen liefern das Gleichungssystem 1 + R = T, ik(1 − R) = ik ′ T mit den Lösungen T = 2k , k + k′ R= k − k′ , k + k′ k′ = p k 2 − 2mV0 /~2 . Wieder sind die Transmissionsamplitude (Durchgangsamplitude) T und die Reflexionsamplitude R durch k eindeutig bestimmt. Diese Lösung beschreibt eine Welle mit einem einlaufenden Anteil eikx θ(−x), jein = ~k , m einem reflektierten Anteil Re−ikx θ(−x), jrefl = −|R|2 ~k = −|R|2 jein m und einem Anteil, der die Potentialstufe überwindet: ′ T eik x θ(x), jdurch = |T |2 k′ ~k ′ = |T |2 jein . m k Bemerkenswert ist die nichtverschwindende Wahrscheinlichkeit für die Reflexion des Teilchens, welche in der klassischen Mechanik im Fall E > V0 nicht auftritt. Da die besprochene Energieeigenfunktion den Grenzfall eines Zustands mit scharfer Energie E(k) = ~2 k 2 /2m beschreibt, liegt folgende Interpretation nahe: jrefl 2 jein = |R| 3.5. STREUUNG EINES WELLENPAKETS 53 ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Teilchen an der Potentialstufe reflektiert wird. ′ jdurch = |T |2 k jein k ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Teilchen die Potentialstufe überwindet. Tatsächlich gilt: k′ |R|2 + |T |2 = 1. k Aufgabe: Zur Vervollständigung unseres Systems von Energieeigenfunktionen fehlen jetzt noch jene Lösungen φk (x), k < 0, die (mit E > V0 ) von rechts kommen und dann entweder reflektiert werden oder in den Bereich x < 0 weiterlaufen. Bestimmen Sie diese Funktionen! 3.5 Streuung eines Wellenpakets Wir studieren nun das zeitliche Verhalten eines Wellenpakets, das an einer Potentialstufe gestreut wird. Jede normierte Wellenfunktion ψ(x), die also einen möglichen Zustand beschreibt, lässt sich als Überlagerung der (nicht normierbaren) Energieeigenfunktionen φk (x) darstellen: Z+∞ ψ(x) = dk φk (x)c(k). −∞ Als Beispiel konstruieren wir ein Wellenpaket, das sich zunächst links von der Potentialstufe befindet und sich auf diese zubewegt. Uns interessiert die Zeitentwicklung dieser Wellenfunktion, insbesondere ihre Form nach dem Passieren der Potentialstufe. Dazu konstruieren wir zunächst die Ortswellenfunktion Z+∞ Z+∞ ikx f (x) = dk e g(k), dx |f (x)|2 = 1, −∞ −∞ mit einer reellen Funktion g(k), die im k-Raum auf das Intervall [−∆k, +∆k] um den Wert k = 0 konzentriert ist und etwa so wie in Abb. 3.3 aussehen könnte. Bemerkung: Mit derpWellenfunktion im Impulsraum (p = ~k) besteht der Zusammenhang ψ̃(p) = 2π/~ g(p/~). Da die Funktion g(k) reell gewählt wurde, verschwindet der Erwartungswert des Ortsoperators in diesem Zustand, Z+∞ dx x|f (x)|2 = 0, −∞ 54 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME 6 g(k) −∆k k +∆k Abbildung 3.3: Mögliche Form der Funktion g(k). weiters kann man die Ortsunschärfe ∆x durch ∆x∆k ∼ 1 abschätzen. Wir betrachten nun die folgende Lösung der zeitabhängigen Schrödingergleichung: Z+∞ ψ(x, t) = dk g(k − k0 )e−iω(k)t φk (x) −∞ ω(k) = E(k)/~ = ~k 2 /2m, k0 > 0, k0 ≫ ∆k. Da in dem obigen Integral nur der Bereich [k0 −∆k, k0 + ∆k] beiträgt, sind wegen k0 − ∆k ≫ 0 nur die Energieeigenfunktionen mit k > 0 relevant. Im Bereich x < 0 erhält man +∞ Z Z+∞ dk g(k − k0 )e−iω(k)t eikx + dk g(k − k0 )e−iω(k)t R(k)e−ikx θ(−x). −∞ −∞ Wir untersuchen zunächst den ersten Term, Z+∞ dk g(k − k0 )e−iω(k)t eikx θ(−x) ψein (x, t) = −∞ Z+∞ dl g(l)e−iω(k0 +l)t ei(k0 +l)x θ(−x), = −∞ wobei im Schritt von der ersten zur zweiten Zeile die Variablentransformation l = k − k0 durchgeführt wurde. Setzt man ω(k0 + l) = ~ ~k0 ~ 2 (k0 + l)2 = ω(k0 ) + l+ l 2m m 2m 55 3.5. STREUUNG EINES WELLENPAKETS in das Integral ein, so erhält man −iω(k0 )t ik0 x ψein (x, t) = e e +∆k Z dl g(l)eil(x−~k0 t/m) e−i~tl 2 /2m θ(−x) −∆k Wie wir früher gesehen haben (siehe Zeitentwicklung eines Gaußschen Wellenpakets) kommt es zu keiner wesentlichen Änderung der Breite des Wellenpakets, wenn die Ungleichung ~|t|∆k ≪ ∆x m erfüllt ist. Diese Bedingung ist gleichbedeutend mit ~|t|(∆k)2 ≪ 1, m für nicht zu große Zeiten |t| (im obigen Sinn) kann daher der Term exp(−i~tl2 /2m) im Integranden gleich 1 gesetzt werden und man erhält +∆k Z ~k0 t θ(−x) dl g(l) exp il x − m |{z} −∆k ψein (x, t) ≃ e−iω(k0 )t eik0 x v0 = e−iω(k0 )t eik0 x f (x − v0 t)θ(−x). Das Wellenpaket bewegt sich also für t < 0 mit der Geschwindigkeit v0 = ~k0 /m auf die Potentialstufe zu. Nun analysieren wir den zweiten Term, Z+∞ ψrefl (x, t) = dk g(k − k0 )e−iω(k)t R(k)e−ikx θ(−x) −∞ = +∆k Z dl g(l)e−iω(k0 +l)t R(k0 + l)e−i(k0 +l)x θ(−x). −∆k Wir nehmen an, dass ∆k so klein gewählt wurde, dass sich R(k0 + l) innerhalb des für die Integration relevanten Bereichs l ∈ [−∆k, +∆k] nur wenig ändert. Wir untersuchen zunächst den Fall E(k0 ) < V0 : r k − iκ 2mV0 R(k) = , κ= − k2 k + iκ ~2 (~2 k 2 /2m < V0 ). 56 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME Wegen |R(k)| = 1, kann man die Reflexionsamplitude in der Form R(k) = eiϕ(k) , ϕ(k) = −2 arctan κ k schreiben. Da bei der Integration nur Werte von l mit |l| ≤ ∆k beitragen, kann man, falls ∆k ≪ κ0 erfüllt ist, die Näherung ϕ(k0 + l) ≃ ϕ(k0 ) + ϕ′ (k0 )l = −2 arctan κ0 2 + l k0 κ0 verwenden: ′ R(k0 + l) ≃ eiϕ(k0 ) eiϕ (k0 )l . Für den Fall E(k0 ) > V0 hat die Reflexionsamplitude die Form R(k) = k − k′ , k + k′ k′ = p (~2 k 2 /2m > V0 ). k 2 − 2mV0 /~2 In diesem Fall ist R(k) = |R(k)| und es tritt keine komplexe Phase auf. Die Taylorentwicklung R(k0 + l) = R(k0 ) − 2R(k0 ) l + O(l2 ) k0′ zeigt, dass der zweite Term gegen den ersten zu vernachlässigen ist, falls ∆k ≪ k0′ erfüllt ist. In beiden Fällen (sowohl E(k0 ) < V0 als auch E(k0 ) > V0 ) kann man also so vorgehen, dass man R(k0 + l) in der Form R(k0 + l) = |R(k0 + l)|eiϕ(k0 +l) schreibt und diesen Ausdruck durch ′ R(k0 + l) ≃ |R(k0 )|eiϕ(k0 ) eiϕ (k0 )l {z } | R(k0 ) approximiert. Man erhält dann (wieder für nicht zu große Zeiten |t| ≪ +∆k Z m∆x ): ~∆k ~k0 dl g(l) exp il − x − t + ϕ′ (k0 ) θ(−x) m |{z} −∆k ψrefl (x, t) ≃ e−iω(k0 )t e−ik0 x R(k0 ) v0 = e−iω(k0 )t e−ik0 x R(k0 ) f − x − v0 t + ϕ′ (k0 ) θ(−x). 57 3.5. STREUUNG EINES WELLENPAKETS Der reflektierte Teil des Wellenpakets bewegt sich für t > 0 mit der Geschwindigkeit −v0 von der Potentialstufe weg. Für den Erwartungswert des Ortsoperators liest man x = −v0 t + ϕ′ (k0 ) ab. Im Fall E(k0 ) > V0 ist ϕ′ (k0 ) = 0 und die Reflexion eines Teils des Wellenpakets erfolgt (ohne zeitliche Verzögerung) unmittelbar an der Potentialstufe bei x = 0. Für E(k0 ) < V0 ist ϕ′ (k0 ) = 2/κ0 > 0 und die Totalreflexion (|R(k0 )| = 1) erfolgt zeitlich verzögert, da die Welle in den Bereich x > 0 eindringen kann. Um die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Teilchen nach der Wechselwirkung“ ” mit der Potentialstufe (also für genügend großes t > 0) im Bereich x < 0 aufhält, zu erhalten, berechnen wir das Integral Z0 −∞ dx |ψrefl (x, t)|2 = |R(k0)|2 . Es ergibt sich also – unter den gemachten Voraussetzungen – tatsächlich die schon früher mit Hilfe des Wahrscheinlichkeitsstromes diskutierte Reflexionswahrscheinlichkeit. Zur Analyse des zeitlichen Verhaltens der Wellenfunktion im Bereich x > 0 geht man analog vor. Im Fall E(k0 ) < V0 hat der Teil des Wellenpakets, welcher die Potentialstufe überwindet, die Form Z+∞ ψdurch (x, t) = dk g(k − k0 )e−iω(k)t C(k)e−κ(k)x θ(x) −∞ κ(k) = p 2mV0 /~2 − k 2 , ~2 k k − iκ(k) = C(k) = mV0 δ(k) = − arctan r 2 ~k eiδ(k) , mV0 κ(k) ϕ(k) = . k 2 Wir führen wieder die Variablentransformation k = k0 + l durch, Z+∞ ψdurch (x, t) = dl g(l)e−iω(k0 +l)t C(k0 + l)e−κ(k0 +l)x θ(x) −∞ 58 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME und erhalten für nicht zu großes |t| und genügend kleines ∆k die Näherungsformel −iω(k0 )t ψdurch (x, t) ≃ e iδ(k0 ) −κ0 x |C(k0 )|e {z | e C(k0 ) θ(x) } +∆k Z il −v0 t+δ′ (k0 ) dl g(l)e −∆k ≃ e−iω(k0 )t C(k0 )e−κ0 x θ(x)f − v0 t + δ ′ (k0 ) , | {z } 1/κ0 Da die Funktion f (x) im Wesentlichen auf den Bereich [−∆x, +∆x] (∆x ∼ 1/∆k) konzentriert ist, macht sich dieser Beitrag nur für Zeiten bemerkbar, welche −∆x + 1/κ0 . v0 t . ∆x + 1/κ0 erfüllen. Es kommt also zu einem kurzzeitigen, exponentiell abfallenden Eindringen der Welle in den Bereich x > 0. Im Fall E(k0 ) > V0 hat der die Potentialschwelle passierende Anteil die Form Z+∞ ′ ψdurch (x, t) = dk g(k − k0 )e−iω(k)t T (k)eik (k)x θ(x) −∞ k ′ (k) = p k 2 − 2mV0 /~2 , T (k) = 2k . k + k ′ (k) In der besprochenen Näherung erhält man Z+∞ ′ dl g(l)e−iω(k0 +l)t T (k0 + l)eik (k0 +l)x θ(x) ψdurch (x, t) = −∞ ik0′ x ≃ e−iω(k0 )t e T (k0 )θ(x) +∆k Z ′ dl g(l)eil(−v0 t+k0 x/k0 ) −∆k ′ = e−iω(k0 )t eik0 x T (k0 )θ(x) f k0 ~k0′ t) , (x − k0′ m das heißt dieser Teil der Wellenfunktion bewegt sich mit der gegenüber dem einlaufenden Wellenpaket reduzierten Geschwindigkeit v0′ = k′ ~k0′ = 0 v0 m k0 59 3.6. POTENTIALWALL und mit einer um den Faktor k0′ /k0 verringerten Breite. Berechnet man (für genügend großes t > 0) das Integral Z∞ Z+∞ k0 2 2 dx |ψ(x, t)| ≃ dx |T (k0)|2 f ′ (x − v0′ t) k | 0 {z } 0 −∞ y k′ = |T (k0 )|2 0 k0 Z+∞ k′ dy|f (y)|2 = |T (k0 )|2 0 , k0 |{z} −∞ {z } | v0′ 1 so erhält man tatsächlich die Durchgangswahrscheinlichkeit |T (k0)|2 v0′ . 