Lesebuch zur Vorbereitung auf das Schwerpunktthema

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LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Lesebuch zur Vorbereitung auf das Schwerpunktthema
„Es ist genug für alle da“
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft
6. Tagung der 11. Synode
der Evangelischen Kirche in Deutschland
10. bis 13. November 2013
in Düsseldorf
Impressum
Herausgegeben vom
Kirchenamt der Evangelischen Kirche
in Deutschland (EKD)
Herrenhäuser Straße 12
30419 Hannover
www.ekd.de
Redaktion:
Klaus J. Burckhardt, Renate Knüppel, Gudrun Kordecki,
Claudia Warning, Klaus Seitz
Layout: Jutta Herden
Titelfoto: Frank Schultze, Brot für die Welt
Fotos: Brot für die Welt
Gesamtherstellung:
Geschäftsstelle der Synode der EKD
Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover
www.ekd.de
Kooperationspartner:
Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst
Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.
Caroline-Michaelis-Straße 1
10115 Berlin, Germany
www.brot-fuer-die-welt.de
Oktober 2013
Lesebuch zur Vorbereitung auf das Schwerpunktthema
„Es ist genug für alle da“
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft
6. Tagung der 11. Synode
der Evangelischen Kirche in Deutschland
10. bis 13. November 2013
in Düsseldorf
Mitglieder des Vorbereitungsausschusses
Maike Axenkopf, Trier
Heinrich Kemper, Lage
Viola Kennert, Berlin (Vorsitzende)
Dr. Gudrun Kordecki, Schwerte
Dr. Monika Lengelsen, Wuppertal
Uwe Meinhold, Berlin
Henning Schulze-Drude, Wittingen
Dr. Viva-Katharina Volkmann, Verden (Aller)
Prof. Dr. Claudia Warning, Berlin
Prof. Dr. Dr. h.c. Harald von Witzke, Berlin
Weitere Mitarbeit:
Dr. Martin Heimbucher, Hannover (UEK)
Florian Hübner, Hannover (Entsandt durch VELKD als Ref. des DNK-LWB)
Dr. Renate Knüppel, Hannover (EKD)
Dr. Klaus Seitz, Berlin
Geschäftsführung:
Klaus J. Burckhardt, Hannover (EKD)
Martin Schindehütte, Hannover (EKD)
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1
2
3
4
5
Theologische Grundlegung
Nahrungsgerechtigkeit und Christliche Ethik
Heinrich Bedford-Strohm
6
7
Brot für die Welt-Projekt Indonesien: Im Einklang mit der Natur
18
EKD-Texte zur Thematik
2.1 Klärung der Begriffe
2.2 Ethische Leitlinien für eine nachhaltige Landwirtschaft
2.3 „Es genug sein lassen“: Von der Effizienz zur Suffizienz
2.4 Konziliarer Prozess und Option für die Armen
2.5 Empfehlungen der Kammer für nachhaltige Entwicklung
für den weiteren Reformprozess der Europäischen Agrarpolitik
19
19
25
32
35
Brot für die Welt-Projekt Bangladesch: Gebt uns unser Land!
42
Strategien im Kampf gegen den Hunger
Dialogprozess zwischen den Kirchen und dem BMELV
43
Brot für die Welt-Projekt Peru: Das Comeback der tollen Knolle
51
Brich mit den Hungrigen Dein Brot!
Uwe Meinhold
52
Brot für die Welt-Projekt Argentinien: Mutig gegen Landraub
57
Ausländische Direktinvestitionen in landwirtschaftliche Nutzflächen
und die globalen Preisentwicklungen bei Agrargütern
Hans Diefenbacher
58
37
Inhaltsverzeichnis
6
7
8
9
Landwirtschaft. Ein Thema der Kirche
Clemens Dirscherl
67
Brot für die Welt-Projekt Kenia: Der ewigen Dürre trotzen
73
Geschlechtergleichstellung und Ernährungssicherheit
Olivier De Schutter
74
Die Welt nachhaltig ernähren – Agrarökologie fördern
Ecumenical Advocay Alliance
78
Brot für die Welt-Projekt Guatemala: Mit dem Mut der Verzweiflung
85
Gesundheit und Fehlernährung
Olivier De Schutter
86
10 Soziale Sicherheit und das Recht auf Nahrung
Olivier De Schutter / Magdalena Sepulveda
Brot für die Welt Projekt Burkina Faso: Überleben im Klimawandel
94
99
11 Internationaler Agrarhandel und Entwicklungsländer
Harald von Witzke
100
12 UN-Report: Eine neue globale Partnerschaft – Armut
beseitigen und Volkswirtschaften transformieren durch
nachhaltige Entwicklung
102
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Vorwort
Als Christinnen und Christen wissen wir, wie zentral
Geschichten ums Essen und Sattwerden in der Bibel
sind. Die Vater-Unser-Bitte „Unser tägliches Brot gib uns
heute!“ gehört zum Grundvollzug unseres Glaubens.
Diese Bitte, mit der uns Jesus selbst beten lehrt, weist
weit über das bloße Lebensmittel hinaus. Luthers Erklärung im Kleinen Katechismus sagt: Brot ist „alles, was
not tut für Leib und Leben, wie Essen, Trinken, Kleider,
Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromme Eheleute, fromme Kinder, fromme Gehilfen, fromme und
treue Oberherrn, gute Regierung, gut Wetter, Friede,
Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.“ Brot steht damit letztlich für alles, was für menschliches Leben notwendig ist und also
unsere Not wenden kann.
Im Abendmahl feiern wir Gottes Gabe des Lebens und
seine Gemeinschaft mit uns. Es begründet unsere christliche Gemeinschaft und stillt den Hunger der Seele nach
Gott. Christliche Gemeinschaft ist so Gabe und Aufgabe: Wir sind befreit zu solidarischem Teilen. Denn
eine grundlegende Herausforderung für unseren Glauben ist, dass immer noch etwa eine Milliarde Menschen
extreme Armut und Hunger leiden!
Darum ist es so wichtig, dass sich die Synode der EKD
auf dieser Grundlage intensiv mit den Fragen von Welternährung und nachhaltiger Landwirtschaft beschäftigt,
Dr. Günther Beckstein
Vizepräses der Synode der EKD
6
nach Wegen nachhaltiger Wirtschaftsformen fragt und
auf gerechte Teilhabe drängt. Dieses Lesebuch bietet dazu Fakten und Perspektiven für unsere synodale Debatte
und daraus zu ziehende Folgerungen.
Unsere Aufgabe ist es, angesichts krisenhafter Ent wicklungen Raum zu schaffen für neues Denken, für Um kehr
und transformatives Handeln. Wir selbst können dafür
eine Menge tun – bei unseren eigenen Ernäh rungsgewohnheiten, unserem persönlichen Lebensstil, aber
auch in beispielhaftem Handeln in unseren Gemeinden, in kirchlichen Einrichtungen und im gesellschaftlichen Dialog. Vom fairen Einkauf bis hin zu nachhaltiger Landwirtschaftspolitik. Eine „Ethik des Genug“ ist
dabei Gewinn und nicht Verlust von Lebensqualität! Sie
ist ein Zeichen des Vertrauens auf Gott, ein Zeichen der
Dankbarkeit für seine wunderbare Schöpfung.
Schon lange ist uns bewusst, dass Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Partizipation wesentliche Aspekte der
Zukunftsfähigkeit unserer Erde sind. Weil der Skandal
des weltweiten Hungers zum Himmel schreit, gibt es in
der Perspektive des Glaubens einen Vorrang für die
Armen, einen Vorrang für die Hungernden. Für die
Debatten unserer Synodaltagung wünschen wir uns,
dass es im Dreischritt von Sehen, Urteilen und Handeln
gelingt, Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft
so zu bedenken, dass darüber deutlich wird: Die Evangelische Kirche in Deutschland ist den Ärmsten ein
Anwalt ihrer Hoffnung. Denn: „Es ist genug für alle
da!“
Klaus Eberl
Vizepräses der Synode der EKD
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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Feldarbeit, Angola. Foto: Jörg Böthling.
1. Theologische Grundlegung
Nahrungsgerechtigkeit und
Christliche Ethik
Heinrich Bedford-Strohm
1.
Einleitung
Lassen Sie mich den Vortrag 1 mit einem Blick vom nächsten Jahrhundert in unsere Zeit zurück beginnen. Stellen
wir uns folgende Pressemeldung im „Global Electronic
Observer“, dem mit 2 Milliarden Abonnenten weltweit
größten Nachrichtenmedium, vom 15. Januar 2100 vor:
Aufarbeitung der Geschichte gefordert
Bei einer internationalen Milleniums-Konferenz im
südafrikanischen Cape Town haben führende Historiker gestern eine neue Anstrengung zur Aufarbeitung
der Geschichte des 21. Jahrhunderts gefordert. Der
welt weit renommierte deutsche Historiker Michael
Misakwani erinnerte an die massive Verletzung der
Menschenrechte, die die ganze erste Hälfte des
21. Jahrhundert gekennzeichnet hätten. Misakwani,
der selbst afrikanische familiäre Wurzeln hat, wies insbesondere auf das unsägliche Leid hin, das der Mangel
an Nahrung und medizinischer Grundversorgung in
vielen Ländern Afrikas gefordert habe. Heute unvor-
1
Vortrag auf dem Symposium „Wir haben genug!“ im Anschluss an die 11. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes im Juli 2010; abgedruckt in: blick in die Welt (2010),
Nr. 4, S. 1-8.
stellbare 25 000 Tote seien damals aus Armutsgründen
jeden Tag zu beklagen gewesen. Schon damals sei klar
gewesen, dass es auf der Welt genug Nahrungsmittel
gebe, um jedem Menschen ein Existenzminimum zu
garantieren. Insbesondere im ersten Jahrzehnt des
21. Jahrhunderts sei der Reichtum in Teilen der Welt
sprunghaft angestiegen, ohne dass die Ressourcen
zur wirksamen Bekämpfung der Armut genutzt worden seien. Auch die Weltwirtschaftskrise des Jahres
2008 habe nur für ein vorübergehendes Nachdenken
gesorgt. Das garantierte weltweite Grundeinkommen,
auf das heute jeder Erdenbürger und jede Erdenbürgerin Anspruch habe, sei damals von vielen noch
als illusionäre Idee gesehen worden, obwohl die
Ressourcen dafür schon damals dagewesen sei7
en. Die Religionsgemeinschaften
hätten zwar immer
wieder die weltweiten Ungerechtigkeiten angeprangert. Viele ihrer Mitglieder hätten aber damals an den
Schaltstellen der Macht gesessen, ohne dass sie die
durch Armut bedingten massiven Menschenrechtsverletzungen gestoppt hätten. Bis heute, so Misakwani, habe die historische Wissenschaft noch nicht
wirklich aufgearbeitet, wie es dazu kommen konnte.
Der Harvard-Historiker John Obama, ein Nachfahre des
ersten schwarzen Präsidenten der USA, wies auf die
Komplexität der wirtschaftlichen Zusammenhänge in
den damaligen ersten Jahrzehnten der Globalisierung
hin. Die wirtschaftliche Dynamik sei so groß gewesen,
dass die humanitäre Dynamik damit nicht Schritt gehalten habe. Viele der damals führenden Ökonomen und
Politiker seien ernsthaft davon überzeugt gewesen,
dass sich die Überwindung der Armut von selbst ein-
7
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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
stellen werde, wenn wirtschaftlichen Aktivitäten möglichst wenig Grenzen auferlegt würden. Sie seien sich
deswegen der moralischen Fragwürdigkeit des herrschenden Wirtschaftssystems gar nicht bewusst gewesen.
Einen besonderen Akzent setzte die chinesische
Kirchengeschichtlerin Ka Wee Yan. Yan, die bei der
Konferenz die OECC (One Ecumenical Church of
Christ) vertrat, analysierte in ihrem Vortrag die Rolle
der Kirchen. Die damals noch in verschiedenen Konfessionen getrennten Kirchen – so Yan – seien zum
einen häufig so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie die moralische Brisanz der existierenden Zustände unterschätzt hätten. Zum anderen
habe trotz der schon damals vorhandenen Medien die
unmittelbare Konfrontation mit dem täglichen Elend
und Tod gefehlt. Viele Christinnen und Christen hätten schon damals engagiert geholfen, wenn sie persönlich mit Leid konfrontiert gewesen seien. Die
welt weiten Ungerechtigkeiten hätten sie aber für unüberwindbar gehalten, so wenig das im Rückblick
nachvollziehbar sei. Yan plädierte dafür, sich nicht
auf dem Erreichten auszuruhen. Man habe zwar in
den letzten Jahrzehnten die Voraussetzung dafür geschaffen, dass jeder Mensch auf Erden ein materiell
sorgenfreies Leben führen könne. Die vollständige
Integration der Technik in das menschliche Leben im
21. Jahrhundert habe aber neue Herausforderungen
für das zwischenmenschliche Zusammenleben geschaffen.
Die australische Historikerin Irabinna Ngurruwutthun
sprach über die ökologische Umorientierung im 21.
Jahrhundert. Man könne sich heute gar nicht mehr
vorstellen, welch massive Gewalt die Menschen zu
Beginn des 21. Jahrhunderts der Erde gegenüber geübt
hätten. Man habe damals im Hinblick auf viele im täglichen Leben benutzte Güter von „Abfall“ gesprochen.
Man habe diese Stoffe vergraben oder verbrannt. Man
habe zwar bei einigen Stoffen wie Glas und Papier
schon mit Recycling begonnen. Die heute übliche
komplette Wiederverwendung gebrauchter Güter habe
man damals aber noch für zu teuer gehalten. In wenigen Jahrzehnten habe man damals Wertstoffe aus der
8
Erde geholt, die in vielen Millionen Jahren gewachsen
seien. Die großen Umsiedlungsprogramme der letzten Jahrzehnte, bei denen Australien die Hauptlast getragen habe, seien durch die Klimaveränderungen nötig geworden, die sich im ersten Jahrzehnt des 21.
Jahrhunderts noch weithin ungebremst entwickelt hätten und den Meeresspiegel deutlich hätten ansteigen
lassen. Viele hätten die vollständige Umstellung auf regenerative Energien, die Mitte des 21. Jahrhunderts
weltweit abgeschlossen worden sei, damals noch für
illusionär gehalten. Man habe einen Lebensstil gepflegt, der von Wasser- und Energieverschwendung
geprägt gewesen sei. Erst durch die weltweit gut organisierten zivilgesellschaftlichen Bewegungen des
frühen 21. Jahrhunderts habe sich ein grundlegender Bewusstseinswandel vollzogen. Heute könne sich
kaum jemand mehr vorstellen, warum die Menschen
damals ein Leben mit immer mehr Konsum für erstrebenswert gehalten hätten. Das müsse auch der heutigen Generation eine Lehre sein, um Trägheit im
Denken zu überwinden.
Auch verschiedene andere Diskussionsbeiträge der
Tagung plädierten dafür, Lehren aus der Geschichte zu
ziehen. Achtung vor dem Menschen und Achtung vor
der Natur könnten heute besser miteinander verbunden werden als je zuvor in den letzten Jahrhunderten.
Das 21. Jahrhundert habe in der neueren Geschichte
eine besondere Stellung, nur zu vergleichen mit dem
Zeitalter der Reformation in Europa. Damals seien politische und religiöse Konstellationen entstanden, die
Jahrhunderte nachgewirkt hätten. Das 21. Jahrhundert
könne als Zeitalter der weltweiten „Transformation“
bezeichnet werden, das den Durchbruch zu einer echten Weltgesellschaft gebracht habe.“
Soweit die Pressemeldung aus dem „Global Electronic
Observer“ des Jahres 2100. Manchmal können wir
erst durch Distanz zum Gewohnten und Selbst verständlichen die Unselbstverständlichkeit, in der wir
leben, verstehen. Als Deutsche haben wir diesbezüglich schmerzhafte Erfahrungen gemacht; nach Ende des
Dritten Reiches fragten viele: Wie haben wir nur untätig zusehen können, wie Jüdinnen und Juden deportiert
wurden?
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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Wie wird wohl die Frage lauten, die wir uns in 50
Jahren stellen? Die globale Nahrungsungerechtigkeit
kann zwar nicht mit den Massenmorden der Nazis verglichen werden, denn sie basiert nicht auf der gewollten
und systematisch verfolgten Absicht, Menschen umzubringen. Trotzdem ist sie ein moralischer Skandal.
Die Opfer der gegenwärtigen globalen ökonomischen
Strukturen – so wenig sie auch beabsichtigt sein mögen – lassen keinen moralisch sensiblen Menschen
kalt.
Das gilt erst recht, da wir als Christinnen und Christen
sprechen, denn als solche bezeugen wir einen Gott, der
nach Aussage der Bibel untrennbar mit der Option für
die Armen verbunden ist. Diese Option ist kennzeichnend für alle biblischen Traditionen, angefangen beim
Glauben Israels bis zum Neuen Testament und der
Charakterisierung Jesu. Der Gott Israels, der sich und
das, was für ihn charakteristisch ist, im brennenden
Dornbusch offenbart, definiert sich selbst als der, der
sein Volk aus der Unterdrückung in die Freiheit führen
wird. Daher schützt das Gesetz, das Israel von Gott erhält, in besonderer Weise die Schwachen: Sorgt euch
um die Sklaven, denn auch ihr seid Sklaven gewesen
und ich habe euch in die Freiheit hinaus geführt! Die
Propheten kämpfen mit Leidenschaft für Gerechtigkeit
und üben Kritik an einem religiösen Kult, der die
Gerechtigkeit nicht achtet:
„Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und
mag eure Versammlungen nicht riechen. Und wenn
ihr mir auch Brandopfer und Speiseopfer opfert, so
habe ich keinen Gefallen daran und mag auch eure
fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das
Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel
nicht hören! Es ströme aber Recht wie Wasser und
die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“
(Amos 5, 21-24).
Jesus schließlich präsentiert die Bibel als den, der kam,
um den Armen das Evangelium zu verkündigen, und
der sich mit denen identifiziert, die hungrig, nackt,
krank, gefangen und fremd sind: „Wahrlich, ich sage
euch, was ihr einem von diesen, meinen Brüdern, getan
habt, das habt ihr mir getan” (Mt. 25, 40).
Ich möchte in drei Schritten die theologischen Vorarbeiten leisten, um mit diesen Problemen umzugehen:
Zuerst möchte ich das Profil der Option für die Armen
schärfen, indem ich vier wichtige Charakteristika beschreibe. Ich werde unter Berufung auf Martin Luther
die Bedeutung dieser Option unterstreichen. Danach
will ich mehrere ökonomische Modelle vorstellen, die
sich auf verschiedene Weise zu einem theologischen
Ansatz verhalten, der auf der Option für die Armen basiert. Schließlich will ich sieben Herausforderungen der
internationalen Ernährungsgerechtigkeit skizzieren und
ein paar Gedanken darüber entwickeln, welche Rolle
die Kirchen darin spielen können.
2.
Theologische Klärung –
die Option für die Armen
Ich will das Profil der Option für die Armen als ein
grundlegendes Prinzip des christlichen Verständnisses
von Gerechtigkeit schärfen, indem ich vier Aspekte darstelle, die seinen Inhalt und seine Funktion definieren.2
Die erste und fundamentale Klärung behandelt die
Frage, was Armut denn überhaupt sei. Materielle Armut
ist nur eine der Bedingungen, die gemeint sind, wenn
wir von der Option für die Armen sprechen. Es gibt
auch eine Form der Armut, die „sozio-kulturelle Armut”
genannt wurde.3 Sie beinhaltet unterschiedliche Formen
der Diskriminierung, wie Diskriminierung aufgrund
von Rasse, Geschlecht oder sexueller Vorliebe. Es ist
wichtig zu sagen, dass das Konzept der sozio-kulturellen Armut nicht dazu benutzt werden sollte, die
Grausamkeit des täglichen Kampfes ums Überleben zu
mystifizieren, den materielle Armut bedeutet. Materielle
Armut – und das bedeutet insbesondere Mangel an
Nahrung – bleibt die zentrale Form der Armut, und sie
ist gewöhnlich eine Dimension der sozio-kulturellen
Armut. Der Kern dessen, was Armut bedeutet, wird am
besten verstanden, wenn wir sie als Mangel an Teilhabe
2
Für eine tiefer gehende Diskussion cf. H. Bedford-Strohm:
Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen
Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1993, 166-203.
3
Boff/Pixley, 25.
9
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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
definieren. Es gibt immer einen Mangel an Teilhabe,
wenn Menschen national wie international ausgeschlossen werden von den ökonomischen und sozialen
Prozessen der Gesellschaft. Materielle Armut und besonders Mangel an Nahrung muss als Mangel an Teilhabe auf mehrfache Art gesehen werden, da sie für gewöhnlich den Ausschluss vom ökonomischen und
sozia len Prozess bedeutet. Die Tatsache, dass politische
Ämter beinahe nie von Menschen bekleidet werden, die
an Armut gelitten haben, ist nur einer der Hinweise auf
diese Tatsache. Die Wichtigkeit von Teilhabe ist auch
der Fokus meiner zweiten Klärung.
Meine zweite Klärung bestätigt den universalen Horizont der Option für die Armen. Diese Option wurde oft
als exklusiv und spaltend kritisiert. Und es ist sicherlich
wahr: Die Tatsache, dass sie eine vorrangige Option ist,
bedeutet, sie ist eine konfliktträchtige Option. Sie unterstützt bestimmte Interessen im Gegensatz zu anderen
Interessen. Letztlich ist sie aber keine parteiliche, sondern eine universale Option. Sie zielt auf Gerechtigkeit
für alle. Sie ist parteilich nur so lange, wie diese universale Absicht blockiert wird durch die Verfolgung illegitimer Interessen einiger auf Kosten der anderen. Vorrang für die Armen zielt nicht auf den Ausschluss der
Reichen, aber er will diejenigen einschließen, die derzeit von den Vorteilen der Gesellschaft ausgeschlossen
sind. Dieser Vorrang ist ein notwendiger Schritt auf dem
Weg zur Beteiligung aller am Vorteil der gegenseitigen
Zusammenarbeit. Lassen sie mich den Zusammen hang
zwischen dem universalen und dem Vorrang gebenden
Sinn der Option für die Armen mit der so genannten
Goldenen Regel veranschaulichen, wie sie im Neuen
Testament als Zusammenfassung der christ lichen Ethik
vorgestellt wird: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch
die Leute tun sollen, das tut ihnen auch!” (Mt. 7, 12). Die
goldene Regel ist eine universale Option, die auf Gegenseitigkeit basiert. Wenn wir sie auf unsere Frage nach
Gerechtigkeit anwenden, kommen wir kaum an dem
Schluss vorbei, dass sie direkt zur Option für die Armen
führt: Lebe in Solidarität mit dem Kampf der Armen um
ein würdiges Leben, genau wie du selbst ja auch ein
würdiges Leben führen willst. Die vorrangige Option
ist lediglich eine logische Folge der universalen Option,
angewandt auf eine bestimmte politische Situation.
10
Meine dritte Klärung führt meine Interpretation der
goldenen Regel einen Schritt weiter über die Schwelle
der Theologie hinaus. Die Option für die Armen ist
nicht nur fest verwurzelt in einer auf der Bibel basierenden theologischen Ethik, sondern sie ist auch zentraler Bestandteil einer philosophischen Annäherung an
Gerechtigkeit. Wie einige von ihnen vielleicht merken,
beziehe ich mich auf John Rawls‘ berühmte Theorie der
Gerechtig keit. Ich glaube nicht nur, dass deren zentrale
Bestandteile der Kritik von verschiedenen Seiten stand
halten konnten, sondern ich denke auch, dass sie in hohem Maße kompatibel sind mit christlicher Ethik. Das
Differenz-Prinzip, das eines der zwei Haupt prin zipien
ist, für die Rawls philosophisch argumentiert, steht der
Option für die Armen recht nahe: Differenzen in Wohlstand, Ein kommen und Macht sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie „(a) dem größten Nutzen der am meisten Benachtei lig ten dienen und (b) gebunden sind an
Ämter und Positionen, die allen unter den Bedingungen der Chancengleichheit offen stehen.“ 4 Die Verbindung des Vorzugs für die am meisten Benachteiligten
und die Zugäng lich keit sozialer Positionen für alle ist
eine enge philosophische Analogie zu dem teilhabeorientierten Verständnis der Option für die Armen, wie
ich es interpretiert habe.5 Die Goldene Regel hat eine
Brücken funktion zwischen biblisch begründeter, theologischer Ethik einerseits und philosophischer Ethik
andererseits. Beide führen von einer universalen Ethik
der Gegenseitigkeit zur Option für die Armen als dem
zentralen Kriterium für Gerechtigkeit.
Diese Rolle als Kriterium für Gerechtigkeit muss auf
ganz besondere Weise verstanden werden – und dies
ist meine vierte und letzte Klärung. Die Option für die
Armen ist ein kritischer Maßstab zur Beurteilung der
gegenwärtigen Situation im nationalen oder internationalen Kontext. Jeder Gebrauch dieses Kriteriums zur
schlichten Legitimation einer unabhängig davon gewonnenen Präferenz für eine gewisse Wirt schaftsordnung, welche auch immer es sei, ist gegen seine bibli4
J. Rawls: A Theory of Justice, Cambridge 1971, 83.
5
Es ist auch bemerkenswert, dass Rawls ausdrücklich argumentiert, „dass das Differenz-Prinzip ein Verständnis von
Gegenseitigkeit ausdrückt.” (Rawls, 102).
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
sche Bestimmung. Biblisch begründete christliche
Ethik ist immer kritische Ethik. Jesu Verkündigung des
Reiches Gottes war der eschatologische Ruf zu einem
neuen Leben. Sie war der Aufruf, Salz der Erde und
Licht der Welt zu sein. Es war der Aufruf, nicht auf den
Splitter im Auge des Nächsten zu sehen, sondern auf
den Balken in unserem eigenen Auge.
Die Option für die Armen ruft uns in den mächtigen
Ländern der westlichen Welt dazu auf, nicht auf andere und deren Verantwortlichkeiten zu deuten, sondern
als erstes auf uns selbst zu schauen und darauf, wie wir
zu weltweiter Ungerechtigkeit beitragen. Diese Option
muss als kritisches Kriterium verwendet werden bei
unserer Erwägung der angemessenen ökonomischen
Strategien, die zu mehr Gerechtigkeit führen.
Ich will das Ergebnis meiner vier Klärungen so zusammenfassen: Erstens: Die Situation, der die Option
für die Armen sich widmet, ist Mangel an Teilhabe.
Zweitens: Der exklusive Vorrang für die Armen ist eine
logische Folge ihrer inklusiven Universalität. Drittens:
Sie ist auf philosophischer Basis eben so plausibel, wie
auf biblischer. Viertens: Sie wird nur dann angemessen
als Kern christlicher Ethik verstanden, wenn sie als kritisches Kriterium benutzt wird.
Ich glaube, dass diese vier Klärungen, die ich vorgeschlagen habe, notwendig sind, um der Option für die
Armen ein Profil zu geben, das sie davor schützt, nur
ein Schlagwort ohne jeden Orientierungswert zu sein.
Bevor ich mich der Wirtschaft zuwende, lassen Sie mich
ein paar Minuten lang das Augenmerk auf den Vater des
Luthertums richten, Martin Luther selbst. Nur wenige
Menschen denken an die Option für die Armen, wenn
sie seinen Namen hören. Das ist ein Fehler, wie ich versuchen werde, aufzuzeigen.
3.
Martin Luthers Leidenschaft
für Gerechtigkeit
Luthers zahlreiche Werke zur Wirtschaftsethik bilden
den weniger bekannten Teil seiner Arbeit. Dies ist umso
überraschender, da sein leidenschaftliches Eintreten für
soziale Gerechtigkeit und für die Armen nichts an
Aktualität verloren hat. In diesen Werken kann Luther
wirklich als „öffentlicher Theologe” erkannt werden.
Selbst wenn er nicht die theoretische oder politisch-intellektuelle Bandbreite von heute zur Verfügung hatte,
mischte er sich, oft mit beißender Kritik, in öffentliche
Angelegenheiten ein. In seinen Werken zur Wirtschaftsethik spricht er von dem christlich-ethisch begründeten
Vorrang, der in den sozialen Umwälzungen des aufkeimenden Frühkapitalismus den Schwachen zukomme.
Der zeitgenössische Hintergrund seiner Bemerkungen
kann nicht direkt übertragen werden auf die heutige
ökonomische und soziale Situation. Doch trotz der
Grenzen von Luthers traditionsorientierter Mentalität
sind seine ethischen Grundaussagen, stark von der
Bibel beeinflusst, in hohem Maße relevant für die heutige Wirtschaft. Die weltweite Verteilung des Wohlstands ist heute wahrscheinlich noch ungleicher, als
sie in der völlig anderen Weltwirtschaft seiner Tage
war. Es geht nicht zu weit, zu sagen, dass das HauptCharakteristikum in Luthers Grund-Orientierung der
Wirtschafts-Ethik der „Vorrang für die Armen“ sei. Ein
Beispiel ist Luthers scharfe Kritik an der Art, wie der
Preis für Güter am Gesetz von Angebot und Nachfrage
ausgerichtet wird.
„Erstens haben die Kaufleute unter sich eine allgemeine Regel, das ist ihr Hauptspruch und Grund aller Wucherkniffe, daß sie sagen: Ich darf meine Ware
so teuer geben, wie ich kann. Das halten sie für ein
Recht, da ist dem Geiz der Raum gemacht und der
Hölle alle Tür und Fenster aufgetan. Was ist das denn
anders gesagt als soviel: Ich frage nichts nach meinem
Nächsten? Hätte ich nur meinen Gewinn und Geiz
voll, was geht’s mich an, daß es meinem Nächsten
zehn Schaden auf einmal täte? Da siehst du, wie dieser Spruch so stracks unverschämt nicht allein gegen
die christliche Liebe, sondern auch gegen das natürliche Gesetz geht.” 6
6
Martin Luther, ‘Von Kaufshandlung und Wucher (1524)’, in
„Luther Deutsch“ hgg. v. Kurt Aland , 2. Auflage 1967, Bd. 7,
S. 265.
11
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Luther kämpft gegen die Ausrichtung der Preise am
Markt, da dies die Bedürfnisse der Schwachen außer
Acht lässt. Seine Alternative ist die Ausrichtung an einem fairen Preis: „Es sollte nicht so heißen: ich darf
meine Ware so teuer geben, wie ich kann oder will,
sondern so: Ich darf meine Ware so teuer geben, wie
ich soll, oder wie es recht und billig ist.“ 7
Dann fährt er fort, zehn Praktiken der multinationalen Firmen seiner Zeit zu beschreiben, die ihren Vorteil
ziehen aus der Not der Armen, indem sie ihrer eigenen
Gier folgen, wie zum Beispiel Preissteigerung durch
Monopolbildung.8
Auffallend ist auch Luthers Beharren darauf, dass
Politiker eine aktive Rolle bei der Eindämmung ungezügelter Wirtschaftsmacht spielen sollten: „… die beste
und sicherste Weise (wäre), daß die weltliche Obrigkeit
hier vernünftige, redliche Leute einsetzte und verordnete, die alle Ware mit ihren Kosten überschlügen und
danach das Maß und Ziel festsetzten, was sie gelten
sollte, daß der Kaufmann zurechtkommen und seine
ausreichende Nahrung davon haben könnte“. 9
Dieser Abschnitt lässt keinen Zweifel daran, dass – für
Luther – die Regierung die Aufgabe hat, den notwendigen Rahmen für wirtschaftliche Aktivität vorzugeben,
wenn wir auch seine Lösung der Preiskontrolle durch
die Regierung heute nicht mehr vertreten können.
Luther greift Politiker an, da sie der Wirtschaft zu
nahe stehen. Seine Skepsis im Hinblick auf die Unabhängigkeit von Politikern und seine Forderung nach
dem Primat der Politik spricht in mancher Weise zu uns
heute. Was die ökonomische Praxis der multinationalen
Firmen, wie etwa der Fugger betrifft, die zu seiner Zeit
immer mächtiger wurden, sagt Luther:
„Könige und Fürsten sollten hier drein sehen und
dem nach strengem Recht wehren. Aber ich höre,
sie haben Anteil daran und es geht nach dem Spruch
Jes. 1, 23: ‚Deine Fürsten sind der Diebe Gesellen geworden.’ Dieweil lassen sie Diebe hängen, die einen
Gulden oder einen halben gestohlen haben, und machen Geschäfte mit denen, die alle Welt berauben und
mehr stehlen, als alle anderen, damit ja das Sprichwort
wahr bleibe: Große Diebe hängen die kleinen Diebe,
und wie der römische Ratsherr Cato sprach: Kleine
Diebe liegen im (Schuld)Turm und Stock, aber öffentliche Diebe gehen in Gold und Seide.” 10
Diese Worte bringen einen Protest gegen die Allianz von
Macht und Geld zum Ausdruck, welche die Interessen
und Rechte der Armen leugnet.
Luthers Kritik am frühen Kapitalismus, für deren radikale Leidenschaft viele weitere Beispiele angeführt
werden könnten, kann nicht einfach auf unsere Zeit
übertragen werden. Dahinter steht ein konservatives Festhalten am alten Feudalsystem, das sicher nicht
die Lösung für uns heute sein kann. Der Hintergrund
für Luthers moralische Entrüstung hat jedoch nichts
von seiner Aktualität verloren. Es ist die „Freiheit eines Christenmenschen”, die die Reformation in den
Mittelpunkt stellte, die Mitgefühl hat für das Schicksal
des Nächsten, insbesondere des von der Armut geplagten Nächsten und die nach Wegen sucht, seine
Situation zu verbessern. Wie Klaus Nürnberger in seiner großartigen Studie über Luthers Werke aus der
Perspektive des südafrikanischen Kontexts festhält, „betont Luther die öffentliche Verantwortung der Kirche.
Kirchenführer müssen sich mit einer klaren Botschaft
an die Öffentlichkeit wenden; Gemeinden müssen
Anteil nehmende Gemeinschaften werden und einzelne Mitglieder müssen in ihren säkularen Kontexten als
Christen handeln.“ 11
Von daher dürfen wir mit einiger Sicherheit annehmen,
dass Luther, wenn er in unserer Zeit mit ihrem globalen
Horizont lebte, ein leidenschaftlicher Anwalt der internationalen Ernährungsgerechtigkeit wäre. Wir haben
deutliche Hinweise dafür gefunden, dass die Option für
die Armen, die wir als charakteristisches Merkmal des
7
Ibid., S. 266.
8
Ibid., S. 275ff.
10
Ibid., 282.
9
Ibid., S. 267.
11
Nürnberger, Luther’s message for us today, p. 298.
12
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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
biblischen Gottesverständnisses erkannt haben, sich
auch als ein zentraler Aspekt der Theologie Luthers herausstellt. Es ist ein seltsames Phänomen, dass lutherische Kirchen und die Theologie im Norden weithin
Luthers Rechtfertigungslehre gewürdigt und reflektiert
haben, seine leidenschaftliche Option für die Armen
aber beinahe außer Acht ließen.
Wie können wir aber die Option für die Armen mit konkreten Regelungen für die Wirtschaft verbinden? Dies
ist eine Schlüsselfrage, wenn wir versuchen, Wege zur
internationalen Ernährungsgerechtigkeit zu finden. Es
gibt da beachtliche Meinungsverschiedenheiten über
den Ort und die Bedeutung ethischer Überlegungen für
Fragen der Ernährungsgerechtigkeit. Das hat mit dem
Wirtschaftsverständnis zu tun.
Ich sehe drei verschiedene Modelle des Wirt schaftsverständnisses, die ökonomische und ethische Überlegungen auf sehr unterschiedliche Weise verbinden.
4.
Drei Modelle der christlichen
Wirtschaftsethik
Das technische Wirtschaftsmodell kann sehr kurz abgehandelt werden. Man muss es aus theologischer Sicht
ernsthaft in Frage stellen. In seiner stärksten Form lehnt
es alle Überlegungen ab, die über Fragen der rein instrumentellen Vernunft hinaus gehen, so zum Beispiel
die nach der besten Strategie zur Maximierung der
weltweiten Nahrungsmittelproduktion. In seiner milderen Form setzt es voraus, dass über ein menschliches
Grundverständnis von Werten wie der Bekämpfung
menschlichen Leidens hinaus weitere ethische Reflexionen unnötig sind. Da nahezu alle Menschen sich auf
diese Grundwerte einigen können, gibt es keinen Bedarf
an ethischem Eingreifen im Bereich der Wirtschaft. Die
Herausforderung liegt vielmehr darin, wie man zu den
rechten ökonomischen Strategien findet, um die ethischen Ziele zu erreichen, über die sich alle mehr oder
weniger einig sind.
Wer von diesem Modell ausgeht, ist normalerweise skeptisch oder gar feindselig gegenüber religiös begründeten
Eingriffen in die Wirtschaftsdebatte. Zumal in seiner
schwächeren Form kann dieses Modell wertvoll sein
und sollte nicht einfach verworfen werden. Wo theologisch begründete Wirtschaftsethik die Schwierigkeit
unterschätzt, tatsächlich wirksame Strategien zu finden, da können Beiträge vom Standpunkt dieses
Modells aus einen gesunden Ernüchterungseffekt haben. Genau so klar muss jedoch zur Sprache gebracht
werden, dass dieses Modell, gerade in seiner stärkeren
Form, zur Ideologie neigt, da ihm das Bewusstsein seiner eigenen, vorausgesetzten Ziele und Werte fehlt.
Die Ziele und Werte können als Antrieb eines zweiten Modells gesehen werden, das ich das utopische
Wirtschaftsmodell nenne. Das utopische Modell kritisiert grundlegend die existierende soziale und ökonomische Ordnung mit all ihrer Akzeptanz von Gier
und Egoismus und versucht, Alternativen zu dieser
Ordnung zu beschreiben, die auf gleicher Verteilung
von Ressourcen beruhen. Der Kapitalismus wird grundsätzlich verurteilt, da er auf der Basis des Profitstrebens
funktioniert, einer Haltung, die in grundsätzlichem
Widerspruch zum christlichen Gebot gesehen wird,
den Nächsten zu lieben und ihm zu dienen.12 Das
Versagen des Kapitalismus wird als erwiesen angesehen
durch die Tatsache, dass er nicht dazu in der Lage ist,
die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln für alle
Menschen sicher zu stellen. In seiner schärfsten Version
dämonisiert es den Kapitalismus sogar als die Quelle allen Übels. In seiner milderen Version konzentriert es
sich auf die Alternativen.
