Chang Oh Cho Die melancholische Verfassung der Moderne und

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Chang Oh Cho
Die melancholische Verfassung der Moderne und das Symbol
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Studien und Editionen zum deutschen Idealismus
und zur Frühromantik
Herausgegeben von Christoph Jamme und Klaus Vieweg
Abteilung II – Studien
Band 12
2014
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Chang Oh Cho
Die melancholische
Verfassung der Moderne
und das Symbol
Hegels Bestimmung
der modernen Tragödie
Wilhelm Fink
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Umschlagabbildung:
Jena – Blick vom Philosophengang (um 1810)
kolorierte Radierung von F. W., Stadtmuseum Jena
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© 2014 Wilhelm Fink, Paderborn
Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5771-4
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VORWORT
Die vorliegende Arbeit ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner im
Sommersemester 2013 an der Fakultät I Bildungs-, Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Lüneburg angenommenen Dissertation. Die
Gutachten wurden von Prof. Dr. Christoph Jamme, Prof. Dr. Ulrike Steierwald und PD. Dr. Michael Städtler erstellt, denen ich für die Betreuung
und Förderung meiner Arbeit ganz besonders danken möchte.
Mein herzlicher Dank gilt zudem der Leuphana Uni Lüneburg. Die
Arbeit an der Dissertation wurde mir durch ein mehrjähriges Promotionsstipendium ermöglicht. Ohne diese großzügige Unterstützung läge diese
Arbeit heute nicht vor.
Ebenfalls danken möchte ich Frau Margarete Andersson und Theresa
Fehlner, die meine Arbeit unterstützt haben.
Auch möchte ich mich für die Unterstützung meiner Eltern und meiner
Schwiegereltern bedanken
Dieses Buch widme ich Geum Ha. Sie hat mein Leben in Deutschland
sehr bereichert und stand mir jederzeit vertrauensvoll und liebevoll bei.
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INHALT
1. EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1. Der aktuelle Diskurs über Hegels Ästhetik
im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2. Die Rehabilitierung von Hegels Bestimmung
der modernen Tragödie im Rahmen des aktuellen
Diskurses über Hegels Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3. Die Interpretationsgeschichte von Hegels Bestimmung
der modernen Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4. Überblick der Dissertation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. TRAGÖDIE ALS EIN PHILOSOPHISCHES THEMA . . . . . . . . . . . . . .
2.1. Frage nach dem Problem der Tragödie in der Moderne . . .
2.2. Nietzsche und die Philosophie des Tragischen . . . . . . . . .
2.3. Kants Aporie als der Ausgangspunkt
der Theorie der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4. Das Tragische als Sinn der intellektuellen Anschauung . . .
2.5. Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5.1. Das Absolute und die intellektuelle Anschauung . . .
2.5.2. Neue Lektüre der Kritik der reinen Vernunft . . . . .
2.5.3. Option für den Kritizismus. . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5.4. Die Tragödie als „Lehrerin der Menschheit“ . . . . .
2.5.5. Die Kritik der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.6. Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.6.1. Das Problem der intellektuellen Anschauung . . . .
2.6.2. Einführung der Konzeption der Tragödie . . . . . . .
2.6.3. Der tragische Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.7. Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.7.1. Die Tragödienkonzeption in Bern . . . . . . . . . . . . .
2.7.2. Die Tragödienkonzeption in Frankfurt . . . . . . . . .
3. DIE PHILOSOPHIE DER TRAGÖDIE
UND DIE MODERNE TRAGÖDIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1. „Tragödie im Sittlichen“ – Eine hermeneutische
Konzeption der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.1. Kunst und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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INHALT
3.1.2. Die negative Dialektik oder das tragische Denken . . .
3.1.3. Die „Tragödie im Sittlichen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.3.1. Die metaphysische Konzeption der
tragischen Bewegung des Absoluten und
ihre geschichtliche Realisierung. . . . . . . .
3.1.3.2. Lektüre der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.3.3. Der Begriff der Strafe . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.3.4. Die drei Schichten
der Tragödienlektüre . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.3.5. Die Unterscheidung der Tragödie von
der Philosophie der Tragödie: das Problem
der modernen Tragödie . . . . . . . . . . . . . .
3.2. Die Melancholie und das Problem
der modernen Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1. Die Reflexion über die melancholische Verfassung
der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2. Die Interpretation von Wallenstein . . . . . . . . . . . .
3.2.2.1. Die Grundstruktur von Wallenstein . . . . .
3.2.2.2. Die Moderne als melancholische
Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2.3. Melancholie als die Quelle des Tragischen
in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2.4. Der Sinn der Melancholie . . . . . . . . . . . .
4. DER BEGRIFF DER TRAGÖDIE IN DER PHÄNOMENOLOGIE
DES GEISTES . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1. „Die sittliche Welt“ als der Boden
für die tragische Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2. Die antike Tragödie als die Repräsentation
der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.1. Die Tragödie als die notwendige Kollision
der Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.2. Die tragische Handlungsweise . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.3. Die Sittlichkeit als die Lösung des tragischen
Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.4. Die Kritik der Identität der Sittlichkeit
und der Tragödie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3. Der Untergang der Sittlichkeit und
die natürliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.1. Antigone als die erste Gestalt der reinen
natürlichen Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4.3.2. Die Bestimmung der natürlichen Macht
im Verhältnis mit der griechischen Sittlichkeit . . . 148
Exkurs: Die „Bildung“ des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
5. DER VERGANGENHEITSCHARAKTER DER KUNST . . . . . . . . . . . .
5.1. Der Vergangenheitscharakter der Kunst in der Moderne
und die romantische Kunstform . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1.1. Der Vergangenheitscharakter der Kunst . . . . . . . .
5.1.2. Die Diskussion um das „Ende der Kunst“ . . . . . . .
5.1.3. Die Eigenständigkeit der modernen Kunst . . . . . .
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6. DIE BESTIMMUNG DER MODERNEN TRAGÖDIE BEI HEGEL . . . .
6.1. Reflexionen über die Möglichkeit
der modernen Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2. Die ästhetische Authentizität als die Quelle
der ästhetischen Tragik in der Moderne . . . . . . . . . . . . . .
6.2.1. Die ethische Tragik in der Moderne . . . . . . . . . . .
6.2.2. Die ästhetische Anerkennung bzw. Authentizität .
6.3. Die ästhetische Tragik in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . .
6.3.1. Der Vergleich des Handlungsbegriffs
in den Berliner Ästhetikvorlesungen mit dem
in der Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4. Die Bestimmung der modernen Tragödie. . . . . . . . . . . . .
