JOURNAL FÜR ERNÄHRUNGSMEDIZIN HOLLER C Geschichte der Ernährungstherapie des Diabetes mellitus Journal für Ernährungsmedizin 2000; 2 (3) (Ausgabe für Österreich), 22-26 Offizielles Organ des Österreichischen Akademischen Instituts für Ernährungsmedizin www.kup.at/ ernaehrungsmedizin Online-Datenbank mit Autoren- und Stichwortsuche Mit Nachrichten der Krause & Pachernegg GmbH · VERLAG für MEDIZIN und WIRTSCHAFT · A-3003 Gablitz Offizielles Organ der Österreichischen Adipositas Gesellschaft INTERDISZIPLINÄRES ORGAN FÜR PRÄVENTION UND THERAPIE VON KRANKHEITEN DURCH ERNÄHRUNG Homepage: Indexed in EMBASE/ Excerpta Medica GESCHICHTE DER ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES DIABETES MELLITUS C. Holler GESCHICHTE DER ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES DIABETES MELLITUS History of diet in diabetes management Summary The exoneration of the diabetic metabolism by diet is one of the main principles in diabetes care. The first description of treatment by diet against “over abundant urine” was found in the 3550 years old Ebers papyrus. There are a lot of indications, mainly from the middle east, China and India, showing that the clinical symptoms of diabetes have been known and have been treated by dietary interventions. Aretaios of Capadokia (80–130 A.D.) supposed the origin of diabetes in the stomach and treated the disease with milkcures, wine and laxatives. Until about the 16th century the traditional thinking of Galen (129– 199 A.D.) and Avicenna (980– 1037), supposing the kidney or the liver as origin of diabetes, have been the basic for medical science. Paracelsus was the first who presumed the origin of diabetes by a different composi- ZUSAMMENFASSUNG Die Entlastung des diabetischen Stoffwechsels durch diätetische Maßnahmen gehört zu den klassischen Prinzipien der Diabetesbehandlung. Die ersten schriftlichen Hinweise über ernährungstherapeutische Maßnahmen gegen einen „vermehrten Harnfluß“ fanden sich in dem 3550 Jahre alten Papyrus Ebers. Vor allem im Mittleren Osten, China und Indien finden sich zahlreiche Hinweise darauf, daß die klinischen 22 J. ERNÄHRUNGSMED. 3/2000 tion of the blood. Until the rediscovery of the sweet taste of the urine from diabetic patients by Willis in the 17th century, but mainly through the first controlled dietetic experiment, done by Rollo in 1796, dietetic treatment has developed steadily on the basis of progress in biochemistry, physiology, nutrition, and clinical experience. Through the last two centuries, the discussion concerning carbohydrate intake, fat intake and protein intake has included advocates for strong reduction as well as for liberal allowance. After the introduction of insulin these diets lost their importance. The insight remained that diets with a very low carbohydrate content are not necessary and diets with a quite high amount of carbohydrates are well tolerated. Key words: diabetes mellitus, history, diet Symptome des Diabetes erkannt wurden, und durch Änderungen der Ernährung gemildert werden konnten. Aretaios von Kappadokien (80–130 n. Chr.) vermutete, Diabetes sei eine Erkrankung des Magens, die er mit Milchkuren, Wein und Abführmitteln behandelte. Die traditionellen Lehren von Galen (129–199 n. Chr.) und Avicenna (980–1037), die eine Nieren- oder Lebererkrankung als ursächlich annahmen, bildeten bis in das 16. Jahrhundert die Basis der medizinischen Forschung. Paracelsus vermutete als erster eine andere Zusammensetzung des Blutes als Ursache des Diabetes. Erst die Wiederentdeckung des süßen Geschmacks des Urins von Diabetikern durch Willis im 17. Jahrhundert, vor allem aber die erste kontrollierte Diätstudie von Rollo im Jahre 1796 bewirkten eine konstante Weiterentwicklung der Ernährungstherapie des Diabetes auf der Basis