Die mit diesem Modell gegebene Beschreibung einer Wirtschaft, die von gegenseitigem Respekt und
Solidarität unter den Menschen und dazu noch von einem Bewusstsein für die Würde der außermenschli-
12 Vgl. z.B. Ulrich Duchrow, Alternatives to Global Capitalism.
Drawn from Biblical History, Designed for Political Action,
Utrecht 1995. Obwohl Duchrow nicht nur alternative Visionen einer „Wirtschaft des Lebens” präsentiert, sondern auch
in vielfach wertvoller, scharfer, politischer und ökonomischer
Analyse, würde ich seinen Ansatz dem utopischen Modell
nahe sehen. Sein pragmatischer Nutzen leidet unter einer
unzureichenden Reflexion über die Rolle des Eigeninteresses
bei wirtschaftlichen Transaktionen.
13
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
chen Natur angetrieben wird, kann sehr inspirierend
sein und kann kreative Vorstellungskraft wecken für
ein neues wirtschaftliches Denken über den Horizont
traditioneller Konzepte hinaus. Diese sind manchmal
viel enger, als uns klar ist, wenn wir mit ihnen groß
geworden sind. Und es gibt eine offensichtliche Nähe
zwischen diesem Modell und biblischen Visionen, die
ebenso neue Werte und neue Beziehungen des Schalom
im Reich Gottes beschreiben.13
Die Schwäche dieses Modells liegt in seiner primären
Abhängigkeit von Inspiration. Grundlegende Alternativen in der Organisation der Wirtschaft in Bezug auf
Verteilung der Ressourcen können nur gelebt werden,
wenn Menschen sich in hohem Maße mit ihren Zielen
und Werten identifizieren. Wo Interessenskonflikte und
das Ringen um knappe Rohstoffe nicht im Wege stehen,
können alternative Modelle funktionieren und andere
inspirieren. Sie können aber nicht die Hauptgrundlage
für die öffentliche Stimme der Kirche in WirtschaftsAngelegenheiten sein, solange nicht die allgemeine Bekehrung aller zu diesen neuen Werten bevorsteht. Die
Organisation der Wirtschaft auf die allgemeine Bereitschaft zum freiwilligen Teilen der Ressourcen aufzubauen, ist von daher problematisch. Wenn die politische
Umsetzung utopischer Modelle zu Konsequenzen führen, die deren ursprünglichen guten Intentionen genau
entgegenlaufen, also etwa zu einem starken Rückgang
in der Wohlstands-Erzeugung führen, dann können sie
sogar ethisch zutiefst fragwürdig sein.
Die Stärke des utopischen Wirtschaftsmodells ist seine inspirierende Botschaft von der Möglichkeit einer anderen
Welt. Seine Gefahr liegt in seiner Ratlosigkeit gegenüber
einer Situation, in der die Wirtschaft immer noch auf eine
Weise organisiert werden muss, die existierende Eigeninteressen und die damit verbundenen Verteilungskämpfe
in Betracht zieht. Wenn die Menschen nicht spontan teilen, braucht man Regeln und Anreize, die sowohl zur
Produktion von Reichtum als auch zu einer gerechten
Verteilung ermutigen. Das utopische Modell lässt diejeni13
Siehe F. Segbers, Die Hausordnung der Tora. Biblische Impulse für eine theologische Wirtschaftsethik, 3. Auflage 2002;
U. Duchrow, Alternatives, 142-202.
14
gen im Stich, welche – zum Beispiel als PolitikerInnen –
die Macht zur Gestaltung solcher Regeln haben.
Das ist der Grund, weshalb wir ein drittes Modell
brauchen, das ich das öffentlich-theologische Wirtschaftsmodell nenne. Das öffentlich-theologische
Modell schätzt das Inspirationspotential des utopischen
Modells. Aber es geht über dieses Modell hinaus, indem
es ausdrücklich über die konkreten Auswirkungen gewisser möglicher Mechanismen nachdenkt, wobei es
mögliche, unbeabsichtigte, kontraproduktive Auswirkungen von Mecha nismen berücksichtigt, die auf den
ersten Blick ethisch besonders wertvoll erscheinen. Das
öffentlich-theologische Modell hat eine natürliche Nähe
zu einer Verant wortungsethik, da es das Nachdenken
über die Konsequen zen seiner in Erwägung gezogenen
Handlungs-Alternativen als integralen Bestandteil seiner
ethischen Argumentation ansieht. Nur wenn theologisch begründete, ethische Ziele sowohl auf eine sorgfältige Reflexion politischer und ökonomischer Strategien als auch auf deren erwartete Konsequenzen bezogen werden, kann theologische Ethik tatsächlich
Richtlinien geben für Politik und Wirtschaft und die zivilgesellschaftliche Debatte darüber.14
Dieses Modell hilft jedoch auch Ökonomen, ihr eigenes
Denken kritisch zu reflektieren. Welches sind die impliziten Ziele und Werte ökonomischer Strategien, und
wie werden die Prioritäten festgelegt? Und woran messen wir den Erfolg ökonomischer Bestrebungen? Derlei
Erfolg einfach an der weltweiten Nahrungsmittel-Produktion zu messen impliziert andere Ziele, als Instrumente zu entwickeln, mit denen man die Verbesserung
der Lebensumstände der Armen messen und den Fortschritt im ökologischen Umbau beurteilen kann. Gute
Wirtschaftstheorie beinhaltet eine solche Rechenschaft
über ihre Ziele und Absichten in ihren Überlegungen.
14
Für meine früheren Ausführungen zur öffentlichen Theologie siehe H. Bedford-Strohm, Nurturing Reason. The Public
Role of Religion in the Liberal State, in: NGTT 48 (2007),
25-41; Public Theology and the Global Economy. Ecumenical Social Thinking between Fundamental Criticism and
Reform, in: NGTT 48 (2007), 8-24; und „Tilling and Caring
for the Earth”. Public Theology and Ecology, in: International
Journal of Public Theology 1 (2007), 230-248.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Was folgt aus dieser Reflexion über Theologie und
Ökonomie für unsere Frage nach der internationalen
Ernährungsgerechtigkeit? Ich möchte auf sieben Aspekte hinweisen:
5.
Sieben Herausforderungen für die
internationale Ernährungsgerechtigkeit
Erstens. Nach dem zur partizipatorischen Dimension
der Option für die Armen Gesagten ist klar, dass internationale Ernährungsgerechtigkeit nicht nur die Versorgung aller Menschen mit ausreichend Nahrung bedeutet. Sie bedeutet mehr. Sie bedeutet die Befähigung
dazu, sich selbst aktiv mit Nahrung zu versorgen. Sie
bedeutet die gerechte Teilhabe an sozialen und wirtschaftlichen Prozessen, die den Lebensunterhalt für alle
gewährleisten. Wenn also diejenigen Recht haben sollten, die sagen, die gegenwärtige Form des Kapitalismus
mit mächtigen Firmen und den neuesten Technologien
sei am besten dazu in der Lage, die höchst mögliche
Nahrungsmittelproduktion zu gewährleisten, die dann
nur noch auf faire Weise weltweit zu verteilen sei,
dann könnte dieser Ansatz dennoch nicht als ein mit
der Option für die Armen vereinbarer Ansatz angesehen werden. Die Armen bleiben abhängig, statt aktiv an
der Nahrungsmittel-Produktion teilzunehmen. Wenn
die Nahrungsmittel-Produktion immer mehr auf genetisch modifizierte Organismen (GMO) setzt, werden die
Bauern zunehmend abhängig von den Saaten der Firma
Monsanto und anderer. Mehr noch, wenn das Land im
Besitz mächtiger Firmen ist, die ihre Entscheidungen
am Ziel des höchstmöglichen Profits ausrichten, gibt es
keinerlei Basis für eine gerechte Teilhabe aller. Effektive
Landwirtschaft muss daher Hand in Hand gehen mit einer breiten Verteilung des Eigentums an Ackerland.
Zweitens. Vorschläge, die Globalisierung als die Hauptoder Einzelursache des Problems sehen und die sich auf
Subsistenz lokaler Kleinbauern konzentrieren, müssen
die Folgen dieses Ansatzes sorgfältig analysieren. Wird
dieser Ansatz ausreichend gegen die wetterbedingten
Schwankungen der Ernteerträge schützen? Ist es wirklich im Interesse der Armen, wenn man das Ausnutzen
der wechselseitigen Kostenvorteile ablehnt, die der glo-
bale Handel ermöglicht? Wenn landwirtschaftliche
Kooperativen in Südafrika guten Wein herstellen und
in Europa verkaufen, kann das nicht ein Weg sein, die
Teilhabe der Armen zu stärken?
Daher gibt es drittens guten Grund, die Globalisierung
nicht abzulehnen, sondern sie neu auszurichten auf
eine Weise, die die Macht transnationaler, den Markt
kontrollierender Akteure einschränkt und die jene Mitbewerber schützt und befähigt, die klein sind und daher wenig Macht auf dem Markt haben.
Viertens. Ernährungsgerechtigkeit zu schaffen ist nicht
eine Frage des Jas oder Neins zur Liberalisierung des
Marktes. Liberalisierung des Marktes ist ethisch wünschenswert, wenn es die Chancen jener kleinen Mit bewerber auf Ent wicklung ihres eigenen Wirtschaftspotentials erhöht. Liberalisierung ist ethisch frag würdig,
wo sie nur ein ideologisches Schlagwort zum Schutz
der mächtigen Nationen im Norden ist. Wenn in Südafrika die aus Dänemark importierte Milch billiger ist,
als die von lokalen Bauern in Johannesburg produzierte
und somit deren Bankrott verursacht, ist es wesentlich
sinnvoller, den südafrikanischen Markt vor solcher europäischer Milch zu schützen und die südafrikanischen
Bauern ihre eigene Milch produzieren zu lassen, als
ihre Betriebe zu zerstören und dann Geld für Ent wicklungshilfe zugunsten südafrikanischer Farmer auszugeben.
Fünftens. Ernährungsgerechtigkeit und ökologische Anliegen können nicht länger gegeneinander ausgespielt
werden. Im Zeitalter des Klimawandels ist es offensichtlich, dass der Mangel an Maßnahmen gegen die globale Erwärmung seitens der Haupt-Verschmutzer in den
Industrienationen die schlimmsten Folgen hat für jene,
die eine solche Situation am wenigsten mit verursachen.
Da die durch globale Erwärmung verursachten Dürren
hauptsächlich den Süden der Welt und namentlich
Afrika betreffen werden, ist alles außer einer massiven
Reduktion des CO2-Ausstosses im Norden ein massiver
Angriff auf die Ernährungsgerechtigkeit in der Zukunft.
Sechstens. Ökologische Überlegungen haben zur massiven Werbung für die Option Biosprit geführt. Schon
15
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
damals gab es Stimmen, die vor den Folgen für die
Nahrungsversorgung warnten. Heute müssen wir sagen, dass diese Stimmen Recht hatten. Es wäre besser gewesen, auf unsere menschliche Intuition zu hören, dass Nahrung vor allem dazu da ist, in den Mund
der Menschen anstatt in Motoren gesteckt zu werden.
Wir müssen die Prioritäten ändern. Die Werbung für
Biosprit muss gestoppt werden, bis jeder Mensch auf
dieser Welt ausreichend zu essen hat.
Siebtens. Wenn wir ernst nehmen, dass die Option
für die Armen eine selbstkritische Option ist, dann
müssen wir damit aufhören, die Schuld „den anderen“ zu geben. Regierungen im Norden müssen die
Verantwortung für die Geschichte der Ungerechtigkeit
während der Kolonialzeit übernehmen. Sie müssen ihre
Rolle bei der Steigerung des eigenen Wohlstands durch
Gebrauch der Ressourcen südlicher Länder ohne angemessene Entschädigung anerkennen. Sie müssen damit
aufhören, ihre immense, historisch gewachsene Wirtschaftsmacht exklusiv in ihrem eigenen Interesse einzusetzen, anstatt im gegenseitigen Interesse.
Regierungen und Aktivisten im Süden sind dazu aufgerufen, die Punkte zu benennen, an denen Defizite
in gutem Regierungshandeln in ihren eigenen Ländern
zum Mangel an Nahrung beiträgt, statt alles Übel der
Kolonialgeschichte zuzuschreiben. Sie sollten neue Anstrengungen zum Aufbau einer Zivilgesellschaft und
einer öffentlichen Verwaltung unternehmen, die sich
mehr am Gemeinwohl orientiert, statt ein Ort der persönlichen Bereicherung zu sein.
6.
Gerechtigkeit und öffentliche
Theologie – die Rolle der Kirche
Was bedeuten diese Herausforderungen für die Kirche?
Die Kirche muss eine öffentliche, von öffentlicher Theologie inspirierte Kirche sein. Im Licht der öffentlichen
Theologie führt die Option für die Armen zu Fürsprache
und Rat. Im Unterschied zu den meisten Formen des
utopischen Modells bindet sie die Option für die Armen
nicht an eine spezifische, politische Option, sondern
sieht diese Option als die Basis für einen politischen
16
Diskurs, der zu politischen Strategien führt, die auch
für die Machthabenden anwendbar sind. Um aber keine Missverständnisse zu erzeugen: Die Kirche ist bei
aller Offenheit im Diskurs in der politischen Debatte
nicht neutral, sondern versteht sich als Anwältin der
Armen. Ausdrücklich schließt die Kirche die Wertdimension in ihre Beiträge zur politischen Debatte ein.
Die Formen dieser Beiträge reichen von öffentlichen
Bekanntmachungen, wo immer sich eine Gelegenheit ergibt, gehört zu werden, über Demonstrationen bis hin zu
begrenzten Akten des zivilen Ungehorsams, wenn dies
der einzige Weg ist, um auf schwere Ungerechtigkeiten
hinzuweisen. Anders als beim utopischen Modell werden diese Aktionen aber nicht primär verstanden als
Aktionen des Bekennens und des Widerstandes gegen
„das System“ (was auch immer dieses System genau ist),
sondern als integraler Bestandteil einer Strategie der öffentlichen Kommunikation innerhalb einer demokratischen Gesellschaft, mit dem Ziel, politische Schritte zur
Überwindung der Armut voran zu treiben.
In seinen öffentlichen Erklärungen – dies ist ein weiterer, wichtiger Punkt – ist das öffentlich-theologische Modell ein zweisprachiges.15 Einerseits gibt es
Rechenschaft über seine biblischen und theologischen
Wurzeln, indem es biblische Texte und Metaphern
verwendet, und andererseits zeigt es auf, warum seine Vorschläge und Feststellungen plausibel sind und allen Menschen guten Willens einleuchten, indem es die
Sprache des säkularen Diskurses benutzt.16 Dadurch
wird es der Tatsache gerecht, dass Glaube und Vernunft
komplementär sind und keine Widersprüche.
Die öffentliche Theologie ist von vielen Impulsen der
lateinamerikanischen Befreiungstheologie inspiriert,
15
Wie die deutsche Theologin Eva Harasta in einem Artikel im
International Journal for Public Theology gezeigt hat, war
eine solche Zweisprachigkeit schon integraler Bestandteil
von Karl Barths berühmtem Traktat von „Christengemeinde
und Bürgergemeinde”. E. Harasta, Karl Barth, a Public Theologian? The One Word and Theological ‘Bilinguality’, in:
International Journal of Public Theology 3.2 (2009) 184–199.
16
Weitere Charakteristika der öffentlichen Theologie siehe
unter: H. Bedford-Strohm, ‘Nurturing Reason. The Public
Role of Religion in the Liberal State’, in Ned Geref Theologiese Tydskrif 48 (2007), 25-41.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
die in mehreren anderen Befreiungstheologien weiter
entwickelt wurde. Da sie jedoch aus einer demokratischen Gesellschaft erwachsen ist, arbeitet sie mit der
Prämisse einer Öffentlichkeit, die Raum gibt für das
stetige Bemühen darum, das Bewusstsein für politische Optionen zugunsten der Armen wachsen zu lassen. Anders als in den Militärdiktaturen, in denen die
Befreiungstheologie sich ursprünglich entwickelte, versucht die öffentliche Theologie politische Optionen nicht
nur für die Opposition zu entwickeln, sondern auch für
Situationen politischer Macht. Jacob Zuma in Südafrika
und Lula da Silva in Brasilien brauchen bei ihren Anstrengungen zur Überwindung von Armut gleichermaßen Kirchen, die von Befreiungstheologie zur öffentlichen Theologie übergehen. Das ist der Grund, warum
ich sage: „Öffentliche Theologie ist Befreiungstheologie
für eine demokratische Gesellschaft“.17 Eine öffentliche Kirche muss die Impulse der Befreiungstheologie in
plausible Beiträge zur öffentlichen Debatte in demokratischen und pluralistischen Gesellschaften übersetzen.
7.
Fazit: Öffentliches Engagement
für Ernährungsgerechtigkeit
Lassen Sie mich mit einem Gedanken Dietrich Bonhoeffers schließen, der die öffentliche Verantwortung
jedes Christenmenschen betont. Oftmals wird bislang
der privaten Moralität der Vorrang gegeben, wenn wir
auf unsere moralische Verantwortung blicken. Dietrich
Bonhoeffers Leben und Theologie war ein kontinuierlicher Protest gegen eine solche Prioritäten-Setzung. In
einem Abschnitt seiner Ethik, die auch Teil seines berühmten Aufsatzes Nach zehn Jahren in den Briefen
und Schriften aus dem Gefängnis ist, schreibt er:
17
Für eine Feststellung der fortwährenden Bedeutung schwarzer Befreiungstheologie in Südafrika siehe die Dissertation
des südafrikanischen Theologen Vuyani S. Vellem, The
Symbol of Liberation in South African Public Life. A Black
Theological perspective (Dissertation University of Pretoria,
2007), pp. 128-237. Eine Diskussion darüber, was öffentliche
Theologie in Südafrika bedeutet, bietet John de Gruchy, ‘Public Theology as Christian Witness: Exploring the Genre’, in
IJPT 1 (2007), 26-41; und Nico Koopman, ‘Public Theology
in South Africa: A Trinitarian Approach’, in IJPT 1 (2007),
188-209.
„Auf der Flucht vor der öffentlichen Auseinandersetzung erreicht diese oder jener die Freistatt der privaten Tugendhaftigkeit. Sie stehlen nicht, sie morden
nicht, sie tun nach Kräften Gutes. Aber in ihrem freiwilligen Verzicht auf Öffentlichkeit wissen sie die erlaubten Grenzen, die sie vor diesem Konflikt bewahren, genau einzuhalten. So müssen sie Auge und Ohr
verschließen vor dem Unrecht um sie herum. Nur auf
Kosten eines Selbstbetruges können sie ihre private
Untadelhaftigkeit vor der Befleckung durch verantwortliches Handeln in der Welt erhalten.” 18
Ein dringenderes Plädoyer dafür, den Problemen der
Ernährungsgerechtigkeit einen zentralen Platz in unserem Nachdenken über das gute christliche Leben einzuräumen, könnte es nicht geben. Sowohl aufgrund
der scheinbaren Abgelegenheit dieser Probleme als
auch wegen ihrer Unlösbarkeit gibt es eine besondere Versuchung, sie unserem Leben fern zu halten und
nach privater Tugendhaftigkeit zu streben. Bonhoeffer
ermutigt uns dazu, einen deutlichen Anteil der uns zur
Verfügung stehenden Zeit den Dingen zu widmen, die
national wie international um uns herum geschehen.
Er ermutigt uns dazu, die Bibel und die Zeitung zu lesen, wie Karl Barth das ausgedrückt hat. Nur so werden
Fragen der internationalen Ernährungsgerechtigkeit
Teil unseres Lebens, obwohl wir für uns selbst reichlich
zu essen haben.
Eine Kirche, die ehrlich betet: „Unser tägliches Brot gib
uns heute“ muss eine öffentliche Kirche werden, die
sich im Kampf für eine Welt engagiert, in der Gottes
Gabe des täglichen Brotes jeden Menschen auf dieser Erde erreicht. Das ist unsere Berufung und unsere
Verheißung.
18
D. Bonhoeffer : Ethik, 6. Auflage München 1963, herausgegeben von Eberhard Bethge, S. 71 (Angleichung an gerechte
Sprache durch Übersetzer).
17
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Brot für die Welt-Projekt Indonesien:
Im Einklang mit der Natur
Bauer Alman Simbolon, Indonesien. Foto: Carsten Stormer.
In Nordsumatra leidet die Landbevölkerung zunehmend unter der ungebremsten Ausbeutung von
Rohstoffen. Immer mehr Menschen werden von
ihrem Land vertrieben. Die Organisation KSPPM klärt
Kleinbauernfamilien über ihre Rechte auf und hilft
ihnen bei der Umstellung auf ökologische An baumethoden.
Das Bergdorf Marom, ein bezaubernder Ort mit 1.100
Einwohnern, umgeben von Mango- und Avocadobäumen. Alman Simbolon, 37 Jahre, bestellt eine kleine Kaffeeplantage am Rande des Dorfes Marom. Er ist
Vorsitzender der Kaffeebauern des Dorfes, einer Gruppe
von 134 Bäuerinnen und Bauern, die durch ökologischen Anbau versuchen, ihre Lebenssituation zu verbessern.
Fehlende Landtitel
Das Land, auf dem Simbalon seinen Kaffee anbaut, haben schon seine Vorfahren bearbeitet. Es gibt genug her,
um die Familie zu ernähren und etwas Geld zurückzulegen: für die Schuluniformen der Kinder oder Repara-
18
turen an seinem Motorrad. Die Familie kommt zurecht,
nicht mehr, nicht weniger. Doch weil er für das Land, auf
dem seine Kaffeebäume stehen und das seine Familie
seit Generationen bebaut, keine Besitzurkunde hat,
könnte Alman Simbolon schon bald Probleme bekommen. Denn die indonesische Zentralregierung sieht
Land wie seines als öffentliches Land an. Sie vergibt
Konzessionen an Bergbau- und Papierfirmen, öffnet die
Märkte für private und ausländische Investoren. Für
Kleinbauern wie Alman Simbalon hat dies oft verheerende Auswirkungen. Dass die Regierung sein Land
wegnehmen könnte, um es an große Konzerne zu vergeben, versteht er nicht. „Es ist doch genug Land für
alle da“, sagt der Kleinbauer, während er die roten
Kaffeebohnen von den Bäumen pflückt und in einen
Weidenkorb wirft.
Die Zivilgesellschaft stärken
Unterstützung erhält Alman Simbalon von der indonesischen Hilfsorganisation KSPPM. Sie ist bereits seit 16
Jahren in der Region rund um den Tobasee aktiv und
arbeitet dort mit 45 Bauernverbänden zusammen. Mitarbeitende der Organisation veranstalten regelmäßig
Work shops, in denen sie sowohl über nach haltige Anbaumethoden als auch über politische Zusammenhänge
informieren. Außerdem organisiert KSPPM öffentliche
Diskussionsforen und Demonstrationen, macht Presseund Lobbyarbeit, um auf die prekäre Situation der
Kleinbauern und -bäuerinnen aufmerksam zu machen.
Dank der Unterstützung von KSPPM konnten Alman
Simbalon und die meisten Kaffeebäuerinnen und -bauern des Dorfes Marom aus dem Teufelskreis der Armut
ausbrechen. Sie stellten auf ökologischen Anbau um
und erschlossen sich dadurch neue Einkommensquellen.
Stolz erzählt Simbalon, dass er jetzt auch Honigbienen
züchtet. Der Verkauf des Biohonigs bringt der Familie
ein willkommenes Zusatzeinkommen.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Frauen bei der Reisernte, Niger. Foto: Christoph Püschner
2.
EKD-Texte zur Thematik
Die EKD und die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung haben in den letzten Jahren eine Reihe von
Texten zur Thematik der Ernährungssicherung und
Landwirtschaft veröffentlicht. Im Folgenden werden
einige Passagen zu verschiedenen Aspekten der Thematik aus den verschiedenen Texten dargestellt. Die Nummerierung folgt dem zitierten Original.
2.1
Klärung der Begriffe
Aus: Ernährungssicherung und Nachhaltige Ent wicklung. Eine Studie der Kammer der EKD für Entwicklung
und Umwelt, EKD-Texte 67, 2000, S. 11-20; http://
www.ekd.de/EKD-Texte/59646.html
2. Was bedeutet Nachhaltige Entwicklung?
Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit, dauerhaft umweltgerechte Entwicklung – gleichgültig, wie der englische
Ausdruck „sustainable development“ übersetzt wird,
die Bezeichnungen haben sich im politischen Alltag etabliert. Die Begriffe sind positiv besetzt, und sofern sie
abstrakt verwendet werden, ist ihnen allgemeine Zustimmung sicher. Das gilt etwa für die Definition der
Brundtland-Kommission, die nachhaltige Entwicklung
als eine Entwicklung beschreibt, „die die Bedürfnisse
der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Diese Begriffsbestimmung findet sich in
ähnlicher Weise auch in der Agenda 21, die als Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert von mehr als 170
Staaten akzeptiert wurde. In der Präambel der Agenda
21 aus dem Jahre 1992 heißt es: „Die Menschheit steht
an einem entscheidenden Punkt in ihrer Geschichte.
Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen
Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetentum sowie eine fortschreitende Schädigung der
Öko-Systeme, von denen unser Wohlergehen abhängt.“
Damit die Menschen und die Umwelt besser geschützt
werden, plädiert die Agenda 21 für eine „globale Partnerschaft, die auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerichtet ist“.
Diese Definition ist jedoch sehr weit und allgemein gefasst. Der Begriff Nachhaltigkeit enthält zumindest die
folgenden ethisch-normativen Aspekte:
Die ökologische Dimension im Begriff der Nachhaltigkeit bezeichnet die Notwendigkeit der weltweiten Beachtung von Rückkopplungen wirtschaftlicher
und sozialer Entwicklungen an die natürlichen Lebensgrundlagen, die erhalten werden sollen. Ressourcenschonung und Prävention sind zukunftsbezogene Teilaspekte von Nachhaltigkeit und bezeichnen die Sorge
für menschenwürdige Lebensbedingungen für zukünftige Generationen.
Soziale Gerechtigkeit und Partizipation als Gegenwartsaspekte von Nachhaltigkeit schließen die Sicherung
der Grundversorgung für alle Menschen und die Teilhabe
aller an den Gütern der Erde in der Gegenwart mit ein.
19
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Die politische beziehungsweise entwicklungspolitische Dimension von Nachhaltigkeit meint ein weltweites Entwicklungskonzept für alle Staaten und
Länder, insbesondere auch zugunsten von Ent wicklungsländern, das dem internationalen und interkulturellen Zusammenleben, der Gerechtigkeit und dem
Frieden dient.
Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung verknüpft
also ethische Anliegen des Umweltschutzes und der
Entwicklungspolitik. Gesellschaftliche, wirtschaftliche
und damit auch landwirtschaftliche Strukturen sollen
in der Weise zukunftsfähig gestaltet werden, dass künftigen Generationen keine Hypotheken hinterlassen werden, die ihre Existenzbedingungen unzumutbar oder
gar irreversibel belasten. Der Begriff der Nachhaltigkeit
schließt damit den Gedanken der Vorsorge und den
Versuch mit ein, Handlungsspielräume für zukünftige
Generationen offen zu halten.
Der Dissens beginnt, wenn man versucht, den Begriff
nun inhaltlich zu füllen, denn wenn das Leitbild der
Nachhaltigkeit in konkrete politische Maßnahmen übersetzt werden soll, müssen zuvor Teil-Ziele definiert und
beschlossen werden. Es gibt eine außerordentlich große
Spannbreite bereits hinsichtlich der Frage, auf welche
Gegenstandsbereiche sich der Begriff beziehen soll. Ein
„enges“ Verständnis will den Begriff der Nachhaltigkeit
ausschließlich im Bereich der Ökologie verortet wissen.
Im anderen Extrem erscheint Nachhaltigkeit als umfassende regulative Idee, an der alle globalen und innergesellschaftlichen Entwicklungen geprüft werden können.
Es hat sich jedoch ein gewisser Konsens herausgebildet, dass sich das Leitbild der Nachhaltigkeit zumindest
auf die drei Ziel-Dimensionen von Schutz der Umwelt,
Effizienz der Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit beziehen muss. Eine nachhaltige Entwicklung – ob einer
Nation als Ganze oder eines kleineren Gemeinwesens –
ist nur dann möglich, wenn die einseitige Ausrichtung
auf eines der drei Ziele vermieden wird. So bedeutsam
die Erhaltung unserer Umwelt ist, sie muss letztlich
doch in Einklang mit den sozialen und wirtschaftlichen
Verhältnissen gebracht werden. Gleichermaßen darf
aber auch die Erreichung wirtschaftlicher Ziele nicht
20
auf Kosten der ökologischen Zustände und des sozialen
Ausgleichs gehen.
Ein solch neuer Konsens über die Notwendigkeit, sich
um nachhaltige Entwicklung zu bemühen, ist um so
wichtiger, weil bisher nicht thematisierte Teile des ethischen Grundkonsens, auf den Politik, Wirtschaft und
Gesellschaft angewiesen sind, in den letzten Jahren
schleichend verloren gehen und unter den veränderten
gesellschaftlichen Bedingungen neu gefunden werden
müssen. Nach dem Wegfall der Systemkonkurrenz und
durch wirtschaftliche Globalisierung und neue Kommunikationstechniken werden die Rolle der Politik und
des Staates, die Bedeutung der Wirtschaft und der Industrie, die Bedeutung von Arbeit und schließlich auch die
Verantwortung des Einzelnen für das Gemeinwesen neu
diskutiert und sind neu zu bestimmen. Dem Verhältnis
zwischen armen und reichen Ländern kommt hier eine
Schlüsselfunktion zu. Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung hat gerade deshalb eine Chance, Teil eines
neuen gesellschaftlichen Grundkonsenses zu werden,
weil er Interpretationsspielräume zu seiner Umsetzung
bietet und somit erst einmal eine breite Plattform für
viele Interessengruppen in der Gesellschaft darstellt.
Gleichzeitig kann der Begriff der Nachhaltigkeit auf
eine Weise eingeführt werden, dass er ethische Werte
ergänzt, die in Politik und Gesellschaft allgemein akzeptiert sind.
Das heißt aber auch, dass der Begriff ein Minimum an
Inhalten mit sich trägt, die nicht aufgegeben werden
dürfen. Im Bereich der Umwelt geht es dabei zunächst
um die Erhaltung der Ökosysteme und der Artenvielfalt.
Erneuerbare Ressourcen dürfen nur in dem Maße verbraucht werden, in dem sie sich neu bilden; nicht erneuerbare Ressourcen nur in dem Maße, in dem in Zukunft
die so erzielten Dienstleistungen oder das entsprechende
Produkt durch erneuerbare Ressourcen erstellt werden
können. Auch darf die Aufnahmekapazität der Umweltmedien – Wasser, Boden, Luft – für Abfälle jeglicher Art
nicht überschritten werden. Die Zeitmaßstäbe menschlicher Eingriffe müssen denen der Natur angepasst sein.
Gefahren und Risiken für die menschliche Gesundheit
sind zu vermeiden. Schließlich müssen Mittel zur Beseitigung vieler Altlasten bereitgestellt werden.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
„Nachhaltige Entwicklung“ darf jedoch, wie bereits gesagt, nicht auf ökologische Ziele verkürzt werden. Ein
unverzichtbarer Punkt ist die intergenerationelle und
die intragenerationelle Gerechtigkeit und Solidarität.
Ohne Gerechtigkeit und Solidarität kann es keine nachhaltige Entwicklung geben. Die Armut von morgen und
die Gefährdung menschenwürdigen Lebens in der Zukunft durch ökologische Schäden darf nicht gegen die
Armut und Marginalisierung von heute ausgespielt werden, und umgekehrt. Damit ist auch deutlich, dass es
bei nachhaltiger Entwicklung nicht nur um ökologische
Schadensbegrenzung geht. Wir sollten es unserer Gesellschaft zumuten, Konsum- und Lebensstile kritisch zu
reflektieren. Wir müssen über die Frage nachdenken,
ob es nicht besser sein könnte, Produktion und Konsum
bestimmter Güter und Dienst leistungen wieder vorrangig lokal oder regional und nicht global zu organisieren. Wir müssen darüber nachdenken, was die derzeitige globale Ein kommens- und Vermögensverteilung,
die geografische Aufteilung der Welt in Gläubiger und
Schuldner für die Möglichkeit der Verwirklichung einer
nach haltigen Ent wicklung bedeutet. Nach haltig keit für
den Bereich der Landwirt schaft könnte dann gegeben
sein, wenn sie umweltfreundlich, ökonomisch tragfähig, sozial gerecht und kulturell angepasst ist sowie von
einem ganzheitlichen Verständnis ausgeht. Außerdem
müsste sie einen deutlichen Beitrag zur Bekämpfung
des Hungers in der Welt leisten. Mit anderen Worten:
Bei „nachhaltiger Entwicklung“ geht es um weitreichende Veränderungen von Politik, Wirt schaft und
Konsumstilen, für die es allerdings bisher kaum einen
ernsthaften Willen zur Umsetzung gibt. Dies bedeutet, dass der Gedanke der nach haltigen Ent wicklung
vor allem auch Eingang in Bildungsprogramme und
Ausbildungspläne finden muss.
Viele der zu hinterfragenden Parameter für Politik, Wirtschaft und Kultur haben den europäischen Wohlstand,
die weitgehende Überwindung der Armut in den reichen Ländern des Nordens und die weitreichende soziale und rechtliche Absicherung erst ermöglicht. Es
sind gerade einige dieser Errungenschaften westlicher
Zivilisation und bestimmte wirtschaftliche Paradigmen
von Markt und Wachstum, die unter den Bedingungen
der Globalisierung und mit dem ethischen Postulat einer
globalen und intergenerationellen Gerechtigkeit nicht
mehr ohne weiteres vereinbar sind.
Die Forderung nach Nachhaltigkeit kommt daher einer
„Quadratur des Kreises“ nahe. Zwischen den drei ZielDimensionen besteht eine gegenseitige Abhängigkeit.
Keines der drei Ziele kann verfolgt werden, ohne die beiden anderen ebenfalls zu beachten. Dabei wird es immer wieder zu Zielkonflikten kommen – gerade dann,
wenn die Landwirtschaft angesprochen wird, die wie
kaum ein anderer Bereich im Zentrum widersprüchlicher Interessen steht.
3. Was bedeutet Ernährungssicherung?
Die Versorgung der wachsenden Weltbevölkerung mit
Nahrungsmitteln und vor allem auch die Befriedigung
der wachsenden Ernährungsansprüche konnte in der
Vergangenheit noch relativ einfach bewerkstelligt werden, weil ein großer Teil der Produktionszuwächse
durch Ausdehnung der Anbauflächen, Bewässerungsflächen und Verbreitung von Hochertragssorten mit
dem dazugehörigen Technologiepaket erfolgte. Doch
diese Möglichkeiten der Ertragssteigerung sind weitgehend ausgeschöpft:
Weitere Bodenreserven für den Ackerbau sind nur
noch in Einzelfällen vorhanden; die letzten Reste des
nicht genutzten Landes werden dringend für den Naturschutz benötigt.
Die leicht zu erschließenden Süßwasserreserven
sind voll genutzt; die weitere Ausdehnung der Bewässerungslandwirtschaft geht mit einer exponentiellen
Steigerung der Investitionskosten für die Wasserbeschaffung einher und führt aufgrund der Nutzung immer tieferer Grundwasserschichten zu einer erheblichen Schädigung der Ressourcen.
Die Hochertragssorten sind in ihrer weiteren Ertragsfähigkeit durch die von ihnen selbst hervorgerufenen Krankheitsprobleme begrenzt und zum großen
Teil durch die Einkreuzung mit robusteren lokalen
Sorten auf ein vernünftiges Maß zurückgeschnitten.
Die Wachstumsraten der Ertragssteigerungen bei den
21
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Hauptnahrungsmittelkulturen vor allem in den Entwicklungsländern sind von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zurückgegangen. Auch bei intensiver Düngung und chemischem Pflanzenschutz nehmen die Erträge oftmals
nicht mehr sonderlich zu.
Der Begriff der „Ernährungssicherung“ oder -sicherheit – im englischen Sprachraum „food security“ – ist
genauso ungeklärt, wie er weit verbreitet und beliebt
ist, denn seine schwer zu bestimmende Definition ermöglicht es ähnlich wie bei der Nachhaltigkeit, dass jeder den Begriff nutzt, um seine eigenen Interessen zu
verschleiern. In dem Augenblick jedoch, wo man versucht, in die einzelnen Aspekte dieses Begriffes einzudringen, offenbaren sich schnell die unterschiedlichen
Vorstellungen. Die einen zum Beispiel verstehen unter
Ernährungssicherung nationale Selbstversorgung mit
Nahrungsmitteln aller Art und Qualität, während die
anderen diesen Begriff in einem weltmarktintegrierten
Sinne verstehen, wonach eine mangelnde nationale
Selbst versorgung ohne Probleme durch reichlich vorhandene ausländische Devisen oder Handelsbilanzüberschüsse durch Zukäufe auf den Weltmärkten ausgeglichen werden kann. Die einen verstehen unter
Ernährungssicherung die Anfachung der landwirtschaftlichen Produktion in jeder beliebigen Höhe; die anderen
möchten den Begriff auf die Sicherheit bestimmter gefährdeter sozialer Gruppen reduzieren und verbinden damit
eine armutsorientierte, zielgruppengerechte Agrar- und
Ernährungspolitik. Dritte packen in den Begriff der
Ernährungssicherung auch noch die langfristige Sicherung der Ressourcen. Für sie ist Ernährungssicherung
dann identisch mit dem Umwelt- und Ressourcenschutz.