6.4.1. Der Charakter in der modernen Tragödie . . . . . . .
6.4.2. Der Charakter und die Melancholie . . . . . . . . . . .
6.4.3. Die Melancholie und das Böse . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.4. Melancholie und Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.5. Das Symbol bei Hegel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.6. Die symbolische Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.7. Kritik der Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7. AUSBLICK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.1. Der Begriff des Trauerspiels bei Benjamin . . . . . . . . . . . .
7.2. Benjamin und Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.3. Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
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1. EINLEITUNG
1.1. Der aktuelle Diskurs über Hegels Ästhetik
im Allgemeinen
Die Abgrenzung von Hegels eigener Ästhetik von der von Hotho in sie hineingedeuteten Ästhetik durch die Untersuchung neuer Quellen zu Hegels
Ästhetik hat den heutigen Diskurs geschaffen, in dem es darum geht, die
Aufgabe der These von der Identität des Kunstwerks mit dem Staatswerk,
die These vom „Ende der Kunst“ und den Charakter von „Work in Process“
der Systematik von Hegels Ästhetik neu aufzugreifen und zu interpretieren.1
Nach dieser Interpretation verbreitet die durch die von Hotho edierte
Ästhetik eine klassizistische Interpretation von Hegels Ästhetik und spielt
zusammen mit der Hegelschen logisch-dialektischen Systematik eine entscheidende Rolle zur Schwächung der Aktualität von Hegels Ästhetik.
Wenn das Schöne als ein absolutes Kriterium für die Kunstkritik festgesetzt wird, das nur eigentlich für die klassische Kunstform prägend ist und
in dem der Inhalt seine adäquate Form findet, im Gegensatz zum „Symbol“, in dem der Inhalt und die Form geschieden sind, können die symbolische und romantische, in denen das Symbol seine Anwendungssphäre
findet, abgewertet werden, wofür in der von Hotho edierten Ästhetik viele
Beispiele zu finden sind, z. B. die symbolische Kunstform überhaupt,2 die
niederländische Genremalerei3 und nicht zuletzt die moderne Tragödie.
Die klassizistische Abwertung der gegenwärtigen Kunst, da sie nicht mehr
schön ist, zieht Hegels Ästhetik in Zweifel. Aber die historisch-kritische
Arbeit an den Quellen zu Hegels Ästhetikvorlesungen ermöglicht die neue
Interpretation vom „Ende der Kunst“, die nicht zuletzt darauf abzielt, „das
altbekannte Dilemma“ zwischen der in der Enzyklopädie entwickelten Sys1 A. Gethmann-Siefert, Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen
zu Hegels Ästhetik (Hegel-Studien, Beiheft 25), Bonn 1984.
2 J-I, Kwon, Hegels Bestimmung der Kunst. Die Bedeutung der symbolischen Kunstform in Hegels Ästhetik, München 2001.
3 B. Collenberg, „Hegels Konzeption des Kolorits in den Berliner Vorlesungen
über die Philosophie der Kunst“, in: Hegel-Studien, Beiheft 34, hg. von A. Gethmann-Siefert, Bonn 1992. Vgl. Karsten Berr, Hegels Bestimmung des Naturschönen, Saarbrücken 2009.
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EINLEITUNG
tematik und der in den Nachschriften der Ästhetikvorlesungen führenden
phänomenologischen Interessen und der schwankenden Systematik zu lösen.4 Die Lösung liegt darin, den Sinn vom „Ende der Kunst“ durch die
Aktualität der einzelnen Kunsturteile in Hegels Ästhetikvorlesungen erneut zu interpretieren. Die Systematik in den Ästhetikvorlesungen korrigiert sich ständig, anders als sie in der von Hotho edierten Ästhetik durch
die mechanische Anwendung der triadischen Dialektik als festgesetzt erscheint.5 Diese Unabgeschlossenheit der Systematik6 in den Ästhetikvorlesungen7 wird von Hegels Interessen an den vielfältigen einzelnen Kunstwerken hervorgebracht, die der vorherbestimmten Systematik nicht
übergestülpt werden können. Aber Hegel verstärkt trotz seines leidenschaftlichen Interesses gegenüber der modernen bzw. nicht mehr schönen
4 A. Gethmann-Siefert, „Phänomen versus System. Zum Verhältnis von philosophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst“, in: Hegel-Studien, Beiheft 34, 12.
5 Diese Unabgeschlossenheit des Systems in den Ästhetikvorlesungen wird durch
den exemplarischen Vergleich der von Hotho edierten Ästhetik mit den Nachschriften zu Hegels Ästhetikvorlesungen belegt. Z.B. J-I, Kwon, Hegels Bestimmung der Kunst. Die Bedeutung der symbolischen Kunstform in Hegels Ästhetik.
6 Vgl. Logik und Realität. Wie systematisch ist Hegels System? hg. von Chr. Jamme
und Y. Kubo, München 2012.
7 V. Hösle hält Hegels Ästhetik für korrekturbedürftig, da Hegel zu Unrecht die
Kunst abschätzt in dem Sinne, dass die Kunst in seinem System zwar denselben
Gegenstand habe, wie die Religion und die Philosophie, aber wegen ihrer Form
in die Letztere übergehen müsse (V. Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 1988, 600ff.). Er
schlägt vor, durch die vom Begriff des Schönen vermittelte (V. Hösle, a.a.O.
608f.) neue (Re-)Konstruktion der die Einheit von Theorie und Praxis implizierenden Ästhetik von Hegel (V. Hösle, a.a.O. 609) seinen systematischen Theorizismus, der eher der kontemplativen absoluten Subjektivität der Philosophie die
absolute Wahrheitsansprüche als der intersubjektiven Praxis zuschreibe, zu überwinden. Abgesehen davon, ob sein Vorschlag Hegels Philosophie gerecht wird,
muss zuerst geprüft werden, ob seine Deutung von Hegels Ästhetik nach heutiger
Sicht noch akzeptabel ist. Aber der jetzige Diskurs über Hegels Ästhetik entlarvt
den Mangel seiner klassizistischen Interpretation. Er verbindet den Formalisierungstrend der romantischen Kunstformen mit ihrem Verlust der Sittlichkeit,
aus dem er einen Schluss zieht, sie für eine Verfallskunst zu halten (V. Hösle,
a.a.O. 601, Anm. 24). Aber ob diese Verbindung der Sache gerecht wird, muss
geprüft werden. Aber er deutet die vielfältige Möglichkeit der Wahrheitsansprüche der modernen Kunst an, weil die Wahrheitsansprüche der Kunst nicht ausschließend sind, wie die der Religion und der Philosophie (aber es ist irreführend,
dass er den Charakter dieser Wahrheitsansprüche der Kunst ahistorisch zu rechtfertigen versucht).
