„Purer Zucker, lecker!“

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Nummer 85 • Donnerstag, 12. April 2012
Wissenswert
Kompakt
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Haus-Rat
Crash-Test
Durch-Klick
Recht-Eck
Schlag-Wort
Stil-Leben
Halter haften
für ihre Tiere
Gehört der Schuhschrank in den Hausflur? Was umfasst „all-inclusive“? Ist
es erlaubt, im ungesicherten Netz des
Nachbarn zu surfen? Anke Haug vom
Anwaltverein Stuttgart klärt alltägliche
Rechtsfragen und aktuelle Urteile.
Hundehalter haften grundsätzlich auch
ohneeigenesVerschuldenfüralleSchäden,
die ihr Tier verursacht. Das entschied das
Landgericht Coburg: Stürzt jemand, weil
er sich durch das Verhalten eines Hundes
erschrocken habe, müsse der Tierhalter bei
Verletzungen den Schaden tragen, so die
Richter.
In dem beklagten Fall hatte im Mai 2010
eine Hundebesitzerin ihren Dackelmischling mit Hilfe der Freilaufleine an einem
Zaunpfosten vor einem Gemüseladen angebunden.AlseinePassantinandemHund
vorbeilaufen wollte, sprang der Hund auf
sie zu und bellte sie an. Diese wich aus
Schreck einen Schritt zurück und stürzte
dabei zu Boden. Dabei brach sie sich einen
Lendenwirbel sowie das linke Handgelenk. Ihre Krankenversicherung klagte
gegen die Hundehalterin auf Ersatz der
Behandlungskosten in Höhe von über 6500
Euro.MitErfolg.DieHundehalterinmusste die Behandlungskosten bezahlen. Für
das Landgericht Coburg lag es auf der
Hand, dass Knurren, Bellen und Auf-Menschen-Zulaufen ein typisches Tierverhalten sei. Das Zurückweichen der Frau und
ihren Sturz sah das Gericht als logische
FolgedervomTierausgehendenGefahran.
Ein Mitverschulden der Gestürzten
konnte das Gericht nicht erkennen. Das
plötzliche Aufspringen des Hundes sei für
die Geschädigte nicht vorhersehbar gewesen, so das Gericht. Wegen der verschuldensunabhängigen Tierhalterhaftung ist
esdaherwichtig,eineHaftpflichtversicherung abzuschließen.
Surf-Tipp
Lehrstellen auf Abruf
Die Industrie- und Handelskammern
(IHK) bieten gemeinsam eine bundesweite Lehrstellenbörse im Internet an. Unter
„ihk-lehrstellenboerse.de“ können angehende Azubis entweder ihren gewünschten Lehrberuf eingeben oder nach allen
Angeboten suchen. Die Ergebnisse lassen
sich anhand eines Umkreises, des geforderten Schulabschlusses oder des Ausbildungsbeginns eingrenzen. Wer sich registriert, kann sich die neuesten Lehrstellenangebote, zuschicken lassen. (dpa)
www.ihk-lehrstellenboerse.de
Zahl des Tages
4
Millionen Jahre alte Bakterien, die bislang vollkommen isoliert in den Tiefen
unterirdischer Höhlen leben, besitzen
Werkzeuge, mit denen sie Antibiotika
unschädlich machen können. Das haben
US-amerikanische und kanadische Forscher in New Mexico entdeckt. Der Fund
helfe zum einen, zu verstehen, wie diese
Resistenzen entstehen und sich ausbreiten, sagt das Team. Zum anderen deute er
auch darauf hin, dass es eine Fülle von
bisher unbekannten antibiotisch wirkenden Substanzen in der Natur gibt. (dpa)
Kontakt
Fotos: Kovalenko
Von Anke Haug
Wenn Joel, 9, einen Tag für sich selbst sorgen müsste, würde er
Folgendes essen:
Yuniery, 9, kauft regelmäßig für ihre Familie ein. Für den Tag allein
zu Hause braucht sie dies:
Im Ernährungsprojekt in der Schule hat Nana gelernt, dass zu viel
Zucker schlecht und Vitamine gut sind. Sein Einkauf:
Morgens: Cornflakes mit Milch
Mittags: Maultaschen
Nachmittags: Eis und Äpfel
Abends: Toast mit Margarine und Salami, dazu Bananen-Kaba
Morgens: Studentenfutter und Milch
Mittags: Chili con Carne aus der Dose, danach Spaghetti-Eis mit
frischen Himbeeren
Nachmittags: Teewurst, Apfel, Meringen
Abends: Spaghetti mit Fertig-Tomatensoße für Kinder und Lauch,
dazu Radieschen, Karotten und Tomaten, als Nachtisch Erdbeeren
und Pfirsich
Morgens: Cornflakes mit Milch, Toast mit Marmelade, Kaba
Mittags: Currywurst, als Nachtisch Eis
Abends: Eis
„Purer Zucker, lecker!“
Eine Ernährungswissenschaftlerin und ein Experte für Werbung beurteilen den Lebensmitteleinkauf von Kindern
Immer mehr Kinder sind zu dick. Schuld
daran ist laut der Verbraucherorganisation Foodwatch die Lebensmittelindustrie mit Werbung und Produkten, die
sich extra an Kinder richten. Aber sind
diese wirklich so beeinflussbar? Wir
haben drei Grundschüler allein zum
Einkaufen geschickt.