Verwechselt wird Ernährungssicherung oft zusätzlich
mit dem Konzept der Nahrungsmittelsicherheit, die sich
ausschließlich auf die Qualität von Nahrungsmitteln beschränkt und sich auf deren gesundheitliche Unbedenklichkeit bezieht.
Auch die Sicherheit von Nahrungsmitteln ist häufig nicht gewährleistet, wie Lebensmittelskandale in
Europa zeigen – etwa BSE bei Rindern und Dioxine
in Geflügelprodukten. Insbesondere wurde durch die
BSE-Seuche deutlich, dass die Abkehr von natürlichen Ernährungsprozessen – hier die Fütterung von
22
Pflanzenfressern mit Tierkadavern – zu schwerwiegenden Erkrankungen führen kann. Eine solche „Kreislaufwirtschaft“ ist jedoch keine einmalige Entgleisung:
So werden im Süden der USA Rinder mit nahrhaftem
Hühnerdung, die Hühner wiederum mit Tiermehl aus
der Rinderschlachtung gefüttert.
Politisch ist das Konzept der Ernährungssicherung dadurch in Verruf gekommen, dass vor allem die sogenannten „protektionistischen Agrarstaaten“, wie die
EU und Japan, die Produktion ihrer Überschüsse und
die starke Förderung ihrer Landwirtschaft sowie den
Außenschutz einzelner Agrarmärkte pauschal damit
gerechtfertigt haben, dass sie angeblich der Ernährungssicherung dienen. Darunter wurden dann Sicherheitsreserven an nationaler Vorratshaltung verstanden, um eine gewisse Zeit der Krise im Falle von Krieg
oder anderen einschneidenden Ereignissen zu überstehen. Diese Politik der EU hat wegen ihrer riesigen
Agrarüberschüsse durch die Subventionierung ihrer
Agrarexporte andere Märkte gezielt erobert und so den
Begriff der Ernährungssicherung als Grundlage ihrer
Überschusspolitik in Verruf gebracht.
Eine große Rolle spielte das Konzept hingegen in der
Entwicklungsländerdiskussion. Hier geht es um die Sicherung der Ernährung sowohl auf individueller Ebene, auf
der Haushaltsebene, auf der Ebene der Beziehungen der
verschiedenen Mitglieder unterschiedlichen Alters und
Geschlechts innerhalb des Haushaltes sowie auf der regionalen, der nationalen und der internationalen Ebene.
Bei der Food and Agricultural Orga nisation (FAO) existiert eine Kommission zur Welter nährungssicherung,
die den Begriff definiert als „physischen und wirtschaftlichen Zugang zu Nah rungsmitteln in angemessener
Menge für alle Mitglieder eines Haushalts, ohne dass
das Risiko besteht, dass dieser Zugang verloren geht“.
Dieses Konzept umfasst insbesondere die Beurteilung
der Verwundbarkeit des Zugangs zu Nahrungsmitteln.
Dabei wird zwischen chronischer und vorübergehender Ernährungsunsicherheit unterschieden.
Die Analyse und die Ernährungssicherungspolitik, die
auf einer solchen Begriffsfassung aufbaut, gründen zunächst vor allem in einer soziologischen Auseinander-
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
setzung mit den verschiedenen Armutsgruppen, ihrer
ökonomischen und sozialen Rolle in der Gesellschaft,
und der Verteilung der physischen Produktion und der
Geldmittel. Mit einer grundlegenden Arbeit von Amartya
Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie aus dem Jahre
1998, der eine umfassende Analyse zu Hunger und
Politik durchgeführt hat, verbindet sich das Konzept der
Ernährungssicherung heute zunehmend mit der Kategorie der „Entitlements“ (Anspruchsrechte). Amartya Sen
definiert diese Anspruchsrechte als die Gesamtheit der
Rechte und Möglichkeiten einer Person, die unterschiedlichen Güter, über die sie verfügt, in der Gesellschaft
einzusetzen. Mit anderen Worten: Anspruchsrechte beziehen sich auf das, was eine Person produzieren, kaufen
oder leihen kann, was sie besitzt oder was die sozialen
und staatlichen Regeln ihr erlauben, damit zu tun. In
dieser Betrachtungsweise gibt es im Wesentlichen vier
unterschiedliche Anspruchsrechte auf Nahrungsmittel:
handelsbezogene Anspruchsrechte: was ein Individuum an Nahrungsmitteln kaufen kann, mit den Waren
und dem Bargeld, das es besitzt;
produktbezogene Anspruchsrechte: das Recht, das
zu besitzen, was man mit den eigenen Ressourcen produziert;
eigenarbeitbezogene Anspruchsrechte: die aus dem
Einkommen der eigenen Arbeitskraft bezogenen Anspruchsrechte, um auf dem Markt einzukaufen;
vererbte oder übertragene Anspruchsrechte: das
Recht, das zu besitzen, was einem freiwillig gegeben
wird durch Übertragungen, Geschenke oder Spenden
durch andere, inklusive dem Transfer des Staates für soziale Sicherheit, Nahrungsmittelhilfe und Pensionen.
Die Stärke dieser Definition von Ernährungssicherung
besteht in der Integration der drei Konzepte: Verfüg barkeit von, Zugang zu und Stabilität der Versorgung mit
Nahrungsmitteln. Damit kann Ernährungssicherung
verstanden werden als die Fähigkeit, sich vor schockartigen Unterbrechungen normaler Anspruchsrechte auf
Nahrungsmittel zu schützen. Die Definition hat eine
makroökonomische Dimension. Als Querschnittsauf-
gabe aller Politik bereiche geht sie weit über die Frage
nach der angepassten landwirtschaftlichen Entwicklungsstrategie oder gar der ländlichen Entwicklung hinaus. Das gesamte Entwicklungsmodell muss unter der
Frage gesehen werden, inwieweit es der Absicherung
der Armen gegen Hunger dient. Wirtschaftliches Wachstum per se wird nach diesem Ansatz zwar ebenso wenig verworfen wie eine zunehmende Weltmarkt integration. Beide haben sich jedoch hinsichtlich ihrer
verteilungspolitischen Wirkung für die hungeranfälligen Gruppen der Gesellschaft zu rechtfertigen. Die
Subsistenzlandwirtschaft kann eine ebenso sinnvolle
Option sein wie Kommerzialisierung und Exportorientierung, sofern die Marktentwicklung staatlich überwacht und im Hinblick auf ihre sozialpolitischen Auswirkungen begleitet wird. Amartya Sen hat mit diesem
Ansatz einen Beitrag zur Überwindung der jahrzehntelang herrschenden Paradigmen des neoklassischen
Denkens geleistet.
Der Mangel dieses Ansatzes liegt allerdings darin, dass
die Dimension der Umwelt und die Frage nach der angepassten technologischen Entwicklung ausgeklammert
sind. Die Zerstörung der Fruchtbarkeit der Böden oder
der natürlichen Balancen zwischen Schädlingen und
Nützlingen kann die Ernährungs- und Erwerbsgrundlage ganzer Gebiete und großer Bevölkerungsschichten
erheblich erschüttern. Das Gleiche gilt aber auch für globale technologische Entwicklungen, wie etwa die
Verlagerung der Produktion von tropischen Rohstoffen,
Früchten und Gewürzen in die Fermenter gentechnisch
veränderter Mikroorganismen der Fabri ken des Nordens. Die Gefährdungen, die von diesen Substitutsentwicklungen für die Weltmärkte und Absatzchancen
der Länder des Südens ausgehen, vor allem für die
Beschäftigungs- und Wachstumseffekte in den insgesamt noch stark exportorientierten Landwirt schaften
vieler Entwicklungsländer, sind sehr groß. Hier zeigt
sich, dass teilweise die Gefährdung der Ernährungssicherung sehr stark von globalen Trends ausgeht, die
von guter Regierungsführung oder bewussten nationalen Politiken nur schwer ausgeglichen werden können.
Technologien haben in sich schon Verteilungswirkungen,
die sich nicht nur im Beschäftigungseffekt erschöpfen.
23
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Verschiedene Technologien eignen sich für unterschiedliche Betriebsgrößen und kommen daher den verschiedenen Produzentengruppen auf unterschiedliche Weise
zugute. Hochertragssaatgut kann zwar betriebsgrößenneutral und auch beschäftigungswirksam sein, es entwickelt aber seine volle Produktivität nur im Zusammen hang mit dem vollständigen Paket begleitender
Maßnahmen, wie zum Beispiel intensiver Düngung,
Bewässerung, Pflanzenschutz und großflächigem Anbau. Diese Ausgaben bewegen sich vor allem im Bereich
der variablen Kosten, doch bedingen sie zumindest einen Kapitalaufwand für den Ankauf der Inputs, der vorfinanziert werden muss; bis zur Ernte vergeht in der
Regel ein Vierteljahr. Die Überbrückung dieses Vierteljahres und die hohe Anfälligkeit der Hochertragssorten
für Widrigkeiten bei Wetter und Schädlingen kann bedeuten, dass verwundbare soziale Gruppen schnell in
unüberbrückbare und existenzgefährdende Verschuldungskreisläufe geraten.
So suchen Kleinbauern in Asien, Afrika und Lateinamerika intensiv nach Alternativen zu den anfälligen
Hochertragssorten. Diese Programme werden z.B. im
südlichen Afrika mit „Seed Security“ – Saatgut sicherheit – bezeichnet. Darunter wird verstanden, dass nicht
nur die Verfügbarkeit von Saatgut zum richtigen Zeitpunkt, die Finanzierbarkeit und der Zugang zu den anderen Betriebsmitteln, die zu dem Saatgut konditioniert
sind, gewährleistet sein muss, sondern es geht auch um
die Angepasstheit des gesamten Technologiepakets, das
in dem Saatgut selbst inkorporiert ist, in die sozialen
und ökologischen Bedingungen vor Ort, in die bäuerlichen Betriebssysteme und ihre Vermarktungsformen.
Wichtig ist auch die Stärkung der Stellung von Frauen in
der Gesellschaft. Denn häufig sind es die Frauen, die das
Land bestellen, die Ernte einbringen und einen Teil der
Ernte für die nächste Aussaat auswählen. Die Sicherung
der Ernährung der Familie hängt daher elementar vom
Wissen der Frauen über widerstandsfähiges Saatgut ab.
Dennoch haben Frauen in vielen Kulturen keinen angemessenen Anteil an Entscheidungsprozessen.
Vor allem im Blick auf die problematischen Trends zum
gentechnisch veränderten Saatgut, auf das Patente be-
24
stehen, so dass der Nachbau gebührenpflichtig wird,
und das von multinationalen Konzernen weltweit vertrieben wird, bedeutet die Entwicklung einer eigenen
Saatgutbasis Sicherheit vor Willkür. Auf der Grundlage
von verbesserten alten Landsorten und mit der Fähigkeit
der Bauern, solche bewährten Linien mit Hilfe von
Züchtern und Wissenschaftlern, die ihnen beratend zur
Seite stehen, zu robusten und einigermaßen ertragsfähigen anspruchslosen Hofsorten weiterzuentwickeln,
kann ein großer Schritt vorwärts in Richtung Stabilität
und Ernährungssicherung gemacht werden.
In der Periode zwischen 1960 und 1990 haben die Entwicklungsländer ihre Getreideproduktion um 100 Prozent ausdehnen können, hauptsächlich auf der Grundlage der Anwendung von Wissenschaft und Technik im
Rahmen der Entwicklung ganzer Tech nologiepakete.
Mit dieser Entwicklung gingen aber auch Tendenzen
der stärkeren Einseitigkeit der Anbaustruktur einher. Die Verbesserung der Erträge um 100 Prozent bedeutete in Asien eine Ausdehnung der Bewässerungsfläche um 60 Prozent und der synthetischen Düngung
auf Stick stoffbasis um 2000 Prozent. 33 Prozent der
Produktionszuwächse können auf die verbesserten Sorten und 66 Prozent auf den Einsatz von Betriebsmitteln
zurückgeführt werden, die die Umwelt verändern: ein
Drittel auf die Intensivierung der Bewässerung, ein
Drittel auf den Einsatz der Agrarchemie.
Die Ausdehnung von Monokulturen, der Einsatz der
Agrarchemie und die Intensivierung der Bewässerung
führten zu enormen ökologischen Nebeneffekten, wie
etwa die Eutrophierung und Verschmutzung des Süßwassers und der Meere, die Bodenerosion und die Abnahme der Agrobiodiversität. Ein Vergleich zwischen der
Energieeffizienz in der Getreideproduktion von Agrarsystemen mit intensivem externen Betriebsmitteleinsatz und extensiver Betriebssysteme in Bangladesch,
Kolumbien, China, Philippinen, USA und Großbritannien
zeigt deutlich, dass im Durchschnitt die extensiven
Agrarsysteme eine fünfmal höhere Energieeffizienz aufweisen (1,34 kg/MJ) als betriebsmittelintensive Betriebssysteme (0,28 kg/MJ). Auf den Philippinen ist
ausgerechnet worden, dass der Übergang von traditionellen Systemen der Reisproduktion zum modernen An-
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
bau einen Energieaufwandszuwachs von 3000 Prozent
benötigte, dem ein zusätzlicher Ertrag von 116 Prozent
gegenübersteht.
Schon vor über 15 Jahren wurde gezeigt, dass die gesamten bekannten Ressourcen fossiler Energie auf der
Welt kaum ausreichen würden, um die bestehende Bevölkerung mit dem gleichen Energieaufwand zu ernähren, den die Ernährungssysteme der Industriestaaten
erfordern. Es ist eindeutig, dass die Entwicklung auf
dem Pfad zu immer intensiveren Betriebsmitteleinsätzen
so nicht weitergehen kann. Die Zukunft der Welternährung kann auf diesem Weg nicht garantiert werden.
In den letzten Jahrzehnten gab es unter dem Zwang der
Strukturellen Anpassungsprogramme (SAP) von Weltbank und Internationalem Währungsfonds einen erheblichen Druck auf die Regierungen der Entwicklungsländer, ihre Interventionen in die Wirtschaft zu redu zieren,
selbst in den Gebieten, wo die Risiken des Marktversagens groß sind oder wo eine Notwendigkeit für staatliches Handeln im Grunde vorlag. Im Streit darüber,
wer effizienter sei, der Markt oder die Regierung, hat
man sich bisher sehr stark in Richtung marktwirtschaftlicher Regelungen entschieden. Das Misstrauen in Regierungen ist groß, denn ihre Marktinterventionen haben oft die Anreizstrukturen und Preise sehr stark
verzerrt, wovon die am meisten verwundbaren sozialen
Gruppen oft am wenigsten profitiert haben. Neuerdings
führen auch die Verträge der Welthandelsorganisation
(World Trade Organisation; WTO), die Liberalisierung
der Kapital- und Produktmärkte, der Abbau der Agrarunterstützung und die Weltmarktintegration dazu, dass
es für Regierungen immer schwieriger wird, als Interessenvertreter für gefährdete Armutsgruppen ausgleichend tätig zu werden.
Selbst die Rolle des Staates als Verteidiger der Eigentumsrechte und als Garant für stabile Rahmen bedingungen der Produktion und des Austausches ist durch
die Zwänge der Deregulierung in vielen Entwicklungsländern gefährdet. Wenn effiziente rechtsstaatliche Bedingungen fehlen, wird die Frage, ob jemand seine
Ernährungsbedürfnisse stillen kann, oft eine Frage der
Verteilung der Macht, sowohl innerhalb der Haushalte,
als auch der Gemeinschaft, der Region und der Nation.
So wird Ernährungssicherung in Zeiten der globalen
Liberalisierung zunehmend zu einem politisch sensiblen Konzept, mit dem der weiteren Aushöhlung der
Rolle der Regierungen gegenübergetreten werden kann.
Als sogenanntes „nicht handelsbezogenes Anliegen“
wird Ernährungssicherung in den kommenden WTOAgrarverhandlungen von vielen Entwicklungsländern
vordringlich vorgetragen. Sie wollen verhindern, dass
wichtige Programme, die der armutsorientierten ländlichen Entwicklung und der Ernährung der Armen
dienen, unter „nicht-marktkonforme“ oder „protektionistische“ Maßnahmen fallen, die nach WTO-Regeln
abzuschaffen sind, oder dass die Subventionen, die in
diese Programme fließen, der Abbauverpflichtung für
Unterstützungen anheim fallen.
Vorbereitung des Ackers für Pflanzung, Äthiopien. Foto: Helge Bendl
2.2 Ethische Leitlinien für eine
nachhaltige Landwirtschaft
Aus: Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft. Ein Diskussionsbeitrag zur Lage der Landwirtschaft mit einem Wort des Vorsitzenden der Deutschen
Bischofskonferenz und des Vorsitzenden des Rates der
EKD, Gemeinsame Texte 18, Hannover / Bonn 2003,
S. 28-37; http://www.ekd.de/EKD-Texte/44662.html
3. Ethische Leitlinien für eine nachhaltige
Landwirtschaft
(40) Der Prozess einer Neuorientierung der Landwirtschaft erfordert ein tiefgreifendes Umdenken auf allen
Ebenen. Einiges konnte schon erreicht werden im Blick
25
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
auf die Rückführung der Intensität landwirtschaftlicher
Produktion und auf die Sensibilisierung für Fragen des
Umwelt- und Tierschutzes. Der Weg zur Überwindung
einseitiger Anklagen und eingefahrener Verhaltensmuster, die zu wechselseitigen Blockaden führen, ist jedoch
noch weit. Es mangelt an ethischer Orientierung, internationaler Solidarität, verlässlichen Rahmen bedingungen, sektorübergreifenden Reformen, der Bereit schaft
zu kooperativem Handeln und dem Mut zur Innovation.
Die Zukunft der Landwirtschaft hängt davon ab, ob der
gegenwärtige Reformdruck in den kommenden Monaten und Jahren als Chance für eine grundsätzliche
Neuorientierung genutzt wird. Dafür wollen die folgenden Überlegungen aus christlicher Perspektive einige
ethische Leitlinien beitragen.
3.1 Verantwortung für die Schöpfung
durch nachhaltiges Wirtschaften
(41) Ethische Leitperspektive für eine Reform der Landwirtschaft ist das Prinzip Nachhaltigkeit, dem sich die
Kirchen aus christlicher Schöpfungsverantwortung verpflichtet haben.19 Es ist Wegweiser für eine Integration
ökologischer, ökonomischer und sozialer Belange. Das
bedeutet für die Landwirtschaft, dass die Produktionsformen und betriebswirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine Balance zwischen Wettbewerbsfähigkeit einerseits und Umwelt-, Sozial- und Kulturverträglichkeit
andererseits anstreben müssen.
(42) Vom christlichen Schöpfungsglauben her lässt sich
das Prinzip der Nachhaltigkeit ethisch vertiefen: Er fordert einen gärtnerischen Umgang mit der Natur (vgl. Gen
2, 15) und erkennt den Eigenwert der Tiere, Pflanzen und
Landschaften an. Die Erhaltung der Schöpfung verlangt
zugleich Solidarität über Generationen und Grenzen
hinweg. Sie setzt eine umfassende Solidarität mit den
Armen voraus. Denn im Umgang mit der Schöpfung ist
die Menschheit eine globale Risikogemeinschaft. Das
19
Vgl. Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche
in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Für
eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover /
Bonn 1997, Textziffer 122 – 125; Deutsche Bischofskonferenz – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen,
Handeln für die Zukunft der Schöpfung, Bonn 1998.
26
gilt zunehmend auch für landwirtschaftliche Produkte
und Produktionsverfahren.
(43) Eine nachhaltige Landwirtschaft ist nicht darauf ausgerichtet, das Letzte aus Boden und Tieren herauszuholen, sondern darauf, die Natur in ihrer ganzen Vielfalt als Nahrungsquelle und Lebensraum zu
bewahren. Auch Wasser, Boden und Luft sind im ursprünglichen Wortsinn „Lebens-Mittel“. Das Prinzip
der Nachhaltigkeit, das heute als Überlebensprinzip der
Menschheit eine globale Bedeutung erhalten hat, entspricht alten Erfahrungen bäuerlichen Wirtschaftens:
Im Wald soll nicht mehr Holz geschlagen werden, als
nachwächst. Dem Boden sollen nicht mehr Nährstoffe
entnommen werden, als ihm zurückgegeben werden
können. Das Vieh soll so gehalten werden, dass sein
Wohlbefinden und Bestand auf Dauer gesichert bleibt.
Der Hof soll in möglichst gutem Zustand als langfristige Produktionsgrundlage weitergegeben werden. Er
ist mit seinen Menschen, seinem Boden, seinen Tieren
und Pflanzen Bezugspunkt für ein Denken in langen Generationenketten. In der tiefen Verbundenheit
mit ihm konkretisiert sich die Verantwortung für die
Zukunft. Das Leitbild der Nachhaltigkeit verallgemeinert eine solche Haltung der inneren Verbundenheit mit
der Schöpfung zum ethischen Leitprinzip für eine überlebensfähige Lebens- und Wirtschaftsweise.
(44) Nachhaltigkeit erfordert einen Wandel der Werte
und des Verständnisses von Lebensqualität. Sie basiert auf einer Kultur der Achtsamkeit und des rechten Maßes, in der die individuellen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen des Lebens nicht
gegeneinander ausgespielt, sondern in ihrer wechselseitigen Bedingtheit erkannt werden. Nachhaltigkeit ist
also nicht nur ein ökologisches Prinzip, sondern vielmehr eine Grundeinstellung zum Leben, die darauf ausgerichtet ist, Ressourcen nicht auszubeuten, sondern so
mit lebenden Systemen in Natur und Gesellschaft umzugehen, dass sie ihre Regenerationsfähigkeit behalten. Da die Regenerations- und Erneuerungsfähigkeit
die grundlegende Eigenschaft des Lebendigen ist,
kann man Nachhaltigkeit als Lebensprinzip definieren.
Eine Kultur der Nachhaltigkeit hat auch eine theologische Dimension, insofern der Mensch dabei durch die
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Achtung seiner Mitgeschöpfe den Schöpfer ehrt und so
seinen angemessenen und zukunftsfähigen Ort in der
Schöpfung wiederfindet.
(45) Das Prinzip der Nachhaltigkeit verknüpft die Ziele
einer umwelt- und generationenverträglichen sowie der
internationalen Solidarität verpflichteten Lebens- und
Wirtschaftsweise. Es betrachtet wirtschaftliches Handeln
nur dann als langfristig vernünftig, wenn es sich in die
ökologischen Stoffkreisläufe, von denen der Mensch abhängt, einfügt und diese schützt. „Auf dem Weg in eine
zukunftsfähige Gesellschaft gilt es, den Ressourcenverbrauch und die Umweltbelastungen von der wirtschaftlichen Entwicklung weiter und deutlicher abzukoppeln,
als dies bisher der Fall war, und die Produktionsprozesse
von Anfang an in die natürlichen Kreisläufe einzu binden“.20 Nachhaltigkeit braucht Innovationen für eine
Ent koppelung von wirtschaftlicher Entwicklung und
Umweltverbrauch. Entscheidend hierfür ist die vorausschauende Berücksichtigung der vielfältigen Beziehungsund Vernetzungszusammenhänge ökonomischer, ökologischer und sozialer Entwick lungen. Im Agrarbereich
weist das Prinzip der Nach haltigkeit den Weg zu einer
multifunktionalen Landwirtschaft, die Lebensmittelerzeugung, Landschaftspflege und Naturschutz im Rahmen integrierter Konzepte miteinander verbindet.
Daran sollten sich sowohl das Berufsbild der Landwirte
als auch die Agrarpolitik orientieren.
(46) Gerade weil der Begriff der Nachhaltigkeit aus
der bäuerlichen Lebenswirklichkeit kommt, kann die
Landwirtschaft Vorreiter und Vorbild für eine dauerhaft
naturverträgliche Wirtschafts- und Lebensweise sein.
Von der Naturnähe ihres Berufes her können die in der
Landwirtschaft Tätigen eine besondere Sensibilität für
ökologische Fragen entwickeln. Sie brauchen jedoch
intensive Unterstützung von Politik und Gesellschaft,
um diese Sensibilität im Ringen zwischen Tradition
und Fortschritt angesichts der neuen ökonomischen
Herausforderungen heute neu zur Geltung zu bringen.
20
Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Für eine
Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover / Bonn
1997, Textziffer 226.
3.2 Neuorientierung in Solidarität mit den
Landwirtinnen und Landwirten
(47) Nur mit neuen Perspektiven der ländlichen Entwick lung sowie entsprechenden Reformen der politischen Rahmenbedingungen haben die Landwirtinnen
und Landwirte in Europa eine Zukunft. Dabei ist davon auszugehen, dass ein hinreichendes Auskommen
bei der Vielzahl an Aufgaben nicht mehr allein über
die Vermarktung von Lebensmitteln möglich sein wird.
Die finanzielle Anerkennung muss sich auf das gesamte
Spektrum der Leistungen beziehen, die die Gesellschaft
von ihnen erwartet. So verdienen insbesondere die Beiträge im Naturschutz, in der Landschaftspflege und in
der ländlichen Kultur, die von den Landwirten erwartet
und erbracht werden, angemessene Honorierung und
gezielte Förderung. Es handelt sich um Güter, für die
die Allgemeinheit als Nachfrager auftritt und zahlt und
für die die gesamte Gesellschaft eine Mitverantwortung
trägt. Eine wichtige Aufgabe ist auch die Bereitstellung
erneuerbarer Energieträger und Rohstoffe. Die wissenschaftliche Forschung ist herausgefordert, neue umweltverträgliche und marktfähige Produkte und Produktionsverfahren zu erschließen.
(48) Im Ringen um neue Perspektiven für eine naturund schöpfungsverträgliche Landwirtschaft sind die in
der Landwirtschaft Tätigen auf eine kritische Solidarität
und Unterstützung für die notwendigen Wandlungsprozesse angewiesen. Für die Kirchen ergibt sich eine
besondere Solidarität mit ihnen nicht zuletzt aus einer
tiefen Verbundenheit in historisch gewachsenen Traditionen, Festen und Bräuchen, die gerade auf dem Land
eine lebendige Kultur des Glaubens bilden. Wir ermutigen und unterstützen die in der Landwirtschaft Tätigen,
ihre Chancen des Aufbruchs in eine zukunftsfähige Entwicklung wahrzunehmen und eine nachhaltig schöpfungsgerechte Wirtschaftsweise zu praktizieren.
(49) Fehlentwicklungen in der Landwirtschaft sind vielfach das Ergebnis falsch gesetzter politischer Rah menbedingungen. Die ethischen Fragen münden ein in ein
Ringen um politische Lösungen, die verantwortliches
Handeln der Individuen strukturell ermöglichen und
sta bi lisieren. Im Blick auf die europäische Landwirt-
27
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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
schaftspolitik ist dabei das vorrangige Ziel, die Anreizsysteme zu ändern: Die vielfältigen Subventionen sind häufig ökologisch und volkswirtschaftlich kontraproduktiv
und sollten in Unterstützungen mit gesamtgesellschaftlich sinnvoller Lenkungswirkung umgewandelt werden. Eine neue gemeinwohlverträgliche Agrarpolitik
kann keine isolierte Standespolitik mehr sein, sondern umfasst vielmehr eine integrierte Agrar-, Umwelt-,
Sozial-, Wirtschafts-, Welternährungs- und Raumordnungspolitik im ländlichen Raum. Nachhaltige Landwirt schaftspolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die sich
als wichtiges Bindeglied zwischen verschiedenen Politik sektoren erweisen könnte. Im Prozess der Neuorientierung für eine nachhaltige Entwicklung brauchen die
in der Landwirtschaft Tätigen die kritische Solidarität
einer Vielfalt unterschiedlicher Akteure in Politik und
Gesellschaft.
(50) Die Leistungen der Landwirtschaft für die Erhaltung der Umwelt und für die Bewahrung der Schöpfung
müssen entsprechend honoriert werden. Die Solidarität
mit denjenigen, die sich in der Landwirtschaft um ein
nachhaltiges Wirtschaften bemühen, fordert eine Verstärkung der Anreize hierfür. Ein Teil der Naturschutzleistung in der Landwirtschaft kann jedoch von der
Gesellschaft aufgrund der Gemeinwohlpflichtigkeit des
Eigentums (in diesem Fall des Bodens) unentgeltlich erwartet werden. Unter Gemeinwohlpflichtigkeit fällt
das, was die Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als
standort- und ordnungsgemäß definiert. Die in der
Landwirtschaft Tätigen haben ein Recht auf eine klare
gesetzliche Regelung hierzu.
3.3 Tiere als Mitgeschöpfe achten
(51) Tiere sind nach christlichem Schöpfungsverständnis
Mitgeschöpfe des Menschen. Seit 1986 ist die Wertschätzung der Tiere als Mitgeschöpfe, deren Leben und
Wohlbefinden zu schützen ist, auch im Tierschutzgesetz
§ 1 verankert. Im Bürgerlichen Gesetzbuch gilt das Tier
seit 1990 nicht mehr als bloße „Sache“, sondern hat einen eigenen rechtlichen Status. Nach biblischem Zeugnis sind auch die Tiere in den Bund mit Gott (Gen 9)
und in die Erwartung einer endzeitlichen Vollendung
der Schöpfung (Röm 8) eingeschlossen. Gott erlöst die
28
Schöpfung, nicht nur den Menschen. Es geht dabei auch
um ein „versöhntes Miteinander“ von Mensch und Tier.
(52) Für Christinnen und Christen ist die Welt mit ihren Tieren und Pflanzen mehr als ein Rohstofflager,
mehr als Material für menschliche Zwecke. Sie ist in
ihrer Dynamik und Vielfalt Schöpfung Gottes und Ort
seiner Gegenwart, die immer dann sichtbar wird, wenn
der Mensch seinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen in
Achtung und Liebe begegnet. Diese Grundperspektive
christlicher Schöpfungsverantwortung darf auch im
landwirtschaftlichen Umgang mit Tieren nicht aus dem
Blick geraten.21
(53) Die Tötung von Tieren ist in der von Konflikten
geprägten Ordnung der Schöpfung unvermeidlich, ihre
ethische Rechtfertigung unterliegt jedoch vielfältigen
Grenzen und Bedingungen. Die europaweite Verbrennungsaktion im Jahr 2001 von Millionen von Rindern
und Schafen im Zusammenhang mit BSE und MKS
muss Anlass sein, grundsätzlich über unser Verhältnis
zum Tier nachzudenken und es neu zu bestimmen. Wir
müssen wieder lernen, allem Lebendigen mit der jedem
Lebewesen gebührenden Ehrfurcht zu begegnen. Es ist
an der Zeit, Tiere als Geschöpfe anstatt nur als „lebendige Ware“ zu behandeln und unser Konsumverhalten,
die Landwirtschaft und die Agrarpolitik, aber auch den
privaten Umgang mit Tieren, z. B. Haus- und Zootieren,
an ethischen Kriterien, die den Eigenwert der Tiere achten, auszurichten.
(54) Gemäß § 2 des Tierschutzgesetzes müssen diejenigen, die Tiere halten oder betreuen, diese ihrer Art
und ihren Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen.
Sie dürfen weiterhin die Möglichkeit der Tiere zu artgerechter Bewegung nicht so einschränken, dass ihnen
Schmerzen, vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden. Damit sind aber einige der zur Zeit noch
21
Vgl. Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitge schöpf. Ein Diskussionsbeitrag des Wissenschaftlichen
Beirats des Beauftragten für Umweltfragen des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 19912;
Die Verantwortung des Menschen für das Tier, Deutsche
Bischofskonferenz, Bonn 1993.
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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
zugelassenen Haltungssysteme der landwirtschaftlichen Nutztiere nicht mehr vereinbar. Die herkömmliche Käfighaltung für Hühner ist ethisch ebenso problematisch wie Schweinemastbetriebe ohne Tageslicht
und ohne hinreichende Bewegungsfreiheit oder Entenmastbetriebe ohne Licht und Bademöglichkeiten.
(55) Mit dem Kriterium der Tiergerechtigkeit wird beschrieben, in welchem Maß bestimmte Haltungsbedingungen dem Tier die Voraussetzungen zur Vermeidung
von Schmerzen, Leiden oder Schäden sowie zur Sicherung von Wohlbefinden bieten. Anhaltspunkte hierzu könnten sein: Ruhe-, Ausscheidungs-, Ernährungs-,
Fortpflanzungs-, Fortbewegungs-, Sozial-, Erkundungsund Spielverhalten. Kriterien, die sich auf diese Aspekte
beziehen, muss in Zukunft bei Zertifizierungs- und Genehmigungsverfahren unbedingt Rechnung getragen
werden.
(56) In der Praxis gibt es allerdings vielfältige Schwierigkeiten für eine Durchsetzung dieser Kriterien: So sind
beispielsweise die gängigen Hybridhühner oder -schweine für andere Haltungsformen z. T. überhaupt nicht geeignet. Das genetische Material für robustere Tierrassen
ist weitgehend verloren gegangen. Die einseitige Selektion auf Hochleistung hat zu einer enormen Verengung
der genetischen Basis von Hochleistungsrassen – bis hin
zur Anhäufung von genetischen Defekten – geführt.
Die Gentechnik und das Klonen von Tieren stellen die
nächsten Beschleunigungsstufen der bisherigen Entwick lung dar: Die Rassen werden genetisch besser an
die Wirt schaftlichkeit und Technologien angepasst, und
leider nicht umgekehrt. Dem muss Einhalt geboten werden.
3.4 Globale Verantwortung und Welternährung
(57) Weltweite Verantwortung ist eine unverzichtbare
Dimension nachhaltiger Entwicklung. Ihre Basis ist das
Prinzip der Solidarität, die nach Maßgabe christlicher
Ethik unteilbar ist und folglich global auf die gesamte
Menschheit angewendet werden muss. Für die Kirchen
ist dabei die Solidarität mit den Schwächsten von zentraler Bedeutung. Christinnen und Christen können die
weltweit wachsende Ungleichheit und die Elendssitua-
tion der über eine Milliarde Menschen, deren Ein kommen unter einem Dollar pro Tag beträgt, die als absolut
arm betrachtet werden und oft Hunger leiden,22 nicht
schweigend hinnehmen. Die biblische Option für die
Armen verpflichtet sie zur besonderen Solidarität mit
den Kleinbauern in Entwicklungsländern. Diese muss
sich nicht nur karitativ in unmittelbaren Hilfeleistungen
äußern, sondern vor allem in Strukturanpassungen für
mehr Gerechtigkeit in den weltwirtschaftlichen Rahmen bedingungen. Die Landwirtschaft ist ein Schlüsselfaktor für die Bekämpfung von Hunger und Armut.
(58) Auf dieser Grundlage ist es ethisch nicht hinnehmbar, dass trotz der Überschüsse in der Agrarproduktion
der Industrieländer immer mehr Menschen in Ent wicklungsländern an Hunger und Unterernährung leiden.
Nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips geht es dabei
vor allem um Hilfe zur Selbsthilfe. Gerade im landwirtschaftlichen Bereich ist es von entscheidender Bedeutung, die Chancen der Entwicklungsländer zur selbständigen Versorgung zu verbessern. „Die Versorgungssituation der Entwicklungsländer muss vor allem durch den
Ausbau ihrer Eigenproduktion verbessert werden. Dieser
Prozess sollte weder durch Agrarexporte der Industriestaaten noch durch EG-Importe an Futter-Rohstoffen aus
Entwicklungsländern gefährdet werden“.23 Wenn Exportdumping der Industriestaaten in Entwicklungsländern Märkte zerstört, widerspricht dies dem ethischen
Prinzip der globalen Solidarität.
(59) Das Ungleichgewicht zwischen den hohen Agrarsubventionen in den Industrieländern und der geringen
Unterstützung für die Landwirtschaft in Entwicklungsländern muss durch eine teilweise Konversion der
Agrarunterstützung zugunsten der Welternährung unbedingt korrigiert werden. Auch die extreme Ungleichbehandlung der Entwicklungsländer durch das WTOVertragswerk muss korrigiert werden. Viele Ent wicklungsländer fordern eine sog. „Development Box“, mit
22
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
(BMZ), Armutsbekämpfung – eine globale Aufgabe: Aktionsprogramm 2015, Bonn 2001.
23
Deutsche Bischofskonferenz, Zur Lage der Landwirtschaft,
Bonn 1989, These 3.14.
29
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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
der Ausnahmeregeln für den Grundnah rungsmittelbereich garantiert werden sollen. Eine Reform dieses
Vertrages wäre ein wesentlicher Beitrag der Agrarpolitik zur globalen Friedens-, Umwelt- und Er nährungsordnung.
(60) Die tiefen Konflikte zwischen betriebs- und volkswirtschaftlichen Erfordernissen und dem Weltgemeinwohl können nur durch eine grundlegende Reform der
Subventionssysteme und der internationalen Handelsbedingungen aufgelöst werden. Folgt man dem Konzept
einer an ökologischen und sozialen Kriterien orientierten Marktwirtschaft, ist die weitere marktwirtschaftliche Liberalisierung des internationalen Agrarmarktes
nur in dem Maß verantwortbar, in dem gleichzeitig ein
globales Ernährungssicherheitsnetz installiert wird und
Mindeststandards des Umwelt-, Verbraucher- und Tierschutzes im WTO-Vertragswerk eingeführt werden.
Diese sollten in Absprache mit den Entwicklungsländern
definiert werden. Auch der Menschenrechtsausschuss
der UN hat sich im Jahr 2002 dahingehend geäußert,
dass er eine Umsetzung des „Rechts auf Nahrung“ in
den Liberalisierungsverhandlungen darin verwirklicht
sieht, dass die Agrarliberalisierung unbedingt mit sozialen Sicherungsnetzen einher gehen muss.