des Fortschritts in der Biochemie, Physiologie, Ernährung und klinischer Erfahrung. Während der letzten beiden Jahrhunderte fanden sich betreffend der Höhe der Kohlenhydrat-, Fett- und Eiweißzufuhr sowohl Befürworter für restriktive Einschränkungen, als auch für liberale Freigabe. Nach der Einführung des Insulins verloren all diese Kostformen an Bedeutung. Geblieben ist die Einsicht, daß streng kohlenhydratarme Diäten nicht erforderlich sind und relativ kohlenhydratreiche Kostformen gut toleriert werden. ERSTE BESCHREIBUNGEN BIS ZUM MITTELALTER Die wohl ältesten Beschreibungen der „Harnflut“ finden sich im Papyrus Ebers (etwa 1550 vor Christus), im Papyrus Hears (um 1350 v. Chr.) und im Berliner Papyrus von Brugsch (um 1150 v. Chr.). Eine etwa aus dem Jahr 1550 vor Christus datierte Niederschrift wurde 1862 in einem Grabbau bei Theben von dem deutschen Ägyptologen Georg Ebers (1837–1898) gefunden und übersetzt. Die darin enthaltenen Richtlinien zur Behandlung des „übermäßigen Harnflusses“ beinhalten, ebenso wie die beiden anderen erwähnten Schriften, Empfehlungen unterschiedlicher Diäten auf Kornbasis (Weizen- GESCHICHTE DER ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES DIABETES MELLITUS oder Haferkorn vermischt mit Wasser und Honig) und den Gebrauch von Pflanzenextrakten. Ob der beschriebene „Überfluß an Harn“ tatsächlich das Krankheitsbild des Diabetes mellitus darstellt, ist unter Historikern umstritten. Hippokrates (460–377 v. Chr.) hat das Krankheitsbild des Diabetes weder definiert noch beschrieben. Allerdings läßt uns die Bedeutung der Ernährungstherapie in dieser Zeit annehmen, daß er oder seine Schule diese auch für Patienten mit Diabetes angewendet hat. Der Krankheitsname „Diabetes“ kam in der Periode der Alexandrinischen Medizin (zwischen 300 und 50 v. Chr.) in der griechischen Medizin auf. Ein Schüler des Erasistratos, Apollonius Memphites (264–? v. Chr.) und ein Schüler des anderen großen Alexandriners Herophilos, Demetrius Apameus (270–? v. Chr.) haben als erste Ärzte den Diabetes erwähnt. Fälschlicherweise wird die Prägung des Ausdrucks Diabetes, der übersetzt „Hindurchgehenlassen“ bedeutet, dem griechischen Arzt Aretaios von Kappadokien (ca. 80–130 n. Chr.) zugeschrieben, wahrscheinlich weil er eine sehr präzise Beschreibung des Krankheitsbildes des „mageren“, heute Typ 1 genannten Diabetes hinterließ: „Diabetes ist eine schwer zu behandelnde Erkrankung, die das Fleisch und andere feste Teile des Körpers in Harn auflöst … Der Patient hört nie auf, Wasser zu produzieren … Leben ist kurz und schmerzhaft … Sie sind von Übelkeit, Unruhe und brennendem Durst befallen und sterben nach nicht allzulanger Zeit.“ Als Ursache vermutete Aretaios eine akute Erkrankung des Magens. Daher waren seine Therapievorschläge auf eine „Reinigung“ des Magens konzentriert. Diätetisch empfahl er Milchkuren, Backobst, reinen Wein und Abführmittel. Der berühmte griechische Arzt Claudius Galen aus Pergamon (129–201 n. Chr.) wies darauf hin, daß Diabetes durch das Unvermögen der Niere, Wasser zurückzuhalten, verursacht wird. Wörtlich schrieb er: „Mir scheinen die Nieren in diesem Falle ein Leiden zu haben, das manche als Wassersucht in den Nachttopf, andere als Durchfall in den Urin, manche als Diabetes, einige endlich als Durstkrankheit bezeichnen, eine Krankheit, die sehr selten vorkommt.“ Dieses Theorie erstellte er, obwohl er nur zwei Patienten mit Diabetes sah. Trotzdem konnte sich diese Vorstellung über 1500 Jahre als gültiges Konzept halten. Generell wurde der Ernährung in der Therapie von Erkrankungen in der Schule von Galen eine besondere Bedeutung beigemessen. Daß die Symptome des Diabetes mellitus durch eine Änderung der Nahrungszufuhr beeinflußt werden können, war in China und Indien in den Jahrhunderten nach Aretaios wohlbekannt. Dem chinesischen Arzt Sun Ssemiano (etwa 600 n. Chr.) wird folgender Ausspruch zugeschrieben: „ Ein guter Arzt findet primär die Ursachen einer Erkrankung heraus, und wenn er diese gefunden hat, versucht er sie zuallererst mit der Ernährung zu heilen. Wenn die Ernährung fehlschlägt, dann verschreibt er Medizin.