sucht und Nana noch gar nicht weiß, woraus
ihre weiteren Mahlzeiten bestehen könnten,
steht Yuniery längst ungeduldig wartend an
der Kasse. „Ich gehe oft für meine Familie
einkaufen, ich kenn’ das alles schon.“ Dann
aber entdecken ihre Augen das Süßigkeitenregal, und sie schleppt eine Packung Meringen an. „Purer Zucker, lecker.“
Die Ernährungs-Expertin
Von Sandra Markert
STUTTGART. Unter einem glitzernden Milchstrahl ballt ein kraftstrotzender Tiger seine
Faust. Über ihm schlüpft eine flotte Biene
durch eine Honigwabe. Und daneben prasselt ein Cornflakes-Regen auf einen Affen.
Was dieser unglaublich komisch findet. Die
bunteWandausFrühstücksflockenziehtNana, 9, sofort in ihren Bann. Zumal die Verpackungen voll sind mit lustigen Comics, kleinenRätselnundFotosbekannterSportler.Im
blauen Einkaufskorb landet dann aber doch
ein Produkt ohne Comic-Aufdruck. „Das ist
günstiger als die anderen.“
Joel, ebenfalls 9, steht ein Regal weiter vor
einer ähnlich bunten Wand. Er sucht nach
KabaundfindeteinProdukt,aufdemderComic-Hase verspricht: extra Vitamine und zuckerreduziert. „Wir haben in der Schule gerade über Ernährung gesprochen, das ist beides gesund.“ Stolz legt er den Einkauf in den
Korb. „Jetzt brauch’ ich nur noch Milch.“
Orientierungslos flitzt er durch den Laden.
Deutlich zielstrebiger geht Yuniery die
Aufgabean.WiediebeidenJungssollauchsie
sich vorstellen, sie wäre einen Tag allein zu
Hause, und es gäbe dort nichts mehr zu essen.
„Dann bräuchte ich Frühstück, Mittagessen,
was für zwischendurch und für den Abend.“
Schnell füllt sich der Einkaufskorb mit
Studentenfutter, Milch, Spaghetti, Bio-Tomatensoße für Kinder, Eis, Erdbeeren, Lauch
und Bio-Tomaten. „Obst und Gemüse sind
gesund, haben viele Vitamine und geben
Kraft. Und Bio kaufen wir immer, weil da besonders viele gute Stoffe drin sind.“
WährendJoelverzweifeltnachderpassenden Wurst zur fertig verpackten Currysoße
„Kinderlebensmittel, die viel
Zucker und Fett enthalten, sind
nicht kindgerecht“
Christiane Manthey
Ernährungswissenschaftlerin
Diese weißen Zuckerbomben sind es, wegen
denen Christiane Manthey später lachend
den Kopf schüttelt. „Damit macht sie natürlich ihre ansonsten recht ausgewogene Ernährung wieder zunichte“, sagt die Ernährungswissenschaftlerin von der Verbraucherzentrale
Baden-Württemberg.