(61) Die sich aus dem Prinzip der Solidarität ergebende
Forderung nach echten Chancen für die Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt heißt nicht, dass wir unsere
Landwirtschaft einem radikalen Liberalisierungsprozess und der Streichung aller Agrarunterstützungen
unterziehen sollen. Doch ist hier sehr viel mehr Augenmaß als in der Vergangenheit geboten. Die reichen
Gesellschaften machen sich unglaubwürdig, wenn sie
ihren Wohlstand lediglich dazu nutzen, im Alleingang
und nur für sich selbst Inseln einer intakten Umwelt,
einer fürsorglichen Behandlung der Tiere und einer guten sozialen Absicherung zu schaffen, ohne dabei zu
berücksichtigen, dass gleichzeitig viele Länder der
Erde unter extremer Armut, Umweltzerstörung und
Gesundheitsgefährdung durch vergiftete Nahrungsmittel leiden. Neben unserem verstärkten finanziellen
Engagement für die Welternährung ist ebenso eine
weltoffene, entwicklungspolitisch kluge Standardentwicklung nötig.
30
3.5 Subsidiarität und Stärkung regionaler
Wirtschaftskreisläufe
(62) Das sozialethische Prinzip der Subsidiarität ist für
die Landwirtschaft von zentraler Bedeutung. Gemeint ist
der Vorrang für Selbständigkeit und Eigeninitiative kleinerer Einheiten. Was auf unterer Ebene zu leisten und zu
gestalten ist, soll nicht von hierarchisch höheren Ebenen
entschieden werden. Subsidiarität wendet sich gegen einseitige Zentralisierung, weil sie auf Dauer zu einer Entmündigung der kleineren Einheiten und zu geringerer
Flexibilität in der Anpassung an spezifische Standortvoraussetzungen führt. Subsidiarität wurde 1992 mit
dem Maastrichter Vertrag als ein Grundprinzip für den
Aufbau der europäischen Einheit anerkannt. Sie befürwortet föderale Strukturen im Sinne von Einheit in Vielfalt.
(63) Einheitliche Regeln, die zu sehr ins Detail gehen,
verhindern diese Vielfalt, die gerade für die europäische
Tradition ein wichtiges Strukturmerkmal ist. Die unterschiedlichen ökologischen und soziokulturellen Standort bedingungen können in der Landwirtschaft oft besser in nationaler oder regionaler Eigenverantwortung
berücksichtigt werden. Ein wichtiges Instrument zur
subsidiären Dezentralisierung ist der weitere Ausbau einer Co-Finanzierung der Landwirtschaft durch einzelne Länderprogramme. Unterschiedliche Programme der
ein zelnen Bundesländer haben gute Wirkungen gezeigt,
z. B. der Marktentlastungs- und Kulturlandschaftsausgleich MEKA in Baden-Württemberg, umweltgerechte
Landwirtschaft in Sachsen oder das Kulturlandschaftsprogramm in Bayern.
(64) Aus dem Prinzip der Subsidiarität ergibt sich eine
Option für die Regionalisierung. Die Regionalisierung
von staatlichen Programmen dürfte in der Regel kein
Problem sein und wird auch von der EU-Agrarpolitik
zunehmend anerkannt, indem zentral nur ein Rahmen
vorgegeben wird, der dann regional angepasst in konkrete Programme umgesetzt wird. Der gemeinsame
Rahmen ist notwendig, um es zu keinen Wettbewerbsverzerrungen kommen zu lassen.
(65) Die Regionalisierung von Vermarktung und Ernährungsgewohnheiten innerhalb des gemeinsamen Rah-
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
mens ist zwar wünschenswert, aber nicht einfach. Man
kämpft dabei gegen die Marktmacht riesiger Konzerne
an, deren ökonomische Überlegenheit die zentralisierte
Logistik ist und für die ein kleinräumlicher Waren kreislauf schwer zu verkraften ist. Dabei würde die Verstärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe zur Entwick lung
im ländlichen Raum sowie zum Schutz klein bäuerlicher
Strukturen und alternativer Vermarktungskanäle –
jenseits des Wettbewerbs auf den Weltmärkten mit
Massenprodukten – beitragen. Sie vermeidet Verkehr
und Verpackungsaufwand durch eine umweltfreundliche „Wirtschaft der kurzen Wege“. Sie verbindet sich
mit einer Aufwertung des Handwerks vor Ort, das
Ressourcen schont, indem es nicht nur produziert, sondern auch repariert. Regionalisierung bindet Kaufkraft
und Wertschöpfung an die Region und trägt so zum
Erhalt von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum bei.
(66) Regionalisierung hat auch eine kulturelle Dimension und leistet durch die Pflege der regionalen Traditionen
und Bräuche einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung
sozialer Bindungen, zum Heimatbewusstsein und zur
Lebensqualität. Sie ermöglicht Lebensqualität durch
Nähe von sozialen Kontakten, Einkaufs- und Arbeitsmöglichkeiten sowie von kulturellen Angeboten und
Initiativen. So können regionale Angebote und Produkte
zugleich ein Wir-Gefühl für Dorf und Region vermitteln.
Manche regionale Produkte aus der Landwirtschaft genießen einen Vertrauensvorschuss, weil sie als frisch,
gesund und ökologisch wertvoll gelten.
(67) Seit einigen Jahren gibt es eine neue Neigung zur
Regionalisierung. Die Lebensmittel verarbeitende Industrie nutzt diese auf ihre Weise, indem sie bestimmte Anpassungen ihrer Produkte – z. B. an nationalen
Geschmack, Sprache, Aufmachung oder Marketing –
vornimmt. Moderne Informationstechniken machen
solche industriellen Anpassungen der äußeren Gestalt
von Lebensmitteln möglich. Ob sich die neue Wertschätzung regionaler Bezüge über solche Vermarktungsstrategien hinaus auch in dem oben beschriebenen Sinne für eine umfassende Stärkung kommunaler
Eigenständigkeit in Kultur und Wirtschaft im Großen
durchsetzen wird, ist schwer zu bemessen. Jedenfalls
ist momentan deutlich, dass sich für regionalisierte
Produkte, Handelsstrukturen und Dienstleistungen
Marktnischen auftun, die unbedingt genutzt werden
sollten, um die Vorteile auszuschöpfen. In der Praxis
zeigt sich, dass die Nachfrage nach regionalen Produkten und nach ökologischen Produkt- bzw. Produktionskriterien in einem engen Zusammenhang stehen.
(68) Das Erwachen des regionalen Bewusstseins der
Verbraucher und Produzenten kann eine Gegenreaktion
auf Entfremdungen sein, die mit der Globalisierung
unserer Lebensumstände einhergehen und von denen auch der Ernährungsbereich nicht ausgespart
blieb. Gemäß der Maxime „Global denken – lokal handeln“, die dem Geist der Subsidiarität entspricht, geht
es bei der Regionalisierung nicht um eine provinzielle
Blockade der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik
oder einen neuen protektionistischen Drang. Weltoffen
und in der Region verhaftet zu sein sind keine unüberwindbaren Gegensätze. Regionalisierung nach
Maßgabe der Subsidiarität meint ein differenziertes
Mischungsverhältnis.
3.6 Ernährungsethik
(69) Die Ernährung ist heute den gleichen Rationa lisierungstendenzen unterworfen wie die Landwirtschaft
und andere Lebensbereiche. Ein breites Sortiment an
standardisierter, abgepackter und stark weiterverarbeiteter Ware, konsumfertig, haltbar, transportabel und
leicht portionierbar, kommt diesem Bedürfnis der Verbraucherinnen und Verbraucher entgegen. In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft reduzieren sich
die gemeinsamen Mahlzeiten für viele Menschen auf
wenige Anlässe. Häufig sind gravierende gesundheitliche Probleme wie Übergewichtigkeit in den Industrieländern eine Folge der Achtlosigkeit beim Essen. Das
Innehalten, das Ge- und Bedenken des Wertes unseres
täglichen Brotes zur Stärkung von Leib, Geist und Seele
treten zusehends in den Hintergrund. Der Bedeutungsverlust des gemeinsamen Tischgebets ist deutlicher Ausdruck hiervon.
(70) Bezieht man ethische Grundsätze auf die Ernährung, so bedeutet dies, mit einem bewussteren und damit auch geplanteren Einkaufen zu beginnen. Bewusstes
31
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Einkaufen heißt: Vermeidung von aufwändigen Verpackungen und weiten Transportwegen und Berücksichtigung jahreszeitlicher Warenangebote. Auf diesem
Wege können die heimische Landwirtschaft unterstützt sowie das Ernährungshandwerk und die kleinen
Händler gefördert werden. Frische und hochwertige
Qualität von Lebensmitteln lässt sich häufig durch überschaubare, regional gebundene Erzeugungsprozesse erhalten. Damit werden Maßstäbe gesetzt, die für die
Herstel lungsprozesse insgesamt gelten. Landwirtschaft,
Umwelt- und Tierschutz sind darauf angewiesen, dass
die Verbraucher ihrer Mitverantwortung für die Schöpfung durch eine „Politik mit dem Einkaufskorb“ gerecht
werden.
(71) Bewusstes Einkaufen, Zubereiten und Essen lohnen
sich auch für die Verbraucher selbst. Denn eine ausgewogene Ernährung ist eine Basis der Gesundheitsvorsorge.
Sie ist unverzichtbarer Bestandteil eines eigenverantwortlichen Umgangs mit dem eigenen Körper und der
eigenen Gesundheit. Gesunde Ernährung beinhaltet
den Einkauf qualitativ hochwertiger und vielfältiger
Lebensmittel, eine sorgfältige Zubereitung und genügend Zeit für den Verzehr. Echter Genuss setzt auch die
Fähigkeit, Maß zu halten, voraus.
(72) Ein wesentlicher Teil der Wertschöpfung bei Nahrungsmitteln entfällt auf die Weiterverarbeitung und
Zubereitung. Deswegen ist es wichtig, nicht nur die in
der Landwirtschaft Tätigen anzusprechen, sondern alle
Verbraucher, um auf möglichst breiter Basis einen achtsamen Umgang mit den Gütern der Schöpfung zu för-
Gemeinschaftliche Mahlzeit, Niger. Foto: Christoph Püschner
32
dern. Es geht nicht um Verzicht als solchen, sondern um
ein neues Qualitätsbewusstsein. Eine neue Kultur der
Ernährung ist ein Beitrag zur Achtung vor der Schöpfung
und zur eigenen Gesundheit, den jeder und jede bei entsprechender Willensanstrengung auch im Alltag leisten
kann.
2.3 „Es genug sein lassen“: Von der
Effizienz zur Suffizienz
Aus: Ernährungssicherung vor Energieerzeugung. Kriterien für die nachhaltige Nutzung von Biomasse. Eine
Stellungnahme der Kammer der EKD für nachhaltige
Entwicklung, EKD-Texte 95, Hannover 2008, S. 30-33;
http://www.ekd.de/download/ekd_texte_95.pdf
4 „Es genug sein lassen“: Von der Effizienz
zur Suffizienz
Aus ökologischer Perspektive ist davon auszugehen,
dass der Verbrauch natürlicher Ressourcen langfristig
und in einem ausreichenden Maße nur gesenkt werden kann, wenn technologische Effizienz- mit verhaltenswirksamen Suffizienzstrategien zusammenwirken.
Beide allein und isoliert voneinander sind unzureichend. Technologische Effizienz ist eine anerkannte
Strategie der Umweltpolitik, die Idee einer suffizienten, das heißt genügsamen Lebensweise stößt hingegen
oftmals auf Widerstand: Verzichten, so heißt es, wolle
doch keiner. So gesehen, war und ist die Idee einer religiös oder moralisch („Was wäre, wenn jeder Mensch so
viel verbrauchen würde?“) begründeten Umkehr hin
zu einem weniger verbrauchs- und konsumintensiven
Lebensstil eine Außenseiteridee, die konträr zur säkularen Zivilreligion des Konsumierens stand und steht.
Jedoch ist auch die Verwirklichung von Effizienzstrategien nicht selbstverständlich. Unternehmen und Verbraucher halten nicht selten lange an gewohnten Produkten und Verfahrensweisen fest und scheuen den
Wechsel zu neueren Techniken, selbst wenn Kosteneinsparungen damit zu erzielen sind. In nicht wenigen
Fällen scheitert effizientes Verhalten daran, dass das dafür nötige Wissen nicht vorhanden ist – etwa im Blick
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
auf die Stand-by-Technologien. In wieder anderen Fällen
fehlt das notwendige Kapital für Investitionen in neue
Technologien: Auf diese Weise müssen häufig hohe laufende Energiekosten beglichen werden, ohne auf effiziente Techniken umsteigen zu können. Schließlich orientieren sich Forschung und Entwicklung nicht immer
an der Steigerung der Energie-Effizienz, sondern an anderen Zielen, die „vom Markt“ vorgegeben werden.
Genügsamkeit erscheint dagegen zunächst als ein individueller Lebensstil. Einzelne Menschen werben beiläufig für diese Idee, indem sie sie im je eigenen Lebensvollzug zum Ausdruck bringen. Diese Idee ist in allen
Weltreligionen verbreitet: in äußerlichen Dingen arm,
in spirituellen Angelegenheiten reich sein wollen. Man
gibt A um B willen auf, weil man glaubt, dass sich beides miteinander nicht gut verträgt. Suffizienz ist dabei
kein zwanghafter Verzicht, sondern beruht im Kern auf
einer wohl überlegten Geringschätzung eines am
Konsum orientierten Lebensstils. Wenn nun B aber
wichtiger, kostbarer und schöner als A ist, dann gibt
man A preis. Somit ist, recht betrachtet, die VerzichtsTerminologie einseitig und damit irreführend. Es geht
nicht um ein freudloses Verzichten-Müssen, sondern
um ein befreites und befreiendes Weglassen-Können.
Ein mit dem Leitbild der Genügsamkeit verbundenes
Denken ist auch im christlichen Denken zuhause: Es
gibt das biblische Konzept der „Metanoia”, das mit
„Sinneswandel“ übersetzt werden kann. In der christlichen Tugendlehre wird die Habgier von je her als Laster
angesehen. Zwar darf man sich durchaus über äußere
Glücksgüter freuen (und Gott dafür danken), aber man
soll sein Herz nicht an Güter hängen, „die Motten und
der Rost fressen“ (Mt. 6,19). Äußere Glücksgüter sollen
nicht vom menschlichen Geist Besitz ergreifen, und
wenn dies droht, so ist es besser, sich von ihnen zu trennen. Daher heißt es in der Bibel, dass ein weiser Mensch
Gott darum bittet: „Armut und Reichtum gib mir nicht“
(Spr. 30, 8).
Ein wesentlicher Punkt unterscheidet die umweltethische Idee der Suffizienz von der religiösen Idee der
Metanoia. Die Metanoia ist theologisch immer die Abkehr von der Sünde und die Hinwendung zu Gott. Ein
genügsamer Lebensstil einzelner Menschen liefert natürlich nur einen verschwindend kleinen Beitrag zur
Lösung eines größeren Umweltproblems. Die Umkehr
zu einem einfacheren Leben kann für viele Menschen
befreiend, erleichternd, ja beglückend sein und anderen
Menschen als Ermutigung, teilweise sogar als Vorbild
dienen. Jedoch dürfen wir bei umweltpolitischen Zielsetzungen nicht aus den Augen verlieren, dass es gesamtgesellschaftlich wenig Sinn macht, wenn nur ein
sehr kleiner Teil der Bevölkerung versucht, einander
in „Suffizienzrekorden“ zu überbieten – während die
Mehrheit weiterhin „business as usual“ praktiziert. Eine
Ökonomie der Genügsamkeit kann von den Beispielen Einzelner ausgehen. Sie darf sich aber, um in der
Gesellschaft wirksam zu sein, nicht nur auf Appelle an
das individuelle Konsumverhalten reduzieren, sondern
muss grundlegende und strukturelle Veränderungen
der Ökonomie nach sich ziehen. In den reichen Industrieländern bedeutet dies, den Gedanken, dass auch der
Konsum Grenzen des Wachstums erreichen kann, überhaupt erst einmal diskussionsfähig zu machen.
Ein Wandel der Lebensstile kann, wenn er glaubwürdig gelebt wird, vertrauensbildend auf andere und verändernd auf die Regelwerke wirken, unter denen sich
die ökonomische Globalisierung vollzieht. Nur wenn
der Norden – oder wenigstens ein Akteur von weltwirtschaftlicher Bedeutung wie die EU – die Bereitschaft
an den Tag legt, den bisherigen kollektiven „way of life“
zu verändern, können Erwartungen an die aufstrebenden Mittelschichten der Schwellenländer gerichtet werden, diesen vordergründig attraktiven, am Konsum orientierten Lebensstil nicht nachzuahmen. Dies würde
auch die Kräfte derer stärken, die reiche kulturelle und
religiöse Traditionen (etwa Indiens) nicht einem säkularen Konsumismus opfern wollen oder die, wie die aktiven Gruppen der „First Nations“,24 einen Rückweg zu
gewaltsam zerstörten Traditionen suchen.
Gerade in den reichen Industrieländern sind viele konkrete Schritte möglich, um eine Ökonomie der Genügsamkeit in unserem alltäglichen Leben zu verankern.
24
Als „First Nations“ werden indianische Völker in Kanada
bezeichnet.
33
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Dabei müsste noch nicht einmal jeder Bürger und jede
Bürgerin alle diese Schritte gleichzeitig verwirklichen –
jede/r könnte mit dem anfangen, was ihm oder ihr am
leichtesten fällt oder wo er/sie den größten Handlungsbedarf sieht. Eine hervorragende Orientierungsmög lichkeit bietet dabei – neben vielen anderen einschlägigen
Ratgebern – das Projekt des „Nachhaltigen Warenkorbs“
des bundesdeutschen Rates für Nachhaltige Ent wicklung.25 „Ökonomie der Genügsamkeit“ kann heißen:
1.
Das eigene Mobilitätsverhalten zu verändern: 26
kurze Strecken zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen, keine Kurzzeit-Reisen mit dem Flugzeug zu unternehmen, nur Pkws mit niedrigem
CO2-Ausstoß zu kaufen, freiwillig eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h einzuhalten;
2.
die eigenen Ernährungsgewohnheiten zu verändern: Produkte aus der Region und „à la saison“ zu
bevorzugen, wo immer möglich auf ökologisch erzeugte Lebensmittel zurückzugreifen, bei Produkten aus Übersee konsequent nur fairtrade-Produkte
einzukaufen, und vor allem: den Fleischkonsum so
weit wie möglich einzuschränken;
3.
4.
sich den eigenen Umgang mit Energie bewusst zu
machen und bewusst zu gestalten: nur energieverbrauchsoptimierte Geräte anschaffen, auf richtiges Lüften und Heizen achten, auf den Bezug von
Ökostrom umstellen, alle Standby-Geräte komplett abschalten, wenn sie nicht in Betrieb sind,
in Wärmedämmung und, sofern möglich, auch in
Solarenergie investieren;
die eigenen Ersparnisse nach den Kriterien eines ethisch und ökologisch verantwortungsvollen Investments anzulegen, mit anderen Worten:
die eigene Wirtschaftskraft, und sei sie auch noch
25
Als „First Nations“ werden indianische Völker in Kanada
bezeichnet.
26
Vgl. Arbeitsgemeinschaft der Umweltbeauftragten der EKD:
Verkehr (Reihe „Bewahrung der Schöpfung“ 5), Frankfurt
1992; Ökumenischer Rat der Kirchen: Mobilität. Perspektiven zukunftsfähiger Mobilität, Genf/Bad Boll 1998.
34
so bescheiden, nutzen, um eine „Ökonomie der
Genügsamkeit“ zu verwirklichen.
Alle diese Punkte werden seit Jahren diskutiert. Nun, da
die Klimaveränderungen zeigen, wie wichtig der ökologisch orientierte Umbau der Gesellschaft ist, ist noch
einmal deutlicher geworden, dass diese Schritte auch in
der Praxis gegangen werden müssen. Die energetische
Nutzung von Biomasse ist ein wesentlicher Bestandteil
dieses Umbaus. Zu verantworten ist sie nur, wenn die
Menschen so effizient und genügsam wie möglich mit
Energie umgehen. Hierfür sind die Appelle an das individuelle Verhalten nicht ausreichend. Zur Erreichung
des Ziels einer nachhaltigen Energiewirtschaft sind
Veränderungen in den ökonomischen institutionellen
Rahmenbedingungen erforderlich.
Beispiele hierfür wären:
1.
Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissionshandel oder eine adäquate Besteuerung von Kerosin,
2.
Tempolimit auf Autobahnen, was neben seinen direkten Effekten langfristig dazu beitragen würde,
dass die Produktion von immer größeren und immer stärker motorisierten Kraftfahrzeugen sinnlos
würde,
3.
Reduktion des CO2-Ausstoßes von PKW auf 90-100
g/km durch einen Mix aus Ordnungsrecht und
ökonomischen Instrumenten,27
4.
keine weitere Privilegierung der Kohle im Nationalen Emissionshandel, Versteigerung der Emissionslizenzen zu 100%,
5.
anspruchsvolle Standardisierung von Elektrogeräten (Top-Runner-Approach),
6.
Anreize zur energetischen Modernisierung des Gebäudebestandes.
27
Vgl. Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU): Umweltgutachten 2008: Umweltschutz im Zeichen des Klimawandels, Kap. 1.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
für sie die Gerechtigkeitsfrage und die Umweltfrage
untrenn bar mit der Friedensfrage verbunden seien.
Schließlich verpflichteten sich die Kirchen, die unter
dem Dach des ÖRK zusammenarbeiteten, in Vancouver
zu einem „Konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der
Schöpfung“.28
Gemeinschaftliche Feldarbeit, Uganda. Foto: Christof Krackhardt
2.4 Konziliarer Prozess und Option für
die Armen
Aus: Umkehr zum Leben. Nachhaltige Entwicklung im
Zeichen des Klimawandels. Eine Denkschrift des Rates
der EKD, Gütersloh 2009, S. 111-114; http://www.
ekd.de/download/klimawandel.pdf
5.2 Konziliarer Prozess und Option für die
Armen
Als ethische Orientierung für eine Umkehr in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft beziehen wir uns auch
auf die Leitbilder, die im Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung entwickelt wurden.
Der Konziliare Prozess entstand in den 1980er Jahren als
Antwort der Kirchen und Gruppen im Ökumenischen
Rat der Kirchen (ÖRK) auf die globalen politischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen, die ein
Leben in Frieden und Gerechtigkeit sowie die Bewahrung der Schöpfung in Frage stellen. 1983 brachten bei
der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der
Kirchen in Vancouver die Delegierten des Bundes der
evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) einen Antrag
ein, in dem sie bezugnehmend auf Dietrich Bonhoeffers
Forderung aus dem Jahr 1934 die Einberufung eines
gesamtchristlichen Friedenskonzils forderten. Aus kirchenrechtlichen Gründen verzichtete man in der weiteren Debatte auf den Begriff des Konzils. Außerdem wurde von den Kirchen aus dem Süden daran erinnert, dass
Es folgten 1985 in Westdeutschland der Aufruf Carl
Friedrich von Weizsäckers auf dem Düsseldorfer
Kirchentag, der dem Beschluss von Vancouver mehr
Bekanntheit verschaffte, sowie eine Reihe von ökumenischen Versammlungen auf ostdeutscher (1988/89
in Magdeburg und Dresden), westdeutscher (1988 in
Königstein und Stuttgart) sowie auf europäischer Ebene
(1989 in Basel), die stark von kirchlichen Basisgruppen
mitbestimmt und den inneren theologischen und politischen Zusammenhang der Fragen nach Gerechtigkeit,
Frieden und Bewahrung der Schöpfung reflektierten
und konkrete Schritte der Umkehr forderten.29 Bei der
Weltversammlung 1990 in Seoul bekannten die dort
versammelten Kirchen: „Wir sind uns gegenseitig rechenschaftspflichtig, wir brauchen einander, um zu
begreifen, wer wir vor Gott sind. Eine weltweite geschwisterliche Gemeinschaft wird erst wachsen, wenn
wir gelernt haben, auf einander zu hören, uns mit den
Augen der anderen zu sehen. ... Der Ruf Jesu zum
Leben hat viele Ausdrucksformen: für die Reichen
hieß er, befreit euch von der Macht des Geldes, ...
die Verzweifelten rief er auf, die Hoffnungslosigkeit
zu überwinden, die Privilegierten ermahnte er, ihren
Reichtum und ihre Macht zu teilen, ... die Schwachen,
sich selbst mehr zuzutrauen.“ 30
Ebenso aus der Ökumene kam der Impuls zur „Option
für die Armen“, der auch in Deutschland z. B. im gemeinsamen Wort des Rates der EKD und der Deutschen
28
S. W. Muller-Romheld (Hrsg.): Bericht aus Vancouver 1983,
Frankfurt 1983, S. 99.
29
Vgl. U. Schmitthenner (Hrsg.): Der konziliare Prozess.
Gemeinsam für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der
Schöpfung, Frankfurt 1998, S. 38-48.
30
http://oikoumene.net/home/global/seoul90/seoul.theo/
index.html
35
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen
Lage 1997 aufgenommen wurde und bis heute eine
Orientierungsgröße für die christliche Weltverant wortung ist. Es heißt dort: „In der Perspektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage
gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln
befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen
darauf, Ausgrenzungen zu überwinden. ... Sie hält an,
die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im
Schatten des Wohlstandes leben.“ 31 In diesem Sinne ist
für ein Verständnis von Gerechtigkeit einzutreten, nach
dem allen Völkern des Globus das gleiche Recht zuzugestehen ist, die Schöpfungsgüter zu nutzen. Durch
den Klimawandel stellt sich die Frage „Wer ist mein
Nächster?“ mit neuer Schärfe.
Unser Leben ist endlich und die Güter der Erde sind begrenzt. Deshalb müssen wir sorgsam mit ihnen umgehen. Gott fordert uns heraus, uns auf unsere Grenzen
zu besinnen. Daran erinnern uns biblische Traditionen,
wie z. B. der von Gott geschaffene Ruhetag, der eine
heilsame Unterbrechung des Arbeitslebens darstellt
oder auch die Tradition des Erlassjahres, das Besitz verhältnisse in regelmäßigen Abständen neu ordnet und
sowohl extremem Reichtum als auch extremer Armut
Grenzen setzt. Von den Grenzsetzungen Gottes erzählen auch biblische Geschichten wie die des Turmbaus zu
Babel oder des Gleichnisses vom reichen Kornbauern, in
denen Gott Menschen in ihrem Streben nach unendlicher Macht und unendlichem Anhäufen von Reichtum
in ihre Schranken weist. Eine Lebens- und Wirtschaftsweise, die auf ständiges Wachstum setzt, ist nicht nur
gefährlich und unverantwortlich, sondern leugnet auch
die von Gott geschaffene heilsame Endlichkeit des
Menschen. Letztlich geht es auch darum, dass wir als
Menschen das für uns richtige Maß wieder finden und
eine neue Ethik der Genügsamkeit einüben.
31
S. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort
des Rates der EKD und der deutschen Bischofskonferenz zur
wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Gemeinsame Texte 9, Hannover/Bonn 1997, S. 44f; www.ekd.de/
EKD-Texte/sozialwort/sozialinhalt.html
36
Nicht erst seit der Finanzkrise, sondern schon lange zuvor gab es in den Kirchen daher den Ruf, Modelle einer „Ökonomie der Genügsamkeit“ zu entwickeln.32
Diesem Ruf hat sich die EKD-Synode 2008 auch in ihrer Erklärung zur Finanzkrise angeschlossen, indem sie
fest stellt, dass Maßlosigkeit in die Krise geführt hat, und
die Wirtschafts- und Klimakrise uns zeigen, dass sich
unser Wirtschafts- und Lebensstil ändern müssen.33 Die
Kundgebung der EKD-Synode zum Thema Klimawandel
2008 erwartet diese Änderung des Lebensstils aus der
Haltung der Dankbarkeit über die Schönheit der Schöpfung und der Demut, die die von Gott gesetzten Grenzen achtet. „Die Frage nach den Grenzen meiner Möglich keiten begleitet mich täglich als eine Frage des
Schöpfers an mich: Was erlaubst du dir? … Zu lange
sind wir alle den Prinzipien der Machbarkeit und der
Verwertbarkeit gefolgt. Jetzt bin ich … herausgefordert,
mir Grenzen zu setzen; das Lassen zu lernen.“34 Auch
wir in der Kirche haben uns zu lange von der Illusion
des grenzenlosen Wachstums leiten lassen und sind
deshalb auch Teil der problematischen Entwicklung, die
wir heute beklagen.
Ist der Ruf nach Umkehr ähnlich vermessen, wie das
Beschreiten des Weges, auf dem wir bisher gegangen
sind? Gottes eigenes Handeln, das Recht schafft, erinnert uns daran, dass die Hoffnung auf Gerechtigkeit
nicht eine Utopie bleibt, sondern für diese Welt gilt:
Friede auf Erden ist eine schon jetzt geltende Verheißung.
Wir machen uns schuldig vor Gottes Augen und vor der
Welt und leugnen seine befreiende und verändernde
Macht, wenn wir als Christen trotz allen Wissens nicht
den global und lokal herrschenden Ungerechtigkeiten,
den Menschen verachtenden Kriegen und dem aus
Maßlosig keit geborenen Raubbau an seiner Schöpfung
entgegentreten.
32
S. Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und
Erde, AGAPE-Dokument des ÖRK, 2005, S. 68.
33
S. Beschluss der EKD-Synode 2008: Verbindliche Regeln für
die globalen Finanzmärkte; www.ekd.de/synode2008/beschluesse/beschluss_kapitalmarkt.html
34
Klimawandel – Wasserwandel – Lebenswandel. 7. Tagung
der 10. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
vom 2. bis 5. November 2008 – Bremen, hier: Kundgebung,
epd-Dokumentation 52/2008, S. 8.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
„Kehret um, und ihr werdet leben“ – diesen prophetischen Ruf gilt es, zuerst für uns als Kirche zu hören,
anzunehmen und ihn zu leben. Dann werden wir
als Kirche auch eine Stimme werden, die sich in der
Diskussion um die Suche nach neuen politischen und
ökonomischen Leitbildern zu Wort melden kann, eine
Stimme, auf die andere in Gesellschaft, Politik und
Wirtschaft hören können.
Leitbild für die Reform der Agrarpolitik sollte nach unserer Auffassung eine ökologisch nachhaltige, multifunktionale und vielfältige Landwirtschaft sein, die
ihrer Verantwortung gegenüber den Erzeugerinnen/
Erzeugern und den Verbraucherinnen und Verbrauchern
in der Europäischen Union, aber auch den Menschen in
den Entwicklungsländern nachkommt.
Zentrale Kriterien für mehr Nachhaltigkeit im Agrarsektor sind
die internationale Verantwortung der EU-Agrarpolitik für Folgewirkungen der eigenen Ent scheidungen
und des eigenen Handelns vor allem in den Ent wicklungsländern und für die Weiterent wicklung internationaler Regelwerke,
Pestizide werden auf eine Monokultur ausgebracht, Brasilien. Foto: Florian Kopp
2.5 Empfehlungen der Kammer
für nachhaltige Entwicklung für
den weiteren Reformprozess der
Europäischen Agrarpolitik
Aus: Leitlinien für eine multifunktionale und nachhaltige Landwirtschaft. Zur Reform der Gemeinsamen
Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union. Eine
Stellungnahme der Kammer der EKD für nachhaltige
Entwicklung, EKD-Text 114, 2011, S. 20-26; http://
www.ekd.de/download/ekd_texte_114.pdf
Die Kammer für nachhaltige Entwicklung der EKD
nimmt die aktuellen agrarpolitischen Diskussionen
zum Anlass, vor dem Hintergrund des christlichen
Schöpfungsglaubens und des biblischen Verständnisses
einer lebensdienlichen Ökonomie Grundzüge einer
nach haltigeren EU-Agrarpolitik zu skizzieren. In diesem extrem komplexen Politikfeld können keine Patentrezepte zur Problemlösung angeboten, jedoch Kriterien
benannt werden, die für eine Reform der neuen GAP
handlungsleitend sein könnten.
die Respektierung der Ernährungssouveränität
von Drittstaaten – d. h. ihr Recht, ihre eigene Landwirtschafts- und Ernährungspolitik zu verwirklichen –
und die Umsetzung des Menschen rechts auf Nahrung,
der Beitrag zum Ressourcenschutz, zum Klimaschutz, zum Tierschutz und zum Schutz der biologischen Vielfalt,
die Eröffnung positiver sozioökonomischer Perspektiven für landwirtschaftliche Betriebe unterschiedlicher
Strukturen durch verlässliche Rahmen bedingungen
und die Honorierung gesellschaftlich erwünschter Gemeinwohlleistungen,
Impulse für integrierte ländliche Entwicklungsprozesse,
eine Stärkung des Verbraucherschutzes und
der Transparenz sowie der Verantwortung der Verbraucher für eine nachhaltige Landwirtschaft.
6.1 Internationale Verantwortung
Die EU-Agrarpolitik sollte sich klar zu ihrer internationalen Verantwortung bekennen. Sie ist so zu gestalten,
dass die Bemühungen anderer Länder, ihre Ernährungssicherung durch eigene Agrarproduktion zu sichern,
37
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
nicht behindert werden („do no harm“). Auch sollte die
EU ihre Handelspolitik kontinuierlich auf die Folgewirkungen gegenüber den Entwicklungsländern analysieren und beobachten. Die EU-Agrarpolitik sollte
weiter gefasst werden und stärker Klimapolitik, Seuchenpolitik, Lebensmittelpolitik, Agrarumweltpolitik, Agrarmarktpolitik und Agrarhandelspolitik als Teil der EUAgrarpolitik verstehen. Dies sollte eingebunden sein in
internationale Regelwerke und Leit linien, wie z. B. den
UN Millennium-Entwicklungszielen, den verschiedenen Leitlinien der Welternährungsorganisation FAO,
den Dokumenten der UN-Konferenz für Umwelt und
Entwicklung (UNCED) und dem Pakt zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten. Wir
erwarten auch von den Institutionen der Agrarpolitik
einen Einsatz zum Aufbau weltweiter Entwicklungspart nerschaft als dezidiertes Teilziel der Gemeinsamen
Agrarpolitik mit entsprechenden Konsequenzen für die
EU-Haushaltspolitik, EU-Handelspolitik und EU-Forschungspolitik.
Eine Konsequenz daraus ist eine verstärkte Binnenmarktorientierung, die eine strukturell bedingte ständige Überproduktion verhindert. Gleichzeitig müssen gerechte Regeln für einen qualifizierten Marktzugang
geschaffen werden. Der qualifizierte Marktzugang soll
die europäische Landwirtschaft vor Umwelt- und Sozialdumping schützen, da sie innerhalb der EU im internationalen Vergleich tatsächlich höhere Produktionsstandards zu erfüllen haben. Bei der Eindämmung der
Finanzspekulation mit Agrarerzeugnissen und des
Land Grabbings sollte die EU eine internationale Vorreiterrolle übernehmen.
In vielen Entwicklungsländern, in denen die Ernährungssicherung noch immer nicht gewährleistet ist,
nimmt der Anbau von Futtermitteln sowie Energiepflanzen für den Export dramatisch zu. Auch die Produktion von nachwachsenden Rohstoffen für die stoffliche Verwertung gewinnt an Bedeutung und verschärft
die Flächenkonkurrenz in den Entwick lungsländern.
Die EU sollte die Zulassung von Agrarimporten an
die Beachtung von Nachhaltigkeits- und Menschenrechtskriterien binden und darauf hinwirken, dass der
Ernährungssicherung Vorrang gewährt wird.
38
Auch sollten die EU und ihre Mitgliedsstaaten die
Verabschiedung und Umsetzung der derzeit bei der
Welternährungsorganisation FAO erarbeiteten Freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Zugang zu Land und
anderen natürlichen Ressourcen nachdrücklich unterstützen.
Besonders das europaweite Netz der öffentlichen Agrarforschung sollte wesentlich stärker als bisher Fragen zur
nachhaltigen, multifunktionalen Landwirt schaft im europäischen und internationalen Kontext bearbeiten und
Forschungspartnerschaften mit Ent wick lungsländern
ausbauen. Eine verstärkte öffentliche Pflanzen- und
Tierzüchtung, die sich an den zukünftigen Nach haltigkeitsherausforderungen und an einer erweiterten
Agrobiodiversität ausrichtet, ist ebenfalls wünschenswert.
6.2 Welternährung und
Ernährungssouveränität
Die Europäische Union sollte die „Freiwilligen Leitlinien
zur Implementierung des Rechts auf Nahrung“ zur
Richtschnur ihres Agrarhandels mit Entwicklungsländern machen und alles unterlassen, was die Ernährungssouveränität und die Verwirklichung des Rechts
auf Nahrung in den Entwicklungsländern behindert.
Die EU-Agrarpolitik muss auf die langfristige Ernährungssicherung jener Entwicklungsländer, die NettoNahrungsmittelimporteure sind, mit hinarbeiten und
die Fähigkeiten der Menschen in diesen Ländern, sich
selbst zu ernähren, unterstützen. Die EU sollte ihre
Mitarbeit in der Welternährungsorganisation FAO und
in dem Committee for World Food Security als Teil der
Gemeinsamen Agrarpolitik begreifen und den Ent wicklungsländern uneigennützig helfen, ihren eigenen Weg
der Agrarentwicklung zu gehen. Dabei sollte sie sich an
dem Leitbild der multifunktionalen Landwirtschaft, wie
im Bericht des Weltagrarrats empfohlen, orientieren.
6.3 Ressourcen-, Klima- und Umweltschutz
Die EU sollte den Weg der konsequenten Ökologisierung
der Landwirtschaft weiter beschreiten. Die zukünftige
Landnutzung soll dazu beitragen, die Vielfalt der Landschaften zu erhalten, denn diese landschaftliche Vielfalt
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
ist die Grundvoraussetzung für den Erhalt der Biodiversität. Wildpflanzen und -tiere müssen Lebensräume
zugeteilt bekommen durch die verstärkte Ausweisung
von ökologischen Vorrangflächen in Agrarlandschaften,
was durch entsprechende Agrarumweltprogramme samt
Fachberatung gefördert werden sollte. Insbesondere artenreiches Grünland sollte unter besonderen Schutz gestellt werden. Der kommerzielle Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen sollte ausgeschlossen
werden, weil damit ökologische Risiken einhergehen,
deren Ausmaß und Folgen erst langfristig angemessen
beurteilt werden können.35 Die Intensität des Landbaus
darf den Wasserhaushalt und die Böden nicht langfristig
beeinträchtigen. Nutztiere sollten möglichst tiergerecht
und flächengebunden gehalten werden.
