Quelle Ressort Copyright Süddeutsche Zeitung vom 13.12.2006, Seite 16 Wissen SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München Die unsichtbare Masse Tief in der Erdkruste leben rätselhafte Mikroben - Wesen wie von einem fremden Planeten "Hinter unserer Erforschung der Tiefe steht die Idee, nach dem Beginn des Lebens zu suchen", sagt Johanna Lippmann-Pipke vom Geoforschungszentrum in Potsdam. Die Physikerin ist Mitglied eines internationalen Forscherteams, das Mikroorganismen in 2,8 Kilometer Tiefe in einer Goldmine in Südafrika entdeckt hat. "In so großer Tiefe finden wir ähnliche Bedingungen wie auf der Erde vor vielen Millionen Jahren: Es ist warm, es gibt weder Licht noch Sauerstoff und kaum organisches Material", sagt Lippmann-Pipke. Ideale Bedingungen also, um zu klären, wie frühes Leben funktioniert haben könnte. Im Fachmagazin Science (Bd. 314, S. 479, 2006) berichteten die Forscher im Oktober über die lebenden Funde aus der Tiefe. "Im Reagenzglas haben wir schon vor der Entdeckung dieser Mikroorganismen simulieren können, dass Stoffwechselvorgänge ohne Licht, Sauerstoff und organisches Material möglich sind", sagt Johanna Lippmann-Pipke. "Jetzt aber haben wir den Ort gefunden, wo das tatsächlich passiert." Die Mikroben aus der Tiefe verwenden für ihren Stoffwechsel alles, was ihr karger Lebensraum hergibt: Sulfat, winzige Wassertröpfchen im Gestein und radioaktive Strahlung. Natürlich vorkommende radioaktive Elemente wie Uran, Kalium oder Thorium senden hochenergetische Gammastrahlung aus. Die Strahlen lösen aus den gering vorhandenen Wassermengen Wasserstoff - den nutzen die Mikroben als Energiequelle zum Überleben. Johanna Lippmann-Pipke war für die Altersbestimmung des Wassers zuständig, in dem die Keime leben. "In dem Wasser mischen sich jüngere und ältere Komponenten - einige waren vor Millionen von Jahren Niederschlagswasser, andere sind so alt wie die Gesteine selbst", so die Physikerin. "Das Wasser, in dem die Keime leben, hatte seit etwa 15 bis 20 Millionen Jahren keinen Kontakt mehr mit der oberirdischen Welt."Seitdem sind die Mikroben abgeschnitten vom Rest des Lebens. Erst in den vergangenen Jahren begannen Wissenschaftler, Mikroorganismen aus dem Erdinneren an die Oberfläche zu holen und zu erforschen. Sie fanden nicht nur Bakterien, sondern auch Archaeen - einzellige Lebewesen, die dafür bekannt sind, dass sie extreme Lebensbedingungen aushalten. Seit wenigen Jahren weiß man, dass ein Kubikzentimeter Sedimentgestein aus 1000 Metern Tiefe bis zu zehn Milliarden Zellen enthalten kann. William Whitman von der University of Georgia nutzte diese Zahl 1998 für eine Hochrechnung. Demzufolge machen die unterirdischen mikrobiellen Lebensformen 30 Prozent der gesamten Biomasse des Planeten aus. Betrachtet man die Mikroben als Lebensform isoliert, dann lässt sich sogar sagen, dass im Sediment mehr Leben existiert als oberhalb des Erdbodens: Die Mikroorganismen aus der Tiefe bilden 55 bis 85 Prozent der mikrobiellen Biomasse des Planeten. Whitmans spektakulären Rechenergebnissen folgten mehrere Expeditionen mit dem Ziel, die unbekannten Lebenswelten im Erdinneren zu erkunden. Nicht nur im Sediment der Kontinentalflächen, auch bis zu 1000 Meter unterhalb des Meeresbodens fanden Forschungsteams bereits Bakterien und Archaeen. Zuletzt bohrte ein Team aus Mikrobiologen und Geochemikern westlich und südöstlich der Galapagos-Inseln sowie im Perugraben nach Gesteinsproben. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler Anfang dieses Jahres in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS, Bd. 103, S. 2815 und S. 3846, 2006). Nachkommen alle 1000 Jahre "Das Forschungsgebiet, das sich mit den Bakterien und Archaeen aus tiefen Gesteinsschichten unterhalb des Meeres beschäftigt, ist noch sehr jung", sagt Bo Barker Jørgensen vom MaxPlanck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen. Vor nicht einmal 20 Jahren haben Wissenschaftler die ersten Mikroorganismen aus Proben isoliert, die Spezialbohrer aus der Erdkruste unterhalb des Meeresbodens herausgefräst hatten. Die Forscher waren derart verwundert, dass sie anfangs vermuteten, die Proben wären nachträglich mit den Mikroorganismen kontaminiert worden. Verschiedene Tests bewiesen jedoch, dass die Kleinstlebewesen tatsächlich aus den Gesteinsproben und nicht etwa aus dem Meerwasser stammten.Sie können ohne Sauerstoff leben, halten starken Druck aus und tolerieren hohe Salzgehalte. Die Wissenschaftler analysierten außerdem die Zusammensetzung der aus der Tiefe an Bord geholten Mikrobengemeinschaften. Einige Gruppen traten demnach nur in Schichten auf, in denen Methanhydrat vorkam, eine brennbare, schneeartige Masse aus Wassermolekülen und Methan. In PNAS folgern die Forscher, dass die Bakterien und Archaeen die Methanvorkommen für ihren Energiestoffwechsel einsetzen. Sie schließen aber auch nicht aus, dass einige Arten selbst an der Bildung des Methans beteiligt sind. Zurzeit ist die Biologie der Mikroben aus dem Erdinneren noch längst nicht abschließend aufgeklärt. "Es war ein langer Prozess, bis wir plötzlich erkannten, dass ein großer Teil des Lebens sich dort unten abspielt", sagt Jørgensen. "Wir stehen noch ganz am Anfang." Alle in der Tiefe lebenden Mikroben, ob unter dem Meer oder unter Kontinentalflächen, geben den Forschern weiterhin Rätsel auf. Eins davon ist ihre geringe Vermehrungsrate. Denn die Mikroben zahlen einen hohen Preis für die Wahl ihres unwirtlichen Wohnortes: Weil sie sehr viel weniger Energie als Keime im Meer oder auf der Erdoberfläche zur Verfügung haben, können sie sich nur langsam vermehren. Ihre Generationszeit, also die Zeit, in der sich ihre Population zahlenmäßig verdoppelt, beträgt mehr als 1000 Jahre. Die Forscher versuchten dieses extrem langsame Wachstum zunächst damit zu erklären, dass ein großer Teil der Zellen möglicherweise zu Beginn der Beobachtung schon tot war. Doch Untersuchungen zeigten, dass die meisten der Mikroorganismen lebten. "Eine so langsame Vermehrung rüttelt an unseren Grundvorstellungen von Leben", sagt Kai-Uwe Hinrichs von der Universität Bremen, der an den Bohrungen vor der Küste Perus teilnahm. Derzeit wird das Erbmaterial der rätselhaften Mikroben aufgeschlüsselt. Die Wissenschaftler erhoffen sich Infor- 187 mationen über die Stammesgeschichte und mögliche Verwandtschaften zu Keimen, die an der Oberfläche leben. "Die Keime sind wohl vor Millionen von Jahren verschüttet und von anderen Populationen getrennt worden", sagt Jørgensen. Die Entdeckungen in der Tiefe stimulieren nicht zuletzt Spekulationen über Leben auf anderen Planeten. "Auch im Inneren des Planeten Mars gibt es Wasser und radioaktiv strahlende Elemente", sagt Jørgensen. "Hier verbergen sich eben solche Energiequellen für primitive Lebewesen wie in den unerforschten Tiefen der Erde." Auch auf der Erde stehe der Forschung an den vergrabenen Organismen eine große Zukunft bevor, glaubt Kai-Uwe Hinrichs. "Das ist eine neue Biosphäre, die wir nicht kennen, und sie ist leichter zugänglich als extraterrestrische Gebiete". Der Wissen- schaftler ist sich sicher: "In zehn Jahren werden wir ein anderes Bild von mikrobiellem Leben auf der Erde haben." CHRISTINA HUCKLENBROICH 188