3.6 Potentialwall Als weiteres Beispiel betrachten wir den Hamiltonoperator H= P2 + V0 θ(X)θ(a − X), 2m V0 > 0, der die Bewegung eines Teilchens in Anwesenheit eines Potentialwalls beschreibt (siehe Abbildung 3.4). Das Spektrum von H ist wieder R+ . V (x) 6 V0 eikx- T eikx - Re−ikx - 0 a x Abbildung 3.4: Potentialwall. Wir betrachten wieder eine von links einlaufende Welle (k > 0). Für E < V0 lautet die entsprechende Energieeigenfunktion ikx −ikx für x ≤ 0 e + Re κx −κx φk (x) = Ae + Be für 0 ≤ x ≤ a , ikx Te für x ≥ a 60 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME wobei κ= p 2mV0 /~2 − k 2 > 0. Die explizite Form der Amplituden R, T , A, B findet man wieder durch Berücksichtigung der Stetigkeit von φk (x) und φ′k (x) an den Stellen x = 0 und x = a. Die Welle wird teilweise reflektiert, sie dringt aber auch in den klassisch verbotenen Bereich 0 ≤ x ≤ a ein, sodass sich ein zweiter Teil der Welle schließlich im Bereich x > a weiter fortzupflanzen kann. Dies bedeutet, dass ein Teilchen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit durch den Potentialwall tunneln kann. Man bezeichnet dies als Tunneleffekt. Für E > V0 lautet die Energieeigenfunktion ikx −ikx e + Re ′ ′ φk (x) = Aeik x + Be−ik x ikx Te wobei k′ = p für x ≤ 0 für 0 ≤ x ≤ a , für x ≥ a k 2 − 2mV0 /~2 > 0. Aufgabe: Bestimmen Sie für beide Fälle R(k), T (k), A(k) und B(k), die Reflexions- und Transmissionwahrscheinlichkeit sowie die zeitliche Verschiebung eines Wellenpakets beim Überwinden des Potentialwalls bzw. bei der Reflexion daran. Beispiele für den Tunneleffekt: 1. Alphazerfall Ein 4 He-Kern wird als α-Teilchen bezeichnet. Schwere Kerne sind instabil und zerfallen häufig durch Emission eines α-Teilchens. Ein Beispiel dafür ist der Zerfall 238 92 U → 234 90 Th + α, Eα ≃ 4.2 MeV, τ1/2 ≃ 4.5 × 109 a. Den Mechanismus des α-Zerfalls kann man so verstehen: die Reichweite der (anziehenden) Kernkräfte beträgt etwa R ≃ 1.5 × 10−15 m A1/3 , wodurch der Kernradius R bestimmt ist. Außerhalb des Kerns (r > R) spürt das α-Teilchen eine abstoßende Coulombkraft mit der potentiellen Energie V (r) ≃ 2(Z − 2)e2 . r Die Abhängigkeit der potentiellen Energie des α-Teilchens vom Abstand r ist in Abbildung 3.5 schematisch dargestellt. 61 3.6. POTENTIALWALL Abbildung 3.5: Tunneleffekt beim Alphazerfall (Quelle: Informatiker aus der ” deutschsprachigen Wikipedia“, de.wikipedia.org/wiki/Alphastrahlung). Für 238 92 U beträgt die Höhe der Potentialschwelle etwa 28 MeV. Obwohl Eα ≃ 4.2 MeV ≪ 28 MeV, kann der α-Zerfall durch den Tunneleffekt erfolgen. Da die Tunnelwahrscheinlichkeit empfindlich von V0 − Eα abhängt, variieren die Halbwertszeiten der α-radioaktiven Kerne beträchtlich: 232 90 Th 226 88 Ra 212 84 Po : : : Eα ≃ 4.0 MeV, Eα ≃ 4.8 MeV, Eα ≃ 8.8 MeV, τ1/2 ≃ 1.4 × 1010 a, τ1/2 ≃ 1600 a, τ1/2 ≃ 3 × 10−7 s. 2. Rastertunnelmikroskop Im Jahr 1986 erhielten Gerd Binnig und Heinrich Rohrer den Nobelpreis für die Erfindung des Rastertunnelmikroskops. Dieses Gerät besteht aus einer sehr scharfen leitenden Spitze, die sich in einer Entfernung von wenigen Å von einer ebenfalls leitenden Probe befindet. Wird eine kleine Spannung zwischen Spitze und Probe angelegt, können Elektronen, die durch den Potentialwall zwischen Spitze und Probe getunnelt sind, auf der anderen Seite des Potentialwalls ein 62 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME noch unbestztes Energieniveau vorfinden. Es fließt ein sogenannter Tunnelstrom, der eine sehr präzise Vermessung der Oberflächenstruktur der Probe auf atomarem Niveau (genauer: der Elektronendichte der Probe) gestattet. Der prinzipielle Aufbau eines Rastertunnelmikroskops ist in Abbildung 3.6 dargestellt. Abbildung 3.6: Funktionsprinzip eines Rastertunnelmikroskops (Quelle: Frank Trixler, LMU München; adaptiert aus LMU/CeNS: Organic Semiconductor Group, de.wikipedia.org/wiki/Rastertunnelmikroskop). Die Spitze des Rastertunnelmikroskops, deren Position im Raum durch ein Piezoelement verändert werden kann, rastert die Oberfläche der in der x-y-Ebene befindlichen Probe ab. Der Tunnelstrom hängt exponentiell von der Breite der Potentialbarriere und damit vom Abstand d ab. Wird beim Abrastern der Probe der Tunnelstrom (und damit der Abstand) durch Rückkopplung konstant gehalten gehalten, so spricht man vom Constant Cur” rent Mode“. Dabei wird die z-Koordinate der Spitze entsprechend variiert und liefert die Information über die Oberflächenstruktur der Probe. Das Abrastern (Bewegung der Spitze) wird elektronisch aufgezeichnet. Der Abstand d ∼ 10 Å wird mit einer Genauigkeit von 0.1 Å eingehalten. Im Constant Height Mode“ wird der Abstand zwischen Spitze und Probe beim ” Abrastern konstant gehalten und der nun variierende Tunnelstrom gemessen. 63 3.7. DELTAPOTENTIAL 3.7 Deltapotential Wir untersuchen nun das Eigenwertproblem des Hamiltonoperators H= P2 + λδ(X). 2m Das hier betrachtete Deltapotential V (x) = λδ(x) ist für λ > 0 abstoßend und für λ < 0 anziehend. In der x-Darstellung lautet die Eigenwertgleichung: ~2 ′′ φ (x) + λδ(x)φ(x) = Eφ(x). 2m Man findet die Lösungen dieser Gleichung wieder durch Anstückeln der Lösungen für die Bereiche x < 0 und x > 0. Die Funktion φ(x) muss zwar an der Stelle x = 0 stetig sein, lim φ(−ε) = lim φ(+ε), − ε↓0 ε↓0 ′ für die erste Ableitung φ (x) gilt das aber jetzt nicht mehr. Integriert man nämlich die Eigenwertgleichung über ein kleines Intervall [−ε, ε], so erhält man 2mλ lim φ′ (+ε) − φ′ (−ε) = 2 φ(0). ε↓0 ~ Für einen von links einlaufenden Streuzustand (k > 0) mit der Energie E = ~2 k 2 /2m machen wir wie gewohnt den Ansatz φk (x) = (eikx + Re−ikx )θ(−x) + T eikx θ(x). Die Anstückelungsbedingungen liefern das lineare Gleichungssystem 1 + R = T, ik(T − 1 + R) = 2mλ T, ~2 das für T und R die Lösungen T (k) = 1 , 1 + imλ 2 ~ k R(k) = − imλ ~2 k 1 + imλ ~2 k ergibt. Ist |mλ/~2 k| < 1 (also für ein genügend schwaches Potential, oder genügend großen Teilchenimpuls), dann kann man die Amplituden so schreiben: ∞ X T = (−iα)n , n=0 R = −iα ∞ X n=0 n (−iα) = ∞ X n=1 (−iα)n , α= mλ . ~2 k Dieses Resultat kann man mit Hilfe der folgenden zwei Feynmanregeln und unserer Postulate für die Addition und Multiplikation von Amplituden anschau” lich“ verstehen: 64 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME 1. Die Amplitude für die freie Bewegung eines Teilchens mit Impuls p = ~k vom Ort xi zum Ort xf ist durch exp(ik|xf − xi |) gegeben. 2. Die Amplitude für eine einmalige Wechselwirkung mit dem am Ort x = 0 befindlichen Deltapotential ist −iα. Will man z.B. die Amplitude dafür erhalten, dass das Teilchen am Ort x > 0 nachgewiesen wird, wenn es mit dem Impuls p = ~k von der am Ort xQ < 0 befindlichen Quelle produziert1 wurde (Transmission), muss man folgende Amplituden addieren: • Das Teilchen bewegt sich von der Quelle zum Ort x, ohne dass eine Wechselwirkung mit dem Potential stattfindet: eik(x−xQ ) • Das Teilchen bewegt sich zum Punkt 0, dort findet eine Wechselwirkung mit dem Potential statt, anschließend bewegt sich das Teilchen zum Punkt x: eik(x−0) (−iα)eik(0−xQ ) = −iαeik(x−xQ ) • Das Teilchen bewegt sich zum Punkt 0, dort findet eine Wechselwirkung mit dem Potential statt. Das hat ihm so gut gefallen, dass es gleich noch einmal mit dem Potential wechselwirkt, bevor es sich zum Punkt x bewegt: (−iα)2 eik(x−xQ) • usw. Als Resultat erhält man tatsächlich die Gesamtamplitude für Transmission, ∞ X (−iα)n eik(x−xQ ) , |n=0 {z T } wobei der von der Quelle stammende Phasenfaktor e−ikxQ natürlich keine Auswirkung auf beobachtbare Größen hat. Im Fall xQ < x < 0 geht man analog vor: • Das Teilchen bewegt sich von der Quelle zum Ort x, ohne dass eine Wechselwirkung mit dem Potential stattfindet: eik(x−xQ ) 1 Die Wahl von xQ ist völlig willkürlich und hat keinen Einfluss auf observable Größen. 65 3.7. DELTAPOTENTIAL • Das Teilchen bewegt sich zum Punkt 0, dort findet eine Wechselwirkung mit dem Potential statt, anschließend bewegt sich das Teilchen zum Punkt x: eik(0−x) (−iα)eik(0−xQ ) = −iαe−ik(x+xQ ) • Das Teilchen bewegt sich zum Punkt 0, dort findet eine zweimalige Wechselwirkung mit dem Potential statt, dann bewegt sich das Teilchen zum Punkt x: (−iα)2 e−ik(x+xQ ) • usw. Die Summation aller Beiträge liefert schließlich die Gesamtamplitude ∞ X ikx (−iα)n e−ikx e−ikxQ . e + |n=1 {z R } Im Fall eines anziehenden Deltapotentials (λ < 0) gibt es auch einen Bindungszustand mit Energie EB < 0. Für die entsprechende Energieeigenfunktion machen wir den Ansatz φB (x) = N eκx θ(−x) + e−κx θ(x) = N e−κ|x| , κ > 0, EB = − ~2 κ2 , 2m wobei die Stetigkeit von φB (x) an der Stelle x = 0 bereits berücksichtigt wurde. Die Sprungbedingung für die erste Ableitung der Wellenfunktion, 2mλ lim φ′B (+ε) − φ′B (−ε) = 2 φB (0), ε↓0 ~ liefert m|λ| mλ2 2mλ −2κ = 2 ⇒ κ = 2 ⇒ EB = − 2 . ~ ~ 2~ Aufgabe: Diskutieren Sie das Eigenwertproblem des Hamiltonoperators H= P2 + λ1 δ(X − x1 ) + λ2 δ(X − x2 ), 2m 0 < x1 < x2 . Überprüfen Sie Ihr Result für die Reflexions- und Transmissionsamplitude, indem Sie diese Größen mit Hilfe der oben besprochenen Feynmanregeln bis zur quadratischen Ordnung in λ1,2 berechnen (Diagramme zeichnen!) und mit der entsprechenden Entwicklung des vollständigen Resultats vergleichen. Wann gibt es Bindungszustände? Wovon hängt ihre Anzahl ab? 66 3.8 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME Potentialtopf Die Lösung des Eigenwertproblems für einen rechteckigen Potentialtopf (siehe Abbildung 3.7) mit dem Hamiltonoperator H= P2 + V0 θ(X + b)θ(b − X), 2m V0 < 0 erfolgt für Streuzustände (E > 0) wie im Fall des Potentialwalls. Für E < 0 führt das Eigenwertproblem auf eine transzendente Gleichung, die numerisch oder graphisch gelöst werden kann und mindestens eine Lösung besitzt. Es gibt also mindestens einen Bindungszustand φ0 (x) mit einem dazugehörigen Energieeigenwert V0 < E0 < 0. Ist der Potentialtopf tief genug, kommen noch weitere Bindungszustände φ1 (x), φ2 (x), . . . mit diskreten Energieeigenwerten E0 < E1 < E2 < . . . < 0 hinzu. Die Energieeigenfunktion φn (x) besitzt genau n Nullstellen und ist für gerades n eine gerade Funktion und für ungerades n eine ungerade Funktion. Aufgabe: Führen Sie die hier besprochenen Rechnungen selbst durch! 