Geschichte der Ernährungstherapie des Diabetes mellitus

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JOURNAL FÜR
ERNÄHRUNGSMEDIZIN
HOLLER C
Geschichte der Ernährungstherapie des Diabetes mellitus
Journal für Ernährungsmedizin 2000; 2 (3) (Ausgabe für
Österreich), 22-26
Offizielles Organ des
Österreichischen
Akademischen Instituts für
Ernährungsmedizin
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ernaehrungsmedizin
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GESCHICHTE DER
ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES
DIABETES
MELLITUS
C. Holler
GESCHICHTE DER ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES DIABETES MELLITUS
History of diet in diabetes management
Summary
The exoneration of the diabetic
metabolism by diet is one of the
main principles in diabetes care.
The first description of treatment
by diet against “over abundant
urine” was found in the 3550
years old Ebers papyrus. There
are a lot of indications, mainly
from the middle east, China and
India, showing that the clinical
symptoms of diabetes have
been known and have been
treated by dietary interventions.
Aretaios of Capadokia (80–130
A.D.) supposed the origin of
diabetes in the stomach and
treated the disease with milkcures, wine and laxatives. Until
about the 16th century the traditional thinking of Galen (129–
199 A.D.) and Avicenna (980–
1037), supposing the kidney or
the liver as origin of diabetes,
have been the basic for medical
science. Paracelsus was the first
who presumed the origin of
diabetes by a different composi-
ZUSAMMENFASSUNG
Die Entlastung des diabetischen
Stoffwechsels durch diätetische
Maßnahmen gehört zu den klassischen Prinzipien der Diabetesbehandlung. Die ersten schriftlichen Hinweise über ernährungstherapeutische Maßnahmen gegen einen „vermehrten Harnfluß“
fanden sich in dem 3550 Jahre
alten Papyrus Ebers. Vor allem im
Mittleren Osten, China und Indien finden sich zahlreiche Hinweise darauf, daß die klinischen
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tion of the blood. Until the rediscovery of the sweet taste of the
urine from diabetic patients by
Willis in the 17th century, but
mainly through the first controlled dietetic experiment, done by
Rollo in 1796, dietetic treatment
has developed steadily on the
basis of progress in biochemistry,
physiology, nutrition, and clinical experience. Through the last
two centuries, the discussion
concerning carbohydrate intake,
fat intake and protein intake has
included advocates for strong
reduction as well as for liberal
allowance. After the introduction
of insulin these diets lost their
importance. The insight remained that diets with a very
low carbohydrate content are
not necessary and diets with a
quite high amount of carbohydrates are well tolerated.
Key words: diabetes mellitus,
history, diet
Symptome des Diabetes erkannt
wurden, und durch Änderungen
der Ernährung gemildert werden
konnten. Aretaios von Kappadokien (80–130 n. Chr.) vermutete,
Diabetes sei eine Erkrankung des
Magens, die er mit Milchkuren,
Wein und Abführmitteln behandelte. Die traditionellen Lehren
von Galen (129–199 n. Chr.) und
Avicenna (980–1037), die eine
Nieren- oder Lebererkrankung als
ursächlich annahmen, bildeten
bis in das 16. Jahrhundert die Basis der medizinischen Forschung.
Paracelsus vermutete als erster
eine andere Zusammensetzung
des Blutes als Ursache des Diabetes. Erst die Wiederentdeckung
des süßen Geschmacks des Urins
von Diabetikern durch Willis im
17. Jahrhundert, vor allem aber
die erste kontrollierte Diätstudie
von Rollo im Jahre 1796 bewirkten eine konstante Weiterentwicklung der Ernährungstherapie des
Diabetes auf der Basis des Fortschritts in der Biochemie, Physiologie, Ernährung und klinischer
Erfahrung. Während der letzten
beiden Jahrhunderte fanden sich
betreffend der Höhe der Kohlenhydrat-, Fett- und Eiweißzufuhr
sowohl Befürworter für restriktive
Einschränkungen, als auch für
liberale Freigabe. Nach der Einführung des Insulins verloren all
diese Kostformen an Bedeutung.