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EINLEITUNG
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Kunst die These vom „Ende der Kunst“, die er in der Enzyklopädie entwickelt hat, durch die phänomenologischen Betrachtungen über einzelnen
Kunstwerke in seinen Ästhetikvorlesungen. Diese Verstärkung bringt nicht
die klassizistische Interpretation vom „Ende der Kunst“ mit sich, nach
welcher die moderne Kunst, da sie nicht mehr schön ist, ihre eigene Bedeutung verloren hat, im Vergleich zur antiken Kunst und aussichtslos im
Verhältnis zu Religion und Philosophie ist, sondern die Einsicht in die
veränderte soziale Funktion und die neue Gestaltungsmöglichkeit der
Kunst in der Moderne, die nicht mehr schön, sondern hässlich8, erhaben
usw. ist. Die Kunst in der Moderne begnügt sich wegen ihrer sinnlichen
Erkenntnisweise mit der beschränkten Darstellungsmöglichkeit der Wahrheit. Aber diese Beschränkung ermöglicht ihr, vielfältige Gestaltungsmöglichkeit zu gewinnen, mit der die Kunst ihre veränderte Wahrheitsvermittlungsfunktion ausübt. Die moderne Kunst kann nicht mehr eine
vorbildliche Handlungsorientierung geben, die allgemeingültig durchgeführt werden kann, sondern danach strebt, diese zu geben, die aber nicht
mehr allgemein, sondern partiell gültig ist.9 Der Diskurs über die Partikularität der Bedeutung der Kunst in der Moderne bestätigt die deutliche
Beschränkung der Kunst ihrer höchsten Möglichkeit nach und gleichzeitig
eine Erneuerung der Kunst ihrer aktuellen Möglichkeit nach in der Moderne.
Die bisherige Forschung richtet sich nicht zuletzt auf die Abgrenzung
der reinen Ästhetik Hegels von der von Hotho in sie hineingedeuteten
Ästhetik, durch die Hegels Ästhetik in ihrer reinen Version neu rekonstruiert und rehabilitiert wird. Durch die neue Interpretation vom „Ende der
Kunst“ wird die partielle Bedeutung der modernen Kunst in Hegels Ästhetik zugeschrieben. Die Kunst hat ihre Zukunft und ihre eigene Funktion
in der Moderne.
8 F. Iannelli, Das Siegel der Moderne. Hegels Bestimmung des Hässlichen in den Vorlesungen zur Ästhetik und die Rezeption bei den Hegelianern, München 2007.
9 B. Rutter, Hegel on the modern Arts, Cambridge 2010.
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EINLEITUNG
1.2. Die Rehabilitierung von Hegels Bestimmung
der modernen Tragödie im Rahmen des aktuellen
Diskurses über Hegels Ästhetik
Die gegenwärtige Diskussion um Hegels Ästhetik weckt das Bedürfnis
nach der Rehabilitierung von Hegels Bestimmung der modernen Tragödie.
Der Versuch, die moderne Tragödie in den neuen Quellen zu Hegels Ästhetikvorlesungen sachgerecht zu betrachten, die nach der klassizistischen
Interpretation als eine „Verfallskunst“ angesehen wurde, wird im heutigen
Diskussionsrahmen gerechtfertigt. Diese Rehabilitierung erweitert und
konkretisiert den Sinn vom „Ende der Kunst“.
Nach der Enzyklopädie ist die Kunst wegen ihrer sinnlichen Erkenntnisweise in der geschichtlichen Erkenntnis beschränkt. Diese Beschränktheit
der Erkenntnis prägt den Vergangenheitscharakter der Kunst, der die
Schwächung ihrer Leistungsfähigkeit der Wahrheitsvermittlung in der
Moderne mit sich bringt. Die Kunst ist nicht mehr schön und vergangen
nach ihrer höchsten Möglichkeit nach.10
10 „Die schöne Kunst hat ihre Zukunft in der wahrhaften Religion“, da „die Anschauung, das unmittelbare, an Sinnlichkeit gebundene Wissen“ „in das sich in
sich vermittelnde Wissen, in ein Dasein, das selbst das Wissen ist, in das Offenbaren“ übergeht. Dieser Übergang der Kunst in die Religion bzw. Philosophie ergibt sich aus der Beschränktheit des durch die künstlerische sinnliche Form gefassten Inhalts der Idee (GW20, 549). Die Schranke der Wahrheitserkenntnis der
Kunst liegt in ihrer sinnlichen Form. Diese Wahrheitserkenntnis muss von der
Wahrheitsvermittlung unterschieden werden (vgl. Anm. 7). Diese Unterscheidung der Wahrheitserkenntnis von der Wahrheitsvermittlung, die der der Kunstproduktion von der Kunstrezeption entspricht, macht die Interpretation vom
„Ende der Kunst“ fruchtbar. Aber die Unterscheidung der drei Formen des absoluten Geistes nach dem geschichtlichen Wahrheitscharakter und in ihrer Wahrheitserkenntnis in der Enzyklopädie hängt mit ihrer Leistungsfähigkeit der Wahrheitsvermittlung und ihrer Handlungsorientierung in der Geschichte nicht
zusammen. Wenn das „Ende der Kunst“ nach der geschichtlichen Beschränktheit
der Wahrheitserkenntnis der Kunst bestimmt wird, kann die Schwierigkeit vermieden werden, die getroffen werden muss, wenn der Sinn vom „Ende der
Kunst“ nur in der geschwächten Leistungsfähigkeit der Kunst in der Moderne gesucht wird. Wenn die Notwendigkeit der Aufhebung der Kunst in die Religion
bzw. Philosophie auf ihre geschwächte Leistungsfähigkeit der Wahrheitsvermittlung in der Moderne zurückgeführt würde, besagte dies, dass die Philosophie
nach der Leistungsfähigkeit der Wahrheitsvermittlung den anderen Formen des
absoluten Geistes überlegen sei. Aber obwohl die Philosophie nach dem Grad der
Wahrheitserkenntnis die höchste Form in der Moderne ist, ist es fragwürdig, ob
die Philosophie die höchste Form der Wahrheitsvermittlung sei (Das ist, wie der
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EINLEITUNG
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Der Vergangenheitscharakter der Kunst ergibt sich aus der Beschränktheit ihrer sinnlichen Gestalt, die der Idee der Vernunft seit der Auflösung
der antiken Sittlichkeit nicht mehr am angemessensten ist. Die Gestalt der
Sittlichkeit ist verändert. Sie wird durch die Konzeption der „Anerkennung“ konstituiert, welche sich in ihrer dialektischen Struktur zeigt. Die
Bewegung der „Anerkennung“ kann nur durch die reflexiven Begriffe erfasst werden. Ist diese Mangelhaftigkeit der Kunst auf die Beschränktheit
ihrer sinnlichen Gestalt zurückzuführen, wie zahlreiche Interpretationen
es nahelegen?