Der Landwirtschaftssektor spielt in Bezug auf den
Klimawandel eine wichtige Rolle. Einerseits ist die
Landwirtschaft eine erhebliche Quelle für die Emission
klimarelevanter Gase. Andererseits ist sie von den
Folgen des Klimawandels besonders stark betroffen,
was weitreichende Anpassungsleistungen erforderlich
macht. Die Landwirtschaft muss ihren Beitrag zur
Vermeidung von Treibhausgasen leisten. Sie muss durch
die intelligente Verwertung von „Reststoffen“ zur Produktion von nachwachsenden Rohstoffen beitragen.
Schließlich muss die EU die Landwirte bei der Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels auf
Pflanzen, Tiere und Ressourcen unterstützen.
Bei der geplanten massiven Ausdehnung des Anbaus
von nachwachsenden Rohstoffen als Energieträger im
Rahmen der deutschen „Energiewende“ sind die langfristige Funktions- und Tragfähigkeit der Agrarökosysteme sowie die Gesamtumweltbilanzen zu beachten. Zum einen ist eine Fokussierung auf die Verwendung
von Reststoffen und Koppelprodukten aus der Landund Forstwirtschaft bei der energetischen Verwertung
notwendig, um die Konkurrenz zur Nahrungsmittel35
Texte zur grünen Gentechnik siehe: Einverständnis mit
der Schöpfung. Ein Beitrag zur ethischen Urteilsbildung im
Blick auf die Gentechnik und ihre Anwendung bei Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren. 2., um einen Anhang
erweiterte Auflage, Gütersloh 1997; http://www.ekd.de/
EKD-Texte/44607.html [14.9.2011]
produktion zu verringern. Zum anderen sind die Prinzipien einer erweiterten Fruchtfolge und des Erhalts des
Humusspiegels zu berücksichtigen. Um Monokulturen
und zu starke regionale Konzentrationen von z. B. Biogasanlagen zu vermeiden, sollte der großflächige Anbau
von nachwachsenden Rohstoffen vorausschauend mit
Elementen der Raum- und Regionalplanung verknüpft
werden. Dies ist insofern relevant, da viele Auswirkungen
nur indirekt erfolgen: beispielsweise die Effekte, die als
indirekte Landnutzungsänderungen bekannt sind, bei
denen der Anbau anderer Agrarprodukte durch die Ausweitung der Energiepflanzenproduktion in kohlenstoffreiche oder ökologisch sensible Flächen abgedrängt
wird. Bei der öffentlichen Förderung der Produktion
von nachwachsenden Rohstoffen müssen zudem Fragen
der Über- und Unterförderung samt deren Auswirkungen
auf andere Zweige der Landwirtschaft z. B. über die
Höhe der Pachtpreise für Landwirtschaftsflächen kritisch überprüft werden. In diesem Zusammenhang
muss bei Fragen der Flächenbelegung auch der deutliche Ausbau der einheimischen Eiweißfutterpflanzen
wie Leguminosen einbezogen werden. Der starke Ausbau regenerativer Energieträger setzt in Deutschland einen tiefgehenden Transformationsprozess voraus. Die
Möglichkeiten des Einsatzes von Biomasse für energetische Zwecke sind in den jeweiligen Naturräumen begrenzt. Der Ausbau sollte gut geplant erfolgen, um negative Nebeneffekte für Landwirtschaft, Umwelt und dort
lebende Bevölkerung zu minimieren. Die Grenzlinie
zwischen Fachrecht – also was gesetzlich zumutbar ist,
und was als „Zusatzleistung“ der Landwirte über das
gesetzliche Maß hinausgeht, ist im Rahmen des geplanten „Greenings“, d. h. der Bindung von Direktzahlungen
an Umweltanforderungen, festzulegen. Für freiwillige
Leistungen müssen die Landwirte honoriert werden,
und zwar mit einer expliziten Anreizkomponente.
6.4 Eröffnung positiver sozioökonomischer
Perspektiven
Die Gesellschaft darf keine unzumutbaren Anforderungen an die Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung stellen, die ganze Branchen oder Regionen der
Landwirtschaft an den Rand der Existenz bringen. Auf
die Verlässlichkeit der Unterstützung durch den Staat
39
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
müssen die Landwirte der unterschiedlichsten Betriebstypen rechnen können. Alle Änderungsprozesse der
Agrarpolitik müssen entsprechend vorbereitet und langfristig durch planbare Übergangszeiträume eingeleitet
werden. Der Haupt-Begründungszusammenhang für
eine öffentliche Förderung muss sich – entsprechend
des Modells der multifunktionalen Landwirtschaft – an
der Honorierung gesellschaftlich erwünschter, jedoch
nicht marktfähiger Leistungen ausrichten. Allein die
Agrarpreise ermöglichen es den Landwirten nicht, gewünschte öffentliche Güter ohne eine öffentliche Förderung dieser Leistungen bereit zu stellen.
Bei diesen Leistungen handelt es sich u. a. um
die quantitative und qualitative Versorgungssicherheit mit Lebensmitteln für die europäische Bevölkerung,
die Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen,
die Erhaltung von Artenvielfalt und Habitaten,
die Pflege der Kulturlandschaften und
die Gewährleistung von lebensfähigen regionalen
Strukturen im Rahmen nachhaltiger ländlicher Entwick lung.
Dabei sollen auch innovative Betriebsumstellungen weiterhin förderungswürdig sein, die der Erschließung neuer innovativer Produkte, Vermarktungswege, Vermarktungsformen und Produktstandards für Märkte dienen.
Neben einer ökologischen Qualifizierung treten auch
zunehmend soziale Gesichtspunkte, wie z. B. Kleinerzeugerregelungen, Förderung von Junglandwirten,
Begrenzung der Zahlungen nur auf „aktive Landwirte“,
und – besonders umstritten – eine pro Betrieb degressiv
gestaffelte Kappung mit einer absoluten Obergrenze der
Förderung. Dabei sollten die sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze pro Betrieb berücksichtigt werden.
Allerdings sind dabei die sehr großen Unterschiede unter
den EU-Mitgliedsstaaten im Blick auf den allgemeinen
Lebensstandard und die Lohnkosten einzubeziehen. Das
langfristige Ziel der Teilhabe der in der Landwirt schaft
40
Tätigen an der allgemeinen Ein kommensent wick lung
gilt nach wie vor. Derzeit decken die Erzeuger preise
häufig nicht die Produktionskosten. Die wesentlich stärker ökologisch und sozial qualifizierte öffentliche
Förderung dient deshalb auch in Zukunft in Teilen der
Einkommensstabilisierung. Mittelfristig sollte das Ziel
die Zahlung fairer Erzeugerpreise sein, die den Betrieben
ein ausreichendes Einkommen ermöglichen.
6.5 Integrierte ländliche Entwicklung
Die Kammer für nachhaltige Entwicklung der EKD
empfiehlt den vollumfänglichen Erhalt sowie die Weiterentwicklung der Politik für den ländlichen Raum
(sog. 2. Säule der GAP) mit dem Ziel, die dortigen Lebensund Arbeitsverhältnisse zu verbessern, um auch in entlegenen Räumen ein Verbleiben zu erleichtern. Ländliche
Räume sind Wirtschaftsräume, die regionalspezifische
Förderansätze benötigen. Entsprechend dem Subsidia ritätsprinzip sollte den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten
und Regionen deshalb genügend Raum und Finanzmittel
für eigenständige Regionalent wick lungsprozesse gelassen werden. Die spezielle Förderung benachteiligter
Gebiete sollte fortgeführt werden und bei der aktuellen
Überprüfung der Gebietskulissen transparente und
nachvollziehbare Kriterien benannt werden.
Der Bürokratie-Aufwand der Umsetzung und der Überprüfung (z. B. im Bereich der Erhaltung der Artenvielfalt)
sollte auf der Grundlage zielführender und transparent
überprüfbarer Kriterien deutlich reduziert werden.
Viele der in der 2. Säule befindlichen einzelnen Fördermaßnahmen bedürfen jedoch der kritischen Überprüfung, wie z. B. die Investitionsförderung, die dem
Stallneubau mit reiner Aufstockung der Tierbestände
dient. Anders zu beurteilen sind z. B. Maßnahmen des
Stallneubaus, die eine Verbesserung und Ausdehnung
der besonders tiergerechten Haltung bewirken.
6.6 Verbraucherschutz und
Verbraucherverantwortung
Das wachsende Qualitätsbewusstsein der Verbraucherinnen und Verbraucher ist eine Chance für das Ge-
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
lingen einer neuen Agrarpolitik. Sie sollte dem Wunsch
vieler Bürger und Bürgerinnen entsprechen, in einen erweiterten Qualitätsbegriff auch Menschenrechts-, Tierschutz- und Nachhaltigkeitskriterien einzubeziehen. Es
geht um einen Wettbewerb unter Berück sichtigung von
sozialen und ökologischen Standards und nicht mehr
nur um Kostenvorteile.
Die Kammer für nachhaltige Entwicklung der EKD
empfiehlt, dass in der Beratung, Förderung und Ausbildung der Landwirte ein innovatives Unter nehmertum
noch stärker als bisher eingeübt wird. Es sollte u. a. darauf ausgerichtet sein, die zunehmende Nachfrage nach
Agrarprodukten, die unter stärkerer Beachtung von
Menschenrechts-, Tierschutz- und Nachhaltigkeitskriterien hergestellt werden, bedienen zu können. Allerdings dürfen die Augen auch nicht davor verschlossen
werden, dass es sich hier immer noch um Nischenmärkte
handelt und sich die Mehrheit der Verbraucher nach
wie vor bei ihrem Lebensmitteleinkauf überwiegend
von Preiserwägungen leiten lässt. Dies zu verändern
ist unter anderem auch eine Aufgabe der entwicklungsund umweltpolitischen Bildungsarbeit.
Die vorhandenen Lebensmittelkennzeichnungen müssen mit dem Ziel durchforstet werden, ihre Aussagekraft,
Verständlichkeit, Verlässlichkeit und Glaubhaftigkeit zu
erhöhen. Notwendig sind z. B. Angaben zur Herkunft
eines Produktes, zur Wirtschafts- und Haltungsform sowie zu den Mengenanteilen einzelner Lebensmittelbestandteile. Wir brauchen aber auch ehrliche und
transparente Verbraucherinformationen sowie wirksame wirtschaftliche Sanktionen, mit denen Verbrauchertäuschung und Verbraucherirreführung unterbunden
werden können. Im Rahmen der Verbraucheraufklärung
über Prozess- und Produktqualität von Lebensmitteln
sollten gesundheitspolitische Aspekte einbezogen werden. Öffentliche Großküchen könnten dabei eine Vorreiterrolle übernehmen.
41
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Brot für die Welt-Projekt Bangladesch:
Gebt uns unser Land!
Helferinnen bei der Reisernte, Bangladesch. Foto: Frank Schultze
Ein beträchtlicher Teil der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen ist in staatlichem Besitz. Laut Gesetz soll
das Land an die Armen verteilt werden. Doch an der
Umsetzung hapert es – auch wegen dem Widerstand
der reichen Elite, die den knappen Boden selbst beansprucht. Mit Unterstützung von Brot für die Welt hilft
die Organisation CDA den Landlosen, ihre Rechte
durchzusetzen.
Es ist ein farbenfroher Zug, der sich an diesem Morgen
auf schmalen Wegen durch die Reisfelder im Nordwesten
Bangladeschs schlängelt: Die rund 50 Frauen, Männer
und Kinder – Mitglieder einer Selbsthilfegruppe aus
dem Dorf Madhobati – marschieren, gehüllt in farbige Stoffe und mit bunten Transparenten in der Hand,
zum nächsten Landbüro. Dort haben sie vor einiger Zeit
ihre Anträge auf Land abgegeben. Doch außer leeren
Versprechungen ist nichts geschehen. Alima Khatun,
die kleine, aber resolute Anführerin der Gruppe fordert: „Wir wollen jetzt endlich wissen, was mit unseren
Anträgen geschehen ist!“
Kaum Platz für Millionen Menschen
Ein Stück Land zu besitzen ist in Bangladesch keine
42
Frage von Luxus, sondern eine Frage des Überlebens.
Nur dort kann man selbst etwas Gemüse oder Obst anbauen und ein paar Hühner oder Enten halten. Doch
Land ist ein knappes Gut in dem südasiatischen Staat,
wo 160 Millionen Menschen auf einer Fläche leben, die
nicht einmal halb so groß ist wie Deutschland. Hinzu
kommt, dass der Landbesitz sehr ungleich verteilt ist.
Während wenige reiche Bauern große Ackerflächen
besitzen, haben die meisten Bangladescher nur wenig oder überhaupt kein Land. Um ihre schwierigen
Lebensbedingungen zu verbessern, hat die Regierung
vor einigen Jahren eine Landreform durchgeführt.
Seitdem haben die Landlosen Anspruch auf so genanntes „Khas“-Land, Staatsland. Zuständig für dessen
Verteilung sind die Landbüros.
Korruption verhindert Entwicklung
Von der Community Development Association (CDA),
einer Partnerorganisation von Brot für die Welt, haben
Alima und ihre Mitstreiter von ihrem Recht auf Land erfahren. Darauf forderten sie Einblick in das Grundbuch
und fanden so heraus, welche Grundstücke sich in
staatlichem Besitz befinden. Dann bewarben sie sich darum – und warten seither vergeblich auf Antwort. Die
Anträge der Gruppe seien verloren gegangen, wurde ihnen gesagt. Für CDA ist dies nichts Neues. Denn die
Mitarbeitenden der Landbüros sind häufig korrupt. Sie
lassen sich von den wenigen Reichen bestechen, denen
es nicht passt, dass staatliches Land an die Armen verteilt wird, welches sie ansonsten stillschweigend für sich
nutzen können. Im Ernstfall schrecken die herrschenden Eliten auch vor falschen Anschuldigungen nicht
zurück, um die „Rädelsführer“, die Vorsitzenden der
Selbsthilfegruppen, hinter Schloss und Riegel zu bringen. CDA engagiert dann Anwälte, die die Betroffenen
verteidigen. Bisher konnten die Vorwürfe noch in jedem
Fall widerlegt werden.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Frauen bei der Reispflanzung, Indien. Foto: Jörg Böthling
3. Strategien im Kampf
gegen den Hunger
Dialogprozess zwischen den
Kirchen und dem BMELV
Im Kampf gegen den Hunger von mehr als 870 Millionen Menschen auf der Welt haben sich die evangelische und katholische Kirche und die Bundesregierung
für eine Stärkung der Landwirtschaft in Entwicklungsländern ausgesprochen. In einem Dialogprozess haben
die Kirchenvertreter und das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMELV) im Dezember 2012 die wichtigsten Handlungsfelder im Kampf gegen den Hunger ausgemacht: Dazu gehören vor allem die Verbesserung
von Zugang zu Nahrungsmitteln, Land, Wasser sowie
Saatgut, Rechtssicherheit als Grundlage für Handel
und Investitionen, vor allem aber für die Bevölkerung,
die Verbindung von modernen standortangepassten
Technologien mit traditionellem Wissen sowie ein verantwortungsbewusstes Handeln an den Warenterminmärkten.
Die Ergebnisse des Dialogprozesses des Ministeriums
und der Kirchen hier im Wortlaut:
Herausforderungen
Derzeit hungern weltweit fast 1 Mrd. Menschen. Das
Recht auf Nahrung ist damit eines der am meisten verletzten Menschenrechte. Die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf die Anzahl der Hungernden
spiegelt sich in den aktuellen Zahlen noch nicht wider.
Die Folgen des Klimawandels und die begrenzten landwirtschaftlich nutzbaren Boden- und Wasserressourcen
werden die Situation künftig weiter verschärfen. Gleichzeitig reduziert der fortschreitende Verlust an Agrarund Biodiversität die Anpassungsmöglichkeiten an diesen. Bis 2050 wird die Weltbevölkerung von 7 Mrd. voraussichtlich auf über 9 Mrd. Menschen anwachsen
und dies insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern. Gleichzeitig sind insbesondere in Schwellenländern im Durchschnitt der Bevölkerung steigende
Einkommen durch wirtschaftliches Wachstum zu erwarten, wodurch sich auch in diesen Ländern die Schere
zwischen Arm und Reich weiter öffnet. Damit steigt in
diesen Ländern die Nachfrage pro Kopf der Bevölkerung
insbesondere nach Fleisch und anderen tierischen
Produkten. Darüber hinaus werden Agrarprodukte in
zunehmendem Maße als nachwachsende Rohstoffe für
den Einsatz für Energie und Industrie genutzt. Insgesamt könnten die genannten Entwicklungen bis 2050
zu einer Verdoppelung des Bedarfs an Agrarprodukten
führen (Wiss. Beirat BMELV 2012), wenn sich die
Konsumtrends fortsetzen und Nachernteverluste sowie
Verluste durch Abfälle nicht verringert werden.
Die verfügbaren Ressourcen für die Deckung dieses
wachsenden Bedarfs sind jedoch begrenzt. Derzeit werden weltweit 1,4 Mrd. Hektar als Ackerland genutzt.
Immer noch gibt es eine große Anzahl von Flächen, die
nicht oder nicht produktiv genutzt werden, z. B. in
Südamerika, Osteuropa und Zentralasien aber auch in
Afrika. Zusätzliches Land in Nutzung zu nehmen, ist jedoch nicht unbegrenzt und oft nicht ohne Nachteile für
Umwelt, Natur und Klima möglich. Die Auswirkungen
43
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
des Klimawandels verschärfen diese Problematik im
Hinblick auf die Verfügbarkeit von Boden- und Wasserressourcen, mit negativen Folgen auf die Produktion vor
allem in Entwicklungsländern. So gehen der Pflanzenproduktion weltweit jährlich ca. 5 Mio. ha durch Bodendegradation wie z.B. Nährstoffverluste, Versalzung, Erosion und Anreicherung toxischer Stoffe verloren. (UNEP
2007). Gleichzeitig nehmen auch die weltweit verfügbaren Wasserressourcen durch Übernutzung oder Verschmutzung ab. Die Schere zwischen Nachfrage und
Angebot öffnet sich zusehends. In mehr als 30 Ländern
herrscht heute bereits akute Wasserknappheit.
Die verstärkten Nahrungsmittelpreisschwankungen der
letzten Jahre lassen sich nicht allein durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage auf den physischen Märkten erklären. Gerade weil das Auftreten dieser erhöhten Volatilität mit der Krise an den Finanzmärkten einhergeht, werden Agrarrohstoffspekulationen als zusätzliche Ursache für diese Entwick lung in
Betracht gezogen. Der Einfluss von Finanzinvestoren
ohne geschäftlichen Bezug zu Nahrungsmitteln
(Banken, Fonds etc.) hat in den vergangenen Jahren beträchtlich zugenommen.
Gegenwärtig werden rechnerisch weltweit noch ausreichend Nahrungsmittel produziert (Qaim 2012). Es gelingt aus verschiedenen Gründen bisher nicht, die Nahrung weltweit so zu verteilen, dass niemand Hunger
leiden müsste. Die Tatsache, dass dennoch so viele
Menschen hungern, ist heute vor allem einem gravierenden Verteilungsproblem geschuldet. Armutsbedingter mangelnder Zugang zu Nahrung ist heutzutage eine
der Hauptursachen für Hunger. Armutsbekämpfung
muss deshalb ein zentraler Ansatz für die Ernährungssicherung sein. Die Stärkung von Ausbildung, Gesundheit, sozialen Sicherungssystemen und die Förderung
der ländlichen Entwicklung und Landreformen (im
Sinne der Freiwilligen Leitlinien zu Landnutzungsrechten) in Entwicklungsländern sind deshalb von hoher
Bedeutung.
Zum Verteilungsproblem wird jedoch künftig in zunehmendem Maße ein Mengenproblem treten. In den letzten 50 Jahren hat sich die weltweite Agrarproduktion
44
verdreifacht (Wiss. Beirat BMELV 2012). Dieser Anstieg
ist vor allem auf züchterischen Fortschritt und den vermehrten Einsatz von Agrartechnik, Wasser, Dünger,
chemischem Pflanzenschutz und anderen Betriebsmitteln zurück zu führen. Dies hat dazu beigetragen, dass
weitere globale Produktionssteigerungen in der Öffentlichkeit häufig nicht mehr als prioritär bei der Ernährungssicherung angesehen werden. Seit den 1990er
Jahren haben sich die Produktionszuwächse verringert
und das Wachstum der Produktion droht mittlerweile
hinter der immer stärker steigenden Nachfrage zurück
zu bleiben. Ursächlich dafür ist insbesondere eine deutliche Abschwächung der Ertragszuwächse in der pflanzlichen Erzeugung. Bei Getreide z. B. ist die jährliche Ertragssteigerung von 3 % p. a. in den 1960iger Jahren
kontinuierlich auf 1,3 % p. a. in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts gesunken (Qaim, 2012). Gleichzeitig
basieren die erwähnten Betriebsmittel auf fossilen Energieträgern wie z.B. Erdöl. Eben dieses wird zunehmend
knapp und lässt die Preise für Betriebsmittel rapide steigen. Daher wird es für die Zukunft gerade für die armen Länder notwendig sein, eine nachhaltige und ressourceneffiziente Landwirtschaft zu betreiben. Dies ist
auch angesichts des Beitrags der Landwirtschaft zum
Klimaschutz notwendig.
Sehr wichtig zu beachten sind der hohe Grad an Lebensmittelabfällen in den Industrieländern sowie der Nachernteverluste in Schwellen- und Entwicklungsländern,
die z. T. bei 50 % liegen, so dass eigentlich vorhandene
Nah rungsmittel häufig nicht bei den Hungernden ankommen können. Gleichzeitig schmälern die Nachernteverluste die Produktions- und Züchtungsfort schritte.
Ohne eine drastische Reduzierung der Nachernteverluste wird die Verbesserung der Ernährungssituation erschwert. Hinzu kommt der massive Verlust an Biodiversität auch im agrarischen Sektor, vor allem der Verlust
an Pflanzen, die eine gute Standortangepasst heit aufweisen und zwischenzeitlich verdrängt worden sind.
Mit Bezug auf Pflanzenzüchtung muss daher ein stärkeres Augenmerk gerade auf diese Pflanzen gelegt werden, die an die Standortbedingungen in den Ent wicklungsländern angepasst sind (z.B. Hirse, Maniok usw.)
und bei denen noch ein großer Zucht fortschritt zu erwarten ist, da sie in den letzten Jahrzehnten nicht im
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Fokus der Züchter standen. Dies bedeutet unter anderem, traditionelles Wissen über Saatgut und Anbaumethoden stärker anzuerkennen, zu erforschen und vor
der Vereinnahmung durch Patente zu schützen. Wichtige Rollen spielen in diesem Zusammenhand die verschiedenen in den letzten Jahren aufgebauten Saatgutbanken mit ihrer gesammelten Vielfalt.
Die Mengen- und Zugangsperspektiven greifen jedoch zu
kurz, um das Welternährungsproblem zu erfassen, da die
Qualität der Nahrungsmittel zu wenig Beachtung findet.
„Zugang“ besagt lediglich, dass die jeweiligen Nahrungsmittel besorgt werden können; aber weder welche
Nahrungsmittel tatsächlich konsumiert werden noch
durch welche Faktoren das individuelle Ernährungsverhalten bestimmt wird. So ist auch das unzureichende
Wissen über gesunde Ernährung und geeignete Zubereitungsweisen für die zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel eine weitere Facette der Ernährungssicherung.
Hier muss darauf geachtet werden, dass nicht europäische Ernährungsgewohnheiten exportiert werden.
Ziele/Leitbild
Die Steigerung der nachhaltigen Produktion, (insbesondere in den Entwicklungsländern), und die Verringerung
von Verlusten und Verschwendung sind von zentraler
Bedeutung, um den eingangs genannten, künftig stark
steigenden Bedarf an Agrarprodukten zu decken. Dies
muss einhergehen mit einer Stärkung bzw. einem Ausbau der für die regionale Landwirtschaft erforderlichen
Infrastruktur wie Lagerung, regionale Märkte und
Transportwege und -möglichkeiten. Neben der Armutsbekämpfung ist deshalb eine produktive und nachhaltige Landwirtschaft der Schlüssel für die Ernährungssicherung. Hierbei spielt eine positive Entwicklung
ländlicher Räume eine entscheidende Rolle. Die nationale Politik in den Entwicklungsländern wie auch die
Entwicklungspolitik der Industrieländer haben dieser
Erkenntnis aber über lange Zeit nicht ausreichend
Rechnung getragen. Erst die seit Mitte des letzten Jahrzehnts zu beobachtende weltweite Verteuerung von
Agrarprodukten hat die Bedeutung der Entwicklung
der Landwirtschaft für die Sicherung der Welternährung
wieder deutlicher ins Bewusstsein von Politik und
Öffentlichkeit gerückt.
Welche Technologien am besten für eine nachhaltige
Produktivitätssteigerung geeignet sind, kann nicht pauschal, sondern nur in Abhängigkeit vom Standort und
der Verfügbarkeit bzw. Knappheit der jeweils vorhandenen Ressourcen wie Boden, Wasser, Arbeitskräfte, Energie und dem verfügbaren Kapital bestimmt werden.
Hier ist zu beachten, dass sich die Situation in den Entwicklungsländern stark von der in den Industrienationen unterscheidet. Gerade Kapital und Energie sind
häufig sehr knapp, während Arbeitskräfte reichlich vorhanden sind. Zahlreiche Studien und Berichte, beispielsweise der IAASTD, haben deutlich gemacht, dass auch
mit ökologischen, standortgerechten und bodenschonenden Methoden eine beträchtliche Produktionssteigerung erreicht werden kann.
Besonderer Aufmerksamkeit bedarf die Unterstützung
geeigneter standortangepasster Technologien für den
Klein bauernsektor, da die Menschen hier besonders
häufig von Hunger betroffen sind und gleichzeitig besonders große Reserven bei der Produktivitätssteigerung
bestehen. Über zwei Milliarden Kleinbauern tragen
trotz oft armseligster Ausgangsbedingungen zur Versorgung der Welt bei. Sie müssen verstärkt darin ausgebildet werden, wie sie die Bedingungen vor Ort am wirksamsten nutzen können, welche Anbaumethoden für
ihren Boden am besten geeignet sind und wie sie Klimaveränderungen Rechnung tragen, die Boden frucht barkeit erhalten und ihre Ernte länger lagern können, um
sich besser selbst versorgen sowie besser auf Preisschwankungen auf dem Markt reagieren zu können.
Hier ist insbesondere die Forschung gefragt, Ansätze zu
entwickeln, die auf die Kleinbauern und ihre häufig
marginalen Standorte eingehen sowie das vorhandene
traditionelle Wissen mit den modernen Erkenntnissen
der Agrarwissenschaft zu verknüpfen.
Auch der kleinbäuerliche Sektor unterliegt dem Strukturwandel. Wichtig ist es, passgenaue Lösungen zu
finden, die von den Strukturen vor Ort ausgehen und
sicherstellen, dass die Steigerung der landwirtschaftli-
45
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
chen Produktion durch eine nachhaltige Bewirt schaftung erfolgt. Gleichzeitig müssen integrierte ländliche
Struktu ren geschaffen werden, damit attraktive Beschäf tigungsalternativen jenseits der Landwirtschaft
bestehen.
Internationale Verantwortung der
europäischen Landwirtschaft
Europa als eine der reichsten Regionen der Erde sieht
sich in besonderer Verantwortung, einen Beitrag zur
globalen Ernährungssicherung zu leisten. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, dass die EU ihre eigene Landwirtschaft finanziell unterstützt, stark subventioniert und die Wirkung dieser Unterstützung
weiter umstritten ist.
Die Herausforderungen der Welternährung stellen sich
auch bei der Handels- und Agrarpolitik der Industrieländer. Der europäische Binnenmarkt ist für Exporte
aus Entwicklungsländern bereits weit geöffnet (z.B.
durch AKP/EPA-Abkommen und die EBA-Regelung).
Gleiches gilt aber auch für die Entwicklungsländer. Für
die Entwicklungsländer ist die gegenseitige Marktöffnung häufig Fluch und Segen zu gleich, werden sie so
doch wesentlich stärker dem internationalen Wett bewerb ausgesetzt.
Die Europäische Union hat ihre Exporterstattungen
weitgehend abgebaut. Es bleibt von hoher Bedeutung,
dass sich Deutschland dafür einsetzt, dass diese im
Rahmen der GAP-Reform 2013 vollständig abgebaut
werden. Zugleich wird die EU in den internationalen
Handelsvereinbarungen darauf drängen, ein gleichgerichtetes Verhalten von allen Industrieländern wie auch
Schwellenländern einzufordern und damit Exporthilfen
vollständig abzuschaffen.
Insgesamt wirft die Ernährungskrise aber die Frage auf,
wie viele Entwicklungsländer in Zeiten von weiter steigenden Preisen ihre Nahrungsmittelimportabhängigkeit
reduzieren können und wie Europa im Rahmen seiner
internationalen Verantwortung hier unterstützend wirken kann.
46
Handlungsfelder
Recht auf Nahrung
Maßnahmen zur Bekämpfung von Hunger und Unterernährung müssen mit einem verbesserten Zugang zu
Nahrung und den Mitteln ihrer Erzeugung sowie besseren Einkommen verbunden sein. Vor dem Hintergrund
einer wachsenden Weltbevölkerung besteht die Herausforderung, langfristig das Angebot von und den Zugang
zu Nahrungsmitteln zu verbessern. Hierbei ist der Zugang insbesondere der Kleinbauern und Frauen zu
Boden, Wasser, Energie, Bildung und Kapital entscheidend. Zusätzliche öffentliche sowie private Investitionen
sind prioritäre Aufgabe für die Ernährungssicherung.
Gesicherte Eigentums- und Nutzungsrechte sind Voraussetzung für Investitionen. Die Investitionen dürfen
aber nicht die Menschenrechte und Landrechte der lokalen Bevölkerung verletzen. Geeignete Richtschnur
für verantwortliche und nachhaltige Investitionen in
die Landwirtschaft sowie für den Zugang zu Land und
natürlichen Ressourcen sind freiwillige Leitlinien wie
die Leitlinien zur verantwortungsvollen Verwaltung
von Boden- und Landnutzungsrechten, auf die sich
nach langen internationalen Verhandlungen der Welternäh rungsausschuss (CFS) der Vereinten Nationen am 9.
März 2012 verständigt hat. Die freiwilligen Leitlinien
geben eine Orientierung, um sicheren und fairen
Zugang zu Land und anderen natürlichen Ressourcen
wie Wald oder auch Fischbestände für die heimische
Bevölkerung zu gewährleisten. Deutschland fühlt sich
verpflichtet, insbesondere seine Entwicklungszusammenarbeit und Agrarpolitik im Sinne dieser Leitlinien
zu gestalten. Die Verantwortung für die rechtlichen
und administrativen Rahmenbedingungen liegt bei den
Regierungen vor Ort.
Good Governance in Schwellen- und
Entwicklungsländern
Wirtschaftliches Handeln und Investitionen bedürfen
eines verlässlichen rechtlichen Rahmens und Planungssicherheit. Investitionen in die Landwirtschaft wie in
die übrige Wirtschaft, gleichgültig ob es sich um Kleinkredite oder größere Entwicklungsschritte handelt,
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
werden von den einheimischen Landwirten und kleinen und mittleren Unternehmen nur dann getätigt,
wenn Eigentumsrechte gesichert, die landwirtschaftliche Infrastruktur ausreichend, der Rechtsfrieden gewahrt, ein funktionierendes Bankenwesen vorhanden
ist sowie transparente Handelsabläufe gewährleistet
werden. Die politischen Entscheidungsträger und gesellschaftlichen Eliten in den Entwicklungsländern sind
gefordert, gleichwertige Lebensbedingungen im ländlichen Raum zu ermöglichen und damit das Recht auf
Nahrung umzusetzen. Good Governance ist deshalb
Grundvoraussetzung für das Angebot langfristiger entwicklungspolitischer Förderprogramme. Grundlage für
Good Govenance im Landwirtschaftssektor ist, dass
eine aktive und transparente Landwirtschaftspolitik betrieben wird. Good Governance bedeutet allerdings
auch, dass die Industriestaaten ihre Agrar-, Handelsund Entwicklungspolitik kohärent gestalten.
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, Zusammenschlüsse von Produzentinnen und Produzenten zu fördern. Dies kann unter anderem in Genossenschaften
oder Interessenverbänden erfolgen. Nur im Zusammenschluss können sie ihre Ziele einfordern und durchsetzen sowie ihre Regierungen verantwortlich halten. Auch
die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen in ihren
Zusammenschlüssen gestärkt werden, damit sie ihre Regierungen verantwortlich halten können. Ohne Zivilgesellschaft ist Good Governance auf Dauer nicht möglich.
Art und Weise zu erzeugen und verfügbar zu machen.
Ziel muss es sein, mehr Nahrungsmittel von qualitativ
hoher Wertigkeit bereit zu stellen und dabei vor dem
Hintergrund des Klimawandels und knapper werdender fossiler Ressourcen natürliche Ressourcen zu schonen und so effizient wie möglich zu nutzen.
Investitionen
Insbesondere in Entwicklungsländern, aber auch in
Schwellenländern und in Ländern Osteuropas wird das
Potential der Agrarproduktion derzeit nicht voll ausgeschöpft. Dazu sind zusätzliche Investitionen erforderlich.
Die FAO geht von einem notwendigen Investitionsbedarf
von 30 Mrd. US$ jährlich aus, um die Ernährung von zukünftig 9 Mrd. Menschen im Jahr 2050 zu sichern. Da
die meisten betroffenen Länder diesen Investitionsbedarf
nicht alleine bereitstellen können, werden die zwischenstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit und ausländische Direktinvestitionen (FDI) eine Rolle spielen.
Es wird darauf ankommen, dass diese Investitionen verantwortungsvoll und nachhaltig ausgestaltet sind. Hierbei kommt den Freiwilligen Leitlinien mit den Regeln
zur verantwortungsvollen Gestaltung insbesondere von
Landtransfer, einschließlich der Verantwortlichkeiten
von Investoren, eine wichtige Rolle zu. Gefordert werden u.a. Vorabprüfungen der Auswirkungen von Investitionen auf die existierenden Eigentums- und Nutzungsrechte sowie auf das Recht auf Nahrung.
Nachhaltige Produktivitätssteigerung
Förderung der Agrarforschung
Derzeit kann die Entwicklung der weltweiten Agrarproduktion kaum mit dem Nachfragewachstum Schritt
halten. Von weiter steigenden Agrarpreisen ist auszugehen, davon ist die Mehrheit der weltweiten Armutsbevölkerung betroffen, sodass Hunger und Mangeler nährung zunehmen werden. Um den längerfristig prognostizierten Preisanstieg in Grenzen zu halten, müssen die
Agrarproduktion selbst gesteigert, die Preisvolatilität
eingedämmt, die Verluste reduziert und die Verteilung
verbessert werden. Dazu wird weltweit eine produktive multifunktionale, an die jeweiligen Standort bedingungen angepasste Landwirtschaft benötigt, die in der
Lage ist, ein Mehr an Nahrungsmitteln auf nachhaltige
Unabdingbar für eine höhere und nachhaltige Produktivität ist eine wesentlich verstärkte, nutzungsorientierte
Agrarforschung. Sie muss die Basis legen für den notwendigen deutlichen, nachhaltigen und stetigen Produktivitätsfortschritt, insbesondere unter den spezifischen
Bedingungen in Entwicklungs- und Schwellen ländern.
Hier gilt es insbesondere die biologische Vielfalt und das
traditionelle Wissen in den Entwicklungsländern besser
in die Forschung einzubeziehen.
Um Ertrags- und Produktivitätssteigerungen zu erreichen, sind Forschungsanstrengungen entlang der ge-
47
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
samten Wertschöpfungskette erforderlich. Insbesondere
müssen die Potenziale der Kulturpflanzen und Nutztiere
verbessert bzw. besser genutzt werden. Daneben darf
die Forschung zur Verbesserung der Ernährungsqualität
und des Ernährungsverhaltens nicht vernachlässigt
werden, da Mangel- und zunehmend auch Fehler nährung in Entwicklung- und Schwellenländern erhebliche
(gesundheitliche) Probleme bereiten.
Wissenstransfer
Moderne nachhaltige Methoden der Landbewirt schaftung und Tierhaltung müssen beschleunigt und angepasst an die Gegebenheiten vor Ort in die Praxis der Entwicklungs- und Schwellenländer eingeführt werden,
um Produktion und Produktivität zu steigern. Allein 30
bis 40 % der potenziellen Pflanzenerträge fallen Krankheiten und Schädlingen zum Opfer. In Pflanzen züchtung, Pflanzenbau, Düngung und Pflanzenschutz sowie
Tierzüchtung, Tierhaltung und Tiergesundheit müssen
zusammen mit den Produzenten standortangepasste
Lösungen entwickelt und den Produzenten vermittelt
werden. Grundsätzlich sind dabei alle verantwortbaren
Technologien zu nutzen, soweit es Risikobewertung
und Akzeptanz gestatten. Bei der Risikobewertung
kommt dem Vorsorgeprinzip eine besondere Bedeutung
zu Der Schlüssel für Fortschritte sind berufliche Bildung, Weiterbildung und Beratung unter Einbeziehung
des tradierten und örtlichen Wissens.
gestützte Exporte auch aus der EU immer wieder negative Effekte für Ernährungssicherung und Wohlstand in
den Entwicklungsländern hatten und haben.