6V (x) −b 0 +b x - V0 < 0 Abbildung 3.7: Rechteckiger Potentialtopf. Die hier für den rechteckigen Potentialtopf besprochenen qualitativen Eigenschaften der Energieeigenfunktionen und Eigenwerte gelten ganz allgemein auch für einen symmetrischen Potentialtopf beliebiger Form (Abbildung 3.8), wobei wir annehmen wollen, dass die potentielle Energie für |x| > b verschwindet. Die Eigenwertgleichung lautet in diesem Fall φ′′ (x) = 2m V (x) − E φ(x), ~2 von der wir normierbare Lösungen mit V (0) < E < 0 finden wollen. Mit Hilfe der dimensionslosen Größen x ξ= , b g(ξ) = √ bφ(x), 2mb2 V (x), v(ξ) = ~2 2mb2 ε= E, ~2 67 3.8. POTENTIALTOPF 6V (x) −b +b 0 x - Abbildung 3.8: Symmetrischer Potentialtopf. kann man die Eigenwertgleichung in der Form g ′′ (ξ) = v(ξ) − ε g(ξ) schreiben. Das reskalierte Potential v(ξ) verschwindet jetzt für |ξ| > 1 (siehe Abbildung 3.9). Zunächst überzeugen wir uns davon, dass die Energieeigenwerte des diskreten Spektrums (also der Bindungszustände) nicht entartet sind. Dazu nehmen wir an, dass g1 und g2 Lösungen der Eigenwertgleichung zum selben Eigenwert ε < 0 sind, woraus g2′′ g1′′ =v−ε= , g1 g2 bzw. g1′′g2 − g2′′ g1 = 0 folgt. Integriert man diese Beziehung, so erhält man g1′ g2 − g2′ g1 = const. Da es sich um die Wellenfunktionen von Bindungszuständen handelt, die im Unendlichen verschwinden, muss die Integrationskonstante gleich Null sein. Somit erhält man die Beziehung g1′ g1 g2′ d ln =0 − =0 ⇔ g1 g2 dξ g2 und nach einer weiteren Integration g1 = Cg2 , d.h. die beiden Lösungen sind linear abhängig. Bemerkung: Bei diesem Beweis war wesentlich, dass die Energieeigenfunktionen im Unendlichen verschwinden. Für die Energieeigenfunktionen des kontinuierlichen Spektrums (Streuzustände) gilt dies bekanntlich nicht und tatsächlich gibt es zu jeder vorgegebenen Energie ε zwei linear unabhängige Lösungen des Eigenwertproblems (die ebene Welle kann von links oder von rechts kommen). 68 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME Wegen der angenommenen Symmetrie des Potentials, v(−ξ) = v(ξ) und der Nichtentartung der Energieeigenwerte des diskreten Spekrums, kann die Wellenfunktion eines Bindungszustands nur entweder eine gerade Funktion, g(−ξ) = g(ξ), oder eine ungerade Funktion, g(−ξ) = −g(ξ), sein. Das heißt, dass im ersten Fall g ′ (0) = 0 und im zweiten Fall g(0) = 0 erfüllt ist. Wir wollen jetzt versuchen, das Zustandekommen der diskreten Energieeigenwerte bei ganz bestimmten Werten von ε < 0 qualitativ zu verstehen. Da wir angenommen haben, dass das Potential für |ξ| > 1 verschwindet, ist in diesem Bereich die Lösung der Eigenwertgleichung exakt bekannt, ( eκξ für ξ ≤ −1 , κ > 0, ε = −κ2 . g(ξ) ∼ −κξ e für ξ ≥ 1 Wir wählen die (willkürliche) Normierung g(−1) = 1, somit ist g(ξ) = eκ eκx für ξ ≤ −1 und die erste Ableitung der Wellenfunktion an der Stelle ξ = −1 ist dann gerade gleich κ. Zunächst einmal ist klar, dass ε = −κ2 größer als das Minimum des Potentials, v(0), sein muss. Wegen der Unschärferelation kann auch v(0) sicher kein Energieeigenwert sein. Mit Hilfe der Energieeigenwertgleichung kann man das so sehen: v(ξ) − v(0) ist nämlich im gesamten Bereich ξ < 0 positiv, wegen g(−1) = 1 > 0 ist somit die Krümmung der Funktion g im Bereich ξ < 0 ebenfalls positiv und wegen g ′(−1) = κ > 0, kann g an der Stelle ξ = 0 sicher keine verschwindende Ableitung, geschweige denn eine Nullstelle besitzen. 6v(ξ) −1 ξ˜ +1 ξ - ε = −κ2 Abbildung 3.9: Reskaliertes Potential. Man muss also ε größer (bzw. κ kleiner) wählen. Die Nullstelle von v(ξ) − ε befindet sich dann an einer Stelle ξ˜ mit −1 < ξ˜ < 0 (siehe Abbildung 3.9). In diesem Fall besitzt die Funktion g für ξ < ξ˜ wieder eine positive Krümmung, an der Stelle ξ˜ hat sie einen Wendepunkt, wo die Krümmung das Vorzeichen wechselt. Mit einer geschickten Wahl ε0 = −κ20 kann man daher erreichen, dass die 69 3.8. POTENTIALTOPF erste Ableitung der dazugehörigen Funktion g0 an der Stelle ξ = 0 verschwindet. (Man kann zeigen, dass diese Lösung stets existiert.) Die Funktionswerte für ξ > 0 erhält man durch Spiegelung an der Ordinatenachse. Man erhält also eine gerade Funktion ohne Nullstellen, welche (abgesehen von der Normierung) die Grundzustandswellenfunktion darstellt. Vergrößert man den Wert von ε weiter, so bewegt sich ξ˜ weiter nach links und g krümmt sich zwischen ξ˜ und 0 weiter zur Abszissenachse. Ist das Potential tief genug, kann man durch eine geeignete Wahl der Energie, ε1 = −κ21 , erreichen, dass die dazugehörige Funktion g1 an der Stelle 0 eine Nullstelle besitzt. Die Fortsetzung dieser Funktion in den Bereich ξ > 0 ergibt eine ungerade Funktion mit einer Nullstelle. Man hat dann (wieder modulo Normierung) die Wellenfunktion des ersten angeregten Zustands gefunden. Die Fortsetzung dieses Verfahrens liefert (bei genügend tiefem Potentialtopf) einen Eigenwert ε2 > ε1 mit einer geraden Eigenfunktion g2 , welche zwei Nullstellen besitzt. Dann folgt ein Eigenwert ε3 > ε2 mit einer ungeraden Eigenfunktion g3 mit drei Nullstellen, usw. Bemerkung: Eine numerische Ermittlung der Bindungsenergien und der Energieeigenfunktionen kann mit Hilfe eines einfachen Computerprogramms durchgeführt werden. Man unterteilt das Intervall [−1, 0] in N Teile der Länge ∆ξ = 1/N, ξn = −1 + n∆ξ, n = 0, 1, 2, . . . , N. Ausgehend von den Startwerten g(ξ0) = g(−1) = 1, g ′(ξ0 ) = g ′ (−1) = κ erhält man eine Näherungslösung für die Funktion g(ξ) durch Iteration von g(ξn+1) = g(ξn) + g ′ (ξn )∆ξ, g ′ (ξn+1 ) = g ′(ξn ) + v(ξn ) + κ2 g(ξn )∆ξ. Beginnend mit κ = |v(0)|1/2 verringert man den Wert von κ in geeignet gewählten Schritten der Größe ∆κ, bis schließlich (für ein gewisses κ′ ) g ′ (0) das Vorzeichen wechselt. Den Parameterbereich zwischen κ′ und κ′ + ∆κ untersucht man nun genauer und erhält auf diese Weise eine Näherungslösung für κ0 und damit für die Grundzustandsenergie ε0 = −κ20 . Danach werden die Werte von κ weiter verringert, man sucht jetzt allerdings nach einer Änderung des Vorzeichens von g(0), was schließlich eine Näherungslösung für κ1 und damit für die Energie des ersten angeregten Zustands, ε1 = −κ21 , liefert. Durch Fortsetzung dieses Verfahrens gelangt man schließlich zu κ = 0 und hat damit Näherungslösungen für alle Energien und Wellenfunktionen der Bindungszustände des betrachteten Potentials gefunden. 70 KAPITEL 3. EINDIMENSIONALE PROBLEME Aufgabe: Verallgemeinern Sie die obige Diskussion auf den Fall eines Potentialtopfs, der nicht die Symmetrie v(−ξ) = v(ξ) aufweist. Welche allgemeinen Aussagen bleiben erhalten? Wie muss das Programm zur näherungsweisen Ermittlung der Energieeigenfunktionen und Energieeigenwerte modifiziert werden? Literatur: R.P. Feynman, R.B. Leighton, M. Sands: The Feynman Lectures on Physics, vol. 3 (Quantum Mechanics), Addison-Wesley, Reading, Massachusetts, 1965; F. Schwabl: Quantenmechanik (QM1), Springer, Berlin, Heidelberg, New York, 2007 Kapitel 4 Mathematische Struktur der Quantentheorie Die mathematische Struktur der klassischen Mechanik und der Quantenmechanik werden gegenübergestellt. Während in der klassischen Theorie beobachtbare Größen durch reellwertige Funktionen auf dem Phasenraum dargestellt werden, ist die Observablenalgebra in der Quantentheorie nicht kommutativ. Dagegen können Zustände in beiden Fällen als normierte, nicht negative lineare Funktionale auf der Oberservablenalgebra aufgefasst werden. Den reinen Zustände entsprechen im Fall der klassischen Mechanik Punkte im Phasenraum, in der Quantenmechanik Strahlen im Hilbertraum. Gemischte Zustände sind konvexe Linearkombinationen von reinen Zuständen. Der Dichteoperator gestattet eine Standarddarstellung von gemischten (wie auch reinen) Zuständen in der Quantenmechanik. Die Zeitentwicklung eines dynamischen Systems kann auf verschiedene (physikalisch äquivalente) Arten beschrieben werden. Im Heisenbergbild sind die den Observablen entsprechenden Operatoren zeitabhängig und die Dichteoperatoren (bzw. Zustandsvektoren) zeitunabhängig, im Schrödingerbild ist es gerade umgekehrt. Im Heisenbergbild erfüllen die Operatoren (z.B. für Ort und Impuls) die klassischen Bewegungsgleichungen. In einem zweidimensionalen Hilbertraum kann man die möglichen Zustände als Punkte der Blochkugel interpretieren. Reine Zustände sitzen auf ihrer Oberfläche, gemischte dagegen im Inneren. 