Geblieben ist die Einsicht, daß
streng kohlenhydratarme Diäten
nicht erforderlich sind und relativ
kohlenhydratreiche Kostformen
gut toleriert werden.
ERSTE BESCHREIBUNGEN BIS
ZUM MITTELALTER
Die wohl ältesten Beschreibungen der „Harnflut“ finden sich im
Papyrus Ebers (etwa 1550 vor
Christus), im Papyrus Hears (um
1350 v. Chr.) und im Berliner
Papyrus von Brugsch (um 1150 v.
Chr.). Eine etwa aus dem Jahr
1550 vor Christus datierte Niederschrift wurde 1862 in einem
Grabbau bei Theben von dem
deutschen Ägyptologen Georg
Ebers (1837–1898) gefunden und
übersetzt. Die darin enthaltenen
Richtlinien zur Behandlung des
„übermäßigen Harnflusses“ beinhalten, ebenso wie die beiden
anderen erwähnten Schriften,
Empfehlungen unterschiedlicher
Diäten auf Kornbasis (Weizen-
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ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES
DIABETES
MELLITUS
oder Haferkorn vermischt mit
Wasser und Honig) und den Gebrauch von Pflanzenextrakten.
Ob der beschriebene „Überfluß
an Harn“ tatsächlich das Krankheitsbild des Diabetes mellitus
darstellt, ist unter Historikern umstritten.
Hippokrates (460–377 v. Chr.) hat
das Krankheitsbild des Diabetes
weder definiert noch beschrieben. Allerdings läßt uns die Bedeutung der Ernährungstherapie
in dieser Zeit annehmen, daß er
oder seine Schule diese auch für
Patienten mit Diabetes angewendet hat.
Der Krankheitsname „Diabetes“
kam in der Periode der Alexandrinischen Medizin (zwischen 300
und 50 v. Chr.) in der griechischen
Medizin auf. Ein Schüler des
Erasistratos, Apollonius Memphites
(264–? v. Chr.) und ein Schüler des
anderen großen Alexandriners
Herophilos, Demetrius Apameus
(270–? v. Chr.) haben als erste
Ärzte den Diabetes erwähnt.
Fälschlicherweise wird die Prägung des Ausdrucks Diabetes, der
übersetzt „Hindurchgehenlassen“
bedeutet, dem griechischen Arzt
Aretaios von Kappadokien (ca.
80–130 n. Chr.) zugeschrieben,
wahrscheinlich weil er eine sehr
präzise Beschreibung des Krankheitsbildes des „mageren“, heute
Typ 1 genannten Diabetes hinterließ: „Diabetes ist eine schwer zu
behandelnde Erkrankung, die das
Fleisch und andere feste Teile des
Körpers in Harn auflöst … Der
Patient hört nie auf, Wasser zu
produzieren … Leben ist kurz und
schmerzhaft … Sie sind von Übelkeit, Unruhe und brennendem
Durst befallen und sterben nach
nicht allzulanger Zeit.“ Als Ursache vermutete Aretaios eine akute
Erkrankung des Magens. Daher
waren seine Therapievorschläge
auf eine „Reinigung“ des Magens
konzentriert. Diätetisch empfahl
er Milchkuren, Backobst, reinen
Wein und Abführmittel.
Der berühmte griechische Arzt
Claudius Galen aus Pergamon
(129–201 n. Chr.) wies darauf
hin, daß Diabetes durch das Unvermögen der Niere, Wasser zurückzuhalten, verursacht wird.