“ Ungefähr zur gleichen Zeit wird in der vedischen Literatur Diabetes als „madhumea“ beschrieben, was übersetzt „Honigharn“ bedeutet. Dabei dürfte es sich um die erste Beschreibung des honigartigen Geschmacks des Urins von Diabetikern handeln. Als Ursache wurde ein Überessen mit Reis, Mehl und Zucker angegeben, weil dieses Krankheitsbild hauptsächlich in der reichen Bevölkerungsschicht vorkam. Eine Einschränkung oben erwähnter Kohlenhydrate wurde therapeutisch eingesetzt und der gewünschte Erfolg erzielt. Beachtenswert ist, daß schon in dieser Zeit zwei Formen des Krankheitsbildes unterschieden wurden: Jene, die bei der wohlhabenden und gut genährten Bevölkerungsschicht auftrat, und jener Form, die vor allem magere Personen betraf und rasch zum Tod führte. Für die letztere wurde diätetisch eine „Reismast“ empfohlen. DAS MITTELALTER Die Heilkunst im Mittelalter wurde wesentlich vom Orient beeinflußt. Der bekannteste Arzt aus dem persischen Raum war Avicenna (Ibn Sina, 980–1037), dessen Werk „Al Quanum“ wahrscheinlich eines der berühmtesten jemals geschriebene Schriftstück sein dürfte, das über Jahrhunderte in Verwendung war. Avicenna vermutete Zucker im Urin von Diabetikern und beschrieb unterschiedliche Symptome der Erkrankung, wie Polyphagie, Furunkulose, Gangrän, Schwindsucht und Impotenz. Die Ursache suchte er in der Leber. Die traditionellen Lehren von Galen und Avicenna, die eine J. ERNÄHRUNGSMED. 3/2000 23 GESCHICHTE DER ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES DIABETES MELLITUS Mischung aus klinischen Beobachtungen und Philosophie darstellten, bildeten die Basis der medizinischen Forschung bis in das 16. Jahrhundert. Es gibt keine Hinweise auf medizinische Experimente. Erst der Schweizer Reformer der mittelalterlichen Medizin, Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493–1541), der sich selbst Paracelsus nannte, stellte neue Theorien über die Ursachen des Diabetes auf, und verbrannte die Schriftwerke Galens und Avicennas öffentlich. Der von ihm evaporierte Urin von Diabetikern hinterließ einen salzähnlichen Rückstand. Daher nahm er eine andere Blutzusammensetzung bei Diabetikern an, mit salzähnlichen Substanzen, die die Niere schädigen und die Polyurie verursachen. Obwohl er nichts über die Süße des Urins überlieferte, erteilte er an mehreren Stellen seiner Schriften die streng einzuhaltende Weisung, den Urin mit der Zunge zu kosten. Als wichtige Neuerung hat Paracelsus die Hungertherapie, die erste erfolgreiche Diabetestherapie, eingeführt. ENTWICKLUNG DER ERNÄHRUNGSTHERAPIE AUF DER BASIS DES FORTSCHRITTS IN DER BIOCHEMIE, PHYSIOLOGIE, ERNÄHRUNG UND KLINISCHER ERFAHRUNG Erst im Jahre 1674 wurde der süße Geschmack des Harns von Diabetikern von dem Englischen Arzt Thomas Willis (1621–1675) wiederentdeckt. Er glaubte, daß die flüssigen Teile des Blutes nicht mehr von den festen Teilen aufge- 24 J. ERNÄHRUNGSMED. 