Dem weiteren Ausbau von multilateralen und bilateralen Handelsabkommen und der damit verbundenen
Handelsliberalisierung und Marktöffnung kann deshalb
auch in Zukunft eine wichtige Rolle zukommen. Diese
Marktöffnung soll aber nicht zu Lasten der ärmeren
Länder und der Kleinbauern gehen.
Entwicklungsländer müssen ggf. auch das Instrument
einsetzen können, ihre Märkte durch Einfuhrquoten
oder quantitative Schranken zu schützen, wenn sie nur
so ihre landwirtschaftliche Produktion bewahren und
ihre Ernährung sichern können. Zu prüfen ist auch, inwieweit das in der Doha-Runde der WTO vorgesehene
Regelwerk zur direkten Unterstützung der Ent wicklungsländer bereits umgesetzt werden kann, ohne dass
es zu einem Abschluss der Handelsrunde auf absehbare
Zeit kommt.
Die handelspolitischen Ziele der EU finden außerdem in
den bisherigen und weiterhin geplanten Reformschritten
der Gemeinsamen Agrarpolitik ihre Entsprechung mit
einem vollständigen Abbau handelsverzerrender Stützung und Exporterstattungen.
Preisvolatilität bei Nahrungsmitteln und
Spekulation
Welthandel/Handelspolitik
Handel ermöglicht, knappe Ressourcen in einem globalen Kontext sinnvoll zu nutzen. Agrarprodukte, die
nicht überall verfügbar sind oder deren Herstellung nur
an bestimmten Orten möglich bzw. sinnvoll ist, können
so global zugänglich gemacht werden. Handel kann damit eine wichtige Funktion bei der Ernährungssicherung
haben. Viele Staaten können die Sicherung der Ernährung aufgrund ihrer natürlichen Gegebenheiten und
ihrer wachsenden Bevölkerung ohne den Bezug von
Agrarprodukten auf dem Weltmarkt nicht gewährleisten. Handel kann weltweit einen Beitrag zur Steigerung
des Einkommens- und Wohlstandsniveaus leisten. Es ist
aber auch zu beachten, dass durch Exporterstattungen
48
Warenterminmärkte sind eigentlich dazu da, dass sich
Hersteller, Händler und Verbraucher von Nahrungsmitteln gegen Preisschwankungen absichern können.
In der öffentlichen Diskussion werden reine Finanzinvestoren immer wieder verdächtigt, diese Preissicherungsfunktion der Warenterminmärkte durch Spekulation zu untergraben und für die mit der Finanzkrise
ein hergehenden extremen Schwankungen der Nahrungsmittelpreise verantwortlich zu sein. Ziel ist es, die
Funktionsweise der Warenterminmärkte sicherzustellen. Dabei muss erstens Transparenz an den Warenterminmärkten geschaffen werden. Es soll erfasst werden, welcher Akteur zu welchem Zeitpunkt welche
Geschäfte an den Warenterminmärkten tätigt. Zweitens
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
gilt es, Marktmanipulation und Marktmissbrauch durch
angemessene Regulierungsmaßnahmen zu verhindern.
Ein konkretes Mittel ist hier die Festsetzung von Obergrenzen für die Anzahl der Terminkontrakte, die ein
Akteur halten darf (sog. Positionslimits). Dadurch soll
ein möglicher negativer Einfluss von Finanzinvestoren
ohne geschäftlichen Bezug zu Nahrungsmitteln auf die
Preisentwicklung verringert werden. Transparenz und
die angemessene Regulierung an den Finanzmärkten
sind eine internationale Aufgabe, die nicht im nationalen
Alleingang umgesetzt werden kann. Es ist zu begrüßen,
dass sich die internationale Staatengemeinschaft dieser
Problematik angenommen hat und dass in den einflussreichsten Staaten bereits die Umsetzung stattfindet.
Tank versus Teller
Durch die Verknappung fossiler Rohstoffe wird ein
wachsender Teil der landwirtschaftlichen Erzeugung als
Bioenergie oder als Grundstoff für die Industrie eingesetzt. Erzeugung und Nutzung nachwachsender Rohstoffe in einer biobasierten Wirtschaft bergen große
Chancen, aber auch Risiken. Die Politik steht hierbei vor
der Aufgabe, mögliche Konflikte mit den Zielen der globalen Ernährungssicherung und dem Menschenrecht
auf Nahrung zu vermeiden. Hierbei muss die Sicherung
der Ernährung Vorrang haben. So muss die Produktion
von Biomasse zur energetischen Verwertung im Hinblick auf die Ernährungssicherung ständig überprüft
werden. Die Entwicklung und Nutzung effizienter Technologien und die bessere Verwertung von Abfällen und
Nebenprodukten, insbesondere zur Energiegewinnung,
sind Ansatzpunkte, um Nutzungskonflikte zu verringern.
Ziel muss es weiter sein, die Landwirtschaft selbst unabhängiger von fossilen Energieträgern zu machen, um damit auch einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten.
Nahrungsmittelverluste/
Wegwerfproblematik
Ein beträchtlicher Teil der weltweit erzeugten Nahrungsmittel geht auf dem Weg von der Erzeugung zum
Verbraucher verloren. Vermeidbare Abfälle entstehen
überall entlang der Wertschöpfungskette in unterschiedlichen Dimensionen – von der landwirtschaftlichen Er-
zeugung, der Lebensmittelverarbeitung bis hin zum
Handel, und am Ende der Kette in der Gastronomie und
den privaten Haushalten. Besonders stark sind jedoch
Entwicklungsländer betroffen. 40 Prozent und mehr der
Ernte gehen in diesen Ländern verloren, weil Lagerungssysteme, Erntetechnik und Transportinfrastruktur
unzureichend sind. Dieses Problem muss primär angegangen werden, denn es trifft die Menschen vor allem in
solchen Regionen besonders hart, wo sie ohnehin schon
von Hunger bedroht sind. Mancherorts dürfte es effizienter sein, die Verluste zu reduzieren als primär auf die
positiven Effekte einer Produktionssteigerung zu bauen.
Die Eindämmung der Verluste in Entwicklungs- wie
Industrieländern ist deshalb von zentraler Bedeutung.
Ansatzpunkte sind z.B. verbesserte Techniken und logistische Vorkehrungen wie Lagerung, Trocknung, Verpackung, Kühlung sowie Transport. Eine leistungsfähige Vermarktungs-Infrastruktur muss etabliert werden.
Nahrungsmittelverluste müssen auf allen Ebenen des
wirtschaftlichen Handelns reduziert werden. Dies gilt
auch für die Industrieländer. Gleichzeitig müssen hier
aber vor allem die Verbraucher veranlasst werden, ihren
Umgang mit Lebensmitteln zu überdenken. Wichtig ist
aber auch, Ernährungsindustrie, Handel und Großverbraucher nicht aus der Verantwortung zu entlassen.
Mangelndes Wissen über die gesamte Erzeugungskette
führen zu einer verminderten Wertschätzung der Arbeit
der Produzenten und Lebensmitteln und zu einem
leichtfertigen Umgang mit diesen.
Nachhaltiger Konsum
National wie international gewinnt die Diskussion über
nachhaltige Produktions- und Konsummuster an Bedeutung. Ökologische und soziale Standards können in
der globalisierten Wirtschaft nicht nur einen wesentlichen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung und Frieden
leisten, sondern sind auch für die Ernährungssicherung
von zentraler Bedeutung. Deshalb ist es wichtig, die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen (CSR)
in Entwicklungs- und Schwellenländern stärker zu verankern. Die Einhaltung sozialer und ökologischer Standards, die Achtung von Menschenrechten, die Armutsbekämpfung, aber auch der Klimaschutz tragen zur
49
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Verwirklichung der Millenniumsziele bei. Leider sind
Informationen, die über die konkreten Gebrauchseigenschaften oder Inhaltsstoffe eines Produktes hinausgehen (z.B. zu Umweltwirkungen oder Arbeitsbedingungen im Herstellungsprozess), für Verbraucher bislang
nur vereinzelt verfügbar; dies gilt es in Zukunft zu ändern. Für Verbraucher wird oft nicht deutlich, ob ein
Angebot den Kriterien der ökonomischen, ökologischen
und sozialen Nachhaltigkeit genügt. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sollen deshalb besser in die
Lage versetzt werden, sich für einen nachhaltigen Konsum entscheiden zu können. Unternehmen und Verbraucher tragen gleichermaßen Verantwortung.
Unternehmen sollten sich verpflichten, ihre Lieferkette
transparent zu machen und regelmäßig über die Einhaltung von Menschenrechten, Sozial- und Umweltstandards bei ihren Zulieferern und Tochterunternehmen
zu berichten. Moralisch orientierter Konsum hilft,
schwierige Verhältnisse in Produktionsländern zu verbessern. Deshalb sind auch Verbraucher aufgefordert,
nachhaltige und faire Produktion in der ganzen Wertschöpfungskette bei ihren Kaufentscheidungen angemessen zu berücksichtigen und damit ihren Teil zum
Wandel hin zu einer Nachhaltigkeitskultur und zu besseren Lebensverhältnissen beizutragen.
Fazit
Die Landwirtschaft stellt einen ökonomischen Schlüsselsektor für die Gestaltung einer umweltverträglichen
Wirtschaft dar, der dazu beiträgt, das gemeinsame Ziel
einer nachhaltigen Entwicklung national, regional und
global zu erreichen. Die Stärkung von Landwirtschaft
und ländlicher Entwicklung ist wiederum ein zentrales
Element der Ernährungssicherung und Armutsbekämpfung für die wachsende Weltbevölkerung. Menschen
produzieren jedoch nur nachhaltig, wenn ihre Rechte
auf Zugang und Nutzung der natürlichen Ressourcen
gesichert sind.
50
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Brot für die Welt-Projekt Peru:
Das Comeback der tollen Knolle
Verschiedene Kartoffelsorten, Peru. Foto: Christoph Krackhardt
Pachacútec war die Region Vilcashuamán, „die Erde
des heiligen Falken“, einst reich. Im Unterschied dazu
ist sie heute bettelarm. „Es gibt viele unterernährte
Kinder“, klagt Hugo Salvatierra, Leiter von CHIRAPAQ
in Vilcashuamán. Mehr als ein Drittel der Familien dort
lebt in extremer Armut.
Grund für die desolate Lage ist laut Salvatierra zum Teil
die verfehlte Agrarpolitik Perus. Denn die Regierung
fördert lediglich die industrialisierte Landwirtschaft. In
Vergessenheit gerät dabei die Mehrheit der Kleinbauern,
die mehr schlecht als recht von ihren ein bis drei Hektar
kleinen Feldern leben.
Bunte Mischung
Schon vor Urzeiten wurden in dem Andenstaat Kartoffeln angebaut. Rund 3.800 verschiedene Sorten gibt
es – die jedoch kaum noch jemand kennt. Mit Unterstützung von Brot für die Welt hilft die Bauernorganisation CHIRAPAQ, diese einzigartige Vielfalt zu
bewahren und die Ernährung der Bevölkerung zu sichern.
Lächelnd hält Raúl Inostroza die dunkle, knollige Kartoffel in die Höhe, die er soeben aus dem Acker gegraben hat. „Das ist die Schwarze, die die Schwiegertochter
zum Weinen bringt“, sagt der Agraringenieur auf
Quechua, der heute noch gebräuchlichen Indiosprache
in Perus Andenhochland.
Der Ausbilder der Bauernorganisation CHIRAPAQ erläutert die Herkunft des eigenartigen Namens: Nur diejenigen jungen Frauen, die die stark gefurchte Knolle sauber schälen konnten, kamen früher als Ehefrau in Frage.
So jedenfalls will es die Sage. Mehr als 100 traditionelle
Kartoffelsorten hat CHIRAPAQ mit Unterstützung von
Brot für die Welt in der Region um das Andenstädtchen
Vilcashuamán in den letzten Jahren wieder heimisch
gemacht.
Verfehlte Reformen
Dank der Landwirtschaftsreformen des Inkaherrschers
Daher unterstützt CHIRAPAQ die Bevölkerung bei der
Wiederentdeckung der traditionellen Kartoffelsorten sowie weiterer traditioneller Nutzpflanzen. In den 16
Dörfern um Vilcashuamán, in denen die Organisation
aktiv ist, besticht die bunte Mischung auf den Feldern,
die in Peru sonst nur selten zu sehen ist. Hier wachsen
Hafer, Gerste, Saubohnen, Sauerklee, Kapuzinerkresse
und Andenhirse.
Weitergegeben wird das Wissen im Erfahrungsaustausch
zwischen den Bauern – einer Methode, die Brot für die
Welt auch in anderen Ländern Lateinamerikas fördert.
Inostroza und Salvatierra bilden dafür ausgewählte
Bauernfamilien in den Dörfern aus, die so genannten
„Promotoren“, die wiederum ihr Wissen mit den Nachbarn teilen.
Die Indiobauernorganisation setzt dabei auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Rund die Hälfte der
Promotoren ist weiblich. Ausbilderin Rita Castro erklärt
warum: „Wir arbeiten mit den Frauen, weil man über
sie die gesamte Familie erreichen und verändern kann.“
Auffällig viele Familien bemühen sich bereits um
Gleichberechtigung im Alltag, wie das Bauernpaar
Lucas Tenorio und Alejandra León: „Wir reden jetzt immer miteinander. Unsere Familie ist seither besser organisiert. Wir essen besser. Und wir leben besser.“
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LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Ernteprüfung in Äthiopien. Foto: Christof Krackhardt
4. Brich mit den Hungrigen
Dein Brot!
Uwe Meinhold
„Brich mit den Hungrigen Dein Brot“, so beginnt das
gleichnamige Lied, das Friedrich Karl Barth 1977 geschrieben hat und das unter Nr. 420 im Evangelischen
Gesangbuch nachzulesen ist. Hunger ist zu einem
Begriff geworden, der nicht nur mit Essen und Trinken
zu tun hat. Hunger haben viele Menschen heute auch
nach anderen Dingen: Hunger nach Information, Hunger
nach Anerkennung und Liebe, Hunger nach Geld,
Hunger nach Teilhabe, Hunger nach Konsum, Hunger
nach Besitz und so weiter, und so weiter. Es geht bei der
Verwendung dieses Begriffes eben nicht nur um das
leibliche Wohl des Menschen, sondern auch danach, etwas besitzen zu wollen, mehr zu haben als andere,
nicht genug bekommen zu haben.
In unserer Gesellschaft haben Essen und Trinken einen
hohen Stellenwert. Sie sind ein wesentlicher Faktor für
vermeintliches Wohlbefinden, aber häufig auch nur
Ersatz und Befriedigung für entgangene Bedürfnisse
anderer Art. Es geht nicht nur um das Erfordernis, die
für das tägliche Tun notwendigen Energieeinheiten zu
sich zu nehmen, sondern auch immer darum, genug
zur Verfügung zu haben, möglichst über den täglichen
Bedarf hinaus. Zumindest in unserem Land werden die
meisten Menschen noch satt, ja zum Teil übersatt, was
das tägliche Brot und die täglichen Mahlzeiten betreffen. Sofern es bezahlbar ist, mangelt es uns im Allgemeinen an nichts.
52
Wir sehen dies an den vollen Regalen in den Supermärkten mit bis zu 40.000 angebotenen Einzelartikeln, die
entweder in den Städten in fußläufiger Entfernung von
den Wohnungen bzw. auf dem Land meistens an der
Peripherie der Orte, versehen mit großen Parkplätzen,
leicht zu erreichen sind. Wir sehen dies in der Werbung,
die uns immer exquisitere Genüsse anbietet und in den
vielen Fernsehkochshows, zelebriert von Köchen, die
für ihre Rezepte bereits mehrere Gourmet-Sterne bekommen haben. Volle Restaurants, Schlangen vor den
Fast-Food-Lokalen und den Currywurst-Buden, volle
Mülltonnen zeigen auf, dass wir das „Mehr“, das uns
zur Verfügung steht, entweder nur noch schätzen,
wenn es uns als Delikatesse gereicht wird oder wenn
wir es quasi austauschen, um dem Trend neuester Geschmacksrichtungen, die uns werbewirksam suggeriert
werden, zu frönen.
Diese Sicht, auf dem neuesten Stand zu sein, immer
exotischer zu essen, immer ausgefallener zu leben, lässt
vergessen, welche Probleme wir damit erzeugen – für
uns selbst, für Menschen, die weit von uns entfernt
häufig um ihr Existenzminimum kämpfen müssen, und
für die uns folgenden Generationen, denen wir den
Raum zerstören, der es ihnen ermöglichen würde, genau so angemessen wie wir zu leben. Nicht nur dass
wir immer mehr Ressourcen verbrauchen, die dann irgendwann zur Neige gehen, wie zum Beispiel Erdöl,
Gas, Land und Wasser, sondern auch, dass das Übermaß
an Essen zu gesundheitlichen Problemen führt, sollte
nachdenklich machen.
Während in einer Reihe von Ländern in Afrika und an
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
anderen Orten, wo Hunger herrscht, die Menschen an
Unterernährung, Hungerödemen und in deren Folge an
Infektionskrankheiten leiden und sterben, darunter viele Kinder, nehmen bei uns Herzkreislauferkrankungen,
Fettsucht, Magersucht, Bulimie, Diabetes und zunehmend Schäden am Bewegungsapparat durch übermäßiges Gewicht zu. Die Folgen führen zu enormen volkswirtschaftlichen Kosten, die wir durch umfangreichen
und flächendeckenden Einsatz an ärztlicher Versorgung,
Medikamenten und Kuren zu vermindern suchen – finanzielle Mittel, die anderweitig dringender gebraucht
werden. Wir vergessen dabei, dass es den Menschen,
die uns zum Teil diese exotischen Bedürfnisse ermöglichen, weniger gut geht und unser Überfluss ihr Mangel
ist.
Der durch uns geplünderten Natur dürfte dies egal sein.
Sie wird in der einen und anderen Weise diese menschlichen Exzesse überdauern. Ob aber wir Menschen
überdauern, hängt wesentlich davon ab, wie wir die
nächsten 50 bis 100 Jahre unsere Lebensweise so verändern, dass diejenigen, die heute nicht an diesem Wohlstand partizipieren können, ebenfalls in die Lage versetzt werden, zunächst das Lebensnotwendigste zu
erhalten. Das sind in erster Linie gesunde Nahrungsmittel,
sauberes Wasser und bezahlbare Energie aus umweltschonenden Quellen. Zudem müssen wir die uns von
der Natur bereitgestellten Ressourcen so nutzen, dass
auch unsere Kinder- und Kindeskinder noch genug davon zur Verfügung haben. Wir dürfen also nicht aus
dem Blick verlieren, dass die uns nachfolgenden Generationen ein Ökosystem vorfinden, dass es ihnen ermöglicht, ohne Hunger und Durst und weder in Hitze und
Dürre noch in sintflutartigen Regenfällen und Überschwemmungen zu leben.
Nach Erhebungen der Nahrungs- und Landwirt schaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) werden allein für die Herstellung von einem Kilogramm Rindfleisch 13.000 - 15.000 Liter Wasser benötigt. Die Produktion von einem Kilogramm Mais, einem Grundnahrungsmittel für eine Vielzahl von Menschen, verschlingt
schon 710 Liter Wasser.36 Allein schon aus diesem
36
S. www.menschliche-entwicklung-staerken.de/mdg.html
Grunde verbietet sich die Nutzung von Mais, aber auch
anderer als Nahrungsmittel geeigneter Pflanzen für die
Herstellung von so genanntem „Biosprit“ und „Biogas“,
es sei denn, dass die anfallenden Reststoffe verwendet
werden.37
Im Rahmen der im Jahre 2001 vereinbarten Millenniumentwicklungsziele ist es zwar gelungen, einen Schritt
hin zur Verminderung der Armut und des Hungers zu
gehen, aber dennoch schrecken uns immer wieder die
medial verbreiteten Bilder auf, wenn nach kriegerischen
Auseinandersetzungen, Katastrophen oder Dürreperioden Menschen auf der Flucht sind und ausgemergelte
Kinder in den Händen ihrer Mütter dem Tode näher
sind als dem Leben.38
Obwohl derzeit genug Nahrungsmittel produziert werden und nach Aussagen von Experten 12 Milliarden
Menschen von der Weltlandwirtschaft problemlos ernährt werden könnten,39 schaffen wir es nicht, hundert
Prozent der Menschheit zumindest mit dem Not wendigsten zu versorgen.
Nach Feststellung des Wirtschafts- und Sozialrates der
Vereinten Nationen ist aber der Zugang zu ausreichender und angemessener Nahrung ein Menschenrecht.
Danach sind die Regierungen in den von Hunger betroffenen Ländern in der Pflicht, mit entsprechenden Rahmenbedingungen dafür zu sorgen, dass die dort lebenden Menschen selbst in die Lage versetzt werden, sich
mit gesunder und ihren kulturellen Gepflogenheiten
entsprechender Nahrung ausreichend zu versorgen.
Aber nicht nur die betroffenen Länder, sondern auch die
Länder, die genug für die eigene Bevölkerung an angemessener Nahrung haben, sind gehalten, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Sie sind verpflichtet, zu
37
S. http://www.wbgu.de; WBGU: Zukunftsfähige Bioenergie
und nachhaltige Landnutzung, 2009; vgl. auch: Evangelische Kirche in Deutschland: „Ernährungssicherung vor
Energieerzeugung – Kriterien für die nachhaltige Nutzung
von Biomasse.“ Eine Stellungnahme der Kammer der EKD
für nachhaltige Entwicklung, EKD-Texte 95; Hannover 2008.
38
S. www.un-kampagne.de/index.php?id=90 und http://www.
un.org/depts/gerrman/millennium/fs-millennium.html
39
S. www.un-kampagne.de/index.php?id=90
53
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
überprüfen, ob sie mit ihrem Handeln dazu beitragen,
dass sich die Hungersituation verschärft.40
Nach Definition der FAO leiden die Menschen unter
Hunger, bei denen über einen längeren Zeitraum die
tägliche Energiezufuhr unter 1.800 Kilokalorien liegt.
Im Welthungerindex werden weitere als „versteckter
Hunger“ bezeichnete Faktoren hinzugerechnet. Dies
sind vor allem unausgewogene Ernährung, Vitaminund Mineralstoffmangel.41
Rund zehn Prozent der Menschen auf unserem Planeten,
die Zahlen schwanken zwischen 825 und 920 Millionen,
je nach Quelle, haben nichts oder nicht genug zum Essen,
um sich gesund und leistungsfähig zu halten. Entsprechend hoch ist die hierauf zurückzuführende Sterblichkeit, insbesondere von Kindern und älteren Menschen.
Nach Informationen des Welternährungsprogramms sterben allein in den Entwicklungsländern 60 Prozent von
11 Millionen Kindern jährlich, weil sie arm, mangel- oder
unterernährt sind, obwohl ihnen laut Artikel 24 und 27
der vom UN-Sozialausschuss verfassten „Kinderkonvention“ ein Recht auf angemessene Ernährung zusteht.42
Da die Anzahl der Menschen bis 2050, also innerhalb
der nächsten 40 Jahre laut UN-Berichten auf mehr als 9
Milliarden ansteigen wird, gehen einige Experten davon aus, dass sich das Problem, die Menschheit ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen, verschärfen
wird. Um diesem zu begegnen, wird zunehmend fruchtbares Land, vorzugsweise in subtropischen und tropischen Teilen Afrikas, aufgekauft oder für einen langen
Zeitraum angepachtet. Aber auch in Brasilien entstehen
immer größere Flächen für die Produktion von Futtermitteln und Energiepflanzen. In Mexiko boomt der
Maisanbau, nicht für die Versorgung der Bevöl kerung
mit Nahrungsmitteln, sondern für die Herstellung von
40
S. Vereinte Nationen: Wirtschafts- und Sozialrat; Ausschuss
für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Zwanzigste
Tagung, Genf, 26. April - 14. Mai 1999, Tagesordnungspunkt 7.
41
S. www.welthungerhilfe.de/hunger.html
42
S. Jonas Schubert: terre des hommes, Hilfe für Kinder in Not;
Ökologische Kinderrechte schützen – Normative Grundlagen
stärken; 1. Auflage, April 2012.
54
Benzin und Diesel in den USA. In Indonesien breiten
sich nach der Ausbeutung der Tropenholzbestände, vorzugsweise für den Export, Palmölplantagen aus. Aufkäufer bzw. Pächter sind Vermögende aus dem arabischen Raum, aus Indien und China, aber auch multinationale Konzerne, die ihren Sitz in den USA und
Europa haben. Diese versprechen sich hierdurch lukrative Renditen und mittelfristig eine Sicherung der
Ernährung für ihre eigene Bevölkerung.
Die Bewirtschaftung dieses Landes rechnet sich jedoch
nur auf entsprechend intensiv mit hohem Technikeinsatz
zu bearbeitenden großen und freien Flächen und bei geringen Ernteverlusten. Um möglichst schnell hohe Erträge zu erwirtschaften, wird mit einem enormen Einsatz von Düngemitteln gearbeitet und Schädlingsbekämpfungsmitteln, vorzugsweise stark gesundheitsschädliche Pestizide, eingesetzt. Neben dem Anbau von
Hochertragssorten, die ihre volle Produktivität nur im
Zusammenspiel mit intensiver Düngung, Bewässerung
und Pflanzenschutz erbringen,43 bietet sich der Anbau
gentechnisch veränderter Pflanzen an, jeweils zugeschnitten auf die Bedingungen der Region. Eine wesentliche Grundbedingung ist allerdings ein Zugang zu ausreichend Wasser.
Angebaut werden Produkte, die in erster Linie für den
Export bestimmt sind und der heimischen Bevölkerung
nur begrenzt zur Verfügung stehen bzw. preislich zu
teuer sind. Ansteigend sind zudem die Nachfragen nach
eiweiß- und energiereichen Futtermitteln für die industriell betriebene Tierhaltung in Europa und Amerika
und der Anbau von sogenannten Energiepflanzen, die
als Biomasse in fester, flüssiger und gasförmiger Form
zur Strom- und Wärmeerzeugung und zur Herstellung
von Biokraftstoffen Verwendung finden.
Dies führt zu Rodungen, insbesondere im Regenwaldgürtel der Erde, und zum Umbruch von Busch- und
Grasland zur landwirtschaftlichen Nutzung. Verbunden
43
S. Evangelische Kirche in Deutschland: Ernährungssicherung
und Nachhaltige Entwicklung – Eine Studie der Kammer der
EKD für Entwicklung und Umwelt, EKD-Texte 67, Hannover
2000.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
damit kommt es zur Vertreibung von Kleinbauern von
deren bisher bewirtschafteten Ackerland und auch zur
Verdrängung von indigenen Gemeinschaften aus dem
von ihnen genutzten Lebensraum. Aber auch in
Deutsch land wird immer mehr bisher für die Nahrungsmittelproduktion eingesetzte landwirtschaftliche
Fläche hierfür quasi „umgenutzt“.
Die intensive Nutzung, Monokulturen und gentechnisch verändertes Pflanz- und Saatgut führen nicht nur
zu einer Degradierung der Böden, sondern auch zum
Verlust von Biodiversität. Tropische Regenwaldbestände,
Gras- und Grünland sind jedoch Orte mit einer großen
Artenvielfalt in Flora und Fauna. Zudem besitzen sie ein
sehr großes Speicherpotenzial an Kohlendioxid und haben damit einen hohen Stellenwert für den Klimaschutz.
Eine Bestandsaufnahme der FAO aus dem Jahre 2005
geht davon aus, dass Grünland über 40 Prozent der
Landfläche der Erde und ca. 70 Prozent der Flächen, die
der Landwirtschaft zuzuordnen sind, bedeckt. Diese gigantischen „Graslands of the World“ speichern im
Boden und im Wurzelwerk mehr als ein Drittel des globalen Kohlenstoffs.44
Den verbleibenden Kleinbauern wird nicht nur durch
den Verlust an bearbeitbarer Fläche, sondern auch
durch die Übernutzung der vorhandenen Süßwasserressourcen in diesen Regionen häufig die Existenzgrundlage entzogen, so dass mittelfristig eine zunehmende Landflucht der bisher dort lebenden Menschen
stattfindet. Da diese Abwanderungen in erster Linie in
die Randzonen großer Städte stattfinden, werden dort
die bereits vorhandenen Probleme mit Armen und häufig
Unterernährten verschärft.
Nach einer Studie der Welthungerhilfe kann davon ausgegangen werden, dass der Hunger dort am größten ist,
wo Zugangs- und Besitzrechte an Wasser und Land beschränkt oder umstritten sind. Unzureichender und
fehlender Zugang zu sanitären Einrichtungen und zu
modernen Energiequellen verstärken das Problem. Die
44
S. Idel, Anita: Die Kuh ist kein Klima-Killer! – Wie die
Agrarindustrie die Erde verwüstet und was wir dagegen tun
können. Kapitel 3 und 4; Metropolis-Verlag, Marburg 2010.
meist beim Verkauf und der Verpachtung versprochenen Arbeitsplätze und Verbesserungen des sozialen
Umfeldes finden nicht statt.45
Wie bei der Eindämmung der Klimaveränderung liegt
eine große Verantwortung für diese Situation bei den
Industrieländern des Nordens und zunehmend bei den
Schwellenländern wie China, Indien, Südafrika und
Brasilien. Gehandelt werden muss in erster Linie hier.
Die Folgen eines Nichthandelns würden letztendlich die
nachfolgenden Generationen aufgebürdet bekommen.
Die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ verweist unter dem Begriff „Ökologischer Wohlstand für eine zukunftsfähige Wirtschaft“
mit der Faustformel „Besser, anders, weniger“ darauf,
dass „anders“ heißt: Nur mit weniger Ressourcenverbrauch und Naturzerstörung kann ein besseres Leben
geschaffen werden, und wir müssen lernen, dass besseres Leben mehr bedeutet als ständig steigender materieller Wohlstand. Bezogen auf die Landwirtschaft heißt
das, so die Studie, dass „Naturverträglichkeit“ nicht
durch die konventionell-industrielle Landwirtschaft zu
erreichen ist, denn deren Ressourcenverbrauch und deren Einsatz von Agrargiften und Dünger belasten die
Umwelt, während die Bio-Landwirtschaft bemüht ist,
Naturkreisläufe zu schließen und die Ressourcen, die
ihr zu Verfügung stehen, produktiver und vielseitiger
zu nutzen.46
Auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung
Globale Umweltveränderungen (WBGU) geht in seiner
Studie „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine
Große Transformation“ auf die Landnutzung ein. Danach werden etwa ein Viertel der weltweiten Treibhausgasemissionen direkt aus der Landwirtschaft sowie
durch Landnutzungsänderung frei gesetzt. Diese Emissionen sind nicht vollständig zu vermeiden, allein schon
45
S. Welthunger-Index 2012: Kapitel 03: Ernährung in Zeiten
knapper Land-, Wasser- und Energieressourcen.
46
S. Wegmarken für einen Kurswechsel – Eine Zusammenfassung der Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt,
Energie; Februar 2011.
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LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
wegen des aus der Düngung mit Stickstoff resultierenden Lachgases. Eine Reduzierung der Gesamtemissionen
allerdings sollte zu einem Kernbestandteil einer Strategie eines globalen integrierten Landnutzungsmanagement gehören. Ein Stopp der Entwaldung verbunden
mit einem Übergang zur nachhaltigen Waldwirtschaft,
eine klimaverträgliche Landwirtschaft, die die ansteigende Nachfrage nach Nahrungsmitteln, Bioenergie
und stofflich genutzter Biomasse in Form nachhaltiger
Landnutzungskonzepte und Produktionsweisen befriedigt und eine Veränderung unserer Ernährungsweisen,
insbesondere eine Veränderung der derzeitigen Ernährungsgewohnheit zugunsten tierischer Produkte sollten
angegangen werden. Die ständig ansteigende Produktion von tierischen Nahrungsmitteln wird als sehr problematisch eingestuft, da allein die Viehwirtschaft bereits jetzt etwa drei Viertel der landwirtschaftlichen
Flächen beansprucht. Neben der Bevölkerungsent wicklung sei sie einer der wesentlichen Faktoren zunehmender Landnutzung.47
in Einklang mit dem, was sie selbst schätzen, leben
können. Das ist eine gewaltige Aufgabe, die gleichermaßen große Weichenstellungen und kleine Schritte
jedes Einzelnen verlangen.“ 48
Der Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider griff
dies in einer Vorlesung an der Technischen Universität
Berlin im Januar 2013 mit den Worten auf: „Auch ich
teile die Auffassung, dass neue Leitbilder und Paradigmen für Wirtschaft, Politik und den Lebensstil der
Einzelnen nötig sind und dass wir eine umfassende
gesellschaftliche Veränderung und einen Bewusstseinswandel brauchen, um den multiplen Herausforderungen und Krisen unserer Gegenwart angemessen
zu begegnen.“ 49
Somit ergänzte das Motto des diesjährigen Evangelischen Kirchentages „Soviel Du brauchst“ das Motto
der am 1. Advent 2008 gestarteten 50. Kampagne von
Brot für Welt „Es ist genug für alle da“.
In allen diesen Prozessen kommt den Kirchen als weltweit vernetzte und agierende „Player“ eine große und
wichtige Aufgabe zu. Mit ihren Werken und Einrichtungen sind sie bereits an vielen Stellen und Orten
aktiv. In Deutschland könnten sie als ein wichtiger
Partner in der Zivilgesellschaft und auch als Akteur in
den Bereichen Land- und Forstwirtschaft, Grundbesitz
und Beschaffung beispielgebend tätig werden und
Wege aufzeigen, die auch andere Akteure in der Gesellschaft inspiriert, diese zu gehen.
In der Denkschrift des Rates der EKD „Umkehr zum
Leben“ heißt es: „Letztlich geht es um eine neue politische und wirtschaftliche Prioritätensetzung in Zivilgesellschaft und Politik, d.h. eine Verständigung darüber, in welchem Verhältnis z.B. kurzfristige Gewinninteressen von bestimmten Wirtschaftsakteuren und
die langfristigen Überlebensinteressen von Gemeinschaften in der Einen Welt stehen. Es geht letztlich um
die Frage, wie wir leben wollen und wie alle Menschen
47
S. Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große
Transformation – Zusammenfassung für Entscheidungsträger; ISBN 978-3936191-46-2; WBGU Berlin 2011.
56
48
Evangelische Kirche in Deutschland: Umkehr zum Leben.
Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels. Eine
Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 2009, S. 144-145.
49
Nikolaus Schneider: „Ethik des Genug – Impulse aus der
Ökumene und der kirchlichen Entwicklungsarbeit“ – Beitrag
zur Vorlesungsreihe „Wohlstand ohne Wachstum?“ Technische Universität Berlin; 31. Januar 2013.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Brot für die Welt-Projekt Argentinien:
Mutig gegen Landraub
nehmer. Hier landet Soja als Futtermittel in den Trögen
von Schweinen und Rindern – während im argentinischen Chaco jene hungern, denen das Land eigentlich
gehört: die indigene Bevölkerung.
Mit den kartographierten GPS-Daten und den Luftaufnahmen sollen dem Umweltministerium Verstöße gegen eine einstweilige Verfügung aus dem Jahr 2008 bewiesen werden. Diese verbietet jegliche Rodung in der
Region. Informiert wird auch der Oberste Gerichtshof,
der damals auf die Verfügung drang – seinerzeit ein großer Erfolg für ASOCIANA.
Brandrodung in Argentinien Foto: Florian Kopp
In der Region Gran Chaco machen skrupellose Vertreter
des Agrobusiness den indigenen Völkern ihr Land
streitig. Mit Hilfe moderner Geoinformationssysteme
und engagierter Lobbyarbeit verhilft die Organisation
ASOCIANA den Indigenen zu ihrem Recht.
„Da! Halt drauf!“, ruft Ana Alvarez dem Fotografen von
der Rückbank des Kleinflugzeugs aus zu. Der reagiert
sofort, zoomt lodernde Flammen und verbrannte
Mondlandschaft heran, drückt ab. Zeitgleich hält
Alvarez mithilfe eines GPS-Gerätes die Koordinaten der
Orte fest, an denen illegal brandgerodet wird.
Monokulturen zerstören die Vielfalt
Ana Alvarez, Projektkoordinatorin des Brot für die WeltPartners ASOCIANA, einer Organisation der Ang likanischen Kirche, erklärt das Prinzip der Zerstörung: „Es ist
einfach: Sie roden mit schweren Maschinen, holen alle
wertvollen Hölzer aus dem Wald und verarbeiten minderwertige zu Kohle.“ Alles Übrige scharren Bulldozer
zu großen Haufen zusammen, Feuer erledigen den Rest.
So wird Platz für Monokulturen wie Soja, Zuckerrohr
oder die ölhaltige Färberdistel geschaffen – Erzeugnisse,
die in den Industrieländern begehrt sind und satte
Gewinne versprechen. Auch Europa ist ein guter Ab-
Konflikte mit den Viehzüchtern
Als wäre der Kampf gegen das Agrobusiness nicht
schwer genug, müssen sich die indigenen Völker auch
mit den Kleinbauern auseinandersetzen. Dabei treffen
zwei Welten aufeinander: Die indigenen Völker leben
vom Jagen und Fischen, vom Früchte- und Honigsammeln im Wald. Die Nachkommen europäischer Einwanderer hingegen betreiben extensive Viehzucht. Ihre
Rinder, Ziegen und Schafe dringen in die Wälder ein
und zerstören die Lebensgrundlage der Indigenen.
Bereits 2001 nahm ASOCIANA daher Kontakt mit
FUNDAPAZ auf, einem Partner von Brot für die Welt,
der die Kleinbauernfamilien berät. Man einigte sich darauf, bei der Provinzregierung die Vergabe von Landtiteln einzufordern. Um zu klären, wer das Land wie
nutzt, hielten die Indigenen mit GPS-Geräten die Koordinaten ihrer Honigsammelstellen, Fisch- und Jagdgründe fest. Und die Kleinbauern kartographierten jene
Gebiete, die sie bis dahin für ihr Vieh genutzt hatten.