Wörtlich schrieb er: „Mir scheinen die Nieren in diesem Falle
ein Leiden zu haben, das manche
als Wassersucht in den Nachttopf,
andere als Durchfall in den Urin,
manche als Diabetes, einige endlich als Durstkrankheit bezeichnen, eine Krankheit, die sehr selten vorkommt.“ Dieses Theorie
erstellte er, obwohl er nur zwei
Patienten mit Diabetes sah. Trotzdem konnte sich diese Vorstellung über 1500 Jahre als gültiges
Konzept halten. Generell wurde
der Ernährung in der Therapie
von Erkrankungen in der Schule
von Galen eine besondere Bedeutung beigemessen.
Daß die Symptome des Diabetes
mellitus durch eine Änderung der
Nahrungszufuhr beeinflußt werden können, war in China und
Indien in den Jahrhunderten nach
Aretaios wohlbekannt. Dem chinesischen Arzt Sun Ssemiano
(etwa 600 n. Chr.) wird folgender
Ausspruch zugeschrieben: „ Ein
guter Arzt findet primär die Ursachen einer Erkrankung heraus,
und wenn er diese gefunden hat,
versucht er sie zuallererst mit der
Ernährung zu heilen. Wenn die
Ernährung fehlschlägt, dann verschreibt er Medizin.“ Ungefähr
zur gleichen Zeit wird in der
vedischen Literatur Diabetes als
„madhumea“ beschrieben, was
übersetzt „Honigharn“ bedeutet.
Dabei dürfte es sich um die erste
Beschreibung des honigartigen
Geschmacks des Urins von Diabetikern handeln. Als Ursache
wurde ein Überessen mit Reis,
Mehl und Zucker angegeben,
weil dieses Krankheitsbild hauptsächlich in der reichen Bevölkerungsschicht vorkam. Eine Einschränkung oben erwähnter Kohlenhydrate wurde therapeutisch
eingesetzt und der gewünschte
Erfolg erzielt.
Beachtenswert ist, daß schon in
dieser Zeit zwei Formen des
Krankheitsbildes unterschieden
wurden: Jene, die bei der wohlhabenden und gut genährten Bevölkerungsschicht auftrat, und jener
Form, die vor allem magere Personen betraf und rasch zum Tod
führte. Für die letztere wurde diätetisch eine „Reismast“ empfohlen.
DAS MITTELALTER
Die Heilkunst im Mittelalter wurde wesentlich vom Orient beeinflußt. Der bekannteste Arzt aus
dem persischen Raum war
Avicenna (Ibn Sina, 980–1037),
dessen Werk „Al Quanum“ wahrscheinlich eines der berühmtesten
jemals geschriebene Schriftstück
sein dürfte, das über Jahrhunderte
in Verwendung war. Avicenna
vermutete Zucker im Urin von
Diabetikern und beschrieb unterschiedliche Symptome der Erkrankung, wie Polyphagie, Furunkulose, Gangrän, Schwindsucht
und Impotenz. Die Ursache suchte er in der Leber.
Die traditionellen Lehren von
Galen und Avicenna, die eine
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GESCHICHTE DER
ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES
DIABETES
MELLITUS
Mischung aus klinischen Beobachtungen und Philosophie darstellten, bildeten die Basis der
medizinischen Forschung bis in
das 16. Jahrhundert. Es gibt keine
Hinweise auf medizinische Experimente. Erst der Schweizer Reformer der mittelalterlichen Medizin,
Theophrastus Bombastus von
Hohenheim (1493–1541), der
sich selbst Paracelsus nannte,
stellte neue Theorien über die
Ursachen des Diabetes auf, und
verbrannte die Schriftwerke
Galens und Avicennas öffentlich.
Der von ihm evaporierte Urin von
Diabetikern hinterließ einen
salzähnlichen Rückstand. Daher
nahm er eine andere Blutzusammensetzung bei Diabetikern an,
mit salzähnlichen Substanzen, die
die Niere schädigen und die
Polyurie verursachen. Obwohl er
nichts über die Süße des Urins
überlieferte, erteilte er an mehreren Stellen seiner Schriften die
streng einzuhaltende Weisung,
den Urin mit der Zunge zu kosten. Als wichtige Neuerung hat
Paracelsus die Hungertherapie,
die erste erfolgreiche Diabetestherapie, eingeführt.