3/2000 nommen würden; sie mischen sich mit Salzpartikeln und würden übermäßig über die Niere ausgeschieden. In der Folge würde das Gewebe austrocknen und Gewichtsverlust und Durst verursachen. Er vermutete, daß die krankheitsauslösenden Salze durch den übermäßigen Genuß von reinem Apfelwein in den Körper eingebracht werden. Willis glaubte, daß Diabetes heilbar sei, wenn er möglichst frühzeitig behandelt wird. Diätetisch empfahl er Zitronenwasser, Reis, schleimhaltige Pflanzen, und Gerste vermischt mit Milch. Solange die Pathophysiologie des Diabetes unbekannt war, fußte die Ernährungstherapie ausschließlich auf klinischen Ergebnissen. Der schottische Arzt John Rollo führte im Jahre 1796 die erste bekannte kontrollierte Studie zur Diabetestherapie durch. Er wußte von Dobson, daß Diabetiker sowohl im Blut, als auch im Harn zuviel Zucker haben. Er entschied daher, seinem 34 Jahre alten Patienten die Kohlenhydratzufuhr auf ein Minimum zu reduzieren. Die vorgeschriebene Diät bestand aus ca. 1 Liter Milch und einem ¼ Liter Zitronenwasser zum Frühstück und vor dem Schlafengehen, zu Mittag aus einem Pudding aus Schweineblut und zum Abendessen aus altem Fleisch. Der Zustand des Patienten verbesserte sich und die Glykosurie verschwand. Später ergänzte Rollo sein Diätregime mit Kohl, Zwiebeln und Salat. Er beobachtete auch das Wiederauftreten der Glykosurie, wenn sein Patient Apfelkuchen oder Bier konsumierte. Er zog aus diesem Experiment den Schluß, daß es sich primär um eine Erkrankung des Gastrointestinaltraktes han- deln müßte, der zuviel Zucker aus der kohlenhydrathaltigen Nahrung produziert. Um diese Hyperaktivität zu stoppen, verschrieb er auch Opium, Digitalis und Emetika wie Antimon. Obwohl schon andere Autoren vor Rollo die Fleischdiät als Heilmittel anführten, zur Anerkennung hat sie erst Rollo gebracht. Diese Therapie blieb bis zur Insulinära und mit Ausnahme der Bouchardat´schen Kohlenhydrateinschränkung (1871) die einzige naturwissenschaftlich begründbare Therapie. Zu erwähnen ist auch, daß Rollo (um 1790) und I. P. Frank (1745–1821) gleichzeitig und wohl unabhängig voneinander den Ausdruck Diabetes mellitus (Übersetzt: „honigsüßes Durchfließen“) gebrauchten. In England erschien 1848 William Prout´s Buch „On the nature and treatment of stomach and renal diseases“, das auf zahlreichen Experimenten zur Ernährungstherapie basierte. Durch die Gabe von tierischen Produkten, gewaschenem Getreide, Milch, Eiern und einem Spezialbrot beobachtete Prout das Verschwinden der Glykosurie in milden Diabetesfällen. In Frankreich verfolgte Apollinaire Bouchardat (1809–1886) Rollos Theorie, daß Diabetes eine Erkrankung des Verdauungstraktes sei und prägte durch seine Arbeiten den tatsächlichen Beginn des klinischen Verständnisses der Zuckerkrankheit. Er führte den Diabetes auf eine frühe Umwandlung von Stärke zu Glukose im Magen unter dem Einfluß von pathologischen Enzymen zurück, wodurch der Zucker rascher in das Blut gelangen sollte. Er expe- GESCHICHTE DER ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES DIABETES MELLITUS rimentierte mit unterschiedlichen Diäten, die verschiedenes Gemüse und ein spezielles Brot enthielten. Während der Belagerung von Paris (September 1870 bis Jänner 1871) stellte Bouchardat fest, daß viele Diabetiker infolge Unterernährung harnzuckerfrei wurden und leitete daher seine Empfehlung ab: „Manger le moins possible.“ In krassem Gegensatz dazu steht seine Empfehlung, daß Diabetiker mindestens 4 Jahre alten Burgunderwein guter Jahrgänge in der Menge von 1–2 Liter täglich konsumieren sollten. Etwa zeitgleich schaffte der französische Physiologe und Initiator der experimentellen Medizin Claude Bernard (1813–1878) die Grundlagen für die wissenschaftliche Arbeit in der Diabetologie. Er zeigte durch Versuche an Tieren, wie die Kohlenhydrate der Nahrung im Darm gespalten und dann in der Leber als Glykogen gespeichert werden. Diese und andere Arbeiten bestätigten die Sinnhaftigkeit sehr kohlenhydratarmer Kostformen in der Diabetestherapie. In Deutschland führte der Arzt Rudolph Eduard Külz (1845– 1895) mehr als 700 FallkontrollStudien durch. Zahlreiche traditionelle Therapieformen des Diabetes, wie die Arsentherapie oder die Gabe großer Mengen von Karlsbader Wasser, wurden von ihm als sinnlos erkannt. Er testete die Toleranz verschiedener