Gegen diese Interpretation öffnet uns die Form der modernen Tragödie
eine neue Interpretationsmöglichkeit, die Beschränktheit der ästhetischen
Erkenntnis bzw. ihrer Darstellung anders zu bestimmen. Die moderne
Tragödie stellt einerseits den Konflikt zwischen der individuellen Freiheit
und der gesellschaftlichen Allgemeinheit dar, der nach der Rechtsphilosophie seine Schlichtung in der „Sittlichkeit“ findet. Andererseits zeigt die
moderne Tragödie gegen diese dialektische „Vereinigung“, die nur die Philosophie auf höchster Weise erreichen kann, eine andere Perspektive, die
nicht in diese Systematik der Vereinigung integriert werden kann und
diese Systematik kritisiert. Damit können wir unter dem „Ende der Kunst“
nicht einfach die „Partikularität“ Ihrer Wahrheitsvermittlungsfunktion in
der Moderne, sondern ihre Eigenständigkeit konzipieren.
1.3. Die Interpretationsgeschichte
von Hegels Bestimmung der modernen Tragödie
In der Interpretationsgeschichte von Hegels Bestimmung der Tragödie
erreichen wir den Höhepunkt der klassizistisch interpretierten Ästhetik
von Hegel. Nicht zuletzt hat die Interpretation von Hegels Deutung der
Antigone diese klassizistische Interpretation verstärkt. Zweifellos war dieses
junge Hegel in seinem „Das älteste Systemprogramm“ entwickelt und im Systementwurf in seiner ersten Jenaer Zeit dargestellt hat, die Schwäche der Philosophie, die durch die Kunst und Religion kompensiert werden soll, weil die letzteren beiden Formen nach der Leistungsfähigkeit der Wahrheitsvermittlung der
Philosophie überlegen sind. Vgl. J. H. Trede, „Mythologie und Idee. Die systematische Stellung der „Volksreligion“ in Hegels Jenaer Philosophie der Sittlichkeit (1801-03)“, in: Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des
deutschen Idealismus (Hegel-Studien, Beiheft 9), hg. von R. Bubner, Bonn 1973).
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EINLEITUNG
Werk für Hegel „das vortrefflichste Kunstwerk“ (20/21, 321).11 Aber es
gab unzählige Versuche in der Interpretationsgeschichte von Hegels Bestimmung der Tragödie, es vom kulturgeschichtlichen Kontext zu abstrahieren und als ein absolutes Muster geltend zu machen. Diese klassizistische Interpretationsrichtung wurde einerseits von der durch Hothos
Vorliebe zur Klassik geprägten Ästhetik beeinflusst, andererseits durch den
im zwanzigsten Jahrhundert vorherrschenden Diskurs über die Tragödie
bestimmt, durch den eine Metaphysik der Tragödie entwickelt wurde, die
die Tragödie als eine Kunstgestalt konzipiert ohne zu fragen, „ob das Tragische eine gegenwärtig überhaupt zu erfüllende Form oder aber eine
geschichtlich gebundene sei“ (GS I/1, 219). Sie wurde nicht zuletzt unter
der starken Wirkung von Schelling und Solger von Schopenhauer konzipiert, der auch für die Tragödientheorie von Nietzsche eine wesentliche
Grundlage abgegeben hat. Das Trauerspiel als der „Gipfel der Dichtkunst“
stellt nach Schopenhauer das Leiden des Menschen, das metaphysisch
begründet ist, dar und zeigt den Widerstreit des Willens mit sich selbst
und „den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung“, der „das Aufgehen
der Erkenntniß“ ist, „daß die Welt, das Leben kein wahres Genügen
gewähren könne, mithin unsere Abhängigkeit nicht werth sei“.12
Diese Bestimmung der Tragödie, die sich in den nachhegelschen Philosophien durchgesetzt hat, zeigt paradoxerweise die Aktualität von Hegels
Bestimmung, denn die Transzendierung der Konzeption der Tragödie
ohne Betrachtung der geschichtlichen Tragik lähmt die Tragödie selber, da
sie ihre Bestimmung des Weltbezugs verliert, die sie selbst konstruiert. Die
Metaphysik der Tragödie ist nicht im Stande, zu erklären, warum die Tragödie als eine geschichtliche Kunstgestalt nur in einer bestimmten Zeit an
einem bestimmten Ort entstanden ist. Hegel bestimmt die Tragödie als
eine geschichtliche Kulturgestalt, deren Bestimmung nur im Zusammenhang mit der geschichtlichen Wirklichkeit zu begreifen ist, denn die Tragödie basiert auf der geschichtlichen Tragik, deren Möglichkeitsbedingung
nur in der Wirklichkeit zu eruieren ist. Die Aktualität von Hegels Bestimmung der modernen Tragödie liegt in ihrer Erklärungsstärke, die Tragödie
geschichtsgebunden zu bestimmen und ihre konkrete Funktion in ihrem
geschichtlichen Kontext zu betrachten.
Hegels Bestimmung der Tragödie nimmt einen zentralen Platz in seiner
Philosophie sowohl aus entwicklungsgeschichtlicher als auch aus systema11 O. Pöggeler, Schicksal und Geschichte, München 2004, 25ff.
12 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 2, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält, hg. von L. Lütkehaus, Zürich
1999, 504.
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tischer Hinsicht ein. Vielfältige Interpretationsversuche haben Versuche
zur Bestimmung der Tragödie unternommen. Hier werden sie in drei Kategorien unterschieden. Erstens wurde die Bestimmung der Tragödie im
Rahmen der praktischen Philosophie untersucht, da Hegel, wie er im Naturrechtsaufsatz die Konzeption der „Tragödie im Sittlichen“ eingeführt,
die Tragödie im Zusammenhang der praktischen Philosophie bestimmt
hat. Eine zweite Perspektive priorisiert die klassizistische Interpretation der
Bestimmung der (modernen) Tragödie, während in einer dritten Annäherung kritische Interpretation und klassizistische Interpretation kontrastierend betrachtet werden.
