DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Aktuelle Medizin Zur Fortbildung DIABETES-SERIE Diabetes mellitus: Verzögerung der Kohlenhydrat-Resorption als therapeutisches Prinzip Wolfgang F. Caspary Aus der Medizinischen Klinik II (Direktor: Professor Dr. med. Wolfgang F. Caspary) des Stadtkrankenhauses und Akademischen Lehrkrankenhauses Hanau Neuere Kenntnisse über die Resorptionsgeschwindigkeit von Kohlenhydraten haben zur Unterscheidung zwischen „langsamen" und „schnellen" Kohlenhydraten geführt. Für den Diabetiker sind „langsame" Kohlenhydrate zur Optimierung der diätetischen Einstellung vorzuziehen. Zusatz von Quellstoffen (Typ Guar) zur Nahrung vermag zur Resorptionsverzögerung und Reduktion postprandialer Blutglukosespitzen ebenso beizutragen wie die medikamentös mögliche Verzögerung der Kohlenhydratassimilation durch Hemmer der a-Glucosidasen der Dünndarmschleimhaut. K ohlenhydrate sind einer der Eckpfeiler der menschlichen Ernährung und damit ein unverzichtbarer Bestandteil auch in der Diabetestherapie. Das Erreichen einer Euglykämie beim Diabetiker ist das vordergründige Therapieziel. Die Diätbehandlung des Diabetikers mit Verteilung der Kohlenhydrate auf häufige, kleine Mahlzeiten und einer Restriktion des Kohlenhydratanteils der Nahrung (nicht mehr als 50 Prozent) bildet die Basis sowohl für die Behandlung von Typ-1- wie auch TypII-Diabetikern. Ziel und Sinn einer Diabetesdiät ist es, durch Verteilung der Kohlenhydrate über den ganzen Tag und durch die Wahl der Kohlenhydrate (schwer aufschließbare = sogenannte „langsame" Kohlenhydrate) postprandiale Blutglukosespitzen niedrig zu halten. Da postprandiale Blutglukoseanstiege jedoch nicht alleine durch Qualität und Quantität der Kohlenhydrate, sondern auch durch die Geschwindigkeit der Magenentleerung und Darmpassage, Viskosität, Enzymgehalt des exokrinen Pankreas und der Dünndarmmukosa determiniert werden, soll kurz auf die normale und die gestörte Kohlenhydratresorption eingegangen werden. nen aus schnell resorbierbaren Monosacchariden (Glukose, Galaktose) und Disacchariden (Saccharose = Rohrzucker, Laktose = Milchzucker), zum anderen aus Oligosacchariden und aus verdaulichen und unverdaulichen Polysacchariden (Tabelle 1). Das wichtigste verdauliche Polysaccharid, die Stärke, ist mit 60 Prozent im Kohlenhydratanteil unserer Kost vertreten. Nur Stärke wird im Lumen des Intestinaltraktes durch die pankreatische a-Amylase in aGrenzdextrine, Maltotriose und Maltose gespalten (2, 17)*). Digestion und Resorption von Kohlenhydraten Die Produkte der Stärkespaltung sowie die Disaccharide, Saccharose und Laktose werden an der Bürstensaummembran der Dünndarmepithelzellen durch entsprechende Hydrolasen (a-Glukosidasen wie Saccharase, Glukoamylase, a-Dextrinase und (3-Galaktosidasen = Laktase) zu den freien Monosacchariden Glukose, Galaktose und Fruktose aufgespalten und damit erst resorptionsfähig gemacht. Der Durchtritt durch Die Kohlenhydrate der menschlichen Nahrung bestehen zum ei- ") Die in Klammern stehenden Ziffern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis des Sonderdrucks. Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 19 vom 8. Mai 1985 (47) 1413 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Diabetes mellitus die hydrophobe Lipoproteinmembran der Dünndarmepithelzellen ist nur bestimmten Zuckern erlaubt. Glukose und Galaktose, die eine fast identische Struktur besitzen, benutzen zum Durchtritt durch die Zellmembran (und damit Resorption) einen spezifischen Transportmechanismus, der auch als der „Glukose-Carrier" bezeichnet wird (2, 17). Natrium aktiviert den „GlukoseCarrier", der zwei Moleküle Natrium pro Molekül Glukose zu transportieren vermag; das heißt, Natrium stimuliert die Glukoseresorption, Glukose stimuliert die Natriumresorption (2, 17), eine Tatsache, die man sich in der Therapie von Durchfallerkrankungen mit der Glukose-Elektrolyt-Trinklösung (WHO-Lösung) zunutze gemacht hat (8). Fruktose wird langsamer als Glukose und auf einem unterschiedlichen Transportweg resorbiert (2, 17). Für eine Reihe von Polysacchariden, die wesentlicher Bestandteil pflanzlicher Füll- und Quellstoffe (= Ballaststoffe) sind, bestehen im Dünndarm keine Enzyme und Resorptionsmöglichkeiten, so daß sie unverdaut in den Dickdarm gelangen und dort in unterschiedlichem Ausmaß abgebaut und energetisch verwertet werden können (7, 15, 16, 23, 30). Malabsorption von Kohlenhydraten Eine Störung der Digestion der Stärke durch intraluminalen Mangel an a-Amylase (zum Beispiel bei Pankreasinsuffizienz), durch eine generelle Reduktion der Disaccharidasen des Dünndarms (zum Beispiel bei Sprue oder Resektion des Dünndarmes) oder isolierte Reduktion einzelner Disaccharidasen (Laktasemangel, Saccharase-Isomaltase-Mangel) kann, ebenso wie eine Resorptionsstörung für Monosaccharide (isoliert: Glukose-Galaktose-Malabsorption; generalisiert: Sprue, Darmresektion) zu einem Übertritt der nicht resorbierten Kohlenhydrate in das Kolon führen. Dort werden die Zucker durch anaerobe Bakterien zu kurzkettigen Fettsäuren, Kohlendioxid (CO 2) und Wasserstoff (H 2) fermentiert (Abbildung 1). Das Kolon besitzt die erstaunliche Fähigkeit, aus diesen Kohlenhydraten durch Rückresorption der fermentativ entstandenen kurzkettigen Fettsäuren (Butyrat, Propionat, Acetat, Laktat) energetischen Nutzen zu ziehen und so den Menschen vor einem unnötigen Energieverlust zu bewahren (7, 30). Ist der Eintritt von Kohlenhydraten in das Kolon pro Zeiteinheit klei- Tabelle 1: Klassifikation der Nahrungskohlenhydrate Art des Nahrungskohlenhydrats Verdaulichkeit Freie Zucker Monosaccharide: Oligosaccharide: Glukose, Fruktose, Galaktose Maltose, Laktose, Saccharose verdaulich Polysaccharide 1414 Speicherformen: Dextrine, Stärke „gums", Mucilaginosa Algenpolysaccharide pektische Substanzen Hemizellulosen verdaulich unverdaulich: „dietary fibre" (Nahrungsfaser) Strukturformen: Zellulose Lignin (kein KH!) unverdaulich (48) Heft 19 vom 8. Mai 1985 82. Jahrgang Ausgabe A ner als die Energierückgewinnungskapazität des Kolons, resultiert allenfalls eine Flatulenz durch fermentative Gasentwicklung, aber kein Energieverlust und keine Diarrhöe (= kompensierte Malabsorption). Tritt jedoch pro Zeiteinheit mehr Kohlenhydrat in den Dickdarm über, als dieser fermentativ und resorptiv zu „retten" vermag, entsteht eine dekompensierte Kohlenhydrat-Malabsorption mit Flatulenz und wäßrigen Diarrhöen, hervorgerufen durch den osmotischen Effekt der Kohlenhydrate und der fermentativ entstandenen freien Fettsäuren. Neben einem sauren Stuhl-pH (bedingt durch freie Fettsäuren und typisch für Kohlenhydrat-Malabsorption) kommt es zum fäkalen Energieverlust. Während Disaccharide und freie Zucker im Dünndarm vollständig resorbiert werden, werden verschiedene Stärkeprodukte nach neueren Untersuchungen nicht vollständig im Dünndarm resorbiert. Etwa fünf bis zehn Prozent der mit der Nahrung aufgenommenen Stärke gelangt auch bei Gesunden in das Kolon (23, 32). Diese „physiologische Malabsorption" von Kohlenhydraten scheint die Kohlenhydrat-Energielücke zu decken, die die Bakterienflora des Kolons neben den unverdaulichen Ballaststoffen benötigt. Die aus sogenannten Füllund Quellstoffen (= Ballaststoffe) in den Dickdarm gelangten Polysaccharide (zum Beispiel Zellulose, Lignin der Kleie, Pektine, Guar) können dort in unterschiedlichem Ausmaß durch fermentative (bakterielle) Verdauung noch abgebaut und auch energetisch genutzt werden. Je vollständiger Füll- und Ballaststoffe im Dickdarm fermentativ abgebaut werden, um so weniger effektiv sind sie bei der Stuhlregulation (zum Beispiel Guar: gut abbaufähig und unwirksam bei Obstipation; Lignin der Weizenkleie: schlecht abbaufähig und wirksam bei Obstipation [15, 16]). Ein ähnliches Schicksal wie Ballaststoffe erleiden auch die Zuckeraustausch- DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Diabetes mellitus stoffe in der Diabetikerdiät (Mannit, Sorbit), die durch bakterielle Fermentation im Kolon unter Gasentwicklung noch energetisch genutzt werden können. Kohlenhydratpolymere (Stärke, Glykogen, Zellulose, Pektin) Bakterielle Hydrolasen Beeinflussung der Kohlenhydrat-Resorption Die Geschwindigkeit der Resorption von Kohlenhydraten und damit auch die Steilheit und Höhe der prostprandialen Blutglukoseanstiege ist von zahlreichen Faktoren abhängig (Tabelle 2). Am raschesten werden freie Zucker (Glukose) und Disaccharide (Saccharose) in flüssiger Form resorbiert, da die Magenentleerung von Flüssigkeiten exponentiell, die Entleerung fester Partikel jedoch linear verläuft. Eine große Variabilität der Resorptionsgeschwindigkeit besteht für die verschiedenen Stärkeprodukte der Nahrung, wobei folgende Faktoren für die Verdaulichkeit und Resorption eine entscheidende Rolle spielen können (11, 25): > I> • • • • Kettenlänge der Stärke Korngröße Quellungszustand Amylasegehalt Amylase-Inhibitor-Gehalt Fasergehalt „Langsame" — „schnelle" Kohlenhydrate Die unterschiedlichste Verdaulichkeit und Resorption der verschiedensten Stärkeprodukte führt bei Gabe gleicher Mengen an Kohlenhydraten zu unterschiedlichsten Blutglukoseanstiegen, was in Deutschland von der Arbeitsgruppe von Otto bereits in den 70er Jahren beobachtet wurde (31). Die unterschiedliche Blutzuckerwirksamkeit der verschiedensten Kohlenhydrate führte zu dem Versucht, Austauschtabellen aufzustellen, in denen die einzelnen Kohlenhydratprodukte nicht aufgrund ihres absoluten Kohlenhydratgehaltes, sondern aufgrund ihrer Blutglukosewirksamkeit verglichen wurden. Disaccharide Bakterielle Disaccharidasen Oligosaccharide Disaccharide Monosaccharide Monosaccharide 1 v Bakterielle Enzyme Acetat Butyrat Konsequenz: Osmolarität v Laktat Andere organische Säuren jr pH Abbildung 1: Metabolisches Schicksal von nicht resorbierten Kohlenhydraten im Kolon. Verdauliche und unverdauliche