Das gemeinsame Vorgehen zeitigte Erfolg: 2007 unterzeichnete der damalige Gouverneur ein Dekret, in dem
die Übergabe des Landes an die indigenen Gemeinden
und die Kleinbauern angekündigt wird. Zwar ziert sich
sein Nachfolger noch, das Dekret tatsächlich umzusetzen, doch scheint eine friedliche Lösung des Landkonflikts greifbar nah.
57
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Nomaden kämpfen mit der Dürre in Äthiopien. Foto: Christof Krackhardt
5. Ausländische Direktinvestitionen in landwirtschaftliche
Nutzflächen und die globalen
Preisentwicklungen bei
Agrargütern
Hans Diefenbacher
Entnommen aus: Friedensgutachten 2012, S. 196-208
„Soon no more land for the farmers?“ 50
Seit einigen Jahren hat sich eine umstrittene Praxis in
den internationalen wirtschaftlichen Beziehungen stark
verbreitet und eine vielfältige Debatte ausgelöst: Der Kauf
oder die langfristige Pacht großer Agrarflächen durch private Investoren und staatliche Institutionen, vorwiegend
in den Ländern des Südens. Der Begriff des Landgrabbing,
zum Teil als „Landnahme“ übersetzt, hat sich bei jenen
eingebürgert, die dieser Praxis kritisch bis grundsätzlich
ablehnend gegenüberstehen. Diese Bezeichnung bringt
aber nicht zum Ausdruck, dass es sich bei Landgrabbing
um formal legale Vorgänge handeln kann, auch wenn
immer wieder Berichte von Missachtungen traditioneller Landnutzungsrechte oder vertraglich geregelter
Kompensationszahlungen auftauchen.
50
So der Titel einer Pressemitteilung des Evangelischen
Ent wicklungsdienstes vom 29.2.2012, nach der über
50 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Kambodscha mittlerweile im Besitz privater Investoren ist;
Rural21 (Hrsg.): Cambodia: Soon no more land for the
farmers?, Frankfurt am Main 2012, http://www.rura12l.
com/englishlnewsl detaiVarticle/carnbodiasoon-no-moreland-for-the-farmers-0000119/
58
Befürworter betonen, dass sowohl die Käufer von Landflächen als auch die Volkswirtschaften, in denen diese Besitzübertragungen stattfinden, profitieren können.
Auf der anderen Seite weisen Gegner auf das enorme Konfliktpotenzial hin, das entstehen kann, wenn
die Bevölkerung einer Region keine Verfügungsrechte
mehr über deren landwirtschaftliche Nutzflächen hat
und sich die agrarische Produktion nicht oder nicht
mehr an ihren Grundbedürfnissen orientiert.
Landgrabbing kann aber nicht nur durch den direkten
Entzug von Produktions- und Beschäftigungsmög lichkeiten verheerende Folgen für die ländliche Bevölkerung
in den betroffenen Gebieten haben. Durch Veränderungen der Mengen der produzierten Agrargüter kann
es zu Preisveränderungen auf den Märkten kommen,
die nicht nur die ländliche, sondern auch die städtische
Bevölkerung in ihrer Existenz bedrohen. Diese Preisveränderungen werden von den internationalen Märkten
und vor allem von den Einflüssen spekulativer Transaktionen beeinflusst; zum Teil können sie wiederum
Preisveränderungen und spekulative Transaktionen auf
den internationalen Märkten selbst auslösen. Die Rückwirkungen können ganz erheblich sein: Die extremen
Preissteigerungen 2007 und 2008 veranlassten einige
Länder, Ausfuhrstopps für wichtige Agrarprodukte zu
verhängen, um zunächst ihre eigene Versorgung durch
Ausbau der Vorratshaltung zu sichern. Importländer erfuhren deswegen durch ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt noch dramatischere Preissteigerungen. In rund
60 Ländern kam es 2008, weitgehend unbeachtet von
der deutschen Presse zu gewaltsamen Protesten aufgrund der hohen Nahrungsmittelpreise.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Im folgenden Beitrag werden Beispiele von Landgrabbing
vorgestellt und eine Abschätzung der Größenordnung
des Problems unternommen. Anhand aktueller Trends
lassen sich Preisveränderungen auf den Weltagrar märkten darstellen und Auswirkungen auf reale Produktionsveränderungen aufzeigen. Der Beitrag schließt mit einer
theoretischen Einordnung und mit praktischen Empfehlungen an die nationale und internationale Politik, wie
negative Auswirkungen für die lokale Bevölkerung und
die globale Ernährungssicherung vermieden werden
können.
Landgrabbing – ein globales Phänomen?
Alle einschlägigen Veröffentlichungen über das Thema
Landgrabbing enthalten mehr oder minder umfassende
Listen von einzelnen, bekannt gewordenen Fällen ausländischer Direktinvestitionen in Landflächen. Eine
vollständige aktuelle Übersicht gibt es vermutlich nicht,
es zeigen sich jedoch über die letzten Jahre einige bemerkenswerte Entwicklungen.
Ausländische Direktinvestitionen in landwirtschaftliche Nutzflächen waren vor 1985 so gut wie unbekannt. Bis zum Jahr 2000 lassen sich nur sehr vereinzelt kleinere Geschäfte dieser Art nachweisen.
Erst ab 2005 kam es zu einem sprunghaften Anstieg
von Zahl und Größe derartiger Transaktionen; dieser Trend hält derzeit ungebrochen an. Laut diverser Schätzungen sind allein von 2005 bis 2009 zwischen 22 und 50 Mio. Hektar landwirtschaftlicher
Nutzfläche in Ländern des Südens an Investoren aus
Industrieländern, aus arabischen oder aus asiatischen
Schwellenländern – einschließlich China – verkauft
oder langfristig verpachtet worden. Eingerechnet sind
hierbei auch Flächen, über deren Verkauf beziehungsweise deren Verpachtung aktuell verhandelt wurde.51
Grobe Schätzungen gehen von einer Gesamtfläche von
10 bis 30 Prozent des weltweit verfügbaren Ackerlandes
51
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (Hrsg.): Development Policy Stance on the
Topic of Land Grabbing – the Purchase and Leasing of Large
Areas of Land in Developing Countries, Bonn 2009, S. 3 und
Anhang 1.
aus.52 Eine besonders umfangreiche Liste von ausländischen Direktinvestitionen zwischen den Jahren 2006
bis 2009 liefert das International Food Policy Research
Institute. Hier werden über 60 Einzelfälle aufgeführt.
Eine Gesamtfläche ist nicht addierbar, da für die jeweiligen Fälle zum Teil die verkauften oder verpachteten Hektar, teilweise jedoch nur Investitionssummen
in US-Dollar oder geplante Erntemengen bestimmter Agrarprodukte aufgeführt werden.53 Anfang 2012
hat indes das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit eine Gesamt schätzung gewagt,
nach der etwa 200 Mio. Hektar Land, mehr als das
Fünffache der Fläche Deutschlands, für ausländische
Investitionen vergeben worden sein sollen, davon mehr
als 130 Mio. Hektar in Afrika.54
Vor allem China investiert in großem Stil in Afrika zur
Erzeugung von Biokraftstoffen, etwa durch den Ankauf
von 2,8 Mio. Hektar zur Palmölproduktion in der
Demokratischen Republik Kongo sowie durch Geschäfte
in zahlreichen anderen Ländern. Darüber hinaus kauft
China landwirtschaftliche Flächen in Afrika und Asien,
um dort Reisanbau zu betreiben und den heimischen
Bedarf abzusichern. Auch einzelne arabische Staaten
wie Libyen und die Golfstaaten beschaffen sich Landflächen in Afrika zur Lebensmittelproduktion, etwa in
Kenia, Malawi und Sudan. Diese Flächen sind allerdings
kleiner und im Blick auf die Produktion erheblich diversifizierter: Häufig werden verschiedene Nahrungsmittel
angebaut, während es in anderen großen Vorhaben oft
nur um Monokulturen von Energiepflanzen geht.
Aus Europa und den USA sind hauptsächlich transnationale Konzerne und Start-ups – extra zu diesem Zweck
neu gegründete Unternehmen – im Bereich erneuerbare
Energien tätig. Gerade sie setzen zum Teil sehr große
Flächen zur Produktion von Biokraftstoffen ein. Regie52
Mo lbrahim Foundation (Hrsg.): African Agriculture: From
Meeting Needs to Creating Wealth, Tunis 2011, S. 2 ff.
53
Joachim von Braun/Ruth Meinzen-Dick: „Land grabbing“
by Foreign Investors in Developing Countries: Risk and
Opportunities, IFPRI Policy Brief 2009, S. 13.
54
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (Hrsg.): Investitionen in Land und das
Phänomen des „Land Grabbing“, Bonn 2012, S. 3.
59
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
rungen und private Investoren treten dabei sowohl als
Käufer und Verkäufer beziehungsweise als Pächter und
Verpächter auf. Zusätzlich sind seit über zehn Jahren
vor allem Investitionsfonds in diesem „Geschäftsbereich“
mit zum Teil sehr hohen Summen engagiert.
Allein für Äthiopien, Ghana, Madagaskar, Mali und
Sudan beziffern Schätzungen für den Zeitraum von
2004 bis 2009 den Verkauf von etwa 2,5 Mio. Hektar
landwirtschaftliche Nutzfläche an ausländische Investoren. Dabei werden in dieser Statistik einzelne Käufe
nur ab einer Gesamtfläche von über 1.000 Hektar eingerechnet.55 In diesen Ländern bilden die verkauften
Flächen einen nicht unerheblichen Anteil an den derzeit aktiv genutzten landwirtschaftlichen Nutzflächen.
In Madagaskar werden im Rahmen eines Vorhabens auf
452.000 Hektar Biokraftstoffe von Investoren aus Großbritannien erzeugt. Mindestens weitere 550.000 Hektar
werden von anderen Investoren unter anderem aus
Australien, Italien, Südafrika, Großbritannien und dem
Libanon mit Jatropha ebenfalls zur Erzeugung von
Biokraftstoffen bebaut. Ein weiteres Geschäft über 1,3
Mio. Hektar, auf denen ein koreanischer Investor in
Madagaskar Mais anpflanzen wollte, ist nach einer intensiven öffentlichen Debatte gescheitert, in der das
Problem einer zu langfristigen Bindung des Landes an
ausländische Interessen thematisiert wurde.56 Dies
führte zu massiven Unruhen und trug zum Sturz der
Regierung bei.
Dieser Fall wirft ein besonderes Schlaglicht auf die oft
sehr problematische Rolle der Regierungen, die Land
verkaufen oder verpachten. Diese haben zum Teil ein
großes Interesse an ausländischen Direktinvestitionen
und bieten den Investoren sehr günstige Bedingungen,
die nur durch Missachtung der traditionellen Nutzungsrechte der Bevölkerung möglich werden.
55
Lorenzo Cotula/Sonja Vermeulen/RebeCa Leonard/James
Keeley: Land grab or development opportunity? Agricultural
investment and international land deals in Africa, London/
Rom 2009, S. 40 ff.
56
Mo Ibrahim Foundation, a.a.O., S. 21 f.
60
Die Entwicklung der Preise von
Agrarprodukten
Um die Entwicklung und mögliche Folgewirkungen
des Anstiegs der Direktinvestitionen in Nutzflächen zu
verstehen, ist es erforderlich, sich die Verbindung zu
anderen Determinanten der internationalen Agrarmärkte vor Augen zu führen. In der zweiten Hälfte des
letzten Jahrzehnts sind die Preise von Agrarprodukten
in vielen Ländern, vor allem aber auch auf den internationalen Agrarmärkten deutlich angestiegen. In den
Jahren 2007 und 2008 kam es bei vielen Produkten zu
einem absoluten Preishöchststand, der sowohl mit
Faktoren auf der Angebotsseite, wie Produktionsausfälle
durch Missernten, Exportrückgänge und einem Tiefstand bei der Lagerhaltung, als auch mit Faktoren auf
der Nach frageseite, wie steigendes Interesse nach Energiepflanzen und Futtermitteln und mit spekulativen
Aktivitäten, zusammenhing. Es folgten weitere Jahre
mit recht hohen und stark schwankenden Preisen. So
entwickelten Länder, deren Ernährungssicherung nur
über Nah rungsmittelimporte stabilisiert werden kann,
die Strategie, sich durch Ankauf oder langfristige Pacht
von landwirtschaftlichen Flächen im Ausland von den
geschilderten Entwicklungen unabhängiger zu machen. Das Motiv der Sicherung einer stabilen Versorgung der landwirtschaftlichen Produktion durch
Futtermittel und Biokraftstoffe ist mittlerweile für
mehr ausländische Direktinvestitionen verantwortlich
als die Lebensmittelproduktion.
Die Gründe dafür sind vielfältig, ein verstärkender
Faktor war jedoch besonders wichtig: Eine erhöhte
Nachfrage nach Produkten des Agrarsektors, gerade aus
dem Bereich der Biokraftstoffe, traf mit einer erhöhten
Bereitschaft der Finanzmärkte zusammen, in diesem
Anlagebereich auch spekulativ tätig zu werden. Biokraft stoffe können daher als ein Auslöser für den anhaltenden Preisdruck angesehen werden. Es ist davon auszugehen, dass etwa 30 Prozent der Preissteigerungen
bei Getreide der erhöhten Nachfrage bei Biokraftstoffen
zuzuschreiben sind.57 Dieser Preisanstieg wurde teil57
Shenggen Fan: Growing Biofuel Demand and International
Food Prices, in: Rural21 -- The International Journal for Rural
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
weise durch die erhöhten Preise fossiler Brennstoffe ausgelöst, teilweise auch durch Strategien zur Reduktion
von Kohlendioxidemissionen. Die gezielte Förderung
von Biokraftstoffen in den USA und Europa hat bereits
zu einer deutlichen Konkurrenz zwischen der Produktion von Nahrungsmitteln, von Futtermitteln und der
von Energiepflanzen geführt. Die globale Produktion
von Biokraftstoffen hat sich zwischen 2005 und 2011
verdoppelt, die Zuwachsraten in den USA liegen noch
deutlich darüber. Dies hatte einen erheblichen Einfluss
auf die Weltmarktpreise, insbesondere von Mais, die
sich in diesem Zeitraum ebenfalls nahezu verdoppelt
haben. Der Trend zur Preissteigerung wird sich fortsetzen, wenn die Politik der USA und der EU sich nicht
entscheidend verändert. Die Organisationen OECD und
FAO schätzen, dass bis zum Jahre 2020 13 Prozent der
Weltgetreideproduktion, 15 Prozent der Pflanzenöle
und 30 Prozent des Zuckerrohrs für die Erzeugung von
Biokraftstoffen verwendet werden.58
Die Gefährdung der Ernährungssicherheit wird durch
die Finanzmechanismen der Weltmärkte noch einmal
verschärft, denn spekulative Transaktionen gehen von
einer weiteren Steigerung der Preise aus und nehmen
diese durch entsprechende Termingeschäfte quasi
schon vorweg – beziehungsweise überhöhen den Steigerungseffekt in den Spitzen der extremen Preisschwankungen, die auf diese spekulativen Transaktionen zurückzuführen sind. Die Entstehung von Preisblasen
muss dabei auch bei Spekulationen auf den Agrarmärkten – parallel zu anderen Märkten, etwa bei den
Immobilien – als ein sich selbst verstärkender Prozess
verstanden werden. Diese Wirkung hat sich durch die
Einführung neuer Finanzmarktprodukte wie die Spekulationen mit indexbasierten Finanzmarkttiteln noch
weiter erhöht.59 Die Auswirkungen auf die Preise haben
hier jedoch ganz unmittelbar existenzbedrohende
Folgen für die Armen, die diese Preise häufig nicht bezahlen können: Sie geben oft 60 bis 80 Prozent ihres
Development 45 (2011): 5, S.14.
58
Ebd.
59
Hans-Heinrich Bass: The Relevance of Speculation, in: Rural21 – The International Journal for Rural Development 45
(201I): 5, S. 17-21.
Einkommens für Lebensmittel aus und sind daher von
Preisschwankungen besonders betroffen. Gerade in den
Ländern des Südens übertragen sich Preisschwankungen
auf den Welt märkten rasch auf die heimischen Märkte.
Ausländische Direktinvestitionen in
landwirtschaftliche Nutzflächen – pro
und contra
Preissteigerungen landwirtschaftlicher Produkte sollten keinesfalls pauschal als negativ bewertet werden.
Wenn Preise für Lebensmittel sehr niedrig sind, kann
dies auch zu einer niedrigen Investitionsbereitschaft
und langfristig zu einer Unterinvestition im Agrarsektor
führen, was als sehr starkes Entwicklungshemmnis
wirken kann. Gerade in Entwicklungsländern hat der
Agrarsektor einen hohen Anteil an der Wertschöpfung
der Volkswirtschaft. Dennoch sind die Agrarsektoren
vieler Entwicklungsländer seit Jahrzehnten unterfinanziert, was u.a. auf die Entwicklungsstrategien der jeweiligen nationalen Regierungen wie auch der internationalen Entwicklungsorganisationen zurückzuführen ist.
In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass Unterent wicklung nur durch an die jeweiligen Situationen
angepasste Investitionen überwunden werden kann,
die finanzierbar und den Investoren lohnend erscheinen
müssen.60 Einer Studie der Mo-Ibrahim-Foundation zufolge kommt in Afrika derzeit ein Traktor auf etwa 320
Beschäftigte in der Landwirtschaft, geht Getreide durch
Nachernteverluste im Wert von vier Milliarden USDollar verloren und gelten 42 Prozent der Jugendlichen
südlich der Sahara und 62 Prozent der Jugendlichen in
Nordafrika als unterbeschäftigt.61 Diese Kennziffern
können als massive Entwicklungshindernisse verstanden werden. Ausländische Direktinvestitionen im Agrarbereich wären aus Sicht der „Empfängerländer“ nur
dann sinnvoll, wenn sie im Zielland zu einer selbsttragenden Entwicklung zum Nutzen der heimischen Bevölkerung führen. Dass der Technologie-Import allein
die negativen Effekte kompensieren kann, die dadurch
entstehen, dass verkaufte oder verpachtete Nutzflächen
60
Al Imfeld: Entwicklung, Marburg 2010, S.l08.
61
Mo Ibrahim Foundation, a.a.O., S. 2.
61
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
nicht mehr für die heimische Produktion zur Verfügung
stehen, ist äußerst unwahrscheinlich. Auch der Beschäftigungseffekt für die heimische Bevölkerung, die
durch mögliche Anstellungen in von ausländischen
Investoren bestimmten Agrarbetrieben entstehen kann,
wird kaum über der Beschäftigungswirkung einer
Bewirtschaftung vergleichbarer Flächen in eigener
Regie liegen. Im Gegenteil: Vermutlich wird sie niedriger liegen, da mit Fremdkapital in der Regel auch kapitalintensiver produziert wird. Es bleibt das Argument,
dass die Betriebe ausländischer Investoren in kurzer
Zeit die Produktion auf ein Niveau ausdehnen können,
das in der heimischen Wirtschaft vermutlich nicht erreicht würde und deswegen Steuern oder Abgaben erhoben werden können, die dann dem allgemeinen
Aufbau der Wirtschaft und dem Sozialsystem zugute
kommen können. Allerdings muss im Einzelfall genau
geprüft werden, wem die so entstandenen zusätzlichen
Staatseinnahmen tatsächlich zugutekommen.
Das zuletzt genannte Argument geht häufig einher mit
einer anderen Debatte über Entwicklungsmöglichkeiten
vor allem der afrikanischen Landwirtschaft. Auf der einen Seite stellt die Mo-Ibrahim-Foundation im Einklang
mit entsprechenden FAO-Statistiken fest, dass derzeit
79 Prozent des potenziellen Ackerlandes Afrikas nicht
bebaut werden. In der Tat würde Landgrabbing ungenutzter Flächen zunächst einmal nur eine Produktionsausweitung bewirken. Doch Klassifikation von Land als
„ungenutzte“ Nutzflächen hat in vielen Gebieten fatale
Folgen. Südlich der Sahara Ieben über 60 Millionen
Nomaden, die extensive Viehhaltung auf diesen vorgeblich „ungenutzten“ Landflächen betreiben. Ausländische
Direktinvestitionen haben in vielen Fällen dazu geführt, dass die Bewegungsfreiheit der Nomaden begrenzt wurde. Aus Uganda, Kenia, Somalia, Äthiopien
und aus dem Sudan wurden gewaltsame Auseinandersetzungen um den knapper werdenden Zugang zu
Weideland und Wasserquellen berichtet.62 Marginalisierte Bevölkerungsgruppen sind offenkundig extrem
62
Evelyn Bahn: Großflächige Landnahmen, Berlin 2010,
S. 5; FlAN International (Hrsg.): Land Grabbing in Kenya
and Mozambique -- A report on two research missions and
a human rights analysis on land grabbing, Heidelberg 2010.
62
gefährdet, von ihrem Land vertrieben zu werden, zu
dem sie sehr häufig keine formellen, sondern nur traditionell überlieferte Besitztitel haben. Der Übergang zu
einer formalen Regelung der Eigentumsrechte birgt ein
enormes Konfliktpotenzial, wenn die traditionellen
Nut zungsformen nicht angemessen berücksichtigt werden und die indigene Bevölkerung ihre Interessen nicht
adäquat einbringen kann.
Empfehlungen
Zwei Politikvarianten
Angesichts der Entwicklungen in den internationalen
Agrarbeziehungen der letzten Jahre erscheinen zwei
sehr unterschiedliche Strategieempfehlungen an die beteiligten Akteure und an die internationale Politik möglich. Bei der derzeitigen Politik ist davon auszugehen,
dass in absehbarer Zeit weiterhin ausländische Direktinvestitionen erfolgen werden. Für diese Fälle muss ein
Kriterienkatalog erstellt werden, in dem für die unterschiedlichen Akteure die Bedingungen formuliert werden, unter denen der Nutzen derartiger Investitionen
für die ärmsten Bevölkerungsgruppen maximiert und
der Schaden zumindest begrenzt wird. Schon die Verabschiedung einer Richtlinie, die die beteiligten Akteure
auf freiwilliger Basis einhalten können, kann als Beginn
eines globalen politischen Prozesses hilfreich sein; das
Ziel einer bindenden völkerrechtlichen Übereinkunft ist
derzeit noch sehr weit entfernt.
Als Grundlage einer sehr viel weitergehenden und der
derzeitigen politischen Realität daher sehr fernen Regelung können landwirtschaftliche Nutzflächen als Teil
der globalen Gemeingüter betrachtet werden, an denen
allenfalls Nutzungs- und keine Besitz- oder gar Veräußerungsrechte vergeben werden sollten. Globale Gemeingüter wären im Konsensfall nichts, was in Privatbesitz
sein sollte. Schließt man sich dieser Grundüberzeugung
an, dann sollten ausländische Direkt investitionen in
Boden so schnell wie möglich gestoppt werden und nur
sehr wenige Ausnahmen wären unter strengen Auflagen
denkbar. Nachfolgend sollen beide Politikstrategien –
die „realistische“ und die „utopische“ Perspektive –
kurz umrissen werden.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Positiv- und Negativkriterien für „Stakeholder“
ausländischer Direktinvestitionen in landwirtschaftliche Nutzflächen
Im Wesentlichen können vier verschiedene Gruppen
von Stakeholdern unterschieden werden: 63
Investoren, auch ausländische Regierungen, und Anleger in Fonds mit entsprechender Ausrichtung,
Regierungen und staatliche Institutionen der Länder,
in denen die Direktinvestition stattfinden soll,
die Zivilgesellschaft, insbesondere die Nicht regierungsorganisationen (Non Governmental Organisations,
NGOs), die sich für die Interessen der ländlichen Bevölkerung und der ärmsten Bevölkerungsgruppen einsetzen,
schließlich die internationalen Institutionen der
Entwicklungszusammenarbeit
Alle Stakeholder sollten sich zwei Zielen verpflichtet
fühlen: Der Erreichung oder Erhaltung der Ernährungssicherheit sowie der nachhaltigen Entwicklung, die im
Agrarbereich insbesondere durch standortgerechten und
ökologisch orientierten Landbau erreicht werden kann.
Weitere Kriterien für Stakeholder werden im Folgenden
beschrieben. So sollten sich Investoren nur dann engagieren, wenn sie das Know-how und die Kapazität haben, Agrarprojekte in dieser Größenordnung in dem betreffenden Land sachgerecht zu bewältigen. Investoren
sollten in Regionen und Ländern nicht tätig werden, in
denen die Ernährungssicherheit oder die Einhaltung
der Menschenrechte nicht gewährleistet ist. Die traditionellen Eigentums- und Nutzungsrechte der einheimischen Bevölkerung dürfen durch Kauf oder Pacht von
Land durch die Investoren nicht zerstört werden. In vielen Fällen wird eine Investition an diesem Kriterium
scheitern oder nur möglich sein, wenn die Investoren
der einheimischen Bevölkerung und nicht nur den
63
Lorenzo Cotula/Sonja Vermeulen/Rebeca Leonard/James
Keeley, a.a.O., S.102 ff.
Eliten dauerhafte und gesicherte Partizipationsrechte
einräumen.
Investoren sollten nicht nur die eigenen Kosten und den
Nutzen des Vorhabens kennen, sondern auch größtmögliche Transparenz über die Vorteile und Belastungen in
der betreffenden Region herstellen. Wichtige Fragen
sind unter anderem, wie das Vorhaben die Zahl und
Struktur der Arbeitsplätze in der Region beeinflusst, ob
es Beiträge zur Weiterentwicklung der Infrastruktur
leistet und in wie weit es die natürlichen Ressourcen
der Region – vor allem die Wasserressourcen – beeinflusst. Entscheidend ist auch die Frage, ob das Vorhaben
das Angebot der lokal erzeugten landwirtschaftlichen
Produkte, insbesondere Grundnahrungsmittel, und damit auch die Preise in der Region verändert.
Anlegergruppen müssen über geeignete Kontroll institutionen sicherstellen, dass in allen Einzelprojekten, in die
der jeweilige Fonds investiert, die vorgenannten Kriterien eingehalten werden. Regierungen und staatliche
Institutionen der Länder, in denen die ausländischen
Direktinvestitionen stattfinden, haben eine besondere
Verantwortung sicherzustellen, dass die Bedürfnisse einer Volkswirtschaft insgesamt, vor allem aber der durch
die Investition betroffenen Bevölkerung beachtet werden. Grundlegend hierbei ist die Beteiligung der Betroffenen zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Optionen
noch offenstehen, die Ablehnung des Vorhabens, nicht
nur die Möglichkeit einer eventuell geringfügigen
Modifikation, mit eingenommen. Wenn ein Geschäft
zustande kommen soll, muss die Zustimmung der Betroffenen im Voraus, freiwillig und auf Basis umfassender Informationen erfolgen.64
Regierungen sollten für jedes Einzelvorhaben dieser Art
eine Abschätzung der voraussichtlichen ökologischen
und sozialen Folgen und der damit verbundenen Risiken
vornehmen. Nach ökologischer Sicht ist dabei eine nachhaltige Bewirtschaftung der Böden und der Wasserressourcen von entscheidender Bedeutung. Aus der sozialen Perspektive muss geklärt werden, wie das Vorhaben
die Beschäftigungsmöglichkeiten der Bevölkerung und
64
Ebd., S. 105.
63
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
die lokale Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkten beeinflusst.
Regierungen sollten daher einen Gesamtplan entwickeln, welche Art ausländischer Direktinvestitionen sie
in ihr Land holen wollen. Im Agrarbereich können
Investitionen dieser Art nur im Rahmen einer langfristigen Entwicklungsstrategie für den ländlichen Raum
sinnvoll sein und nicht als jeweilige „ad-hoc-Entscheidung“ über einzelne Vorhaben. In einer solchen Strategie müssen auch Überlegungen angestellt werden,
wie die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital in der
Volkswirtschaft insgesamt weiter entwickelt werden
sollen und wie das Naturkapital des Landes dauerhaft
gesichert werden kann. Regierungen sollten Instrumente
entwickeln, um Käufe, die nur spekulativen Zwecken
dienen, zu verhindern. So können hohe Bodensteuern
etabliert werden, wenn Land brach liegt. Ebenso könnte auf diese verzichtet werden, wenn Land im Rahmen
eines vor der Investition vereinbarten Nutzungsplans
bewirtschaftet wird. Für den Fall, dass erworbenes
Land nicht bewirtschaftet wird, könnte sogar ein
„Rückfall“ in staatliches Eigentum zur Bedingung gemacht werden.
In vielen Ländern des Südens muss die Frage der Regelung von Besitzrechtsstrukturen aufgrund historisch
entstandener Eigentumsverhältnisse und Bewirt schaftungsformen sorgfältig und teilweise erstmals kodifiziert
werden. Dies ist vor allem in Regionen erforderlich, in
denen Landbesitz in unter schiedlichen Formen des
Gemeineigentums liegt, die bislang nicht formell geregelt sind bzw. nicht in Formen, die ohne Weiteres anschlussfähig an westliche Rechtsregelungen des Privateigentums an Grund und Boden sind. Solche Regelungen
sind jedoch Grundvoraussetzung dafür, dass Gruppen,
die sich an traditionellen Rechtsvorstellungen orientieren, bei Besitzübertragungen von Land zu ihrem Recht
verholfen werden kann. Hier müssen teilweise neue
Formen der Rechtssicherung von Gemeingütern für
Kollektive geschaffen werden.
NGOs, die sich für die Interessen der ländlichen Bevölkerung und der ärmsten Bevölkerungsgruppen einsetzen, haben nicht nur die Aufgabe, in den konkreten
64
Fällen Lobbyarbeit zur Sicherung dieser Rechte zu übernehmen durch Öffentlichkeitsarbeit, Beratung, Rechtsbeistand für Betroffene und Bildungsarbeit. Insgesamt
können NGOs einen wertvollen Beitrag leisten, wenn
sie die Überprüfbarkeit der ökonomischen, sozialen und
ökologischen Folgen ausländischer Direktinvestitionen
im Agrarbereich durch die Öffentlichkeit einfordern
und sich am Monitoring kontinuierlich beteiligen. Mit
Transparenz allein ist es jedoch noch nicht getan: NGOs
müssen befähigt werden, Antworten auf berechtigte
Fragen zu bekommen und die Beseitigung von Missständen einfordern zu können, auch, indem man ihnen
in wichtigen Punkten ein Klagerecht einräumt.
Internationale Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit können dazu beitragen, die Position der
NGOs vor Ort zu stärken. Sie können aber auch in den
Ländern, in denen der Hauptsitz der Investoren liegt,
versuchen, Einfluss zu nehmen, um den Beitrag der
Projekte zur nachhaltigen Entwicklung zu steigern.
Auch in diesem Feld scheint der Weg zu einer internationalen Standardisierung von Minimalanforderungen
gangbar: Derzeit läuft ein Verhandlungsprozess, um in
einem ersten Schritt freiwillige Standards zu vereinbaren, die ihren wichtigsten Bezugspunkt in der Er nährungssicherung haben. Das UN Comittee on World
Food Security (CFS) hat die Fortsetzung der Verhandlungen über „Voluntary Guidelines on the Responsible
Governance of Tenure of Land, Fisheries and Forests in
the Context of National Food Security“ organisiert; 65
nachdem im letzten Jahr ein Zero Draft dieser
Richtlinien entworfen worden war, ist im März 2012
der Final Draft formuliert worden.66 In diesem Dokument werden die Lebensbedingungen der ärmsten und
von Veränderungen gefährdeten Bevölkerungsgruppen
und der Erhalt des Naturkapitals für künftige Generationen ins Zentrum gestellt Die einzelnen Bestimmungen erfüllen die hier dargestellten Kriterien zu ei65
Diese Verhandlungen fanden vom 5. bis 9. März 2012 in der
Food and Agricultural Organization (FAO) in Rom statt.
66
Food and Agricultural Organization (Hrsg.): Voluntary
Guidelines on the Responsible Governance of Tenure of
Land, Fisheries and Forests in the Context of National Food
Security, Rom 2012, http://www.fao.org/fileadmin/user_
upload!nr!land_tenure/pdfNG_en_ Finai_March_2012.pdf
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
nem großen Teil. Doch durch die starke Betonung der
Freiwilligkeit der geplanten Standards ist derzeit völlig
unsicher, welche Bindungskraft sie entfalten können
und vor allem: in welcher Zeit.
Boden als Gemeingut
Die derzeitige internationale Politik ist, wie durch die
Kriterien im letzten Abschnitt deutlich wurde, sehr
weit davon entfernt, einen Standard für ausländische
Direktinvestitionen verbindlich zu verabschieden, um
danach die Staatengemeinschaft aufzufordern, diesen
Standard zu ratifizieren und in nationales Recht zu
übertragen. Die genannten Kriterien werden daher in
den verschiedenen Ländern, in denen solche Investitionen stattfinden, in sehr unterschiedlichem Maß berücksichtigt. Sehr viele Geschäfte sind abgeschlossen
worden, die, gemessen an diesen Kriterien, fragwürdig
sind oder nicht hätten begonnen werden dürfen.
Wie bereits oben betont, gibt es eine sehr viel weitergehende Position, wonach solche Geschäfte generell nicht
stattfinden sollten. Jede Ausnahme wäre im Einzelfall
sehr sorgfältig zu begründen. Danach wird der
Privatbesitz an Grund und Boden weitgehend abgelehnt. Städte und Gemeinden sollten möglichst viel
Grundbesitz erhalten beziehungsweise wieder neu erwerben und dann Nutzungsrechte an Land nur in Pacht
oder Erbpacht, gegebenenfalls auch in Form von Erbbaurechten, mit jeweils angepassten Auflagen vergeben.
Die Vergabe sollte dabei immer so vonstatten gehen,
dass die Nutzungsrechte der lokalen Bevölkerung Vorrang haben. Grund und Boden sollten hier generell aus
dem Handel und damit auch aus der Spekulation herausgenommen werden.
Interessant dabei ist, dass diese Grundhaltung schon
vor weit über einhundert Jahren in der sogenannten
Bodenreformbewegung präsent war. Schon damals waren die wesentlichen Begründungen und auch die politischen Instrumente in einer Weise ausformuliert, die
heute noch aktuell sind. Judith Baumgartner hat herausgearbeitet, dass Adolf Damaschke, eine der Leitfiguren
des Bundes Deutscher Bodenreformer, schon 1899 anprangerte, dass in Kamerun Kolonialgesellschaften riesi-
ge Landgebiete zu Bedingungen überlassen wurden, die
ausschließlich den Aktionären der Gesellschaft Vorteile
boten und nicht der lokalen Bevölkerung.67
Für Adolf Damaschke war Bodenreform die Grundlage
eines „dritten Wegs“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus,68 eine mögliche Synthese zwischen persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Dieses Programm lässt sich für Damaschke natürlich nicht allein
durch eine Bodenreform erfüllen, sondern erfordert
weitere, grundlegende Reformen, etwa des Geld- und
Finanzwesens, da Damaschke Spekulation generell als
einen der Hauptgründe einer ungerechten Wirtschaftsordnung begreift. Die Beschreibung zentraler Probleme
einer Wirtschaftsordnung, die auf dem Privatbesitz von
Grund und Boden beruht, kann aus den Texten
Damaschkes durchaus auf das Phänomen des Landgrabbing übertragen werden. Die Lösung wird darin gesehen, „den Gebrauch des Bodens als Wohn- und
Werkstätte [zu] befördern“ 69; jeder Missbrauch soll ausgeschlossen werden. Als Missbrauch betrachtet er vor
allem Bodenspekulation jeder Art. Auch die Wertsteigerung, „die der Boden ohne die Arbeit des Einzelnen
erfährt“ 70, soll dem „Volksganzen“ nutzbar gemacht
werden. Dazu schlägt er vor, eine Grundrente einzuführen, die im Idealfall so bemessen ist, dass alle anderen Steuern entbehrlich werden. 71 In dieser Hinsicht
übernimmt Damaschke den Grundgedanken der single
tax von Henry George, der als Begründer der internationalen Bodenwertsteuerbewegung gilt. 72
67
Judith Baumgartner: Erbau Dein Haus auf freiem Grund!
Bodenreform und Siedlungsidee, in: Klaus Hugler/Hans
Diefenbacher (Hrsg.): Adolf Damaschke und Henry George.
Ansätze zu einer Theorie und Politik der Bodenreform,
Marburg 2005, S.152, S. 139-155.
68
Adolf Damaschke: Die Bodenreform, 15. Aufl., Berlin 1918,
S. xii.
69
Ebd., S. 78.
70
Adolf Damaschke: Geschichte der Nationalökonomie,
14. Aufl., Bd. II, Jena 1929, S. 439.
71
Ebd., S. 445.
72
Henry George: Progress and Poverty, San Francisco 1879,
deutsch unter dem Titel Fortschritt und Armut, 6. Aufl.
Jena 1920.
65
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Die Betrachtung von Boden als Gemeingut würde
Landgrabbing jedenfalls in Form von Landverkäufen
ausschließen. Pachtverträge wären unter bestimmten,
sehr strikten Bedingungen denkbar, wenn der Vertrag
von den Institutionen des lokalen Gemeinwesens ausgegeben wird, deren Angehörige den Boden bislang bewirtschaftet haben. Außerdem müssten die Erträge aus
Wertsteigerungen des Bodens in vollem Umfang dem
Gemeinwesen zugutekommen, etwa durch die Erhebung einer Bodenwertsteuer. Schließlich sollten Pachtverträge nur für wenige Jahre, keinesfalls für Jahrzehnte
abgeschlossen werden. Diese Bedingungen sind noch
einmal sehr viel restriktiver als der Katalog der Positivoder Negativkriterien der ersten Variante.
Es erscheint unwahrscheinlich, dass sich die internationale Staatengemeinschaft in absehbarer Zeit der zuletzt beschriebenen „utopischen Variante“ anschließt.
Dennoch sollte diese bei den künftigen internationalen
Verhandlungen über mögliche Regelungen ausländischer Direktinvestitionen in landwirtschaftliche Nutzflächen als mögliche Alternative nicht von vornherein
ausgeschlossen werden. Die Verabschiedung des oben
erwähnten Final Draft der „Voluntary Guidelines and
the Responsible Governance of Tenure of Land, Fisheries
and Forests in the Context of National Food Security“
und deren umfassende Anwendung wäre ein erster
Schritt in die richtige Richtung.