An
Yunierys anderen Einkäufen hat sie aber wenig auszusetzen. „Sie hat viel Obst und Gemüse gekauft, und das Chili con Carne hat
wegen der Hülsenfrüchte viele Ballaststoffe.“ Nur Geschmacksverstärker und Zucker
auf der Zutatenliste des Fertiggerichts stören
sie. „Selbst gekocht wäre es noch besser.“
Das gilt auch für die fertige Tomatensoße,
für die sich Yuniery entschieden hat, weil sie
mit dem lustigen Bärchen „extra für Kinder
ist“. Bio-Kids steht mit bunten Buchstaben
auf dem Glas, darunter der Zusatz „vegan,
gluten- und laktosefrei und extra mild“.
„Totaler Quatsch, da wird mit einer Selbstverständlichkeit geworben“, sagt Christiane
Manthey. Da man Tomatensoße weder mit
Weizenmehl andickt noch mit Milch anrührt,
kann sie auch kein Gluten und keine Laktose
enthalten. „Mild wird die Soße dadurch, dass
ihr Apfeldicksaft zugesetzt wird und damit
unnötiger Zucker.“ Unnötig sind ihrer Meinung nach ohnehin die meisten Kinderlebensmittel. „Enthalten sie dann noch viel
Zucker und Fett, sind sie auch nicht kindgerecht.“
Denn beim Blick auf den Einkauf der beiden Jungs fällt ihr sofort auf, dass beide sehr
zucker- und fetthaltig eingekauft haben.
„Das ist bei der Ernährung vieler Kinder ein
Problem.“ So kommt Nana mit Cornflakes,
Marmeladentoast und Kaba zum Frühstück
bereits auf die Zuckermenge, die ihrer Tagesration entsprechen – ohne ein Stück Obst und
damit Fruchtzucker gegessen zu haben.
„Mehr als 40 Gramm Zucker sollten es bei
einem Kind in diesem Alter nicht sein.“
Auch das zuckerreduzierte Kakaogetränk
vonJoelkannsiemitBlickaufdieZutatenliste nicht überzeugen. „Da wurde der
Haushaltszucker einfach durch Maltodextrin ersetzt. Vom Energiegehalt ist das aber
gleich.“ Kritisch sieht sie auch den Zusatz
von Vitaminen im Kaba-Pulver. „Statt solcher angereicherter Lebensmittel sollten
Kinder lieber Obst essen.“
Damit die beiden Jungs auf fünf Kinderhände Obst und Gemüse pro Tag kommen,
würde sie damit schon beim Frühstück anfangen – und die Cornflakes wegen des Zuckers und der fehlenden Pflanzenfette, wie
sie beispielsweise in Nüssen stecken, durch
Müsli ersetzen. „Das kann man auch ein wenig in der Pfanne rösten, dann knuspern sie
auch so schön wie Cornflakes.“
Der Werbe-Fachmann
„Die emotionalen Reaktionen im
Gehirn setzen beim Einkauf das
rationale Denken außer Kraft“
Andreas Baetzgen
Professor für Werbung
Auch Andreas Baetzgen greift gleich zu den
beiden Cornflakes-Verpackungen. Er interessiert sich aber weder für die hohe Zuckermenge noch für die zugesetzten Vitamine.
Zumindest nicht auf den ersten Blick. Denn
dieser, weiß der Professor für Werbung und
Marktkommunikation an der Hochschule
derMedieninStuttgart,bleibtandenComicBärchen und -Bienchen hängen.
„Über die Messung des Blickverhaltens
weiß man, dass unser Gehirn beim Einkauf
stark auf emotionale Botschaften anspringt
und auf positive Belohnungen, die man sich
vom Kauf verspricht.“ Bewusst ist das dem
Käufer meist nicht, denn 95 Prozent der
Kaufentscheidungen laufen implizit ab.
Auch die kurzen Werbebotschaften wie
„zuckerreduziert“ oder „extra Vitamine“,
auf die der zweite Blick fällt, werden im
Gehirn nicht rational verarbeitet. „Die
emotionalen Reaktionen im Gehirn setzen
beim Einkauf das rationale Denken außer
Kraft“, sagt Baetzgen.