Kohlenhydrate werden im Kolon durch anaerobe Bakterien fermentiert zu kurzkettigen Fettsäuren, CO 2 und H2. Kurzkettige Fettsäuren können im Kolon effektiv rückresorbiert werden, wodurch einem fäkalen Energieverlust entgegengewirkt wird Die Arbeitsgruppe von Jenkins (20) schlug als Basis für die Durchführung des Kohlenhydrataustausches in der Diabetesdiät den sogenannten glykämischen Index (GI) vor. Man versteht darunter die prozentualen Blutglukoseanstiege (Fläche unter der Kurve) nach Gabe einer kohlenhydrathaltigen Nahrung im Vergleich zum Blutglukoseanstieg nach einer äquivalenten Kohlenhydratmenge in Form von Glukose. Anhand der Blutglukoseanstiege nach den unterschiedlichsten Kohlenhydraten der Nahrung läßt sich zwischen „langsamen" und „schnellen" Kohlenhydraten unGI = Zu den „langsamen" Kohlenhydraten gehören Trockengemüse wie Linsen und Bohnen, Milchprodukte, Obst, und von den Mehlprodukten Spaghetti und Haferbrei. „Schnelle" Kohlenhydrate sind Karotten, Cornflakes, Kartoffelbrei. Die üblichen wichtigsten Stärkeprodukte der menschlichen Nahrung, wie Brot und Kartoffeln, bewirken im Vergleich zum Beispiel zu Milchprodukten, Leguminosen und Obst deutlich stärkere Blutglukoseanstiege (20, 21) (Abbildung 2). Der glykämische Index scheint ein guter Parameter für die Blutglukosewirksamkeit von Kohlenhydra- Blutglukoseanstiege (Fläche) nach KH-Nahrung x 100 Blutglukoseanstiege (Fläche) nach äquivalenter KH-Menge in Form von Glukose (20) terscheiden. Für Diabetiker wünschenswert sind „langsame" Kohlenhydrate mit einem niedrigen glykämischen Index (Tabelle 3). ten zu sein, er darf jedoch nicht als Anlaß dafür genommen werden, aufgrund niedriger Indexziffern den Kohlenhydratanteil der Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 19 vom 8. Mai 1985 (51) 1415 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Diabetes mellitus Nahrung in der Diabetesdiät wesentlich zu erhöhen, da diese Kohlenhydrate vom Intestinaltrakt energetisch fast vollständig genutzt werden können. Der „Ausschuß Ernährung" der Deutschen Diabetes-Gesellschaft hat aus diesen Gründen mit Recht in einer Stellungnahme (siehe Kurzmitteilung „Diabetes-Diät: Warnung vor Liberalisierung der Kohlenhydrataufnahme" im gleichen Heft, Seite 1424) davor gewarnt, aufgrund der unterschiedlich schnellen Aufschließbarkeit von Kohlenhydraten im Darm das Prinzip der isoenergetischen Ernährung aufzugeben und Diabetiker zu verunsichern. Die Daten der Arbeitsgruppe von Otto aus Deutschland (31) und von Jenkins aus London und Toronto (20, 21) geben uns Hinweise dafür, welche Kohlenhydrate für den Diabetiker günstig sind und können dazu beitragen, unter Beibehaltung einer isoenergetischen Kohlenhydratzufuhr orale Antidiabetika und eventuell auch Insulin einzusparen. Füll- und Quellstoffe als Resorptionsverzögerer Reichlicher Verzehr von Füll- und Quellstoffen (Ballaststoffe) mit der Nahrung sollte nach der sogenannten „Fiber"-Hypothese dafür verantwortlich sein, daß ein Diabetes mellitus in bestimmten Volksgruppen viel seltener auftrete (33). Zudem sollte es möglich sein, durch sogenannte Füll- und Quellstoffe (Tabelle 4) die postprandialen Blutglukosewerte sowohl bei Gesunden wie auch bei Diabetikern zu reduzieren. Als Wirkungsmechanismen wurden diskutiert: Verzögerung der