4.1 Klassische Mechanik Wir betrachten ein System mit f Freiheitsgraden mit verallgemeinerten Koordinaten q = (q1 , . . . , qf ) 71 72KAPITEL 4. MATHEMATISCHE STRUKTUR DER QUANTENTHEORIE und den dazu kanonisch konjugierten Impulsen p = (p1 , . . . , pf ). In der klassischen Mechanik werden die beobachtbaren Größen (Observablen) durch reellwertige Funktionen auf dem Phasenraum dargestellt, A(q1 , . . . , qf , p1 , . . . pf ), die Menge dieser Funktionen bildet die Observablenalgebra. Beispiele von Observablen im Einteilchenphasenraum R6 : (i) kinetische Energie T = p~ 2 /2m (ii) i-te Komponente des Drehimpulses Li = (~x × p~ )i = ǫijk xj pk (iii) Ist das System im Gebiet B ⊂ R6 des Phasenraums? ( 1 für (~x, p~ ) ∈ B cB (~x, p~ ) = 0 für (~x, p~ ) ∈ /B Die möglichen Messwerte einer Observablen A sind die Elemente des Wertebereichs (das Spektrum“) der Funktion A(q, p). Im vorigen Beispiel sind die ” Spektren der drei Observablen: (i) R+ , (ii) R, (iii) {0, 1}. In der klassischen Mechanik entspricht einem reinen Zustand ein Punkt (q0 , p0 ) im Phasenraum. Im Formalismus der klassischen Mechanik stehen der Realisierung eines solchen Zustands keine theoretischen (d. h. in der Struktur der Theorie gelegene), sondern nur praktische Grenzen entgegen. Versucht man einen Zustand des Systems durch eine große Anzahl von gleich präparierten Kopien des Systems zu realisieren, so wird es in einer realen experimentellen Situation natürlich nicht möglich sein, dass alle Kopien exakt die gleichen Werte von (q0 , p0 ) aufweisen. Es werden vielmehr Schwankungen auftreten, die man durch eine Wahrscheinlichkeitsverteilung ρ(q, p) im Phasenraum beschreiben kann: Z ρ(q, p) ≥ 0, dq dp ρ(q, p) = 1. Bemerkung: Bei makroskopischen Systemen mit f ∼ 1023 Freiheitsgraden ist die Realisierung eines reinen Zustands von vornherein völlig aussichtslos. 73 4.1. KLASSISCHE MECHANIK Der Erwartungswert der Observablen A in dem durch die Wahrscheinlichkeitsdichte ρ(q, p) beschriebenen Zustand ist Z hAi = dq dp ρ(q, p)A(q, p). Realisiert man den Zustand experimentell durch N nach der gleichen Vorschrift präparierte Kopien des Systems und misst man bei jeder die Observable A mit den Messwerten a1 , . . . aN , so ist hAi der Erwartungswert für den gemessenen Mittelwert Ā, N 1 X Ā = an , Ā −→ hAi, N →∞ N n=1 wobei der Limes wieder in dem früher besprochenen statistischen Sinn zu verstehen ist. Beispiele von Zuständen: 1. Reiner Zustand: ρ(q, p) = δ(q − q0 )δ(p − p0 )1 Z ⇒ hAi = dq dp δ(q − q0 )δ(p − p0 )A(q, p) = A(q0 , p0 ), (∆A)2 = h(A − hAi)2 i = hA2 i − hAi2 = 0, d. h. in einem reinen Zustand sind in der klassischen Mechanik alle Observablen schwankungsfrei (wir wissen bereits: in der Quantenmechanik ist das nicht der Fall!). 2. Gemischter Zustand: In einem Behälter B mit dem Volumen V befinde sich ein ideales Gas im thermodynamischen Gleichgewicht (absolute Temperatur T ). Der Zustand eines einzelnen Gasteilchens wird durch die Wahrscheinlichkeitsverteilung ρ(~x, ~p ) = N e−~p 2 /2mkT beschrieben, wobei m die Masse des Teilchens und k ≃ 1.38 × 10−23 JK−1 die Boltzmannkonstante ist. Die Normierungskonstante N ist so zu wählen, dass Z Z 3 d x d3 p ρ(~x, p~ ) = 1 B R3 erfüllt ist. 1 Zustände, deren Wahrscheinlichkeitsverteilungen nicht diese Form haben, heißen gemischte Zustände. 74KAPITEL 4. MATHEMATISCHE STRUKTUR DER QUANTENTHEORIE Wir sehen, dass durch die Vorschrift Z A → hAi = dq dp ρ(q, p)A(q, p) jeder Observablen A eine reelle Zahl hAi (der Erwartungswert von A in dem betrachteten Zustand) zugeordnet wird. Diese Zuordnungsvorschrift hat die folgenden Eigenschaften: 1. Linearität: hc1 A1 + c2 A2 i = c1 hA1 i + c2 hA2 i, c1,2 ∈ R, A1,2 Observablen 2. Das Funktional ist nicht negativ: hA2 i ≥ 0 ∀ Observablen A 3. Normierung: h1i = 1 Man kann diese drei Eigenschaften zur abstrakten Charakterisierung eines Zustands verwenden: ein Zustand ist ein normiertes, nicht negatives lineares Funktional auf der Observablenalgebra. Bemerkung: Diese abstrakte Charakterisierung eines Zustands kann (fast wörtlich) auch bei der allgemeinen Definition eines Zustands in der Quantenmechanik verwendet werden. Bis jetzt wurden die Observablen und Zustände zu einem bestimmten, fixen Zeitpunkt betrachtet. Die Zeitentwicklung ist in der klassischen Mechanik durch die Hamiltonschen Bewegungsgleichungen q̇ = ∂H , ∂p ṗ = − ∂H ∂q gegeben. Wir bezeichnen ihre Lösungen mit q(t, q0 , p0 ), p(t, q0 , p0 ), wobei q0 = q(0, q0 , p0 ), p0 = p(0, q0 , p0 ) die Anfangsbedingungen zum Zeitpunkt t = 0 sind. Den Erwartungswert einer Observablen A zum Zeitpunkt t erhält man durch Z hAit = dq0 dp0 ρ(q0 , p0 )A(q(t, q0 , p0 ), p(t, q0 , p0 )). Die Wahrscheinlichkeitsverteilung ρ(q0 , p0 ) ist hier zeitunabhängig, dagegen ist die Observable A(q(t, q0 , p0 ), p(t, q0 , p0 )) zeitabhängig. Die Aufteilung der Zeitabhängigkeit (Observable zeitabhängig, Wahrscheinlichkeitsverteilung zeitunabhängig) bezeichnet man als Heisenbergbild. 4.2. AXIOME DER QUANTENTHEORIE 75 Wird die Zeitabhängigkeit von der Observablen auf die Wahrscheinlichkeitsverteilung übergewälzt, so spricht man vom Schrödingerbild. Zu diesem gelangt man durch die Variablentransformation q(t, q0 , p0 ) q q0 , = → p(t, q0 , p0 ) p p0 wobei dq0 dp0 = dq dp gilt. Für das Integral erhält man Z hAit = dq dp ρ(q0 (t, q, p), p0(t, q, p)) A(q, p), | {z } ρt (q,p) mit der zeitabhängigen Wahrscheinlichkeitsverteilung ρt (q, p) = ρ(q0 (t, q, p), p0 (t, q, p)) und der zeitunabhängigen Funktion A(q, p). Die Größe hAit , welche die Zeitentwicklung des Erwartungswertes der Observablen A beschreibt, ist natürlich von der Wahl des Bildes unabhängig. Bemerkung: In der Quantenmechanik haben wir bis jetzt immer das Schrödingerbild verwendet. 4.2 Axiome der Quantentheorie Zu jedem quantenmechanischen System gibt es einen geeigneten Hilbertraum H, den sogenannten Zustandsraum des betrachteten Systems. Obwohl der Zustandsraum i. Allg. unendlichdimensional ist, gibt es physikalische Probleme, bei denen nur ein endlicher Teilraum des gesamten Hilbertraums relevant ist. Um unnötige mathematische Komplikationen zu vermeiden, wollen wir uns bei der Formulierung der Grundpostulate der Quantentheorie auf Systeme beschränken, die sich durch einen endlichdimensionalen Zustandsraum H (unitären Vektorraum) beschreiben lassen. Die beobachtbaren Größen oder Observablen des betrachteten quantenmechanischen Systems werden durch die hermiteschen Elemente der Observablenalgebra L(H) repräsentiert.2 Der wesentliche Unterschied zur klassischen Physik liegt darin, dass man es in der Quantenmechanik mit einer nichtkommutativen Obervablenalgebra zu tun hat, d. h. es gibt Operatoren A, B ∈ L(H) mit [A, B] 6= 0. 2 In einem unendlichdemensionalen Hilbertraum würde man L(H) durch B(H), die C ∗ Algebra der beschränkten linearen Operatoren auf H, ersetzen. 76KAPITEL 4. MATHEMATISCHE STRUKTUR DER QUANTENTHEORIE Die möglichen Messwerte der durch den hermiteschen Operator A ∈ L(H) beschriebenen Observablen sind die Elemente des Spektrums von A (d. h. die Eigenwerte von A). Das heißt, bei einer Messung der Observablen A kann als Messergebnis immer nur einer der Eigenwerte a1 , . . . , an von A auftreten. Bemerkung: Eine besondere Rolle spielen die Projektionsoperatoren, die als hermitesche Operatoren ja ebenfalls beobachtbare Größen repräsentieren. Ist ein hermitescher Operator durch seine Spektraldarstellung A= m X aα Pα α=1 gegeben (m ist die Anzahl der verschiedenen Eigenwere von A), so entspricht dem Projektor Pα (der auf den Eigenraum des Eigenwertes aα projiziert) die Durchführung des folgenden Ja/Nein-Experiments: Erhält man bei einer Mes” sung der Observablen A den Messwert aα ?“ Da der Projektionsoperator Pα nur die Eigenwerte 1 und 0 besitzt, entspricht dem Eigenwert 1 die Antwort ja“ und ” dem Eigenwert 0 die Antwort nein“. ” Die möglichen Zustände des Systems werden durch lineare Funktionale auf der Observablenalgebra beschrieben, die zusätzlich nicht negativ und normiert sind. Bei einem Zustand ω handelt es sich also um eine Abbildung ω : L(H) → C mit folgenden Eigenschaften3 : 1. ω(c1 A1 + c2 A2 ) = c1 ω(A1 ) + c2 ω(A2 ), 2. ω(A† A) ≥ 0 c1,2 ∈ C, A1,2 ∈ L(H) ∀ A ∈ L(H) 3. ω(1) = 1 Durch den Zustand ω wird jeder Observablen A ihr Erwartungswert ω(A) zugeordnet. Für den Projektionsoperator Pα = Pα† = Pα Pα erhält man wegen der Eigenschaft 2 pα = ω(Pα ) = ω(PαPα ) = ω Pα† Pα ≥ 0. pα = ω(Pα ) ist die Wahrscheinlichkeit bei einer Messung der Observablen A den Messwert aα zu erhalten, wenn sich das System in dem durch ω beschriebenen Zustand befindet. Wegen der Vollständigkeitsrelation m X Pα = 1 α=1 3 In einem unendlichdimensionalen Hilbertraum käme noch eine Stetigkeitsbedingung für ω hinzu. 77 4.2. AXIOME DER QUANTENTHEORIE und der Linearität und Normierung von ω erhält man ! m m m X X X pα = ω(Pα) = ω Pα = ω(1) = 1 α=1 α=1 α=1 für die Wahrscheinlichkeit irgendeinen der Eigenwerte von A zu messen. Der Erwartungswert von A im Zustand ω lässt sich dann, wieder unter Verwendung der Linearität von ω, in der Form ! m m m X X X aα pα aα ω(Pα) = ω(A) = ω aα Pα = α=1 α=1 α=1 schreiben. Präpariert man eine große Anzahl N von identischen Kopien des Systems alle im gleichen Zustand ω und führt dann an jeder dieser Kopien eine Messung der Observablen A durch, so wird man Nα -mal den Messwert aα erhalten, wobei Nα −→ pα N N →∞ m P und Nα = N ist. Für den Mittelwert der Messwerte ergibt sich daher α=1 m X m X Nα aα −→ aα pα = ω(A). N N →∞ α=1 α=1 Beispiele von Zuständen: 1. |ψi ∈ H sei ein Einheitsvektor. Dann wird durch ω(A) = hψ|Aψi ∀ A ∈ L(H) ein reiner Zustand definiert. Man überzeugt sich leicht, dass die Eigenschaften 1-3 tatsächlich erfüllt sind. Man nennt |ψi dann den Zustandsvektor des entsprechenden reinen Zustands. Bemerkung: Der Zustandsvektor eiα |ψi beschreibt denselben Zustand. Die Menge {eiα |ψi|α ∈ R} wird als Strahl im Hilbertraum H bezeichnet. 