Die Untersuchungen der Bestimmung der Tragödie im Rahmen der praktischen Philosophie befassen sich hauptsächlich mit dem Verhältnis von
Tragödie und von Sittlichkeit. Das Hauptinteresse liegt darin zu erklären,
warum Hegel die These der Identität der Tragödie und des Staatswerks, die
er im Naturrechtsaussatz dargestellt hat, aufgegeben und eine neue Konzeption der Sittlichkeit entwickelt hat.13 Die Tragödie gibt es nicht mehr
nach der Auflösung der antiken schönen Sittlichkeit, weil die moderne
Sittlichkeit wegen ihrer reflexiven bzw. dialektischen Konstruktion nicht
durch die anschauliche Form der Tragödie, sondern durch die philosophischen Begriffe erkannt wird. Die Tragik, die für die Antike charakteristisch
ist, gibt es auch nicht mehr in der Moderne, denn der Konflikt, der in der
antiken Tragödie erscheint und dessen Momente als Konstruktionselemente in der modernen Sittlichkeit fungieren, ist durch die Selbstbildung
der befreiten Vernunft in der modernen Sittlichkeit gelöst.14 Die reflexive
13 Z.B. E. Weisser-Lohmann, „Zur Identifikation ästhetischer und praktischer Formen bei Hegel“, in: Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung
der Künste, hg. von A. Gethmann-Siefert, Lu de Vos, B. Collenberg-Plotnikov,
Bonn 2005.
14 Die „Familie“ und der „Staat“ sind beide Mächte, die den Konflikt in Antigone
ausmachen. Aristoteles hat die Ökonomie als Haushaltslehre konzipiert und den
Staat als „koinonia politike“ dargestellt, in der die „bürgerliche Gesellschaft“ und
der Staat „noch nicht auseinandergetreten sind“ (M. Riedel, Zwischen Tradition
und Revolution. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Stuttgart 1982, 143f.), da
beide Sphären (Familie und Staat) noch in einer unmittelbaren „Einheit“ problemlos vereinigt sind. Hegels Einführung der Konzeption der „bürgerlichen Gesellschaft“ in sein rechtsphilosophisches System zielt darauf ab, die Entzweiung
beider Sphären, die in der Moderne nachtragisch entstanden ist, durch die Arbeitskonzeption zu lösen und sie als Konstruktionselemente für die moderne Sittlichkeit zu interpretieren (J. Ritter, „Hegel und die Französische Revolution“, in:
Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt am Main
1977, 183- 255). U. Rameil weist darauf hin, dass Hegel schon in Jena den Be-
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Konstruktion der modernen Sittlichkeit kann nicht mehr durch die anschauliche, genauer gesagt, kunstreligiöse Weise erfasst werden. Die moderne Sittlichkeit braucht zur Selbsterkenntnis nichts anderes als die Philosophie. In der modernen Sittlichkeit übernimmt die „bürgerliche Gesellschaft“ eine vermittelnde Funktion zwischen dem Individuum und dem
Staat, wodurch der Konflikt gelöst ist.15 Im Hintergrund dieser Interpretation steckt ein systemtheoretisches Interesse, moderne Sittlichkeit als ein
Ersatz- bzw. Überwindungsmodell der Tragödie zu betrachten.16 Eine
andere Interpretation argumentiert dahingehend, dass die Tragik nach der
Auflösung der griechischen Sittlichkeit in der Moderne wiederkehrt.17 Sie
griff der Idee der Sittlichkeit erfasst hat, den er in der Rechtsphilosophie als die
Einheit der Subjektivität und der Objektivität bestimmt. Diese beiden Momente
sind nachtragisch entstanden, die in die Idee der Sittlichkeit aufgehoben werden
(U. Rameil, „Sittliches Sein und Subjektivität. Zur Genese des Begriffs der Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie“, in: Hegel-Studien, Bd. 16 (1981), 123-162).
15 C. Alegría, Tragödie und bürgerliche Gesellschaft. Motive und Probleme der politischen Aufhebung des „Notstaats“ bei Hegel, Frankfurt am Main 1995. Es gibt ein
„Urgeschehen“, in dem die notwendige Kontroverse durch ihre Auflösung das
Allgemeine entstehen lässt. Die Tragödie ist „ein Medium für das Denken“
(C. Alegría, a.a.O. 13), das durch Erinnerung des Urgeschehens „auf die Möglichkeit“ hinweist, „aus der Erschütterung der Polis-Sittlichkeit durch Konflikte,
die sie problematisiert haben, einen neuen Gemeinschaftssinn zu gewinnen.“
(C. Alegría, a.a.O. 19) Die Konzeption der alten Tragödie bietet „ein Medium
für das Denken“, das nicht nur für die Lösung der Probleme der klassischen schönen Sittlichkeit, sondern auch für die der modernen Sittlichkeit zuständig ist.
Dieses Medium nutzt Hegel, damit er durch die Anspielung auf die alte Tragödie
die Zerrissenheit der Moderne überwinden kann. „Die Tragödie als Darstellung
von paradoxem Geschehen stellt dann die Bedingungen des neuen Denkens“ zur
Konstruktion der Gesellschaftstheorie (C. Alegría, a.a.O. 14).
16 Diese Interpretation bietet eine theoretische Grundlage dafür, die moderne Tragödie als eine Zerfallskunst zu bestimmen.
17 Chr. Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt am Main 1996 (=TiS). Menke entwickelt eine „nachmetaphysische“ Theorie
des Tragischen von Hegel, die gegenüber der „tragischen Metaphysik“ die tragische Notwendigkeit der bestimmten geschichtlichen Verfassung zuschreibt.
(TiS, 22) Nach der tragischen Auflösung der alten schönen Sittlichkeit kehrt die
Tragik wieder in der Moderne zurück. Die Herrschaft des Rechts verursacht unmittelbar „politische Entmächtigung“ der Individuen (TiS, 10). Dieser Gegensatz des Allgemeinen des Rechts zur Lebendigkeit des Individuums wird teilweise
dadurch aufgelöst, dass die Individuen als „die politischen autonomen Bürger“
im Politischen agieren. Aber diese politische Emanzipation, in der die Individuen
durch die Vermittlung der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Politischen vereinigt sind, übt noch die Gewalt „gegen die Individuen“ (TiS, 11) aus, weil die Individuen im Politischen normalisiert werden müssen, damit sie ihre individuelle
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ist für die Bestimmung der modernen Tragödie hilfreich, weil die Tragik in
der Moderne ihren geschichtlichen Stoff ausmacht. Die moderne Tragödie
gewinnt ihre neue Funktion und Bedeutung, indem sie die Tragik in der
Moderne in einem anschaulichen Bild darstellt.