ENTWICKLUNG DER
ERNÄHRUNGSTHERAPIE AUF
DER BASIS DES FORTSCHRITTS
IN DER BIOCHEMIE,
PHYSIOLOGIE, ERNÄHRUNG
UND KLINISCHER ERFAHRUNG
Erst im Jahre 1674 wurde der
süße Geschmack des Harns von
Diabetikern von dem Englischen
Arzt Thomas Willis (1621–1675)
wiederentdeckt. Er glaubte, daß
die flüssigen Teile des Blutes nicht
mehr von den festen Teilen aufge-
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nommen würden; sie mischen
sich mit Salzpartikeln und würden übermäßig über die Niere
ausgeschieden. In der Folge würde das Gewebe austrocknen und
Gewichtsverlust und Durst verursachen. Er vermutete, daß die
krankheitsauslösenden Salze
durch den übermäßigen Genuß
von reinem Apfelwein in den Körper eingebracht werden. Willis
glaubte, daß Diabetes heilbar sei,
wenn er möglichst frühzeitig behandelt wird. Diätetisch empfahl
er Zitronenwasser, Reis, schleimhaltige Pflanzen, und Gerste vermischt mit Milch.
Solange die Pathophysiologie
des Diabetes unbekannt war,
fußte die Ernährungstherapie ausschließlich auf klinischen Ergebnissen. Der schottische Arzt John
Rollo führte im Jahre 1796 die
erste bekannte kontrollierte Studie
zur Diabetestherapie durch. Er
wußte von Dobson, daß Diabetiker sowohl im Blut, als auch im
Harn zuviel Zucker haben. Er
entschied daher, seinem 34 Jahre
alten Patienten die Kohlenhydratzufuhr auf ein Minimum zu reduzieren. Die vorgeschriebene Diät
bestand aus ca. 1 Liter Milch und
einem ¼ Liter Zitronenwasser
zum Frühstück und vor dem
Schlafengehen, zu Mittag aus einem Pudding aus Schweineblut
und zum Abendessen aus altem
Fleisch. Der Zustand des Patienten verbesserte sich und die Glykosurie verschwand. Später ergänzte Rollo sein Diätregime mit
Kohl, Zwiebeln und Salat. Er beobachtete auch das Wiederauftreten der Glykosurie, wenn sein
Patient Apfelkuchen oder Bier
konsumierte. Er zog aus diesem
Experiment den Schluß, daß es
sich primär um eine Erkrankung
des Gastrointestinaltraktes han-
deln müßte, der zuviel Zucker
aus der kohlenhydrathaltigen
Nahrung produziert. Um diese
Hyperaktivität zu stoppen, verschrieb er auch Opium, Digitalis
und Emetika wie Antimon.
Obwohl schon andere Autoren
vor Rollo die Fleischdiät als Heilmittel anführten, zur Anerkennung hat sie erst Rollo gebracht.
Diese Therapie blieb bis zur
Insulinära und mit Ausnahme der
Bouchardat´schen Kohlenhydrateinschränkung (1871) die einzige
naturwissenschaftlich begründbare Therapie. Zu erwähnen ist
auch, daß Rollo (um 1790) und
I. P. Frank (1745–1821) gleichzeitig und wohl unabhängig voneinander den Ausdruck Diabetes
mellitus (Übersetzt: „honigsüßes
Durchfließen“) gebrauchten.
In England erschien 1848 William
Prout´s Buch „On the nature and
treatment of stomach and renal
diseases“, das auf zahlreichen
Experimenten zur Ernährungstherapie basierte. Durch die Gabe
von tierischen Produkten, gewaschenem Getreide, Milch, Eiern
und einem Spezialbrot beobachtete Prout das Verschwinden der
Glykosurie in milden Diabetesfällen.