2. P ω1 , ω2 , . . . , ωr seien Zustände Pr und p1 , p2 , . . . , pr positive Zahlen mit r j=1 pj ωj ebenfalls ein Zustand. Man spricht j=1 pj = 1. Dann ist ω = in diesem Fall von einer konvexen Linearkombination von Zuständen. Insbesondere wird durch r X ω(A) = pj hψj |Aψj i ∀A ∈ L(H) j=1 ein Zustand definiert, wenn die |ψj i (nicht notwendigerweise aufeinander normal stehende) Zustandsvektoren (hψj |ψj i = 1) sind. Zustände, die man nicht in der Form ω(A) = hψ|Aψi schreiben kann, heißen gemischte Zustände. 78KAPITEL 4. MATHEMATISCHE STRUKTUR DER QUANTENTHEORIE Man kann eine Standardform für die Beschreibung von Zuständen angeben. Da ω(A) linear in A ist, muss sich ω(A) in der Form X ω(A) = ρkl Alk k,l schreiben lassen, wobei Alk = hϕl |Aϕk i die Matrixelemente des Operators A bezüglich einer beliebigen Orthonormalbasis {|ϕ1 i, . . . , |ϕn i} (n = dim H) sind. Die Koeffizienten ρkl ∈ C kann man dann ebenfalls als die Matrixelemente eines Operators ρ ∈ L(H) bezüglich derselben Orthonormalbasis auffassen (ρkl = hϕk |ρϕl i). ⇒ n X n X ω(A) = k=1 l=1 = n X k=1 wobei die Spur eines Operators B, Tr B = n X k=1 hϕk | ρϕl ihϕl | Aϕk i hϕk | ρAϕk i = Tr(ρA), hϕk | Bϕk i = n X Bkk k=1 unabhängig von der gewählten Basis ist (Tr = Trace = Spur). Bis jetzt wurde nur die Linearität von ω verwendet. Die Eigenschaft ω A† A ≥ 0 ∀ A ∈ L(H) liefert eine weitere Einschränkung an den Operator ρ. Nimmt man für A nämlich den eindimensionalen Projektor A = |ϕihϕ| (wobei |ϕi ein beliebiger Einheitsvektor ist), so erhält man wegen A† A = A hϕ | ρϕi ≥ 0. Ergänzt man nämlich |ϕi zu einer Orthonormalbasis {|ϕi, |ϕ2i, . . . , |ϕn i} von H, so ergibt sich n X Tr ρA A = Tr (ρA) = hϕ | ρϕi hϕ | ϕi + hϕk | ρϕi hϕ | ϕk i | {z } | {z } † 1 k=2 0 = hϕ | ρϕi ≥ 0 und daher mit |ψi = c|ϕi (c ∈ C) die Aussage hψ | ρψi ≥ 0 ∀ ψ ∈ H. Einen Operator mit dieser Eigenschaft nennt man nicht negativ (ρ ≥ 0). Man kann zeigen, dass die folgenden Aussagen äquivalent sind: 79 4.2. AXIOME DER QUANTENTHEORIE 1. hψ | ρψi ≥ 0 ∀ ψ ∈ H. 2. ρ ist hermitesch und alle Eigenwerte sind ≥ 0. 3. Es gibt einen Operator A ∈ L(H), sodass ρ = A† A. Beweis: 1 ⇒ 2 : Es seien ψk und ψl zwei aufeinander orthogonal stehende Einheitsvektoren. Dann ist laut Vorraussetzung hψk + ψl |ρ(ψk + ψl )i = ρkk + ρll +ρkl + ρlk ≥ 0 |{z} |{z} ≥0 ≥0 hψk + iψl |ρ(ψk + iψl )i = ρkk + ρll +iρkl − iρlk ≥ 0 |{z} |{z} ≥0 ⇒ ≥0 ρkl = ρ∗lk ⇒ ⇒ ⇒ Im(ρkl + ρlk ) = 0, Re(ρkl − ρlk ) = 0, ρ = ρ† . Ist nun χk 6= 0 ein Eigenvektor von ρ zum Eigenwert ρk , so ist hχk |ρχk i = hχk |ρk χk i = ρk hχk |χk i ≥ 0 | {z } ⇒ ρk ≥ 0. >0 2 ⇒ 3 : Wegen des Spektralsatzes gibt es eine Orthonormalbasis {|χ1 i, . . . , |χn i} von Eigenvektoren von ρ mit Eigenwerten ρk ≥ 0. In der Spektraldarstellung hat ρ die Gestalt n X ρ= ρk |χk ihχk | k=1 Man kann hier problemlos den hermiteschen (und ebenfalls nicht negativen) Operator n X √ √ ρ= ρk |χk ihχk | k=1 √ √ √ √ bilden und erhält ρ = ρ ρ = ( ρ)† ρ. 3 ⇒ 1 : hψ|ρ|ψi = hψ|A† Aψi = hAψ|Aψi ≥ 0. Die Implikationskette 1 ⇒ 2 ⇒ 3 ⇒ 1 ist somit geschlossen und die Äquivalenz von 1,2,3 gezeigt. Jede dieser drei Eigenschaften kann daher zur Definition eines nicht negativen Operators herangezogen werden. Es gibt also eine Orthonormalbasis {|χ1 i, . . . , |χn i} von Eigenvektoren von ρ mit Eigenwerten ρk ≥ 0. Schließlich impliziert die Normierungsbedingung ω(1) = Tr ρ = 1 ⇒ n X k=1 ρk = 1. 80KAPITEL 4. MATHEMATISCHE STRUKTUR DER QUANTENTHEORIE Der Dichteoperator ρ= n X k=1 ρk |χk ihχk | , ρk ≥ 0, Tr ρ = n X ρk = 1, k=1 liefert also mit ω(A) = Tr(ρA) ∀ A ∈ L(H) die gewünschte Standardform für die Darstellung des Zustands ω. Man kann sich also einen beliebigen Zustand ω als statistisches Gemisch von reinen Zuständen (repräsentiert durch die Zustandsvektoren |χk i) vorstellen, wobei |χk i mit der Wahrscheinlichkeit ρk auftritt. Ein reiner Zustand ist dadurch charakterisiert, dass alle ρk bis auf eines verschwinden. Der Dichteoperator, der dem Zustandsvektor |ψi entspricht, ist ρψ = |ψihψ|, also ein eindimensionaler Projektor (ρ†ψ = ρψ , ρ2ψ = ρψ ). Die Eigenschaft ρ2 = ρ charakterisiert jene Dichteoperatoren, die reinen Zuständen entsprechen, denn in diesem Fall kann Pn ρ nur die Eigenwerte 0, 1 besitzen und wegen der Normierungsbedingung k=1 ρk = 1 kann der Eigenwert 1 nur ein einziges Mal auftreten ⇒ ρ = |ψihψ|. Für den Erwartungswert eines Operators A in einem beliebigen (gemischten) Zustand ergibt sich ω(A) = Tr(ρA) = n X k=1 hχk | ρAχk i = n X k=1 ρk hχk | Aχk i. Hat A die Spektraldarstellung A= m X aα Pα , α=1 so erhält man ω(A) = n X m X k=1 α=1 ρk hχk | Pα χk i aα . | {z } pkα Es treten hier sowohl die quantenmechanischen“ Wahrscheinlichkeiten pkα als ” auch die klassischen“ statistischen Wahrscheinlichkeiten ρk auf. pkα ist die Wahr” scheinlichkeit bei einer Messung der Observablen A in dem durch den Zustandsvektor |χk i beschriebenen reinen Zustand den Messwert aα zu erhalten. Dagegen ist ρk die Wahrscheinlichkeit in dem gemischten Zustand ω den durch |χk i beschriebenen reinen Zustand vorzufinden. Die Wahrscheinlichkeit bei einer Messung von A im Zustand ω den Messwert aα zu erhalten, ist daher ω (Pα ) = n X k=1 ρk hχk | Pα χk i = n X k=1 ρk pkα . 81 4.2. AXIOME DER QUANTENTHEORIE Ist ωψ ein reiner Zustand (mit Dichteoperator ρψ = |ψihψ|), so vereinfachen sich die Formeln: ωψ (A) = hψ | Aψi = ωψ (Pα ) = hψ | Pα ψi. m X α=1 hψ | Pα ψiaα , Verwendet man die Spektraldarstellung Pα = dα X r=1 |α, rihα, r| des Projektors auf den Eigenraum Mα , so kann man auch schreiben: ωψ (Pα ) = dα X r=1 hψ | α, rihα, r | ψi = dα X r=1 |hα, r | ψi|2 . Ist dα = 1, so hat man einfach ωψ (Pα ) = |hα|ψi|2. Beispiele für Dichteoperatoren gemischter Zustände: 1. Sei dim H = n, dann beschreibt der Dichteoperator ρ = 1/n den Zustand mit maximaler Mischung. 2. Wir betrachten ein System mit dem Hamiltonoperator H. Befindet sich dieses System im thermischen Gleichgewicht mit einem Wärmebad“ der ” absoluten Temperatur T , so wird der entsprechende Zustand des Systems durch den Dichteoperator ρ= e−H/kT Tr e−H/kT beschrieben. Ist {|ϕ1 i, . . . , |ϕn i} eine Orthonormalbasis von Eigenvektoren von H, H|ϕk i = Ek |ϕk i, hϕk |ϕl i = δkl , n X k=1 |ϕk ihϕk | = 1, so ist die Spektraldarstellung des Dichteoperators durch ρ= n X e−El /kT l=1 gegeben. Z |ϕl ihϕl | , Z= n X l=1 e−El /kT 82KAPITEL 4. MATHEMATISCHE STRUKTUR DER QUANTENTHEORIE Bemerkung: Es seien |ψ1 i und |ψ2 i zwei aufeinander normal stehende Einheitsvektoren. Der Dichteoperator 1 1 1 1 |ψ1 + ψ2 ihψ1 + ψ2 | = |ψ1 ihψ1 | + |ψ2 ihψ2 | + |ψ1 ihψ2 | + |ψ2 ihψ1 | 2 2 2 {z } |2 Interferenzterm beschreibt einen reinen Zustand mit dem Zustandsvektor 1 √ |ψ1 i + |ψ2 i , 2 also eine Superposition von |ψ1 i und |ψ2 i. Dagegen beschreibt der Dichteoperator 1 1 |ψ1 ihψ1 | + |ψ2 ihψ2 | 2 2 einen gemischten Zustand, in dem |ψ1 i und |ψ2 i jeweils mit der Wahrscheinlichkeit 1/2 auftreten. Die beiden Fälle nicht verwechseln! Die allgemeine Form der Unschärferelation für beliebige Zustände ω, i ∆ω A ∆ω B ≥ ω [A, B] 2 (∆ω A)2 = ω (A − ω(A)1)2 = ω(A2 ) − ω(A)2, (∆ω B)2 = ω (B − ω(B)1)2 = ω(B 2 ) − ω(B)2, beweist man völlig analog wie früher für reine Zustände. Ist ein Zustandsvektor |ψi ein Eigenvektor einer Observablen A, (A|ψi = a|ψi), so ist die Obervable A in diesem Zustand schwankungsfrei. Als Messwert tritt in diesem Fall ja immer nur der Eigenwert a auf. Gibt es zu einem Eigenwert aα von A mehrere linear unabhängige Eigenvektoren |α, ri (r = 1, . . . k ≥ 2), so kann man auch gemischte Zustände konstruieren, die bei jeder Messung der Observablen A stets den Messwert aα ergeben, ρ= dα X r=1 pr |α, rihα, r|, dα X pr = 1 r=1 ⇒ Aρ = ρA = aα ρ, denn Tr(ρPα ) = Tr ρ dα X r=1 |α, rihα, r| = Tr dα X r=1 pr |α, rihα, r| = dα X pr = 1, r=1 d. h. die Wahrscheinlichkeit bei einer Messung der Observablen A den Messwert aα zu erhalten ist 1. 