Wir wenden uns zur Interpretationsgeschichte der Konzeption der Tragödie in Hegels Ästhetik. Durch die klassizistische Interpretation wird die
antike Tragödie als ein normatives „Muster“18 bestimmt, damit die moderne Tragödie als eine Auflösungsform bestimmt wird, die dem klassizistisch
verstandenen „Ende der Kunst“ dient. Diese klassizistische Interpretation
vernachlässigt die Geschichtlichkeit der Tragödie als Kunstgestalt. Sie
kann problemlos mit der Metaphysik der Tragödie insofern in Verbindung
gesetzt werden, als sie das „Muster“ der Tragik für das wesentliche Schicksal des Menschen hält, das zeitlos über den Menschen herrscht. Diese Interpretation hält die moderne Tragödie für eine Auflösungsform der Kunst,
da diese vom „Muster“ abweicht. Sie kann keine sachgerechte theoretische
Erklärung für diese anbieten, die nur auf Grund der geschichtlichen Besonderheit der modernen Tragödie möglich wäre, die vom zeitlos festgesetzten „Muster“ abweicht. Ihre Abwertung aber widerspricht dem Kunsturteil von Hegel, der nicht zuletzt Shakespeare und seine Tragödien
hochschätzt.19 Hegel hält ihn in seinen Berliner Ästhetikvorlesungen für
einen Künstler, der die „Objektivität der Kunst“ erreicht hat (23, 117), im
Freiheit, die Freiheit ihrer Selbstverwirklichung zu verlieren drohen, die Menke
„Authentizität“ nennt. Der notwendige Konflikt in der Moderne, der die Tragik
der Moderne ausmacht, liegt zwischen dieser politischen Emanzipation und der
Authentizität. „Die Tragödie im Sittlichen“ formuliert „ein Strukturmodell der
Moderne in ihrer Entzweiung von Recht und Individualität“ (TiS, 12), für deren
Konflikt „keine dialektische Lösung“ zu finden ist, weil die Vernunft nicht fähig
ist, ihn aufzulösen. Die Erfahrung der Tragik der Moderne ist „die Erfahrung der
Grenze der Vernunft“ (TiS, 19).
18 Ch. Fan, Sittlichkeit und Tragik. Zu Hegels Antigone-Deutung, Bonn 1998. Er versucht Hegels Tragödientheorie als eine Bemühung zu interpretieren, „im Rahmen
der Frage nach der geschichtlichen Realisierung der Aufklärung die Funktion der
Kunst festzulegen“. Dafür ist die alte Tragödie als ein Vorbild für die Gestaltung
des geschichtlichen Lebens zu bestimmen. Der Verfasser wollte die Tragödie
in Verbindung mit der Sittlichkeit setzen, aber seine klassizistische Interpretation
bringt ihn dazu, die antike Tragödie für eine transzendente Form zu halten, d. h.
sie von ihrer Verbindung mit der geschichtlichen Sittlichkeit zu abstrahieren (Ch.
Fan, a.a.O. 145f.).
19 Nach Hegel hat Goethe die Befreiung von seiner Krise in der Jugend, in die er z.
B. wie Tieck gerät, durch „die Bekanntschaft mit Shakespeare “ erreicht, der
ihm den wahren Gehalt lehrt. Goethe hat in den Stücken von Shakespeare die
wahre Subjektivität als „erfüllt“ und „entwickelt“ gefunden (GW16, 82).
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Vergleich zur inhaltlosen Subjektivität, die in Stücken von F. Schlegel und
Tieck zu finden ist. Die moderne Tragödie ist eine Kunstgestalt, die unter
der geschichtlichen Bedingung der Moderne Objektivität und Weltbezug
gewinnt. Die klassizistische Interpretation kann auch nicht begründen,
wie die moderne Tragödie die klassische als eine Norm nachahmen kann,
da jede auf anderer geschichtlicher Geistigkeit beruht.20
Eine weitere Interpretation versucht die Form der Tragödie getrennt von
ihrer Geschichtlichkeit und ihrem Weltbezug zu dekontextualisieren, um
sie als reine literarische Form zu rekonstruieren. Sie richtet sich darauf, die
gemeinsamen Elemente aus Hegels Tragödienlehre zu sammeln und eine
literarisch normative Theorie zu bilden.21 Der Mangel dieser dekontextualisierenden Interpretation liegt in ihrem Unvermögen, darauf zu antworten, wie die Tragik verständlich gemacht werden kann. Die klassische Tragik liegt nach Hegel im Prozess der Sich-Entzweiung der Sittlichkeit als des
Absoluten und Versöhnung-mit-sich (26. 227f.).22 Um diese Tragik in der
Tragödie zu erklären, muss zuerst die Sittlichkeit in der Geschichte konzipiert werden. Diese dekontextualisierende Interpretation kann den notwendigen Konflikt in der Tragödie nicht begreifen, der nach Hegel nur im
geschichtlichen Prozess der Sittlichkeit zu verstehen ist. Stattdessen wandelt sie den notwendigen in den willkürlichen Konflikt um, der aus der
Verschiedenheit der besonderen Interessen unter den unzähligen stammt,
aber nicht aus dem Widerspruch, aus dem die klassische Tragik entstehen
kann (TiS, 35f.). Der Widerspruch ist nur möglich unter der logischen
Bedingung, dass er sich aus dem Sich-Entzweien des Ganzen ergibt. Die
Erkenntnis dieses Ganzen kann nur durch die geschichtsphilosophische
Reflexion gewonnen werden.
20 Pillau bestimmt die Tragödie von Schiller als „die Verwirklichung eines objektiven „klassischen“ Dramas“ in der Moderne“, da in ihr die Wiederherstellung der
„Idee des heroischen Weltzustandes“ zu finden ist (H. Pillau, Die fortgedachte
Dissonanz. Hegels Tragödientheorie und Schillers Tragödie. Deutsche Antworten auf
die Französische Revolution, München 1981, 41). Die Shakespeareschen Tragödien widersprechen der klassischen „Norm“, die in der Schillerschen eingehalten ist
(H. Pillau, a.a.O. 46).
21 „Hegel’s account of Greek tragedy is both descriptive and normative“ (S. Houlgate, „Hegel’s Theory of Tragedy“, in: Hegel and the Arts, edt. By S. Houlgate, Evanston, Illinois 2007, 149).
22 Diese klassische Tragik ist von der modernen Tragik zu unterscheiden, die das
Ganze nicht voraussetzt, aus dem der Konflikt entsteht. Daher gibt es keinen
notwendigen Konflikt in der moderenen Tragik. Da Houlgate seine Theorie der
Tragödie aus Hegels Interpretation der klassischen Tragödien rekonstruiert, ist
hier nur die klassische Tragik erwähnt.
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Bisher wurde solch klassizistische Interpretation meistens angenommen,
nach der die klassische Tragödie das Muster sei und die moderne eine Zerfallskunst, die das klassizistisch aufgefasste „Ende der Kunst“ belegt.23 Hegels Deutung von Shakespeare wird in dieser Interpretation als entscheidender Beleg eingeführt.24 Aber sie kann nicht „ein produktives Verhältnis“
zur modernen Tragödie entwickeln.25 Für sie ist die moderne Tragödie nur
eine Nachahmungsform, die eigentlich nicht mehr genötigt wird. „Das
Drama“ als eine Vereinigungsform der Tragödie und der Komödie könne
als eine alternative Kunstgestalt eingeführt werden.26
23 Ch. Fan, a.a.O. Der Verfasser schätzt die moderne Tragödie mit seiner klassizistischen Auffassung der Tragödie ab. Nach ihm kann man in der modernen Tragödie nur „die Vernachlässigung des Sittlichen, den Verlust der Substantialität, oder
die Weltlosigkeit der Subjektivität“ finden (Ch. Fan, a.a.O. 139). Nicht zuletzt
bestimmt der Verfasser „Ironie“ als „ein allgemeines Kennzeichnen der Zeit“, die
aber Hegel nur F. Schlegel, Tieck und Novalis zuschreibt (Ch. Fan, a.a.O. 139).