Bei Kindern werden solche Reaktionen
über lustige Comic-Figuren, erfolgreiche
Sportler oder Bilder von glücklichen Familien
erzeugt. Für Erwachsene sind es dann eher der
gesund aussehende Milchstrahl, ein schlankes
Model oder regional verwurzelte Lebensmittel. Und Botschaften, die das Gewissen beruhigen, wie die „Extraportion Milch“.
Sie stehen häufig auf Süßigkeiten, Cornflakes oder Puddings, die sich vor allem an
Kinder richten. „Da letztlich die Eltern ihren
Kinder die Produkte kaufen, bauen die Hersteller ihnen mit solchen Botschaften eine
Brücke. Eltern wollen das Kind ja nicht nur
glücklich machen, sondern ihm auch etwas
Gutes tun.“
Dass die Kinder sowohl bei den Cornflakes
als auch beim Kaba zu bekannten Marken wie
Kellogs und Nesquik gegriffen haben, wundert Baetzgen nicht. „Über stark emotionale
Werbung, Spielzeug oder Sammelanreize wie
Prämienpunkte schaffen es solche Hersteller,
sich schon bei Kindern als Marktführer zu
etablieren.“ Die Strategie dahinter: Haben
Kinder die Marke einmal als positiv abgespeichert, werden sie auch noch als kaufkräftige,
erwachsene Konsumenten dazu greifen.
„Schließlich wecken sie damit schöne Erinnerungen aus der Kindheit.“
Und sie erleichtern das Einkaufen: „Selbst
ein kritischer Konsument hat gar nicht die
Zeit, jedes Produkt fünfmal zu prüfen, bevor
er es in den Wagen legt. Markennamen,
BiosiegeloderemotionaleBotschaftengeben
da Orientierung.“
Hintergrund
Lebensmittel und Werbung für Kinder
Sandra Markert
Regine Warth
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www.stuttgarter-nachrichten.de/wissen
¡ Die Verbraucherorganisation Foodwatch hat
Anfang des Jahres 1500 Lebensmittel untersucht, die sich durch Bezeichnung („für
Kinder“), Aufmachung (Comic-Figuren,
Spielzeug-Beigaben) oder Aktionen (Online-Spiele) gezielt an Kinder richten. Das
Ergebnis: Aus Kinderlebensmitteln wie
Bio-Knuspermüsli, Bärchenwurst,
Schlumpfsuppe oder Fruchtzwergen können sich Kinder nicht ausgewogen ernähren, weil sie meist zu süß oder zu fettig
sind.
¡ Die Verbraucherzentrale Bundesverband hat
2011 eine Umfrage zu Kinderlebensmitteln
gemacht. Danach gehen 40 Prozent der Verbraucher davon aus, dass solche Kinderprodukte bei Zucker-, Fett- und Salzgehalt an die
Bedürfnisse von Kindern angepasst sind.
Rechtlich aber sind Kinderlebensmittel nicht
definiert. Inhaltlich müssen sie sich also nicht
von normalen Lebensmitteln unterscheiden,
sie werden nur anders verpackt. Nur für Lebensmittel, die sich an Ein- bis Dreijährige
richten, gelten besondere Anforderungen.
¡ Allein mit Wurstwaren für Kinder haben die
Hersteller laut des Meinungsforschungsinstituts GfK im Jahr 2011 ein Umsatzplus von 13
Prozent gemacht. Bei stark beworbenem
Kinderpudding kam es ebenfalls zu einem
zweistelligen Umsatzplus.
¡ 2010 wurden 3,24 Milliarden Euro für Lebensmittelwerbung ausgegeben, der größte Anteil floss mit 720 Millionen Euro in Süßigkeiten. Gleichzeitig gibt es seit 2009 eine Selbstverpflichtung der Lebensmittelindustrie,
Kinder unter zwölf Jahren vor Werbung zu
schützen – vor allem wenn die Produkte ein
ungünstiges Nährwertprofil haben.
¡ Aber: Kinder lernen schnell, sind unkritischer
als Erwachsene und geben 60 Prozent ihres
Taschengeldes für Süßigkeiten aus (Kids-Verbraucher-Analyse 2010). Sie sind also eine
interessante Zielgruppe. Und so hat die Zahl
solcher Werbespots im Fernsehen nach einer
Untersuchung der Universität Hamburg seit
2009 nicht ab-, sondern zugenommen. (mar)
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