83 4.2. AXIOME DER QUANTENTHEORIE Hat umgekehrt ein Zustand ω die Eigenschaft ∆ω (A) = 0 für eine bestimmte Observable A, dann erfüllt der dazugehörige Dichteoperator ρ= n X k=1 ρk |χk ihχk | die Beziehung Aρ = ρA = aρ, wobei a der Messwert von A im Zustand ω ist. Zum Beweis betrachten wir einen hermiteschen Operator B = B † mit ω(B 2 ) = 0. Dann gilt 2 0 = Tr(ρB ) = n X k=1 2 ρk hχk |B χk i = ⇒ B|χk i = 0 ∀ k mit ρk 6= 0 n X k=1 ρk hBχk |Bχk i, n X ρk = 1 k=1 ⇒ Bρ = ρB = 0. Mit B = A − ω(A) folgt daraus die Behauptung. In der klassischen Mechanik gibt es Zustände, in denen alle Observablen schwankungsfreie Messwerte liefern.4 In der Quantentheorie ist das wegen der Nichtkommutativität der Observablenalgebra nicht der Fall, denn angenommen es gäbe einen Zustandvektor5 |ψi in einem mindestens zweidimensionalen Hilbertraum H mit ∆ψ (A) = 0 ∀ A = A† ∈ L(H). In diesem Fall wäre daher |ψi ein Eigenvektor aller A = A† ∈ L(H). Dies führt aber sofort auf einen Widerpruch. Wegen dimH ≥ 2 gibt es nämlich einen Einheitsvektor |ϕi, der auf |ψi normal steht. Bildet man nun den hermiteschen Operator A = |ψihϕ| + |ϕihψ|, so stellt man fest, dass A|ψi = |ϕi gilt und somit |ψi kein Eigenvektor von A ist. Dementsprechend erhält man ∆ψ A = 1 6= 0. Im Rahmen der klassischen Mechanik nimmt man an, dass die Störung des Systems durch einen Messvorgang beliebig klein gemacht werden kann, sodass der ursprüngliche Zustand (im Idealfall) durch die Messung nicht geändert wird. In der Quantenmechanik lässt sich diese Fiktion nicht mehr aufrecht erhalten und es kommt zu einer Änderung des Zustands durch den Messprozess. Wir haben diese Zustandsreduktion“ bereits früher am Beispiel einer Ortsmessung (Befindet sich ” das Teilchen im Gebiet V ?) besprochen. Wir wollen nun den allgemeinen Fall der Zustandsreduktion bei der Messung einer Observablen A diskutieren. Das betrachtete physikalische Systems befinde sich vor der Messung im Zustand ω mit dazugehörigem Dichteoperator ρ. Der Operator A habe die Spektraldarstellung A= m X α=1 4 5 aα Pα , aα 6= aβ f ür α 6= β. Dies gilt in der klassischen Mechanik für alle reinen Zustände. Verallgemeinern Sie den Beweis auf den Fall eines gemischten Zustands. 84KAPITEL 4. MATHEMATISCHE STRUKTUR DER QUANTENTHEORIE Ist das Messresultat der Eigenwert aα , so wird der Zustand des Systems nach der Messung durch den Dichteoperator ρ′ = Pα ρPα Pα ρPα = Tr(Pα ρPα ) Tr(ρPα ) beschrieben (von Neumannsches Projektionspostulat). Aufgabe: Überprüfen Sie, dass ρ′ tatsächlich die von einem Dichteoperator geforderten Eigenschaften besitzt. Das mit dem Dichteoperator ρ′ verknüpfte Zustandsfunktional ω ′ hat die Form ω ′ (O) = Tr(ρ′ O) = Tr(Pα ρPα O) Tr(ρPα OPα) ω(Pα OPα) = = , Tr(ρPα ) Tr(ρPα ) ω(Pα ) O ∈ L(H). Aufgabe: Überzeugen Sie sich davon, dass die Abbildung O → ω ′ (O) tatsächlich alle Eigenschaften eines Zustands besitzt. 4.3 Schrödingerbild und Heisenbergbild Im Schrödingerbild wird die Zeitenwicklung eines Zustandsvektors ψS (t) durch die Schrödingergleichung i~ d ψS (t) = H ψS (t) , dt H ≡ HS beschrieben. Die Lösung der Schrödingergleichung ist dann (wenn H zeitlich konstant ist) durch ψS (t) = exp(−iHt/~) ψS (0) gegeben. Da H hermitesch ist, ist der hier auftretende Operator US (t) = exp(−iHt/~) unitär, woraus folgt, dass sich die Norm des Zustandsvektors nicht ändert, ψS (t)ψS (t) = ψS (0)ψS (0) . Beschreibt man den dem Vektor ψS (t) entsprechenden reinen Zustand durch den Dichteoperator ρψ(t) = ψS (t) ψS (t), so liest man die Zeitentwicklung ρψ(t) = exp(−iHt/~) ρψ(0) exp(iHt/~) 85 4.3. SCHRÖDINGERBILD UND HEISENBERGBILD ab. Diese Formel für die Zeitentwicklung, ρS (t) = exp(−iHt/~) ρS (0) exp(iHt/~) gilt auch ganz allgemein für Dichteoperatoren ρS (t), die gemischten Zuständen entsprechen. Differenziert man die letzte Gleichung nach der Zeit, so erhält man die von Neumann-Gleichung i~ dρS (t) = [H, ρS (t)]. dt Mit ihrer Hilfe kann die Zeitentwicklung eines gemischten Zustands auch dann beschrieben werden, wenn der Hamiltonoperator explizit von der Zeit abhängt. Eine Observable A wird im Schrödingerbild durch den zeitunabhängigen Operator AS beschrieben. Den Erwartungswert dieser Observablen zum Zeitpunkt t berechnet man durch ωt (A) = Tr ρS (t)AS . Diesen Ausdruck kann man folgendermaßen umformen: ωt (A) = Tr ρS (t)AS = Tr e−iHt/~ ρS (0)eiHt/~ AS = Tr ρS (0) eiHt/~ AS e−iHt/~ , {z } | {z } | ρH AH (t) wobei wir im letzten Schritt Tr(XY ) = Tr(Y X) verwendet haben. Auf diese Weise sind wir zum Heisenbergbild mit einem zeitunabhängigen Dichteoperator ρH = ρS (0) und einem zeitabhängigen Operator AH (t) = eiHt/~ AS e−iHt/~ = eiHt/~ AH (0)e−iHt/~ geführt worden, welcher der Heisenbergschen Bewegungsgleichung i dAH (t) = [H, AH (t)] dt ~ gehorcht. Es gilt HH (t) = HH (0) = HS ≡ H, d. h. der Hamiltonoperator ist zeitlich konstant, was der Erhaltung der Gesamtenergie entspricht. Allgemein sind alle Operatoren, die mit dem Hamiltonoperator vertauschen zeitlich konstant und somit Erhaltungsgrößen. Die kanonische Vertauschungsrelation für Ort und Impuls garantiert, dass die Heisenbergschen Bewegungsgleichungen für die Heisenbergoperatoren XH (t) und PH (t) die gleiche Form haben wie in der klassischen Mechanik. Zunächst 86KAPITEL 4. MATHEMATISCHE STRUKTUR DER QUANTENTHEORIE einmal wissen wir bereits, dass der Hamiltonoperator im Heisenbergbild zeitunabhängig ist, H = HH (t) = PH (t)2 /2m + V X(t) = HH (0) = PH (0)2 /2m + V X(0) . Die Heisenbergsche Bewegungsgleichung für den Ortsoperator ergibt ẊH (t) = = = i HH (t), XH (t) ~ i PH (t)2 /2m + V (XH (t)), XH (t) ~ i PH (t)2 /2m, XH (t) , ~ andererseits ist der Kommutator XH (t), PH (t) = eiHt/~ XH (0)e−iHt/~ , eiHt/~ PH (0)e−iHt/~ = eiHt/~ XH (0), PH (0) e−iHt/~ = i~1 {z } | i~1 unabhängig von t. Da aber [P 2 , X] = −2i~P ist, folgt ẊH (t) = PH (t)/m, was nichts anderes als die klassische Beziehung zwischen Geschwindigkeit und Impuls ist. Durch eine analoge Rechnung erhält man die klassische Bewegungsgleichung ṖH (t) = −V ′ XH (t) . 4.4 Zweidimensionaler Zustandsraum In einem zweidimensionalen Hilbertraum H können wir das einfachste quantenmechanische System studieren, das dennoch nichttriviale physikalische Anwendungen besitzt. Wir wählen eine Orthononormalbasis {| ↑i, | ↓i} von H, d. h. h↑ | ↑i = h↓ | ↓i = 1, h↑ | ↓i = 0, | ↑ih↑ | + | ↓ih↓ | = 1. 4.4. ZWEIDIMENSIONALER ZUSTANDSRAUM 87 Jeder Vektor |ψi ∈ H kann als Linearkombination der Basisvektoren geschrieben werden, |ψi = | ↑i h↑ |ψi +| ↓i h↓ |ψi, | {z } | {z } c↑ c↓ wobei die Entwicklungskoeffizienten c↑ , c↓ ∈ C eindeutig bestimmt sind. Das Skalarprodunkt mit einem zweiten Vektor |χi = | ↑ib↑ + | ↓ib↓ ergibt hχ|ψi = b∗↑ c↑ + b∗↓ c↓ , was bedeutet, dass jeder zweidimensionale komplexe Hilbertraum isomorph zu U 2 ist: c↑ . |ψi ∈ H ↔ c↓ Dementsprechend kann jeder beliebige Operator A = A↑↑ | ↑ih↑ | + A↑↓ | ↑ih↓ | + A↓↑ | ↓ih↑ | + A↓↓ | ↓ih↓ | ∈ L(H) durch seine Matrixdarstellung A↑↑ A↑↓ , A↓↑ A↓↓ Ars ∈ C bezüglich der Orthonormalbasis {| ↑i, | ↓i} repräsentiert werden. Die hermiteschen Matrizen 1 0 0 −i 0 1 1 0 , σ3 = , σ2 = , σ1 = 12 = 0 −1 i 0 1 0 0 1 bilden ein Basissystem für komplexe 2 × 2-Matrizen, d. h. jede 2 × 2-Matrix kann eindeutig in der Form a0 12 + 3 X k=1 ak σk = a0 12 + ~a · ~σ (a0 , a1 , a2 , a3 ∈ C) geschrieben werden. σ1 , σ2 , σ3 sind die Paulischen Spinmatrizen. Sie erfüllen die Vertauschungsrelationen [σk , σl ] = 2i 3 X ǫklm σm m=1 und die Antivertauschungsrelationen σk σl + σl σk = 2δkl 12 . Aus Trσk = 0 und det σk = −1 folgt, dass σk die Eigenwerte ±1 besitzt. 88KAPITEL 4. MATHEMATISCHE STRUKTUR DER QUANTENTHEORIE Eine Dichtematrix kann man in der allgemeinen Form ρ= 1 12 + ~n · ~σ 2 (n1 , n2 , n3 ∈ R) schreiben, wodurch bereits Trρ = 1 und ρ† = ρ erfüllt sind. Die Eigenschaft ρ ≥ 0 gibt eine weitere Einschränkung. Dazu bestimmen wir die Eigenwerte ρ1,2 von 1 1 + n3 n1 − in2 ρ= . 2 n1 + in2 1 − n3 Aus 1 Trρ = ρ1 + ρ2 = 1 und det ρ = ρ1 ρ2 = (1 − ~n2 ) ≥ 0 4 2 folgt, dass ~n ≤ 1 die Nichtnegativität von ρ garantiert und die Eigenwerte durch 1 ρ1,2 = (1 ± |~n|) 2 gegeben sind. Man kann sich also die Menge aller Zustände in einem zweidimensionalen Hilbertraum als Vollkugel mit Radius 1 (Blochkugel) vorstellen. Den reinen Zuständen entsprechen die Punkte auf der Oberfläche der Blochkugel, denn für |~n| = 1 sind die Eigenwerte von ρ gerade 0 und 1. Dem Mittelpunkt der Kugel (~n = 0) entspricht der Zustand maximaler Mischung, 1 ρ = 12 , 2 1 ρ1 = ρ2 = . 2 Aufgabe: Zeigen Sie, dass der Erwartungswert einer Observablen A = a0 12 +~a ·~σ 1 (ak ∈ R) in dem durch die Dichtematrix ρ = 2 12 + ~n · ~σ beschriebenen Zustand durch ha0 12 + ~a · ~σ i = a0 + ~n · ~a gegeben ist. Bemerkung: Ein reiner Zustand (|~n| = 1) wird durch die Dichtematrix 1 1 + n3 n1 − in2 = χ~n χ~†n , |~n| = 1 ρ= 2 n1 + in2 1 − n3 beschrieben. Wir bestimmen den normierten Eigenvektor χ~n von ρ zum Eigenwert 1: ! 1 + n 3 √ 1 für n3 6= −1 2(1+n3 ) n1 + in2 ! χ~n = . 0 für n3 = −1 1 4.4. ZWEIDIMENSIONALER ZUSTANDSRAUM Einige Spezialfälle: (a1 ) (a2 ) (b1 ) (b2 ) (c1 ) (c2 ) ~n = ~e3 −→ χ~e3 1 = ←→ | ↑i 0 ~n = −~e3 −→ χ−~e3 ~n = ~e1 −→ χ~e1 1 =√ 2 ~n = −~e1 −→ χ−~e1 ~n = ~e2 −→ χ~e2 0 ←→ | ↓i = 1 1 1 1 ←→ √ | ↑i − | ↓i =√ 2 −1 2 1 =√ 2 ~n = −~e2 −→ χ−~e2 1 1 ←→ √ | ↑i + | ↓i 1 2 1 1 ←→ √ | ↑i + i| ↓i i 2 1 1 1 ←→ √ | ↑i − i| ↓i =√ 2 −i 2 89 90KAPITEL 4. MATHEMATISCHE STRUKTUR DER QUANTENTHEORIE Kapitel 5 Spin 1/2 Das Spin 1/2-System dient zur Illustration der Quantenphysik in einem zweidimensionalen Zustandsraum. Ein Spin ist in der Regel mit einem magnetischen Moment verbunden, was in einem äußeren Magnetfeld zu einer Energieaufspaltung führt. Räumliche Drehungen eines Spin 1/2-Zustands werden durch SU(2)Transformationen beschrieben. Der Stern-Gerlach-Versuch und die Molekularstrahlmethode von Rabi werden diskutiert. 5.1 Spinmatrizen Sieht man von den räumlichen Freiheitsgraden eines Teilchens mit Spin 1/2 (Eigendrehimpuls ~/2) ab, so können die verbleibenden Spinfreiheitsgrade in einem zweidimensionalen Zustandsraum beschrieben werden. Die Komponenten ~ werden durch die drei Paulimatrizen S1 , S2 , S3 des Spindrehimpulsvektors S dargestellt: ~ Sk = σk , 1 ≤ k ≤ 3. 