Kohlenhydratformen und fand heraus, daß die Assimilierung von grünem Gemüse besser war, als die von einer vergleichbaren Menge Stärke. Am 18. Februar 1869 wurde die Dissertation des deutschen Arztes Paul Langerhans (1847–1888) publiziert. Darin beschrieb er Zellgruppen in der Bauchspeicheldrüse, ohne jedoch deren Funktion zu kennen. Im Jahre 1889 entfernten Josef von Mering (1849– 1908) und Oskar Minkowski (1858–1931) einem Hund die Bauchspeicheldrüse. Das Tier hatte danach Zucker im Harn und mußte häufig urinieren. Dieses Experiment lenkte die Wissenschaftler jener Zeit auf den richtigen Weg zur Erkennung und Behandlung des Diabetes. Karl Petren (1868–1927) repräsentiert. Eiweiß und Kohlenhydrate wurden strikt eingeschränkt, die fehlende Energie wurde durch Fett, vor allem Butter ergänzt. Petren konnte damit auch bei schwerem Diabetes Harnzuckerund Acetonfreiheit erreichen. Weiters erwiesen sich fettreiche Kostformen bei hochgradigem Eiweißentzug nicht als ketogen. Das Auftreten von Xanthomatosen zeigte aber auch den ungünstigen Effekt einer solchen Diät auf den Fettstoffwechsel auf. Bernhard Naunyn (1839–1925) folgte Külz als die herausragende deutsche Persönlichkeit in der Diabetestherapie nach. Auch bei ihm war die Vorstellung maßgebend, durch eine Einschränkung der Zuckerbildner (aus Kohlenhydraten und Eiweiß) in der Kost, die Inselzellfunktion zu entlasten. Seine Autorität war groß, seine Bemühungen um die Einhaltung der richtigen Diät gingen soweit, daß Patienten, die sich nicht an seine Vorgaben hielten, sogar für Monate eingesperrt wurden. Neumanifestierten Diabetikern wurde die Kohlenhydratzufuhr massiv eingeschränkt, bei Vorliegen einer Azidose verschrieb er Natriumbikarbonat. Wenn die Glykosurie durch die Kohlenhydrateinschränkung nicht verschwand, wurde die Proteinzufuhr auf 40–50 g täglich reduziert, mit der Folge einer weiteren Reduktion der Energiezufuhr. Bei einer über 3 Wochen anhaltenden Gewichtsabnahme wurden der Diät wieder Kohlenhydrate zugegeben, auch wenn die Glykosurie persistierte. Eine gegensätzliche diätetische Richtung ging von der Vorstellung aus, daß nicht die absolute Harnzuckerfreiheit, sondern die höchstmögliche Glukose-Assimilation das entscheidende Ziel der diätetischen Diabetesbehandlung sein müsse (G. Rosenfeld, 1910). Zudem wurde erkannt, daß bei höherer Kohlenhydratzufuhr die Kohlenhydrattoleranz ansteigt. Entsprechend dieser Vorstellungen wurden viele kohlenhydratreiche Kostformen entwickelt, von denen aber erst die Haferkur von Carl von Noorden (1858– 1944) größere Resonanz als antiketogene Kost fand. Andere deutsche Diabetologen zeigten, daß dieser Effekt nicht haferspezifisch ist, sondern auch anderen Kohlenhydraten, wie z. B. Obst zukommt. Noorden erforschte Magen-Darm-Krankheiten und die Zuckerkrankheit und begründete die Diätetik als Wissenschaft. Weil er als Ursache des Diabetes eine vermehrte Zuckerbildung der Leber sah, verschrieb er vor allem kohlenhydratarme Diäten. Die von ihm als Wechselkost bezeichnete Diätform beinhaltete zwei kohlenhydratfreie Tage pro Woche, an denen er 120 Gramm Kognak zusätzlich ver- Am konsequentesten wurde diese Richtung der kohlenhydrat- und eiweißarmen, fettreichen Diabetesdiät durch das Verfahren von J. ERNÄHRUNGSMED. 