Magenentleerung; C) Reduktion der Digestion der Nahrung (insbesondere der Kohlenhydrate); ® Verzögerung der Resorption durch Zunahme der sogenannten „unstirred layer" (= Diffusionsbarriere im Dünndarm). ( Am intensivsten untersucht wurde der Quellstoff Guar (= unverdauliches Polysaccharid der indi- Tabelle 2: Resorptionsgeschwindigkeit abhängig von: 0 Ingestionsmodus C) Verdaulichkeit ® Magenentleerung ® Intraluminale Digestionskapazität des Pankreas und der Galle ® Kontaktzeit für Digestion (Passagezeit) ® Kontaktfläche a) Darmlänge b) Zottenoberfläche c) Bürstensaumenzymgehalt d) Carrierfunktion O Kontaktzeit für Resorption (Mund-Zoekum-Transitzeit) ® Dicke der Diffusionsbarriere des Resorptionsepithels (sogenannte unstirred layer) 100 - Gly käm isc her In dex 80 60 40 20 0 lik CO Tro c keng e m üse CO _C2 O Milc hp rodu kte Me hlp rodu kte E O Fr ühst üc k „ Cerea ls " Wu rze lgem üse schen Büschelbohne) hinsichtlich 12 w Abbildung 2: Glykämischer Index verschiedener kohlenhydrathaltiger Nahrungsmit- tel (nach Jenkins, Ref. 21) 1416 (52) Heft 19 vom 8. Mai 1985 82. Jahrgang Ausgabe A der Resorptionsverzögerung und seiner Wirkung auf die Senkung postprandialer Blutglukosespiegel nach Gabe von Kohlenhydraten (21). Guar bewirkt nach eigenen Untersuchungen (13, 14, 15) eine Verzögerung der Glukoseresorption (Abbildung 3) durch Ausbildung einer Diffusionsbarriere im Dünndarm, während der Magenentleerungsverzögerung nur eine untergeordnete Bedeutung zuzukommen scheint. Für seine Wirksamkeit auf die Reduktion postprandialer Blutglukosespiegel ist von entscheidender Bedeutung, daß die Quellsubstanz innig mit dem Kohlenhydratmahl vermischt wird. Versuche, ein Guarbrot für Diabetiker zu fertigen, scheiterten, da die Inkorporation von mehr als einem Gramm des Quellstoffs pro Scheibe Brot geschmacklich nicht mehr akzeptabel war; zudem scheiterten Ver- DEUTSCHES itRZTEBLATT Diabetes mellitus suche, Nahrungsmittel mit einem hohen Guargehalt herzustellen, an den Gesetzesvorschriften zur Herstellung diätetischer Lebensmittel, die auch den Zusatz von Quellstoffen limitiert. Aus diesem Grunde wurde in der Bundesrepublik Deutschland die strengen Vorschriften der diäLebensmittelhersteltetischen lung umgehend - der Weg eingeschlagen, den Quellstoff Guar in der galenischen Form von Minitabletten als Arzneimittel auf den Markt zu bringen. Während die innige Vermischung von Guarpulver mit der Mahlzeit geschmacklich schlecht akzeptiert wird, aber wirkungsvoll ist, besitzt die neue galenische Zubereitung der Minitabletten (Giucotard®) eine gute geschmackliche Akzeptanz, möglicherweise jedoch eine schwächere Wirksamkeit als die Quellsubstanz in Pulverform. Von Bedeutung bei der Therapie mit Guar ist, daß die Substanz nach vorheriger Quellung verteilt über die Mahlzeiten oder vor der Mahlzeit eingenommen wird . Eine Reihe gut kontrollierter klinischer Studien hat gezeigt, daß Guar einen bescheidenen Wirkungseffekt in der Reduktion Blutglukosespitpostprandialer zen besitzt (19). Pektine haben sich kaum als wirksam erwiesen. Das Problem einer länger dauernden Therapie mit Quellstoffen, wie Guar, liegt in der geschmacklichen Akzeptanz. Nebenwirkungen durch Guar sind geringfügig : Völlegefühl , minimale Beeinflussungen des Mineralstoffwechsels (Kalzium), Kontraindikation bei Stenosen und Subileus des Intestinaltraktes (19) . = 220 200 I. . { · · ··I·""I·····I . . I 160 ······· 120 o----o ohne Guar • • 100 mit Guar 0 0 30 60 90 120 150 180 Freie Zucker ride Glukose Maltose Saccharose Fruktose + Disaccha- = = = = 100% 105% 59% 20% Milchprodukte Milch Yoghurt Eiscreme = 34% = 36% = 36% Obst Apfel Bananen Orangen = 39% = 62% = 40% Gemüse Breite Bohnen = Erbsen (gefroren) = Karotten = Kartoffel (neu) = Kartoffelbrei = getrocknete Bohnen 79% 51% 92% 70% 80% = 40% Bohnen (Soya) = 15% getrocknete Erbsen = 14-33% Linsen = 29% Mehlprodukte Brot (weiß) Brot (grau) Reis (braun) Reis (weiß) Spaghetti Cornflakes Müsli Haferbrei AII-Bran-Cereal = = = = = = = = = 69% 72% 66% 72% 42% 80% 66% 49% 51% nach Jenkins et al., Am . J. Clin. Nutrition 34, 1981, 362- 366 (20) .1 140 ~ Zusammenfassend können wir feststellen, daß die zusätzliche Gabe von Guar zur kohlenhydrathaltigen Mahlzeit durch Resorp- < 0,01 < 0,05 < 0,05 9 180 ~ ~ x ±SEM n ~ ~ Guar hat als weiteren wichtigen Nebeneffekt eine in mehreren Studien nachgewiesene Senkung des Serumcholesterins, was möglicherweise durch eine verstärkte fäkale Gallensäurenausscheidung (ähnlich Cholestyramin) bewirkt wird (19). Blutglukose (mg %) 240 Tabelle 3: Glykämischer Index: Maß für "langsame" und "schnelle " Kohlenhydrate 240 (min) Abbildung 3: Postprandiale Blutglukoseanstiege nach kohlenhydratreichem Testmahl mit und ohne 16 g Guar bei Typ-li-Diabetikern tionsverzögerung aus "schnellen" Kohenhydraten funktionell Kohlenhydrate zu " langsame" machen vermag. Der therapeutische Einsatz ist als Zusatzmaßnahme zur diätetischen Behandlung des Diabetes mellitus zu sehen und wird nicht den möglicherweise notwendigen Einsatz von Insulin oder oralen Antidiabetika C> ersetzen können . Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 19 vom 8. Mai 1985 (57) 1417 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Diabetes mellitus Enzymhammer als Resorptionsverzögerar Hemmer der pankreatischen aAmylase aus Weizen und Bohnen sind bereits seit 1943 bekannt (22). Ein a-Amylasehemmer (Phaseolamin) wurde 1975 in den USA isoliert (24) und in der Zwischenzeit in den USA und weltweit als ,.Schlankmacher" vermarktet (eine Million Stärkeblockertabletten wurden in den USA 1982verkauft). ln Deutschland berichteten Puls und Keup (26) über einen neuen potenten, aus We izen gewonnenen Stärkeblocker, der sich jedoch in kl inischen Studien an Diabetikern nicht als voll wirksam erwies. Während bei alleiniger Gabe von Stärke als Kohlenhydrat eine Reduktion postprandialer Blutglukosewerte nachweisbar war, zeigt sich , daß die Zugabe des Stärkeblockers zur Diabetesdiät weitgehend unwirksam war. Eine mögliche Ursache der Unwirksamkeit kann darin gesehen werden , daß die Diabetesdiäten neben Stärke auch einen großen Anteil an Disacchariden besitzen , deren Spaltung vom Stärkeblocker nicht beeinflußt wurde. Andere , mögliawirkungsvollere cherweise Amylasehemmer (zum Beispiel Trestatin) befinden sich noch im Stadium der klinischen Erprobung. Auch später getesteter ter Amylasehammer mikrob iellen Ursprungs erwies sich in klinischen Studien nicht als sehr wirksam (18 , 28) . Eine exakte Studie der Arbeitsgruppe von Fordtran aus Dallas (1) zeigte kürzlich , daß der amerikanische