In Frankreich verfolgte Apollinaire
Bouchardat (1809–1886) Rollos
Theorie, daß Diabetes eine Erkrankung des Verdauungstraktes
sei und prägte durch seine Arbeiten den tatsächlichen Beginn des
klinischen Verständnisses der
Zuckerkrankheit. Er führte den
Diabetes auf eine frühe Umwandlung von Stärke zu Glukose im
Magen unter dem Einfluß von
pathologischen Enzymen zurück,
wodurch der Zucker rascher in
das Blut gelangen sollte. Er expe-
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ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES
DIABETES
MELLITUS
rimentierte mit unterschiedlichen
Diäten, die verschiedenes Gemüse und ein spezielles Brot enthielten. Während der Belagerung
von Paris (September 1870 bis
Jänner 1871) stellte Bouchardat
fest, daß viele Diabetiker infolge
Unterernährung harnzuckerfrei
wurden und leitete daher seine
Empfehlung ab: „Manger le moins
possible.“ In krassem Gegensatz
dazu steht seine Empfehlung, daß
Diabetiker mindestens 4 Jahre
alten Burgunderwein guter Jahrgänge in der Menge von 1–2 Liter
täglich konsumieren sollten.
Etwa zeitgleich schaffte der französische Physiologe und Initiator
der experimentellen Medizin
Claude Bernard (1813–1878) die
Grundlagen für die wissenschaftliche Arbeit in der Diabetologie.
Er zeigte durch Versuche an Tieren, wie die Kohlenhydrate der
Nahrung im Darm gespalten und
dann in der Leber als Glykogen
gespeichert werden. Diese und
andere Arbeiten bestätigten die
Sinnhaftigkeit sehr kohlenhydratarmer Kostformen in der Diabetestherapie.
In Deutschland führte der Arzt
Rudolph Eduard Külz (1845–
1895) mehr als 700 FallkontrollStudien durch. Zahlreiche traditionelle Therapieformen des Diabetes, wie die Arsentherapie oder
die Gabe großer Mengen von
Karlsbader Wasser, wurden von
ihm als sinnlos erkannt. Er testete
die Toleranz verschiedener Kohlenhydratformen und fand heraus,
daß die Assimilierung von grünem Gemüse besser war, als die
von einer vergleichbaren Menge
Stärke.
Am 18. Februar 1869 wurde die
Dissertation des deutschen Arztes
Paul Langerhans (1847–1888)
publiziert. Darin beschrieb er Zellgruppen in der Bauchspeicheldrüse, ohne jedoch deren Funktion
zu kennen. Im Jahre 1889 entfernten Josef von Mering (1849–
1908) und Oskar Minkowski
(1858–1931) einem Hund die
Bauchspeicheldrüse. Das Tier
hatte danach Zucker im Harn und
mußte häufig urinieren. Dieses
Experiment lenkte die Wissenschaftler jener Zeit auf den richtigen Weg zur Erkennung und Behandlung des Diabetes.
Karl Petren (1868–1927) repräsentiert. Eiweiß und Kohlenhydrate wurden strikt eingeschränkt,
die fehlende Energie wurde durch
Fett, vor allem Butter ergänzt.
Petren konnte damit auch bei
schwerem Diabetes Harnzuckerund Acetonfreiheit erreichen.
Weiters erwiesen sich fettreiche
Kostformen bei hochgradigem
Eiweißentzug nicht als ketogen.
Das Auftreten von Xanthomatosen zeigte aber auch den ungünstigen Effekt einer solchen Diät
auf den Fettstoffwechsel auf.
Bernhard Naunyn (1839–1925)
folgte Külz als die herausragende
deutsche Persönlichkeit in der
Diabetestherapie nach. Auch bei
ihm war die Vorstellung maßgebend, durch eine Einschränkung
der Zuckerbildner (aus Kohlenhydraten und Eiweiß) in der Kost,
die Inselzellfunktion zu entlasten.