3/2000 25 GESCHICHTE DER ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES DIABETES MELLITUS schrieb. Häufig wurde an zwei Tagen der Woche nur Gemüse ohne Insulingabe verordnet. Gegen Ende des 19. und Anfangs des 20. Jahrhunderts experimentierte Frederick M. Allen am Rockefeller Institut für medizinische Forschung mit diabetischen Hunden. Die sorgsam durchgeführten Studien zeigten, daß Diabetes eine Störung des gesamten Stoffwechsels ist, und nicht eine Störung der Glukoseverwertung alleine darstellt. Mit einer Reduktion der gesamten Nahrungszufuhr konnte eine deutliche Verbesserung des Diabetes erreicht werden. In den darauffolgenden Jahren untersuchte Allen mit seinen Mitarbeitern dieses Prinzip der Einschränkung der gesamten Nahrungszufuhr an diabetischen Patienten. Die Ergebnisse wurden 1917 in dem herausragenden Buch „Total dietary regulation in the treatment of diabetes“ von den Autoren Frederick M. Allen, E. Stillman und R. Fritz niedergeschrieben. Seither ist bekannt, daß Diabetes keineswegs eine ausschließliche Störung des Kohlenhydratstoffwechsels, sondern eine komplizierte metabolische Erkrankung darstellt. NACH DER EINFÜHRUNG DES INSULINS Im Jahre 1921 gelang es Frederik Grant Banting (1891–1941) und Charles Herbert Best (1899–1978) im Laboratorium von John James Richard McLeod (1876–1935) Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden zu isolieren. Schon ein Jahr später stand dieses Hormon der Medizin als lebensrettendes Medikament zur Verfü- 26 J. ERNÄHRUNGSMED. 3/2000 gung. Nach der Einführung des Insulins verloren alle diese Kostformen an Bedeutung. Geblieben ist die Einsicht, daß streng kohlenhydratarme Diäten nicht erforderlich sind und relativ kohlenhydratreiche Kostformen, eventuell unter Insulinabdeckung, gut toleriert werden. Der größte Einfluß auf die Therapie des Diabetes, nicht nur in Amerika, sondern weltweit ging über Jahrzehnte von Elliot P. Joslin (1870–1963) aus. Sein Buch „ Treatment of Diabetes Mellitus“, das umfangreiche Kapitel zur Ernährungstherapie enthält, wurde im Jahr 1971 in der 11. Edition zum letzten Mal herausgegeben. In seine Empfehlungen sind auch die Erkenntnisse des erhöhten Risikos an vaskulären Erkrankungen durch vermehrten Fettkonsum (vor allem gesättigte Fettsäuren) eingegangen. Nach dem 2. Weltkrieg wurde dem Fett als potentiell atherogenem Nährstoff besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Zur Prävention chronischer Gefäßschäden wurde eine streng fettarme Diabeteskost empfohlen. In den letzten Jahrzehnten wurde die prozentuelle Verteilung der Hauptnährstoffe immer wieder verändert. Die Empfehlung von 40 Energieprozent Kohlenhydrate wurde in den späten 80er Jahren auf bis zu 60 Energieprozent gesteigert. Daraus resultierende erhöhte Triglyzeridwerte ließen die Empfehlung wieder auf 50 % zurückgehen. Die derzeit gültige Verteilung der Hauptnährstoffe bietet einen großen Akzeptanzbereich, der einerseits die individuelle Beratung erleichtert, der es andererseits jedoch notwendig macht, gewisse Grundregeln im Maximum- und Minimumbereich unbedingt zu beachten. So sind die heute gültigen Empfehlungen der Kohlenhydratzufuhr von 45–60 % nur unter Beachtung des Glykämischen Index sinnvoll. Dieser wurde von Jenkins im Jahr 1981 eingeführt, um die unterschiedlichen Resorptionsgeschwindigkeiten verschiedener Kohlenhydrate zu beachten. Besonderes Augenmerk wird in den gültigen Empfehlungen auf die Höhe der Fettzufuhr gelegt. Diese sollte 25–35 % nicht überschreiten, wobei besonders der Anteil an gesättigten Fettsäuren nicht mehr als 10 Energieprozent ausmachen darf. Die große Bandbreite der heute empfohlenen Nahrungszusammensetzung läßt in naher Zukunft keine wesentlichen Änderungen erwarten. Der von der Ernährungsindustrie propagierte Einsatz von sogenanntem „Functional Food“, das mit Inhaltsstoffen je nach Bedarf angereichert ist, wird gegenüber einer fettarmen, an Obst und Gemüse reichen Ernährungsform keine Vorteile bringen. Der Genuß und die Akzeptanz werden auch in Zukunft bei allen Ernährungsvorschriften im Vordergrund stehen. Korrespondenzadresse: Claus Holler Ludwig Boltzmann-Institut für Stoffwechselerkrankungen und Ernährung (Leiter: Univ.-Prof. Dr. Karl Irsigler) Krankenhaus Lainz 1130 Wien, Wolkersbergenstr. 1, Pav. IX b E-mail: [email protected]