Hegel sieht die Zerrissenheit in der Moderne, in der das moderne Subjekt in die
Melancholie zu geraten droht, was aber überwunden werden muss, im Gegensatz
zu F. Schlegel, der aus der Melancholie die Theorie der Ironie entwickelt und die
Zerrissenheit verewigt (Vgl. GW16, 114ff.).
24 Z. B. M. Salditt, Hegels Shakespeare-Interpretation, Berlin 1927. Das Individuum
in den Stücken von Shakespeare ist ein natürliches, als Gegenbeispiel zum idealen
Individuum, das in der klassischen Tragödie auftritt. Salditt kritisiert Hegels Interpretation in zwei Punkten. Einerseits stellt die Verfasserin ihre eigene Interpretation von Shakespeare der Hegels gegenüber. Andererseits bestimmt sie den
Standpunkt von Hegels Ästhetik, der dem des reinen Wissens untergeordnet ist.
Nach Salditt erstrebt das Individuum seit der Renaissance „Selbsterweiterung
zum ganzen absoluten Dasein“ (M. Salditt, a.a.O. 19). Dieser „Heroismus der
Renaissance“ aber bricht in den Gestalten von Shakespeare ab. Shakespeare schildert die Kollision zwischen dem Idealisten, dem „Charakter“ und dem unpersönlichen Wesen, dem „Dämon“, damit „die Rationalisierung nach einem Vernunftideal“ als unmöglich erwiesen wird. Hegel betrachtet „von oben her“ (M. Salditt,
a.a.O. 28), vom Standpunkt des absoluten Wissens, dass das Individuum durch
den Zwang der Notwendigkeit oder des Fatums untergeht, weil es nicht ein idealer Charakter ist, der imstande ist, aus sich selbst die Welt zu verändern, sondern
ein partikulärer ist, der nur „als natürlicher Charakter“ zu deuten ist, dem Hegel
den ideellen Charakter entgegengesetzt hat.
25 D. Henrich, „Zur Aktualität von Hegels Ästhetik. Überlegungen am Schluß des
Kolloquiums über Hegels Kunstphilosophie“, in: Hegel-Studien, Beiheft 11, Stuttgarter Hegel-Tage 1970. H.-G. Gadamer, Bonn 1983, 297.
26 Pillau hält „die dramatische Poesie“, bzw. „das moderne Schauspiel und Drama“
für die wiederbelebte klassische Form (H. Pillau, a.a.O. 35), denn es fehlt in der
Moderne Bauelementen „einer geschichtsphilosophisch eigenständigen Kunst“.
Diese dramatische Poesie übernimmt die „Funktionen einer immanenten
Transzendierung von Kunst, nämlich ihrer Selbstauflösung in Religion und Phi-
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Die gegenwärtige Diskussion um Hegels Ästhetik ermöglicht es den
Diskurs über Hegels Bestimmung der modernen Tragödie aus einer neuen
Sicht zu betrachten. Die moderne Tragödie ist eine geschichtliche Kunstgestalt, die die Tragik in der Moderne in sich widerspiegelt. Die geschichtliche Veränderung der Konzeption der Tragik „im Sittlichen“ bewirkt die
Veränderung sowohl der Formen der Tragödie als auch ihrer geschichtlichen Funktion. Die Tragödie als eine Kunstgestalt ist ihrer höchsten Möglichkeit nach vergangen, da sie nicht mehr schön ist, d. h. sie kann nicht
mehr die harmonische Identität des Individuums mit dem sittlichen Ganzen darstellen. Ihre Darstellung weist nur auf die beschränkte Identität
nach der Partikularitätsthese der modernen Kunst hin, die nicht mehr in
der schönen Gestalt dargestellt werden kann, da diese nur in der Harmonie der Form mit dem Inhalt liegt. Sie kann nicht mehr, wie die klassische,
allgemeine Handlungsorientierung und Wahrheitsvermittlung anbieten,
die nur unter den geschichtlichen Bedingungen möglich ist, unter denen
die Handlung des Individuums die Idee des sittlichen Ganzen ausdrückt,
d. h. die Handlung als schön erscheint. In dieser Interpretation von Hegels
Bestimmung der modernen Tragödie geht es um die Erschließung ihrer
konkreten Bedeutung in der Moderne, bzw. ihrer konkreten geschichtlichen Funktion und ihrer Aktualität.27
losophie“ (H. Pillau, a.a.O. 37f.). Houlgate hält „Schauspiele“, die aus der von
Hotho edierten Ästhetik von ihm zitiert werden und als eine neue Form der Versöhnung, über die ästhetische heldenhafte Individualität hinaus die reziprokale
Anerkennung darstellen, für „the Key to genuine ethical life“ (S. Houlgate, a.a.O.
168ff.). Diese „dritte“ Form, die Hotho aus seinem systematischen Bedürfnis in
Hegels Ästhetik eingefügt hat, entspricht sogar der Form der Ironie, durch die F.
Schlegel die widersprüchlichen Charaktere rechtfertigt, und die er auf die Kunstproduktion von Alarcos angewandt hat.
27 Rózsa hebt nur die negative Seite dieser Funktion hervor (E. Rózsa, Versöhnung
und System. Zu Grundmotiven von Hegels praktischer Philosophie, München 2005).