Seine Autorität war groß, seine
Bemühungen um die Einhaltung
der richtigen Diät gingen soweit,
daß Patienten, die sich nicht an
seine Vorgaben hielten, sogar für
Monate eingesperrt wurden. Neumanifestierten Diabetikern wurde
die Kohlenhydratzufuhr massiv
eingeschränkt, bei Vorliegen einer
Azidose verschrieb er Natriumbikarbonat. Wenn die Glykosurie
durch die Kohlenhydrateinschränkung nicht verschwand, wurde
die Proteinzufuhr auf 40–50 g
täglich reduziert, mit der Folge
einer weiteren Reduktion der Energiezufuhr. Bei einer über 3 Wochen anhaltenden Gewichtsabnahme wurden der Diät wieder
Kohlenhydrate zugegeben, auch
wenn die Glykosurie persistierte.
Eine gegensätzliche diätetische
Richtung ging von der Vorstellung
aus, daß nicht die absolute Harnzuckerfreiheit, sondern die höchstmögliche Glukose-Assimilation
das entscheidende Ziel der diätetischen Diabetesbehandlung sein
müsse (G. Rosenfeld, 1910). Zudem wurde erkannt, daß bei höherer Kohlenhydratzufuhr die
Kohlenhydrattoleranz ansteigt.
Entsprechend dieser Vorstellungen wurden viele kohlenhydratreiche Kostformen entwickelt,
von denen aber erst die Haferkur
von Carl von Noorden (1858–
1944) größere Resonanz als
antiketogene Kost fand. Andere
deutsche Diabetologen zeigten,
daß dieser Effekt nicht haferspezifisch ist, sondern auch anderen Kohlenhydraten, wie z. B.
Obst zukommt. Noorden erforschte Magen-Darm-Krankheiten und die Zuckerkrankheit und
begründete die Diätetik als Wissenschaft. Weil er als Ursache des
Diabetes eine vermehrte Zuckerbildung der Leber sah, verschrieb
er vor allem kohlenhydratarme
Diäten. Die von ihm als Wechselkost bezeichnete Diätform beinhaltete zwei kohlenhydratfreie
Tage pro Woche, an denen er 120
Gramm Kognak zusätzlich ver-
Am konsequentesten wurde diese
Richtung der kohlenhydrat- und
eiweißarmen, fettreichen Diabetesdiät durch das Verfahren von
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GESCHICHTE DER
ERNÄHRUNGSTHERAPIE DES
DIABETES
MELLITUS
schrieb. Häufig wurde an zwei
Tagen der Woche nur Gemüse
ohne Insulingabe verordnet.
Gegen Ende des 19. und Anfangs
des 20. Jahrhunderts experimentierte Frederick M. Allen am
Rockefeller Institut für medizinische Forschung mit diabetischen
Hunden. Die sorgsam durchgeführten Studien zeigten, daß Diabetes eine Störung des gesamten
Stoffwechsels ist, und nicht eine
Störung der Glukoseverwertung
alleine darstellt. Mit einer Reduktion der gesamten Nahrungszufuhr konnte eine deutliche Verbesserung des Diabetes erreicht
werden. In den darauffolgenden
Jahren untersuchte Allen mit seinen Mitarbeitern dieses Prinzip
der Einschränkung der gesamten
Nahrungszufuhr an diabetischen
Patienten. Die Ergebnisse wurden
1917 in dem herausragenden
Buch „Total dietary regulation in
the treatment of diabetes“ von
den Autoren Frederick M. Allen,
E. Stillman und R. Fritz niedergeschrieben. Seither ist bekannt,
daß Diabetes keineswegs eine
ausschließliche Störung des
Kohlenhydratstoffwechsels, sondern eine komplizierte metabolische Erkrankung darstellt.