Stärkeblocker Phasealamin zu keinem fäkalen Kalorienverlust nach einem kohlenhydratreichen Mahl führte , somit als Schlankmacher wirkungslos sein muß. Eine Gewichtsreduktion durch Resorptionshammer ist nur möglich , wenn durch dekompensierte Malabsorption unter den klinischen Symptomen von Flatulenz, Gewichtsverlust und Diarrhöe ein fäkaler Kalorienverlust induziert wird. Das Prinzip der Resorptionsverzögerung kann jedoch eingesetzt werden zur Reduktion postprandialer Blutglukosewerte ohne Induktion eines fäkalen Kalorienverlustes (1 0) . Effektivster Enzymhemmer: Acarbose Effektiver in der Verzögerung der Glukoseresorpt ion erwies sich der a-Giukosidasenhemmer Acarbose (27, 28, 29) , der am stärksten die Glukoamylase , Saccharase and Maltase in der Dünndarmmukosa kompetitiv hemmte und dam it die Serumglukose (mg/100 ml) Tabelle 4: Nicht resorbierbare Kohlenhydrate kleinmolekularer Form und Füll- und Quellstoffe (Polysaccharide) C> Laktulose (Laxans) C> Stacchyose (für Flatulenz verantwortl ich bei Bohnengenuß) C> Raffinose C> Cellulose C> Hemicellulose C> Pektine C> Lignin (Kleie) C> Gums : z. B. Gummi arabicum Guar, Karaya, Tragacanth C> Muc ilag inosa: z. B. Plantago C> Alginate Kohlenhydratassiendtermina le milation verzögert. a-Giykosidasenhemmer bewirken Reduktionen postprandialer Blutglukoseanstiege nach Gabe von Saccharose (Abb ildung 4}, aber auch nach Gabe von Stärke, da nach pankreatischer Stärkespaltung aGrenzdextrine, Maltose und Maltotriese im Darmlumen entstehen, 0 100 g Saccharose • 100 g Saccharose + 200 mg Acarbose • p < 0.001 •• p < 0.01 150 130 110 90 70 50 0 1420 30 60 (60) Heft 19 vom 8. Mai 1985 82. Jahrgang 90 120 Ausgabe A 150 180 min Abbildung 4 : Blutglukoseanstiege bei gesu nden Probanden nach oraler Gabe von 100 g Rohrzucker (Saccharose) alleine und 100 g Rohrzucker plus 200 mg des a-Giucosidasenhemmers Acarbose . Acarbose verhindert sowohl den Anstieg der postprand ialen Blutglukosewerte wie auch den spätpostprandialen Glukose-, undershoot' (nach 4) DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Diabetes mellitus deren Endverdauung nun durch Enzymblockade der Dünndarmmembranenzyme verzögert wird (4, 5, 6, 27, 28, 29). Höhere Dosen des a-Glukosidasenhemmers können nach entsprechender Gabe von Dissacchariden (zum Beispiel Saccharose) durch komplette Digestions- und Resorptionshemmung zur Kohlenhydratmalabsorption mit den klinischen Zeichen der Flatulenz, Meteorismus, Diarrhöe, saurem Stuhl-pH führen (4). Damit sind auch gleichzeitig die Nebenwirkungen des effektiven Enzymhemmers Acarbose genannt. Durch einschleichende Dosierung läßt sich durch Adaptation des Dünn- und Dickdarmes das Ausmaß der Nebenwirkungen mindern. Je wirkungsvoller der Enzymhemmer ist, um so größer muß notwendigerweise das Nebenwirkungsspektrum der Kohlenhydratmalabsorption sein. Eine vorsichtige Dosierung kann jedoch noch zu einer Wirkung auf die Glättung des Blutglukoseprofils führen, ohne daß Nebenwirkungen auftreten. Ziel der Resorptionsverzögerung muß es sein, lediglich eine Verzögerung der Kohlenhydratresorption aus dem Dünndarm zu erzielen, nicht jedoch eine komplette Hemmung der Resorption, die zum Erscheinen großer Mengen von Kohlenhydraten im Dickdarm führt. Weitere Entwicklungen in Deutschland werden mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führen, daß ähnliche, möglicherweise effektivere a-Glukosidasenhemmer in die Therapie des Diabetes mellitus Einzug halten werden. Acarbose hat sich in zahlreichen klinischen Studien weltweit als effektiv in der Glättung postprandialer Blutglukosewerte und in einer Verbesserung der Einstellung sowohl bei Typ-1- wie auch bei TypII-Diabetikern erwiesen (12). Die Therapieergebnisse hierbei sind überzeugender als sie durch Gabe von Guar zu erzielen waren. Verzögerung der Glukoseresorption Die medikamentöse Möglichkeit der Hemmung der Kohlenhydratresorption auf der Ebene des Endschrittes der Kohlenhydratassimilation (Resorption von Glukose) wurde jahrelang durch Einsatz von Biguaniden (Phenformin, Buformin, Metformin) in der Diabetestherapie genutzt (3). Wegen der Nebenwirkungen (Laktatazidose) sind Biguanide fast vollständig aus dem therapeutischen Repertoire verschwunden. Für andere Pharmaka, die ebenfalls die Glukoseresorption hemmen (Prenylamin [Segontin®], Carbocromen [Intensain9) ließ sich jedoch kein sicherer Wirkungseffekt beim Diabetiker nachweisen (2). keit von Enzymhemmern als „Schlankmacher" ist der Dickdarm, der als Energiesparorgan Kohlenhydrate noch äußerst effektiv verwerten kann. Enzymhemmer und Quellstoffe eignen sich somit nicht als „Schlankmacher", können aber in der Therapie des Diabetes mellitus und des Dumping-Syndroms zur Glättung postprandialer Blutglukosespiegel in Ergänzung zu einer konsequenten diätetischen Therapie wirksam eingesetzt werden. Literatur im Sonderdruck, zu beziehen über den Verfasser. Anschrift des Verfassers: Schlußfolgerungen Genauere Kenntnisse über die Resorptionsgeschwindigkeit verschiedener Kohlenhydrate der Nahrung haben uns für die Gestaltung der Diabetestherapie Hinweise dafür gegeben, welche Kohlenhydrate dem Diabetiker, basierend auf ihrer Blutglukosewirksamkeit, anzuraten sind. „Langsamen" Kohlenhydraten ist in der Diabetestherapie der Vorzug vor sogenannten „schnellen" Kohlenhydraten zu geben. Additiv zur konsequenten diätetischen Behandlung des Diabetikers kann auch medikamentös eine Verzögerung der intestinalen Kohlenhydratresorption erzielt werden, die zur Glättung des Blutglukoseprofils beitragen kann. Durch innige Beimischung des Quellstoffs Guar zur kohlenhydrathaltigen Mahlzeit sowie durch Gabe von Enzymhemmern (a-Glukosidasenhemmer) läßt sich der Blutzuckeranstieg postprandial senken. Eine durch zu effektive Resorptionshemmung induzierte Malabsorption führt nur bei Überdosierung von Enzymhemmern zu energetisch wirksamen Kalorienverlusten mit dem Stuhl. Verantwortlich für die Wirkungslosig- Professor Dr. med. Wolfgang F. Caspary Medizinische Klinik II Stadtkrankenhaus Hanau Leimenstraße 20 6450 Hanau am Main BERICHTIGUNG Extrakorporale Stoßwellenlithotripsie: Behandlungszentren Zu der Notiz in Heft 12/1985, Seite 841: Das Kuratorium für Heimdialyse in Neu-Isenburg teilt uns mit, daß Auskünfte über Behandlungszentren, in denen die extrakorporale Stoßwellenlithotripsie durchgeführt wird, unter folgender Anschrift zu erhalten sind: Kuratorium für Heimdialyse e. V. Emil-von-Behring-Passage Postfach 462 6078 Neu-Isenburg Telefon: 0 61 02/35 90 Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 19 vom 8. Mai 1985 (63) 1423