Die Versöhnung ist ein Lösungsversuch der Probleme der paradoxen Natur der
modernen Freiheit, die im Antagonismus zwischen dem Recht „der Besonderheit“, bzw. der „universell-formelle[n] Freiheit“ und der objektivierten Sittlichkeit besteht. Der Antagonismus charakterisiert „die schwankende Haltung der Individuen“ (E. Rózsa, a.a.O. 15), die als „negative Folgen der modernen Freiheit“
zu finden ist. Die Versöhnung ist aus dem Gesichtspunkt der „Mehrdimensionalität“ einerseits das Prinzip der Systembildung, andererseits die noch zu erreichende angemessenste Haltung der Individuen zum Staat. Die Tragödien von
Schiller stellen die Problematik der paradoxen Natur der modernen Freiheit
deutlich dar. Die Individuen müssen entweder das Gesetz als ihres anerkennen
oder als Sklave leben. Sie haben das Recht, sich durch ihre Freiheit von Gesetz
und Staat zu entfernen. Diese Entfernung ermöglicht ihnen eine Auswahl eigener
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1.4. Überblick der Dissertation
Hegel hat mit Schelling und Hölderlin ein gemeinsames Interesse an der
Tragödie, mit deren Konzeption sie die Aporie von Kant zu lösen versucht
haben, die nach ihrer Interpretation darin besteht, dass Kant, obwohl die
intellektuelle Anschauung nicht begrifflich erklärbar ist, sie als die Grundlage für die Begründung der Funktion des Erkenntnisvermögens vorausgesetzt hat. Die klassische Tragödie ist für sie das einzige Vorbild für die
Philosophie (Schelling und Hegel) oder für die Kunst (Hölderlin), da sie
die Lösung dieser Aporie verbildlicht. Wenn die Tragödie für Hegel das
„Bedürfnis der Philosophie“ erweckt hat, modifiziert sich seine Philosophie abhängig davon, wie er die Tragödie versteht. Die Philosophie der
Tragödie von Hegel bestimmt in diesem Sinne seine Philosophie. Nachdem er in der späten Jenaer Zeit die spekulative Dialektik eingeführt hat,
verliert die Tragödie ihre für die Philosophie leitende Funktion. Stattdessen erhält sie ihre neue Bestimmung.
Wenn die Tragödie für den jungen Hegel als Vorbild für die Philosophie
funktioniert, wird hier unter Tragödie nur die klassische verstanden. Gegen
diese hat Hegel das „Trauerspiel“ von Abraham oder die moderne Tragödie
(besonders von Schiller und Shakespeare) nur abgewertet. Seine klassizistische Interpretation der Tragödie kulminiert in seiner Philosophie der Tragödie („Tragödie im Sittlichen“) im Naturrechtsaufsatz.
Während die alte Tragödie die Bewegung der Entzweiung der einheitlichen Natur und ihrer Zu-sich-Rückkehr für Hegel in der Frankfurter Zeit
darstellt, veranschaulicht das „Trauerspiel“ von Abraham nur die Entfremdung des Menschen von der Natur. Hegels Darstellung von Abraham können wir als Melancholie-Kritik interpretieren, da Hegel in ihm einen typischen Melancholiker findet. Abraham hat sich vom Zusammenleben isoliert und eine Idee (Gott) erfunden, von der das konkrete Leben beherrscht
werden soll, um seine individuelle Existenz abzusichern und um mit Hilfe
Handlungen unter einer Vielzahl an Möglichkeiten. Die Versöhnung liegt darin,
die angemessene Verhaltensweise auszuwählen. Diese richtige Auswahl können
sie nur erreichen durch die „vernünftige Einsicht“ (E. Rózsa, a.a.O. 268-269). In
den Schillerschen Tragödien erfahren die Individuen durch ihre Freiheit das Verbrechen, damit nach Hegel „eine Art Warnung vor der Überschätzung der Individuen, ihres Freiheitsbewusstseins und ihrer Tragfähigkeiten im Verhältnis zu den
Wirklichkeitssphären, die eben die Individuen gefährdet“ (E. Rózsa, a.a.O. 59)
angedeutet wird. Der Untergang der Individuen als eine „Warnung“ besagt, dass
die Individuen ihre Freiheit einschränken sollen. Nach dieser Interpretation muss
die ästhetisch dargestellte Freiheit in die rechtsphilosophisch erreichte Versöhnung aufgehoben werden.
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dieser Idee die anderen Menschen zu beherrschen. Diese Gier nach der
Isolation und nach der Herrschaft kommt aus seiner Misanthropie, die als
das Charakteristikum der Melancholie zu verstehen ist.
Diesen melancholischen Charakter findet Hegel in der modernen Tragödie. Dieselbe Misanthropie wird durch Macbeth verkörpert. Er übergibt
sich den Hexen, um seine Gier nach der Macht zu erfüllen und tötet seinen Freund. Der Konflikt, den Macbeth hervorgebracht hat, ergibt sich
nicht aus einem „notwendigen“ Fehltritt „eines schönen Wesens“, sondern
aus dem „Schicksal Macbeths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde
Wesen hing und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur
zertreten und ermorden von seinen Göttern (denn es waren Objekte, er
war Knecht) endlich verlassen und an seinem Glauben selbst zerschmettert
werden mußte“ (TW1, 297). Die Natur, die in der Frankfurter Zeit als
eine herrschaftslose Gesellschaft verstanden worden ist, die als Ideal die
Kultur erst erreichen soll, hat Macbeth verlassen. Die plastischen Charaktere der alten Tragödie drücken eine menschliche Natur aus, die mit der
anderen in einen notwendigen Konflikt gerät, da diese auch aus ein und
derselben Natur kommt. Die Charaktere in der modernen Tragödie verlassen diese Natur, d.h. sie versuchen sich von dieser Natur zu isolieren und
sie unter ihrer Herrschaft zu halten. Der Konflikt entsteht nicht innerhalb
der menschlichen Natur, sondern zwischen dem melancholischen Charakter und der Natur selbst.
Ein Grundmotiv, das Hegel dazu motiviert, sich mit der Geschichte
von Abraham und Macbeth auseinanderzusetzen, liegt in der Diagnose des
modernen Subjekts. Hegel leitet vom Leben Abrahams die Grundverfassung der Moderne ab, die als melancholisch zu bestimmen ist. Hiermit
kritisiert Hegel einerseits die melancholische Verfassung der Moderne, die
durch die versachlichende Tätigkeit des modernen Subjekts gestiftet wird,
und versucht andererseits eine Lösung hierfür in der alten Tragödie zu
finden. Der erste Versuch ist die Darstellung des Lebens Jesu in der Frankfurter Zeit, in der die melancholische Verfassung der Moderne konturiert
wird. Die Philosophie der Tragödie im Naturrechtsaufsatz ist der zweite
Versuch, in dem er die moderne Zerrissenheit bzw. ihre melancholische
Verfassung durch die Tragödienkonzeption überwindet.
Wenn Hegel durch das Leben Abrahams eine Genealogie des modernen
Subjekts darstellt, findet er in der frühen Jenaer Zeit in Wallenstein das
eigenständige Individuum, das durch den Verlust der republikanischen
Gesellschaft entstanden ist, wie im Naturrechtsaufsatz beschrieben wird.
Die Individuen, die den Lebenszusammenhang verloren oder verlassen
haben, versuchen, um ihre Existenz abzusichern, eine neue Religion zu
stiften (Abraham, Macbeth und Wallenstein) oder die Moralität in sich zu
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