NACH DER EINFÜHRUNG DES
INSULINS
Im Jahre 1921 gelang es Frederik
Grant Banting (1891–1941) und
Charles Herbert Best (1899–1978)
im Laboratorium von John James
Richard McLeod (1876–1935)
Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden zu isolieren.
Schon ein Jahr später stand dieses
Hormon der Medizin als lebensrettendes Medikament zur Verfü-
26
J. ERNÄHRUNGSMED. 3/2000
gung. Nach der Einführung des
Insulins verloren alle diese Kostformen an Bedeutung. Geblieben
ist die Einsicht, daß streng kohlenhydratarme Diäten nicht erforderlich sind und relativ kohlenhydratreiche Kostformen, eventuell unter Insulinabdeckung, gut toleriert
werden.
Der größte Einfluß auf die Therapie des Diabetes, nicht nur in
Amerika, sondern weltweit ging
über Jahrzehnte von Elliot P. Joslin
(1870–1963) aus. Sein Buch
„ Treatment of Diabetes Mellitus“,
das umfangreiche Kapitel zur
Ernährungstherapie enthält, wurde im Jahr 1971 in der 11. Edition
zum letzten Mal herausgegeben.
In seine Empfehlungen sind auch
die Erkenntnisse des erhöhten
Risikos an vaskulären Erkrankungen durch vermehrten Fettkonsum
(vor allem gesättigte Fettsäuren)
eingegangen.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde
dem Fett als potentiell atherogenem Nährstoff besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Zur Prävention chronischer Gefäßschäden wurde eine streng fettarme
Diabeteskost empfohlen.
In den letzten Jahrzehnten wurde
die prozentuelle Verteilung der
Hauptnährstoffe immer wieder
verändert. Die Empfehlung von
40 Energieprozent Kohlenhydrate
wurde in den späten 80er Jahren
auf bis zu 60 Energieprozent gesteigert. Daraus resultierende erhöhte Triglyzeridwerte ließen die
Empfehlung wieder auf 50 % zurückgehen.
Die derzeit gültige Verteilung der
Hauptnährstoffe bietet einen großen Akzeptanzbereich, der einerseits die individuelle Beratung
erleichtert, der es andererseits
jedoch notwendig macht, gewisse
Grundregeln im Maximum- und
Minimumbereich unbedingt zu
beachten. So sind die heute gültigen Empfehlungen der Kohlenhydratzufuhr von 45–60 % nur
unter Beachtung des Glykämischen Index sinnvoll. Dieser wurde von Jenkins im Jahr 1981 eingeführt, um die unterschiedlichen
Resorptionsgeschwindigkeiten
verschiedener Kohlenhydrate zu
beachten.
Besonderes Augenmerk wird in
den gültigen Empfehlungen auf
die Höhe der Fettzufuhr gelegt.
Diese sollte 25–35 % nicht überschreiten, wobei besonders der
Anteil an gesättigten Fettsäuren
nicht mehr als 10 Energieprozent
ausmachen darf.
Die große Bandbreite der heute
empfohlenen Nahrungszusammensetzung läßt in naher Zukunft
keine wesentlichen Änderungen
erwarten. Der von der Ernährungsindustrie propagierte Einsatz von
sogenanntem „Functional Food“,
das mit Inhaltsstoffen je nach Bedarf angereichert ist, wird gegenüber einer fettarmen, an Obst und
Gemüse reichen Ernährungsform
keine Vorteile bringen. Der Genuß und die Akzeptanz werden
auch in Zukunft bei allen Ernährungsvorschriften im Vordergrund
stehen.
Korrespondenzadresse:
Claus Holler
Ludwig Boltzmann-Institut für
Stoffwechselerkrankungen und
Ernährung (Leiter: Univ.-Prof.
Dr. Karl Irsigler)
Krankenhaus Lainz
1130 Wien, Wolkersbergenstr. 1,
Pav. IX b
E-mail: [email protected]
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