2 Die Spinkomponente bezüglich einer beliebigen räumlicher Richtung ~a (|~a| = 1) wird durch die hermitesche Matrix 3 ~ ~X ~ ak σk = ~a · ~σ = 2 2 k=1 2 a3 a1 − ia2 a1 + ia2 −a3 beschrieben. Da die Spur dieser Matrix verschwindet und ihre Determinante gleich −~2 /4 ist, sind ihre Eigenwerte ±~/2. Bei einer Messung des Spins in einer durch den Einheitsvektor ~a vorgegebenen Richtung, können also nur die Messwerte +~/2 oder −~/2 auftreten (daher Spin 1/2“). ” 91 92 KAPITEL 5. SPIN 1/2 Wir diskutieren einige Beispiele: S3 = ~/2 0 0 −~/2 ist der Operator der Spinkomponente in Richtung der 3-Achse. Als Orthonormalbasis von Eigenvektoren dieser Observablen findet man die bereits in Abschnitt 4.4 eingeführten Vektoren ~ 1 , S3 χ~e3 = χ~e3 , χ~e3 = 0 2 χ−~e3 = 0 1 ~ S3 χ−~e3 = − χ−~e3 . 2 , Die Spinkomponente in Richtung der 1-Achse wird durch die Matrix 0 ~/2 S1 = ~/2 0 dargestellt. Die dazugehörige Orthonormalbasis von Eigenvektoren lautet jetzt 1 ~ 1 χ~e1 = √ , S1 χ~e1 = χ~e1 , 2 2 1 χ−~e1 1 = √ 2 1 −1 , ~ S1 χ−~e1 = − χ−~e1 . 2 Wie wir bereits wissen, wird ein Zustand in einem zweidimensionalen Hilbertraum durch eine Dichtematrix mit der allgemeinen Form ρ= 1 12 + ~n · ~σ , 2 |~n| ≤ 1 beschrieben. Wir wollen nun für die Observablen ~ = ~ ~a · ~σ , A = ~a · S 2 A2 = P± = ~2 12 , 4 12 ± ~a · ~σ 2 |~a| = 1, 93 5.1. SPINMATRIZEN die Erwartungwerte und Schwankungen im Zustand ρ berechnen. Mit Hilfe der allgemeinen, in Abschnitt 4.4 angegebenen Formel für die Berechnung eines Erwartungswertes finden wir: ~ ~ hAi = Tr(ρA) = ~a · ~n = |~n| cos θ, 2 2 0 ≤ θ ≤ π, ~2 ~2 1 − |~n|2 cos2 θ ⇒ hA2 i − hAi2 = 4 4 q ~ 1 − |~n|2 cos2 θ ⇒ ∆A = 2 hA2 i = 1 1 hP± i = Tr(ρP± ) = (1 ± ~a · ~n) = 1 ± |~n| cos θ , 2 2 hP±2 i − hP± i2 = hP± i − hP± i2 = ⇒ ∆P± = 1 2 q 1 1 − |~n|2 cos2 θ 4 1 − |~n|2 cos2 θ Für den Spezialfall eines reinen Zustands (|~n| = 1), ! 1 + n3 1 √ für n3 = 6 −1 2(1+n3 ) n1 + in2 † ! , ρ = χ~n χ~n , χ~n = 0 für n3 = −1 1 erhält man hAi = hP+ i = hP− i = ∆P± = ~ cos θ, 2 ∆A = ~ sin θ 2 1 θ 1 + cos θ = cos2 2 2 θ 1 1 − cos θ = sin2 2 2 1 sin θ 2 Schließlich geben wir die entsprechenden Größen noch für den Fall maximaler 94 KAPITEL 5. SPIN 1/2 Mischung (~n = 0, Dichtematrix ρ = 12 /2) an: hAi = 0, hP± i = 5.2 1 , 2 ∆A = ~ , 2 1 ∆P± = . 2 Magnetisches Moment Ein Spindrehimpuls ist in der Regel mit einem magnetischen Moment µ ~ = µ~σ ~ verbunden. In einem äußeren Magnetfeld B wird dieses System daher durch den Hamiltonoperator ~ H = −~µ · B ~ = B~e3 , so beschrieben. Legt man die 3-Achse in Richtung des Magnetfeldes, B ist der Hamiltonoperator diagonal, −µB 0 , H = −µBσ3 = 0 +µB mit Eigenwerten und Eigenvektoren E↑ = −µB, E↓ = +µB, χ↑ = 1 0 , χ↓ = 0 1 . Befindet sich ein solches magnetisches Moment im thermodynamischen Gleichgewicht im Kontakt mit einem Wärmebad der absoluten Temperatur T , so wird der Zustand dieses Systems durch die Dichtematrix µB/kT 1 −H/kT 1 e 0 ρ= e = 0 e−µB/kT Z Z beschrieben. Dabei garantiert die Zustandssumme Z = Tr e−H/kT = eµB/kT + e−µB/kT = 2 cosh µB kT die korrekte Normierung des Zustands. Der Erwartungswert der Komponente des magnetischen Moments in Richtung des Magnetfeldes, Tr(ρµ3 ) = µ tanh µB , kT spielt in der Theorie des Paramagnetismus (→ T4) eine wichtige Rolle. 95 5.3. DREHUNGEN IM RAUM 5.3 Drehungen im Raum Wir beschreiben eine (aktive) Drehung im dreidimensionalen Raum durch den Drehwinkel α und die Drehachse ~n (|~n| = 1), wobei die Rechtsschraubenregel gelten soll. Wir fassen beide Größen im Drehvektor α ~ = α~n zusammen. Wird nun ein Spin 1/2-System einer derartigen räumlichen Drehung unterworfen, so ändert sich der ursprüngliche Zustandsvektor (Spinor) ψ ∈ C2 gemäß ~ ψ ′ = e−i~α·S/~ ψ = e−i~α·~σ/2 ψ, wobei U(~ α) = e−i~α·~σ/2 eine sogenannte SU(2)-Matrix ist. Unter SU(2) versteht man die spezielle unitäre Gruppe der komplexen 2 × 2-Matrizen. Speziell“ bedeutet in diesem Zusammen” hang, dass die Determinante einer solchen Matrix gleich 1 ist. Aufgabe: Überzeugen Sie sich davon, dass SU(2) mit der Matrixmultiplikation als Verknüpfungsvorschrift tatsächlich eine Gruppe bildet. Bemerkungen: 1. Dass U(~ α) ∈ SU(2) ist, kann man so sehen: Da α ~ ·~σ eine hermitesche Matrix ist, ist exp(−i~ α ·~σ/2) klarerweise unitär. Weiters besitzt α ~ ·~σ die Eigenwerte ±|~ α|, somit U(~ α) die Eigenwerte exp(±i|~ α|/2) und daher ist det U(~ α) = 1. 2. Durch eine geeignete Wahl von α ~ kann man jedes Element der SU(2) in der Form U(~ α) schreiben. 3. Man beachte, dass U(2π~n) = −12 ist und erst U(4π~n) = 12 ergibt. 4. Die Matrizen {Xk = −iσk /2, k = 1, 2, 3} bilden eine Basis der definierenden Darstellung der Liealgebra der SU(2). (Diese wird manchmal auch als su(2) bezeichnet.) Unter einer Liealgebra versteht man einen (reellen) Vektorraum L, in dem neben der Vektoraddition und der Multiplikation mit Skalaren eine weitere Verknüpfung X ◦ Y ∈ L von Elementen X, Y ∈ L definiert ist, welche X ◦ Y = −Y ◦ X und die Jacobiidentität (X ◦ Y ) ◦ Z + (Y ◦ Z) ◦ X + (Z ◦ X) ◦ Y = 0 erfüllt. Im Fall der su(2) ist X ◦ Y = [X, Y ]. Der Kommutator zweier Matrizen ist klarerweise antisymmetrisch und auch die Jacobiidentität ist trivialerweise erfüllt. Im Fall der su(2) erfüllen die Basiselemente Xk die Kommutatorrelationen [Xk , Xl ] = ǫklm Xm , der ǫ-Tensor ist der Strukturkonstantentensor der su(2). Durch Exponentiation von Elementen der Liealgebra gelangt man zu den Elementen der dazugehörigen Liegruppe, also z. B. ~ ∈ SU(2). U(~ α) = exp α ~ ·X 96 KAPITEL 5. SPIN 1/2 Eine Drehung um den Winkel α ~ lässt sich auch aus N hintereinander ausgeführten Drehungen um den Winkel α ~ /N erhalten, U(~ α) = U(~ α/N)N . Im Grenzfall N → ∞ erhält man die Formel ~ −i~ α·S/~ e = lim N →∞ ~ α ~ S 12 − i · N ~ !N . Bei einer Drehung um den infinitesimalen Drehwinkel ~ε transformiert ein Spinor gemäß ′ ~ ψ ≃ 12 − i~ε · S/~ ψ. Die Generatoren Sk der räumlichen Drehungen erfüllen die Kommutatorrelationenen der Drehimpulsalgebra: [Sk , Sl ] = i~ǫklm Sm . Die Dichtematrix ρψ = ψψ † eines reinen Zustands hat bei einer räumlichen Drehung das Transformationsverhalten ~ ~ ρψ = ψψ † → ρψ′ = ψ ′ ψ ′† = e−i~α·S/~ ψψ † ei~α·S/~ , woraus wir die allgemeine Transformationsformel für eine Dichtematrix folgern: ~ ~ ρ → ρ′ = e−i~α·S/~ ρei~α·S/~ . Bei expliziten Rechnungen ist es oft vorteilhaft, die Formel e−i~α·~σ/2 = 12 cos α ~ |~ α| |~ α| −i · ~σ sin 2 |~ α| 2 zu verwenden. Schreibt man ρ in der Standardform ρ= so ist 1 12 + ~n · ~σ , 2 |~n| ≤ 1, 1 12 + ~n′ · ~σ 2 ′ durch ~n = R(~ α)~n gegeben. Dabei ist R(~ α) ∈ SO(3) die der Drehung um den Winkel α ~ entsprechende Drehmatrix im R3 . ρ′ = 97 5.3. DREHUNGEN IM RAUM Wir werden uns von der Richtigkeit dieser Beziehung nur für eine infinitesimale Drehung ~ε überzeugen. (Eine endliche Drehung kann man sich aus infinitesimalen Drehungen zusammengesetzt denken.) ρ′ = (12 − i~ε · ~σ /2) ρ (12 + i~ε · ~σ /2) = = 12 + ~n · ~σ 12 − i~ε · ~σ /2 12 + i~ε · ~σ /2 2 12 + ~n′ · ~σ , ~n′ = ~n + ~ε × ~n 2 ~ zeigt tatsächlich das Transformationsverhalten Der Erwartungswert von S ~ = Tr(ρS) ~ + ~ε × Tr(ρS) ~ Tr(ρ′ S) eines räumlichen Vektors bei einer Drehung um den infinitesimalen Winkel ~ε (vgl. Abb. 5.1). ~ε × ~x ~ε 6 yXX X x ~ R(~ε ) ~x = ~x + ~ε × ~x Abbildung 5.1: Transformation eines Vektors ~x bei einer infinitesimalen Drehung. Schließlich illustrieren wir noch das Transformationsverhalten von Spinoren durch das folgende Beispiel. Ein in 3-Richtung polarisierter Spin soll in die Richtung ~n = sin θ(cos ϕ ~e1 + sin ϕ ~e2 ) + cos θ ~e3 gedreht werden. Wir bewerkstelligen das durch eine Drehung um den Winkel θ um die 2-Achse, gefolgt von einer Drehung um den Winkel ϕ um die 3-Achse: ! θ cos 1 2 . = e−iϕ/2 e−iϕσ3 /2 e−iθσ2 /2 θ iϕ 0 sin 2 e Bis auf den Phasenfaktor e−iϕ/2 , ist dieser Spinor tatsächlich identisch mit 1 1 + n3 χ~n = p 2(1 + n3 ) n1 + in2 = p 1 2(1 + cos θ) 1 + cos θ sin θ eiϕ = cos 2θ . sin 2θ eiϕ 98 5.4 KAPITEL 5. SPIN 1/2 Experiment von Stern und Gerlach Im Jahre 1922 wurde von Otto Stern und Walther Gerlach ein Versuch durchgeführt, der - im Rückblick - den Eigendrehimpuls ±~/2 des Elektrons nachwies, zunächst jedoch (aufgrund des Bohrschen Atommodells) anders interpretiert wurde. Der schematische Aufbau des Experiments ist in Abb. 5.2 dargestellt. In einem Ofen wird Silberdampf erzeugt. Dieser tritt durch zwei Blenden hindurch, wodurch man einen Strahl von Silberatomen erhält, der knapp an der scharfen Schneide eines Magnetenpols vorbeiläuft. Der andere Pol des Magneten ist breiter ausgeführt, wodurch im Strahlbereich ein stark inhomogenes Magnetfeld herrscht. Am Ende des Magneten befindet sich eine Glasplatte, auf der sich die Silberatome niederschlagen. Beobachtet wird eine Aufspaltung des Atomstrahls in zwei Teilstrahlen. Abbildung 5.2: Schematischer Aufbau des Stern-Gerlach-Versuchs (Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Stern-Gerlach-Versuch). Wir interpretieren das Ergebnis des Experiments aus heutiger Sicht: Das AgAtom besitzt ein magnetisches Moment. Bezüglich der genauen Definition eines magnetischen Moments wird auf T3 verwiesen. Wir müssen nur wissen, ~ die Energie dass ein magnetisches Moment ~µ in einem äußeren Magnetfeld B ~ besitzt. Auf das magnetische Magnet wirkt dann ein Drehmoment E = −~µ · B ~ ~ ~ µ · B) ~ = ∇(~ ~ µ · B). ~ Letztere macht sich nur M = ~µ × B und eine Kraft F~ = −∇(−~ in einem inhomogenen Magnetfeld bemerkbar. Woher stammt nun das magnetische Moment des Silberatoms? Um diese Frage zu 5.4. EXPERIMENT VON STERN UND GERLACH 99 beantworten, müssen wir einige Grundtatsachen über den Zusammenhang zwischen dem Drehimpuls eines (Elementar-) Teilchens mit Masse m und Ladung q und seinem magnetischen Moment wissen. Wir betrachten zunächst nur den Beitrag des Bahndrehimpulses zum magnetischen Moment des Teilchens. Dieser ist durch die Beziehung q ~ L ~µ = 2mc gegeben. Handelt es sich um ein Elektron, so ist die charakteristische Größe das Bohrsche Magneton e~ µB = e = −qe− . 2mc Der Zusammenhang zwischen dem magnetischen Moment und dem Spin eines ~ = 0) ist durch die Formel Elektrons (mit Bahndrehimpuls L ~µe = ge ~σ −e ~ S = −ge µB 2me c 2 gegeben, wobei ge = 2 + α/π + O(α2 ). Der Wert ge = 2 folgt aus der Diracgleichung, die weiteren Terme sind quantenelektrodynamische Korrekturen (α ≃ 1/137 ist die Feinstrukturkonstante). Die Einschleifenkorrektur α/π wurde 1948 von Julian Schwinger berechnet. Bei Nukleonen (p, n) gibt es einen analogen Zusammenhang zwischen magnetischem Moment und Spin, e ~ ~µ = g S, 2mp c allerdings ist das nukleare Magneton e/2mp c um den Faktor me /mp ≃ 1/2000 kleiner als das Bohrsche Magneton. Wegen der Substruktur der aus Quarks und Gluonen aufgebauten Nukleonen sind die entsprechenden g-Faktoren nicht mehr nahe bei 2, sondern man findet gp = 2 × 2.79 und gn = 2 × (−1.91). Da ein Ag-Atom (Kernladungszahl Z = 47) im Grundzustand den Gesamtbahndrehimpuls L = 0 und den Gesamtdrehimpuls J = 1/2 besitzt (2S+1LJ = 2S1/2 ), hat man es im Endeffekt mit dem magnetischen Moment eines ungepaarten Elektrons zu tun. Dieses vollführt wegen ~˙ = ~µ × B ~ S eine Präzessionsbewegung um die Richtung des Magnetfeldes. Approximiert man das Magnetfeld im Strahlbereich durch die lineare Näherung ~ x) ≃ (B0 + ax3 )~e3 − ax1~e1 , B(~ 100 KAPITEL 5. SPIN 1/2 so wirkt auf das Atom die Kraft ~ µ · B) ~ = a(µ3~e3 − µ1~e1 ). ∇(~ Wegen der Präzessionsbewegung um die 3-Achse bleibt im Zeitmittel nur hF~ i = ~e3 aµ3 = ~e3 ∂B3 µ3 ∂x3 übrig. Somit gestattet der Stern-Gerlach-Versuch eine Messung der Komponente des magnetischen Moments parallel zum Magnetfeld B0~e3 . Aufgaben: 1. Im Versuch von Stern und Gerlach wird Silber in einem Ofen der Temperatur T verdampft. Geben Sie das mittlere Geschwindigkeitsquadrat h~v 2 i p eines Silberatoms an. Berechnen Sie h~v 2 i für T = 1000 K zur numerischen Illustration Ihres Ergebnisses. (Massenzahl von Ag ≃ 108.) Hinweis: In der (klassischen) statistischen Mechanik ist der Zustand eines Teilchens in einem idealen Gas der Temperatur T durch die Verteilungsfunktion ρ(~x, ~p) = N exp(−β~p 2 /2m), β = 1/kT im Phasenraum gegeben. Zur Lösung der Aufgabe genügt es die Funktion Z Z(β) = d3 p exp(−β~p 2 /2m) R3 zu berechnen, da man den Erwartungswert der kinetischen Energie durch h~p 2 /2mi = −∂ ln Z(β)/∂β erhalten kann. (Wieso?) 2. Im unmittelbaren Bereich des Atomstrahls lässt sich das Magnetfeld des Stern-Gerlach Versuches (in linearer Näherung) durch ~ x) = (B0 + ax3 )~e3 − ax1~e1 B(~ beschreiben. Der Atomstrahl verläuft dabei längs der 2-Achse, parallel zur scharfen Schneide des Magneten. Skizzieren Sie den Feldlinienverlauf in der ~ den Maxwellschen Gleichungen divB ~ =0 1-3-Ebene. Überprüfen Sie, dass B ~ = 0 genügt. Zeigen Sie, dass sich für die aufgrund des magnetiund rotB ~ µ · B) ~ der Audruck schen Moments ~µ des Silberatoms wirkende Kraft F~ = ∇(~ ~ F = a(µ3~e3 − µ1~e1 ) ergibt. Wegen der Präzessionsbewegung des magnetischen Moments um die 3-Achse bleibt im Zeitmittel nur eine Kraft in 3-Richtung übrig: hF~ i = aµ3~e3 , a = ∂B3 /∂x3 . 3. Wie groß ist die Ablenkung eines Silberatoms durch die im vorigen Beispiel erhaltene Kraft hF~ i, wenn es die Strecke l im Magnetfeld durchläuft? 5.5. BEWEGUNG EINES SPINS IN EINEM MAGNETFELD 101 Drücken Sie Ihr Ergebnis durch µ3 , ∂B3 /∂x3 , l und die Temperatur T aus. Verwenden Sie den in der ersten Aufgabe erhaltenen Ausdruck für die Geschwindigkeit des Teilchens in 2-Richtung. Numerische Werte: µ3 = µB = Bohrsches Magneton = 9.27 ×10−24 J T−1 , ∂B3 /∂x3 = 17 T/cm, l = 3.5 cm, T = 1000 K. (Vgl.: Walther Gerlach, Otto Stern, Zeitschrift für Physik 9 (1922) 349, 353.) 5.5 Bewegung eines Spins in einem Magnetfeld Wie wir bereits wissen, hat der Hamiltonoperator eines Spins mit magnetischem ~ die Gestalt Moment ~µ in einem äußeren Magnetfeld B ~ H = −~µ · B, ~ ~µ = γ S. Wir betrachten zunächst den Fall eines zeitlich konstanten Magnetfelds. Die Hei~ lautet in diesem senbergsche Bewegungsgleichung für den Spinoperator S Fall ~ dS(t) i ~ ~ = γ S(t) ~ × B. ~ = ~µ(t) × B = H, S(t) dt ~ ~ Legen wir die 3-Achse unseres Koordinatensystems in Richtung von B, ~ = B~e3 , B so erhalten wir Ṡ1 = γBS2 (t), Ṡ2 = −γBS1 (t), Ṡ3 = 0. Die Lösung dieses Systems von linearen Differentialgleichungen erster Ordnung lautet: S1 (t) = S1 (0) cos(γBt) + S2 (0) sin(γBt), S2 (t) = S2 (0) cos(γBt) − S1 (0) sin(γBt), S3 (t) = S3 (0). Man kann dieses Problem natürlich auch im Schrödingerbild behandeln (wir 102 KAPITEL 5. SPIN 1/2 beschränken uns auf den Fall eines reinen Zustands): H = −γB~σ3 /2, i~ψ̇(t) = Hψ(t), ψ(t) = e−iHt/~ ψ(0), a+ (t) , ψ(t) = a− (t) iBγ/2 a+ (0) a+ (t) e 0 . , = a− (0) a− (t) 0 e−iBγ/2 Aufgabe: Überzeugen Sie sich davon, dass man in beiden Bildern dasselbe Ergebnis für die Erwartungswerte der Spinoperatoren erhält. Bemerkung: Die Zeitentwicklung des Spinors in einem äußeren Magnetfeld ent~ Ein von Helmut spricht einer räumlichen Drehung um den Winkel α ~ = −γ B. Rauch et al. durchgeführtes Neutroneninterferenzexperiment1 beruht auf dieser Beobachtung. Wir betrachten nun den Fall eines Magnetfeldes, bei dem zusätzlich zu einem konstanten Magnetfeld B0~e3 ein zeitabhängiges, in der 1-2-Ebene rotierendes Magnetfeld B⊥ (cos ωt ~e1 + sin ωt ~e2 ) vorhanden ist: ~ B(t) = B0~e3 + B⊥ (cos ωt ~e1 + sin ωt ~e2 ). Der Hamiltonoperator ~ = ~ ~σ S 2 ist nun ebenfalls zeitabhängig und wir suchen die allgemeine Lösung der Schrödingergleichung i~ψ̇(t) = H(t)ψ(t): a+ (t) , ψ(t) = a− (t) ~ · B(t), ~ H(t) = −γ S γ~ a+ (t) ȧ+ (t) B0 B⊥ e−iωt . = − i~ a− (t) ȧ− (t) −B0 2 B⊥ eiωt | {z } H(t) Wir führen die Abkürzungen ω0 = −γB0 , ω1 = −γB⊥ ein und schreiben in kompakter Form 1 ȧ+ (t) a+ (t) ω0 ω1 e−iωt i = . ȧ− (t) −ω0 a− (t) 2 ω1 eiωt 1 H. Rauch et al., Physics Letters 54A (1975) 425. 5.5. BEWEGUNG EINES SPINS IN EINEM MAGNETFELD 103 Mit Hilfe der Variablentransformation b± (t) = e±iωt/2 a± (t) ⇔ a± (t) = e∓iωt/2 b± (t) gelangen wir zu dem Gleichungssystem 1 ω0 − ω ω1 ḃ+ (t) b+ (t) , i = ω1 ω − ω0 b− (t) ḃ− (t) 2 | {z } zeitunabhängig wobei die hier auftretende Matrix ω0 − ω ω1 A= ω1 ω − ω0 nun zeitunabhängig ist. Da A hermitesch ist, müssen ihre Eigenwerte reell sein. Ist Ω > 0 ein Eigenwert von A, so muss wegen TrA = 0 der zweite Eigenwert gleich −Ω sein. Aus det A = −Ω2 = −(ω − ω0 )2 − ω12 erhält man schließlich Ω= q (ω − ω0 )2 + ω12 . Die Kombination der Spektraldarstellung von A, A = Ω(P+ − P− ) und der Vollständigkeitsrelation P + + P − = 12 für die Projektoren P± auf die Eigenräume der Eigenwerte ±Ω liefert für eine beliebige Funktion der Matrix A die Formel f (A) = f (Ω) + f (−Ω) f (Ω) − f (−Ω) + A. 2 2Ω Somit erhält man b+ (t) −iAt/2 b+ (0) =e b− (0) b− (t) Ωt iA Ωt b+ (0) sin = cos 12 − b− (0) 2 Ω 2 Ωt 1 0 i Ωt ω0 − ω ω1 b+ (0) = cos − sin ω1 ω − ω0 b− (0) 2 0 1 Ω 2 104 KAPITEL 5. SPIN 1/2 Wir betrachten nun den Spezialfall mit den Anfangsbedingungen b+ (0) = 1, b− (0) = 0 ⇔ a+ (0) = 1, a− (0) = 0, welche zu den folgenden Lösungen führen: b+ (t) = cos Ωt i(ω − ω0 ) Ωt + sin , 2 Ω 2 b− (t) = − iω1 Ωt sin . Ω 2 Daraus erhalten wir die Wahrscheinlichkeit zum Zeitpunkt t die Spinkomponente S3 = −~/2 zu messen, wenn zum Zeitpunkt t = 0 der Eigenzustand von S3 mit dem Eigenwert +~/2 präpariert war: |a− (t)|2 = |b− (t)|2 = ω12 ω12 2 Ωt 2 Ωt sin = . sin 2 Ω2 2 (ω − ω0 )2 + ω1 2 Wie man sieht, kommt es zu einem Resonanzphänomen, die Amplitude ω12 (ω − ω0 )2 + ω12 wird für ω = ω0 maximal (nämlich 1). Dieser Resonanzeffekt wurde im Jahr 1939 von Isidor Isaac Rabi mit seiner Molekularstrahlmethode zur Präzisionsbestimmung der magnetischen Momente von Atomkernen benutzt. Aufgaben: 1. Skizzieren Sie den zeitlichen Verlauf der Umklappwahrscheinlichkeit |a− (t)|2 . 2. Skizzieren Sie die Funktion ω → ω12 (ω − ω0 )2 + ω12 . 3. Studieren Sie Aufbau, Durchfürung Ergebnisse des Versuchs von Rabi2 und stellen Sie den Zusammenhang mit der hier durchgeführten Rechnung her. Bemerkung: Wir haben das zeitabhängige Magnetfeld als klassisches (nichtquantisiertes) Feld behandelt. Bei genügend starken Feldern ist dies eine zulässige Näherung. Die Interpretation des Resonanzeffekts in der Sprache des quantisierten elektromagnetischen Feldes (Photonfeld) ist die folgende: in dem äußeren Magnetfeld B0~e3 kommt es zu einer Aufspaltung der Energieniveaus des Spins (±~γB0 /2). Ein Photon des zeitabhängigen Anteils des Magnetfeldes B⊥ (cos ωt ~e1 + sin ωt ~e2 ) (z. B. Radio- oder Mikrowellenstrahlung) mit Energie ~|ω| = ~|γB0 | und Spin (Helizität) −~ bewirkt einen Übergang in den angeregten Zustand des Spins mit Drehimpuls −~/2. 2 I.I. Rabi et al., Physical Review 55 (1939) 526.