66
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Reisanbau, Bangladesch. Foto: Christof Krackhardt
6. Landwirtschaft. Ein Thema
der Kirche
Clemens Dirscherl
Entnommen aus: Kirchliches Jahrbuch für die EKD
2006, Lieferung 2, Gütersloh 2011, S. 66-72
3.3. Umgang mit dem täglich Brot:
Ernährungsethik und Ernährungssouveränität
Im Ökumenischen Agrarwort von 2003 erfolgte erstmals von Seiten der evangelischen Kirche der deutliche
Hinweis, dass eine unabdingbare Voraussetzung für
eine nachhaltige Landwirtschaft eine angemessene Wertschätzung von Lebensmitteln durch die Verbraucher sei.
Eine „neue Kultur bewusster Ernährung und aufmerksamer Essenszubereitung“ wurde als Beitrag zur Achtung
vor der Schöpfung und zur eigenen Gesundheit gefordert. Ausdrücklich wurde zu den ethischen Leitlinien
für eine nachhaltige Landwirtschaft der Beitrag einer
neuen Ernährungsethik dargelegt (Ziffer 69–72) und die
Erfordernis von „Verbraucherverantwortung und Lebensstilwandel“ (Ziffer 102–108) angemahnt. Dabei solle es
nicht nur um Verzicht als solchen in Form von Askese
gehen, sondern um ein neues Qualitätsbewusstsein, um
als Verbraucher an einer aktiven Mitgestaltung der landwirtschaftlichen Zukunft beizutragen.
Der Wandel der Ernährungskultur wurde von kirchlicher Seite seit Anfang der 1990er Jahre immer wieder
sowohl aus zivilisationskritischer Perspektive wie auch
entwicklungspolitischer Sicht thematisiert. Grundsätzlich wurde dabei unter dem Blickwinkel „der Mensch
ist, was er isst“ reflektiert, dass Ernährung mehr als
Essen, nämlich die physiologische Sättigung des Körpers
mit Kalorien sei,73 sondern Ausdruck eines spezifischen
Beziehungsgeflechts zwischen landwirtschaftlicher Erzeugerseite und Verbrauchern darstellt.74
Hintergrund hierzu waren die immer größer gewordenen Be-, Verarbeitungs- und Handelsstrukturen in der
Ernährungswirtschaft, welche zu einer Kluft zwischen
Landwirt schaft und Verbrauchern geführt hatten. Unter
dem Reizwort der „lila Kühe“ wurde offenbar, dass immer mehr gerade jüngere Menschen nur noch sehr ungenaue Vorstellungen davon haben, wo Milch, Brot,
Fleisch, Eier, Honig, Gemüse und Obst herkommen und
wie diese Lebensmittel erzeugt werden. Um diese Entfremdung zu überwinden und die Verbindung zwischen
Produzenten und Konsumenten zu verbessern, wurden
immer wieder Initiativen für die regionale Vermarktung
landwirtschaftlicher Produkte angestoßen. Das Wissen
um das täglich Brot, seine Entstehungsgeschichte und
die Schwierigkeiten seiner Erzeugung sollte dadurch
thematisiert werden.75 Damit wurde der Blick der klassischen gesundheitlichen Sicht auf das Thema Ernährung ausgeweitet, denn bei traditionellen Ernährungs73
Vgl. Kirche im ländlichen Raum 44 (1993), Heft 4: Ernährung – mehr als Essen.
74
Vgl. Kirche im ländlichen Raum 43 (1992), Heft 1: Erzeuger und
Verbraucher zwischen Supermarkt und Direktvermarktung.
75
Clemens Dirscherl: Ernährungsethik zwischen Verbraucherschizophrenie und Kundensouveränität, in: Agra-Europe:
Länderberichte 45 /2004).
67
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
empfehlungen geht es um Nähr wert und Inhaltsstoffe
der Lebensmittel, kaum aber um die Herkunft (aus der
Region, Deutschland, Europa oder Übersee), die Erzeugungsweise (z.B. Anbau im Freiland oder Treibhaus, konventioneller oder ökologischer An bau), Transport wege
(aus der Umgebung, über Bahn, Schiff, Flugzeug oder
LKW) oder Verpackung. Die zunehmende Umwelt belastung, der enorme Energieverbrauch mit seinen klimaverändernden Folgen sowie die globalen Ungerechtigkeiten wie Armut, Hunger und Landlosig keit in Ländern
der Dritten Welt stellen die Verbindung einer nachhaltigen Lebensweise des Ein kaufs- und Ernährungsverhaltens in seinen Wechselwirkungen mit ökologischen, sozialkulturellen, ökonomischen und politischen Aspekten
her. Am Ende der vielfältigen Verknüpfungen steht der
Verbraucher, der mit seiner Kaufentscheidung beeinflusst, welche ökologischen und sozialen Effekte Lebensmitteln zuzuschreiben sind und welche Produkte sich
durchsetzen. Eine Ernährungsethik als Beitrag zu neuer Kundensouveränität wurde damit zunehmend von
Nichtregierungsorganisationen aus dem umwelt- und
ent wicklungspolitischen Bereich, aber auch aus kirchlichen Kreisen gefordert.76
billig, ausschließlich egoistisch motiviert bei seinem
Konsum verhält (Rabattschlachten, Schnäppchenjagd, etc.). Es fehlt also bei Verbrauchern eine Orientierung für „Preiswertigkeit“. Der Preis als alleiniger Orientierungsmaßstab wird hinterfragt – deshalb
„Ethik des Konsums“ bzw. „Verbraucherethik“ (…).
Für eine „neue Ethik des Konsums“ ist insbesondere
auch das Ein kaufs- und Ernährungsverhalten aus christlicher Sicht bedeutsam. Die Bitte um das „täglich Brot“
im Vater unser lässt eine besondere Verantwortung
für die Brot herstel lung, den eigenen Brotgebrauch
und die Zusam men hänge der Brotverteilung gegenüber den Nächsten in den Blick rücken. Darüber hinaus sind schöpfungstheologische Zusammenhänge mit
der Erzeugungsgrundlage des täglich Brot verbunden,
wobei Brot stellvertretend für alle Lebensmittel steht.
Von daher ist auch der Bezug von Lebensmitteln als
Mittel zum Leben im Unterschied zu Nahrungsmitteln
zur reinen physiologischen Sättigung des Körpers mit
Kalorien zu unterscheiden, weswegen eine besondere Wertebegründung für das Ernäh rungsverhalten aus
christlicher Sicht über die ausschließliche materielle
Begründung (satt, billig und viel) hinausweist.
Dabei wurde deutlich, dass im alltäglichen Konsumverhalten immer wieder eine Diskrepanz zwischen geäußerten Präferenzen und dem praktischen Verhalten
offen zu Tage traten: ob dies die in Meinungsumfragen
bekundete Zustimmung der Verbraucherschaft zu Ökolandbau, regionalen Lebensmitteln, Eiern aus Freilandhaltung oder Produkten aus fairem Handel war
oder die Bevorzugung von Lebensmitteln direkt vom
Bauern, jedes Mal zeigte sich in konkreten Marktanalysen, dass der Preis mehrheitlich das entscheidende
Einkaufskriterium bei Lebensmitteln ist.77 Forderungen
nach einer „neuen Verbraucherethik“ setzen daher auf
einen gesamtgesellschaftlichen Wertewandel, zu dem
u.a. die wahrhaftige Einsicht gehört, (…) dass der
Verbraucher sich maßlos, verschwendungssüchtig,
Verbraucher sind in der modernen Konsumgesellschaft
durch die Vielzahl und Vielfalt an Waren- und Dienstleistungen und die damit verbundenen Sachin formationen und Werbebotschaften einschließlich widersprechender Kommentierungen irritiert und überfordert.
Daraus ergibt sich aus einem Gefühl der Ohnmacht
eine „Gleich-Gültigkeit“, so dass die Waren- und Dienst leistungen unabhängig von ihrer qualitativen Beschaffen heit, Herkunft, etc. für den Nutzen des Verbrauchers als „gleich-gültig“ wahrgenommen werden.
Diese „Gleich-Gültigkeit“ ist nicht nur Ausdruck von
Desinteresse an einer ethischen Begründung für die
Auswahl, sondern eine Bewältigungsstrategie, um einer eigenen ethischen Begründung entgehen zu können. Diese wird an andere Kompetenzstellen delegiert
(…). Sobald diese Kompetenzstellen (zuständig, sachkundig und maßgebend) Schwächen aufweisen, müssen sie sich darum bemühen, gegenüber den Verbrauchern ihre ethische Legitimationsinstanz zu behaupten
(Rückrufaktionen, Qualitätssicherungssysteme, „noch
billiger“ oder „öko fair“).
76
Clemens Dirscherl, Markus Vogt: Ernährungsethik: Ein
Beitrag zu neuer Kundensouveränität, in: B. van Saan-Klein /
C. Dirscherl / M. Vogt, „es soll nicht aufhören“ (wie Anm. 68),
73-77.
77
Vgl. Clemens Dirscherl: Ernährungsethik (wie Anm. 94).
68
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Entwicklung der Lebensmittelpreise in Relation zur Arbeitszeit
1970
Arbeitszeit in Minuten für
2009
72
1 kg Rindfleisch zum Kochen
28
96
1 kg Schweinekotelett
23
16
1 kg dunkles Mischbrot
11
22
10 Eier
5
22
250 g Butter
3
6
1 kg Kartoffeln
3
9
1 l Milch
3
(Quelle: DBV nach Angaben des Statistischen Bundesamtes)
Unsere komplexe Lebenswirklichkeit ist Fakt. Daraus
ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen prag matischem
Verbraucherverhalten (Zeit, Geld, Informationsüberdruss, Bequemlichkeit) und einer Verbraucherethik
(…). Eine Ethikdiskussion des Konsums ist eine grundsätzliche Frage nach der Lebensqualität (…). Der Bezug
zur individuellen Menschenwürde weist zu einer Antwort auf die Frage: Was bin ich mir als Mensch wert ?
(Habe ich billig für mich, meine Familie, meine Gäste
nötig?) Daraus ergibt sich erst eine Kundensouveränität,
die losgelöst von rein pekuniären Kriterien (billig) oder
Werbebotschaften (bunt) selbstbestimmt, genussorientiert und damit subjektiv begründet auswählt, entscheidet und verbraucht, woraus sich ein reflektiertes
Selbst bewusstsein als Verbraucher entwickeln kann.
Eine Ethik des Konsums erweitert den Horizont der
Menschenwürde über den individuellen Bezugsrahmen
hinaus, auch in Verantwortung für die Menschenwürde
anderer. Konkret wird die eigene Entscheidung für den
Konsum in seinen Folgewirkungen in einem räumlichen Verantwortungshorizont (lokal, regional, national, global) sowie in einem zeitlichen Verantwor tungshorizont (die Tradition der Vorväter, hier und heute,
die nachfolgende Generation) gestellt, was mit dem
Leitbild der Nach haltigkeit verbunden wird.
Eine Ethik des Konsums fragt nach konkreten Leitbildern:
1.
Was ist ein problematischer Konsum?
2.
Welcher Handlungsoptionen gibt es für mich alternativ?
3.
Nach welchen Werten richte ich meine Verbraucherentscheidung aus?
4.
Wo ergeben sich Zielkonflikte für mich?
5.
Wie bewerte ich grundsätzlich die Handlungsalternativen und wie entscheide ich mich unter einem konkreten situativen Kontext unter Umständen
auch anders als es meiner Werteorientierung entsprechen würde.
Eine Ethik nachhaltigen Konsums bringt auch für den
Verbraucher subjektive Vorteile. Er ist nicht mehr fremdbestimmt als rein konsumorientierter Verbraucher, sondern ein selbstbestimmter, kundiger Kunde, der begründet und wissend sich entschieden hat. Aufgrund
dieses Entscheidungsprozesses über sein eigenes Kon-
69
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
sumleit bild folgt nicht nur eine Wissensschärfung, sondern auch eine Gewissensschärfung. Daraus entspringt
die Chance von Solidarerfahrung (gutes Gefühl der Gemeinschaft), im Dienste einer guten Sache (Gesundheit,
Umwelt, Entwicklungsländer, Landschaft, Ästhetik, regionale Wirt schaftskreisläufe, soziale Fairness, heimische Landwirtschaft) für die man sich einsetzt. Innerhalb des Konsums kann aus sinnstiftendem Handeln
die persönliche Identität gestärkt werden (Selbst vergewisserung).78
Von dem Widerspruch zwischen ethisch gegründetem Verbraucherbewusstsein und ethisch begründetem praktischem Verbraucherverhalten sind auch die
Kirchen ganz konkret betroffen. Darauf hinzuweisen ist immer wieder Aufgabe, wenn es um kirchliche
Beiträge für eine nachhaltige Landwirtschaft geht:
Die Kirchen wissen um die Gefährdung der Schöpfung,
von Mensch und Natur. Sie verfassen Denkschriften zu
Umwelt-, Entwicklungs- und Agrarpolitik (…). Kirchliches Handeln tritt aber viel zu oft auf der Stelle. Denkschriften, Synodenbeschlüsse und Speisepläne kirchlicher Einrichtungen haben mit wenigen Ausnahmen
nichts miteinander zu tun. Entwicklungs-, agrar- und
umweltpolitische Forderungen oder Empfehlungen bleiben Lippenbekenntnisse. Der „kirchliche Bauch“ partizipiert am weltweiten TischleindeckDich der Agrarindustrie mit all den verheerenden Folgen für Mensch
und Natur.
Ausschließlich orientiert an betriebswirtschaftlicher
Kostensenkung, dem Einsparen im Küchenbereich,
bleibt kirchliche Einkaufspraxis „parasitär“: sie zieht
Gewinn aus Preisen, die nicht die Wahrheit sagen, weil
Umwelt- und Sozialkosten nicht enthalten sind und beteiligt sich so an der Ausplünderung und Vergiftung
78
Clemens Dirscherl: Elf Thesen für eine Ethik des Konsums.
Unveröffentlichtes Manuskript anlässlich der Fachtagung
„Der Verbraucher – das unbekannte Wesen“ des Ausschusses Dienste auf dem Lande in der EKD (ADL), Katholische
Landvolkbewegung (KLB), dem Hauptverband des Lebensmitteleinzelhandels (HDE) und dem Bundesverband der
Deutschen Ernährungswirtschaft (BVE) am 29. September
2006 in Berlin.
70
der Schöpfung (…). So unterscheiden sich die meisten
der kirchlichen Küchen in keiner Weise von der Einkaufs- und Zu bereitungspraxis der übrigen Kantinen in
der Bundesrepublik. Der Blick auf Speiseplan oder Einkaufszettel verrät nicht die christliche Orientierung
(…). Der an Personalsituation, überkommenen Essgewohn heiten und vor allem am zustehenden Finanzrahmen orientierte Einkauf hat seinen Preis (…). Dabei
hätte Kirche mit ihren EKD-weit ca. 1.600 Großküchen
in Krankenhäusern, Heimen und Tagungsstätten,
Feriendörfern, Kindertagungsstätten und Verwaltungskantinen bundesweit eine beachtliche Marktmacht.
Bei der Annahme, dass in diesen Einrichtungen durchschnittlich täglich 250 Essen ausgegeben werden (…)
und bei einem so genannten Rohverpflegungssatz von
ca. 2,50 Euro beläuft sich das tägliche Lebensmitteleinkaufsvolumen dieser Küchen auf etwa 1 Mio Euro. Dies
wären EKD-weit ca. 350 Mio pro Jahr! (…) Kirchen
könnten so bei einer flächendeckenden ökologischen
Ein kaufspolitik ein gewichtiger Markt- und Machtfaktor
im Lebensmittel bereich werden. Sie könnten mit regionalem Einkauf sehr viele bäuerliche Familienbetriebe
erhalten.79
Dass das täglich Brot nicht nur in unmittelbarer Ernährungsweise das christliche Handeln berührt, sondern
auch in globaler Dimension, wird zunächst über die sozialdiakonische Handlungsebene der evangelischen
Ent wicklungszusammenarbeit wie dem Hilfswerk Brot
für die Welt deutlich. Darüber hinaus aber auch in agrarpolitischen Beiträgen, welche den Bezug zu den internationalen Agrarmärkten aufzeigen. Dabei wies man
im Hinblick auf die internationale Verteilungsgerechtigkeit schon zeitig auf die Erkenntnis hin, „dass eine Veränderung des Lebensstils der 1,4 Milliarden Menschen,
die heute der globalen Mittelschicht angehören unumgänglich ist“.80
79
Jobst Kraus: Zwischen Denkschrift, Speisezettel und
Marktmacht, in: B. van Saan-Klein / C. Dirscherl /
M. Vogt, „es soll nicht aufhören“ (wie Anm. 68), 86-89.
80
Wie viele Menschen trägt die Erde? Ethische Überlegungen
zum Wachstum der Weltbevölkerung. Studie der Kammer
der EKD für Kirchlichen Entwicklungsdienst (EKD-Texte 49),
o.O.o.J. (Hannover 1994), 17.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Immer stärker rücken aus wirtschafts-, agrar-, handelsund klimapolitischer Sicht die Weltagrarbeziehungen
in den Vordergrund, wobei der Fokus auch auf die
Frage gerichtet ist, inwiefern die Landwirtschaft der
Industrieländer an der existenzbedrohlichen Situation
der Ent wicklungsländer mitschuldig ist.81 Insbesondere
die Auswirkungen der EU-Agrarexportsubventionen
auf die Landwirtschaft der Entwicklungsländer wurde durch kirchliche Initiativen immer wieder auch anhand von empirischen Studien kritisch hinterfragt:82 ob
Entwicklungsländer als Ventil für die Überschussproduktion der Agrarsektoren des Nordens dienten und damit die Landwirte in der Dritten Welt zunehmend von
den heimischen Märkten verdrängten, wie es auch in
der EKD-Agrardenkschrift von 1984 und im Ökumenischen Agrarwort 2003 problematisiert wurde. Auf
fehlende politische Kohärenz und Interessenskonflikte
bei der Zielerreichung von Welternährungssicherung,
Forderungen nach Förderung der Landwirtschaft in den
Industrieländern und der propagierten Liberalisierung
des weltweiten Agrarhandels weist aus entwicklungspolitischer Sicht auch eine Studie der EKD-Kammer
für Entwicklung und Umwelt hin.83 Das Leitbild einer
nach haltigen Landwirtschaft wird dabei unter der vorrangigen Option für Schwache und Arme im weltweiten Beziehungsgeflecht diskutiert. Die Verantwortung
des täglich Brot steht unter dem Stichwort der „Ernährungssicherung“ mit der Zielvorgabe der „Anfachung
der landwirtschaftlichen Produktion“, „Sicherheit bestimmter gefährdeter Gruppen“, „einer armutsorientierten, zielgruppengerechten Agrar- und Ernährungspolitik“, sowie „Umwelt- und Ressourcenschutz“.84 In
81
Vgl. Kirche im ländlichen Raum 42 (1991), H. 2: Hunger und
Handel.
82
Bernhard Walter: Die Auswirkungen der EU-Agrarexportsubventionen auf die Landwirtschaft der Entwicklungsländer
am Beispiel der Getreideexporte nach Afrika. Eine Studie der
Fachstelle Entwicklungspolitische Bildungsarbeit auf dem
Lande in der EKD (epd- Entwicklungspolitik, Materialien 1),
Frankfurt/M. 1994.
83
Ernährungssicherung und nachhaltige Entwicklung.
Eine Studie der Kammer für Entwicklung und Umwelt
(EKD-Texte 67), Hannover 2000.
84
Ebenda, 14f.
diesem Zusammenhang wird die Zukunftsfähigkeit
der Landwirtschaft weltweit als gefährdet gesehen
durch den Verlust von Regionalität und biologischerVielfalt und dem Vorwärtsdrängen der Gentechnik in
die Landwirtschaft. Demgegenüber wird ein Gegenentwurf zu einer nachhaltigen Strategie der globalen
Ernährungssicherung im Leitbild eines „standortgerechten Landbaus“ beschrieben:
Das Grundprinzip des „standortgerechten Landbaus“
ist die geschickte und möglichst effiziente Nutzung der
lokalen Bedingungen des Betriebes. Dazu gehört neben
dem Management eines stabilen, kleinräumlichen
Gleichgewichts von Nützlingen und Schädlingen auch
die kleinräumliche optimale Anpassung der Kulturen
und Pflanzensorten an die Böden, an das Kleinklima
und an die Wasserverfügbarkeitsverhältnisse im Saisonablauf. Dazu gehört außerdem die Optimierung weitgehend geschlossener betrieblicher Kreisläufe – Kreisläufe
zwischen den Kulturen, den Nutztieren und den
Menschen (…).
Dieser Entwicklungspfad ist besonders geeignet für die
Überwindung der drei großen Vernachlässigungen der
Grünen Revolution:
Die Vernachlässigung der gesamten Bandbreite der
pflanzengenetischen Ressourcen, d.h. die Ausnutzung
der Vielfalt der unterschiedlichsten Genotypen einer
Kulturpflanze;
Die volle Nutzung auch der produktivitätssteigernden Kapazitäten von marginalen Anbaugebieten, die für
den intensiven Bewässerungslandbau nicht geeignet
sind und deren Kulturarten und Saatgutbedürfnisse von
der Grünen Revolution weitgehend vernachlässigt worden sind;
Die Nutzung der unternehmerischen Fähigkeit
auch auf marginalen Flächen, bei denen die Akteure als
Subsistenz- oder Semi-Subsistenzlandwirte, als Pächter
oder Nebenerwerbsbauern von dem technischen Fortschritt weitgehend ausgeschlossen wurden, weil sie
nicht die Finanzierungsmöglichkeiten hatten, um die
modernen Betriebsmittel zu kaufen (…).
71
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
In dieser Landwirtschaft ist der Erzeuger selbst Hauptträger des Wissens, das auf das Gleichgewicht zwischen
der Ertragssteigerung der Pflanzen und Tiere und den
ökologischen, sozialen und ökonomischen Belangen abstellt.85
vanten Elemente der Agenda 21 – sollten auch für die
WTO einen verbindlichen Rahmen darstellen.86
An die Kirchenverantwortlichen erfolgt entsprechend
regelmäßig der Appell, in ihren agrar-, umwelt-, verbraucher- sowie entwicklungspolitischen Anliegen kohärenter zu werden, um „erstmalig wirklich in eine
ernst hafte Kontroverse einzusteigen und zu gemeinsamen Positionen zu finden, die auch theologisch begründbar sind“.87
Die Zukunft einer erfolgreichen Welternährungssicherung wird folglich in der politischen Stärkung von
Regionalisierung und Dezentralisierung im Bereich der
Landwirtschaft gesehen. Darauf richten sich dann auch
die Forderungen an die politischen Adressaten:
Die internationale Politik ist in diesem Zusammenhang
aufgerufen, zu dieser Stärkung beizutragen (…). Vor
diesem Hintergrund gibt es einen erheblichen Reformbedarf bei den internationalen Agrarbeziehungen. Anstatt eine weitere Liberalisierung im Agrarbereich
voran zutreiben, bietet sich (…) die Chance einer grundlegenden Reform der WTO. Die Stärkung der Stellung
der Entwicklungsländer im Welthandelssystem, der
Aufbau eines globalen, an Prinzipien der Gemein nützig keit orientierten Netzes zur Verbesserung der Ernährungssicherung (…) sind grundlegende Elemente einer
solchen Reform.
Insbesondere die multilateralen Umweltabkommen –
etwa die Abkommen zur Artenvielfalt, zur biologischen
Sicherheit, zum Artenschutz, zur Verhinderung der
Wüstenbildung, zum Klimaschutz oder die umweltrele85
Ebenda, 41f.
72
86
Ebenda, 59f.
87
Rudolf Buntzel-Cano: Wie die WTO unsere Landwirtschaft
bestimmt, in: B. van Saan-Klein / C. Dirscherl / M. Vogt, „es
soll nicht aufhören“ (wie Anm. 68), 145-149.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Brot für die Welt-Projekt Kenia:
Der ewigen Dürre trotzen
Dorf in der Ukamba-Region im Osten Kenias. Die extreme Trockenheit der vergangenen Jahre hat ihre Situation
noch verschlimmert. Ihre letzte nennenswerte Ernte
holte die Familie im März 2009 ein. Wie insgesamt 3,7
Millionen Menschen in Kenia war sie daher im Jahr
2011 auf Hilfe angewiesen.
Rettende Unterstützung
Frauen begießen Pflanzen, Kenia. Foto: Christoph Püschner
Unter der extremen Trockenheit in Ostafrika leiden
Millionen Menschen. In Kenia lernen Kleinbauernfamilien, die Dürren mit besserer Wasserversorgung
und angepasster Landwirtschaft leichter zu überstehen.
Mutua Nganda, seine Frau Agnes und ihre neun Kinder
gehören zu den Ärmsten der Armen in Kakili, einem
Die rettende Unterstützung kam von den „Ukamba
Christian Community Services“ (UCCS), einer Organisation der Anglikanischen Kirche Kenias, die zum
Großteil von Brot für die Welt finanziert wird. Über
den Aufbau von Selbsthilfegruppen professionalisiert
und erweitert sie die traditionelle Nachbarschaftshilfe.
„Ziel ist es vor allem, dem Boden langfristig höhere
Erträge abzuringen“, erklärt der Projektverantwortliche
Urbanus Mutua. Die Menschen in Kakili erhielten Saatgut für Pflanzen, die toleranter gegen Dürre sind.
Außerdem lernten sie, wie man Terrassen zur Wasserkonservierung und zum Erosionsschutz der Felder anlegt. Als es Ende Oktober 2011 endlich ausgiebig regnete, konnte auch Mutua Nganda Bohnen säen. Nun
darf seine Familie darauf hoffen, dass die nächste Ernte
besser ausfällt.
Schlimme Dürre überlebt
Der einzige Viehbesitz der Familie sind drei Ziegen, die
ebenfalls von UCCS stammen. Auch dank der Proteine
und des Fetts der Ziegenmilch hat die Familie von
Mutua Nganda die schlimme Dürre des Jahres 2011
überlebt.
73
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Reispflanzerinnen, Laos. Foto: Jörg Böthling
7. Geschlechtergleichstellung
und Ernährungssicherheit
Olivier De Schutter
Der folgende Text ist die Zusammenfassung eines aktuellen Berichts der FAO und der Asiatischen Entwicklungsbank über die Bedeutung von Geschlechtergleichstellung für die Ernährungssicherheit (Originaltitel:
Gender Equality and Food Security, Women’s Empowerment as a Tool against World Hunger). Autor ist
Prof. Olivier De Schutter, UN Berichterstatter für das
Recht auf Nahrung. Asian Development Bank 2013,
ISBN 978-92-9254-171-2 (Print), 978-92-9254-172-9
(PDF), Zusammenfassung Carsta Neuenroth.
Zusammenfassung
Die Publikation untersucht geschlechterbedingte Ungleich heit, welche die Rolle von Frauen in Landwirtschaft
und Nahrungsproduktion einschränkt und so Ernährungsunsicherheit erzeugt. Aktuelle globale Vergleiche
zeigen, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Hunger und Geschlechterungleichheit gibt. Die
am meisten von Hunger betroffenen Länder sind auch
diejenigen, in denen Frauen am stärksten diskriminiert
werden. Die aktuellen globalen Krisen, die Preissteigerungen bei Lebensmitteln, die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie die ökologische Krise verstärken zusätzlich
Armut und Ungleichheit.
Der Bericht spricht sich für Politikreformen zugunsten
der Gleichstellung der Geschlechter und der Stärkung
74
nationaler Ernährungssicherungsstrategien aus und empfiehlt hierfür Maßnahmen, durch die Geschlechterdiskriminierung abgebaut und Frauen sozial, politisch und
wirtschaftlich ermächtigt werden. Der Schwer punkt
der Untersuchung liegt auf dem asiatischen und pazifischen Raum; auf Entwicklungen in anderen Regionen
wird jedoch ebenfalls verwiesen.
Weltweit sind Frauen und Mädchen mit vielen Ungerechtigkeiten und Zwängen konfrontiert. Diese sind
häufig in Normen und Praktiken eingebettet und in gesetzlichen Bestimmungen kodifiziert. Einige Gesetze,
etwa für den Zugang zu Land, enthalten ungerechte und
ausschließende Bestimmungen und institutionalisieren
auf diese Weise die Diskriminierung von Frauen. Außerdem haben häufig traditionelle Regeln und Prakti ken restriktive Folgen für Frauen, indem sie ihren Zugang zu
wichtigen Ressourcen wie Land und Kredit einschränken, und sich so direkt auf Nahrungssicherung und Ernährung auswirken. Nicht nur Frauen und Mädchen
sind direkte Leidtragende; auch die Mitglieder ihrer
Haushalte und Gemeinden sind inter- und intragenerationell davon betroffen.
Der Bericht beschreibt die Beziehung zwischen Geschlechterdiskriminierung und den verschiedenen Zugängen zu Nahrung sowohl für Haushalte als auch für
Einzelpersonen. Er kommt zu dem Schluss, dass sich
zwar Geschlechtergerechtigkeit und Ernährungssicherheit bedingen, die Gleichstellung von Mann und Frau
aber in vielen Regionen ein schwer erreichbares Ziel
bleibt. Eine Transformation der traditionellen Geschlechterrollen ist deshalb dringend erforderlich, um Ernäh-
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
rungssicherheit zu gewährleisten. Eine solche Transformation kann durch verbesserte Informationen über das
Ausmaß von Ungleichheit und spezifischen Zwängen,
denen Frauen ausgesetzt sind, gefördert werden. Es müssen darüber hinaus Strategien zur Gleichstellung der
Geschlechter und Ernährungssicherheit erarbeitet werden, die sich gegenseitig ergänzen und Synergien nutzen. Das transformative Element der Ansätze ist dabei
ent scheidend, denn es reicht nicht aus, Frauen in ihrer
Arbeit zu entlasten und ihre weitgehend unterbewerteten Beiträge zur Hausarbeit und in der Pflege an zuerkennen.
Die Publikation betrachtet vier Bereiche, in denen Reformen durchgeführt werden müssen, um zu gewährleisten, dass Frauen und Mädchen als gleichberechtigte
Akteurinnen Ernährungssicherheit fördern können:
1.
Bessere Verfügbarkeit von Nahrung durch Erhöhung der Produktivität von Nahrungsmittelproduzentinnen
2.
Verbesserter Zugang zu Nahrung durch Bereit stellung von Arbeit für Frauen im ländlichen Raum unter annehmbaren Arbeitsbedingungen und bei akzeptablem Einkommen
3.
Verbesserter Zugang zu Nahrung durch gendersensible soziale Sicherungssysteme
4.
Verbesserte Gesundheit durch adäquate Ernährung,
besonders auch von Kindern.
Die Analyse des Berichts macht deutlich, wie sehr Diskriminierung und soziale Zwänge es Frauen erschweren, ihre wichtige Rolle in der Nahrungsmittelproduktion
und -verarbeitung sowie bei der Vermarktung zu erfüllen. Der Kampf dagegen muss daher als eine wichtige
Komponente im Vorgehen gegen Hunger und Mangelernährung angesehen und behandelt werden. Ein solcher Ansatz ist machbar und kostengünstig, und er
kann hocheffektiv sein. Die Kosten des Nicht-Handelns
indes werden für die Gesellschaft beträchtlich sein.
Der begrenzte Zugang von Frauen und Mädchen zu
Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten wirkt sich
ebenfalls nachteilig auf die Ernährungssicherheit aus.
Dadurch wird die wirtschaftliche Autonomie von
Frauen eingeschränkt und ihre Verhandlungsposition
innerhalb der Familie geschwächt. Frauen werden von
häuslichen Entscheidungen ausgeschlossen und können
sich nicht gegen Erziehungs- und Ernährungspraktiken
wehren, die Jungen und Männer bevorzugen.
Es ist mehr als guter Wille erforderlich, um Geschlechterungerechtigkeit abzubauen. Gesetze gegen geschlechtsspezifische Diskriminierung allein reichen nicht aus.
Soziale und kulturelle Normen und daraus entstandene
Geschlechterrollen müssen in Frage gestellt werden.
„Empowerment“ / Ermächtigung von Frauen ist notwendig. Dies bedeutet Einbeziehung von Frauen in
Entscheidungen auf allen Ebenen, einschließlich der eigenen vier Wände, der lokalen Gemeinschaften und der
nationalen Parlamente. Die Ermächtigung von Frauen
ist nicht nur ein vorrangiges Ziel an sich, sondern ein intrinsisches Menschenrecht, das bereits in Zusagen und
Verpflichtungen von Regierungen als Rechtsgrundlage
anerkannt wurde. Jede Gesellschaft braucht dringend
die Ermächtigung und gleichberechtigte Beteiligung
von Frauen. Beides kann jedoch nur zum Tragen kommen, wenn sowohl Männer als auch Frauen die Bedeutung und Vorteile von Geschlechtergleichstellung für
die Gesellschaft anerkennen und damit auch die Notwendigkeit der Veränderung der aktuellen sozialen
Strukturen als Aufgabe angehen.
Der Bericht zieht Schlussfolgerungen und gibt ausführliche Empfehlungen für Strategien und Maßnahmen,
mit deren Hilfe die notwendigen Veränderungen befördert werden können. Zunächst sollte Geschlechterdiskriminierung, besonders in Bezug auf Eigentums- und
Erbrecht in der bestehenden Gesetzgebung identifiziert
und abgebaut werden. Weitere Strategien auf nationaler
Ebene müssen Geschlechtergerechtigkeit fördern, und
die Gender-Perspektive muss in alle nationalen Entwicklungsprojekte und andere Initiativen einfließen.
Adäquate und erfolgreiche gender-sensible Ernährungssicherungsstrategien sollten multisektoral ausgerichtet
sein, d.h. Maßnahmen in verschiedenen Bereichen
75
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
müssen zusammengeführt werden und sich gegenseitig
ergänzen. Entscheidend sind Maßnahmen z.B. in den
Bereichen Bildung, Landwirtschaft, Arbeit und Soziales.
Der verbesserte Zugang von Frauen zu Märkten ist ein
wichtiger Aspekt und ein gutes Beispiel für die Not wendigkeit von Komplementarität: Infrastruktur (Straßen
und Transport) müssen ausgebaut, Frauen ausgebildet
und landwirtschaftliche Produktivität erhöht werden.
Das erfordert Koordination und Kooperation zwischen
verschiedenen Arbeitsbereichen von Ministerien, Abteilungen, Ämtern oder anderen Arbeitseinheiten.
Die Förderung von Frauenorganisationen in der Form
von Vereinen, Kooperativen und Nichtregierungsorganisationen (NGO) zur Verbesserung der Ernährungssicherheit ist eine weitere Empfehlung des Berichts.
Organisation bringt Kleinbäuerinnen viele Vorteile, z.B.
verbesserten Zugang zu Land und Krediten durch gemeinsam eingebrachte Sicherheiten. Der Einsatz von
Krediten kann ebenfalls innerhalb der Organisation
ent schieden werden. Weiterhin mindert Organisation
das Produktionsrisiko, wenn neues Saatgut erprobt
wird, denn die Versuchsparzellen können innerhalb der
Gemeinschaft verteilt und so mögliche Verluste aufgefangen werden. Lagerung, Verpackung, Transport und
Vermarktung können gemeinsam in größerem Rahmen
durchgeführt werden. Außerdem verbessert sich die
Verhandlungsmacht gegenüber Händlern und Aufkäufern von Produkten. Organisation erleichtert zudem
den Zugang zu Beratung und den Erfahrungsaustausch.
Organisation und der gemeinsame Einsatz von Ressourcen stärkt außerdem die Verhandlungsmacht für günstige Beiträge gegenüber Versicherungsgesellschaften und
damit die Einkommenssicherung. Das gilt für Orga nisationen sowohl von Männern als auch von Frauen. Es sind
jedoch die Frauenorganisationen, die die Gender-Wirkungen sozialer Programme einschätzen und evaluieren
können. Ihre Stimmen müssen politische Entscheidungsprozesse beeinflussen können, sodass die Lebensumstände und Bedarfe von Frauen anerkannt und berücksichtig werden.
Der Bericht betont die Bedeutung partizipativer Entscheidungsfindung. Er empfiehlt dringend, von „Topdown“ ausgerichteten und technokratisch bestimmten
76
Strategien Abstand zu nehmen zugunsten von „Bottomup“ und partizipativ angelegten Programmen. Diese
Empfehlung geht über die Frage der Geschlechtergleichstellung und der Ermächtigung von Frauen hinaus. Alle
Armen kennen die Hindernisse, die sie überwinden
müssen und sind in der Regel sehr innovativ bei der
Suche nach Lösungen. Politische Entscheidungsträger/
innen, die arme Menschen einbeziehen, fällen Entscheidungen, die besser begründet und letztendlich erfolgreicher sind. So sollten auch gender-sensible Er nährungssicherungsstrategien auf allen Ebenen, vom Projekt auf Dorfebene bis zu den nationalen Strategien, partizipativ erarbeitet werden, d.h. dass sowohl Männer als
auch Frauen einbezogen werden müssen. Männer müssen beteiligt sein, wenn Maßnahmen identifiziert werden, die die Gleichstellung und die Ermächtigung von
Frauen betreffen. Nur so kann ihr Widerstand gegen
Veränderung aufgefangen werden. Die Einbeziehung
von Frauen ist die Voraussetzung für die Wirksamkeit
von Programmen und Strategien. Frauen müssen selbst
entscheiden, welche Lösungen am besten für sie sind.
Diese müssen ihren speziellen Bedürfnissen innerhalb
der herrschenden kulturellen Normen entsprechen,
sollten bestehende Geschlechterstereotype jedoch nicht
verstärken. Das ist häufig ein Balanceakt.
Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass die Anliegen und Interessen von Männern auch die von Frauen
sind. Gender-sensible Ernährungssicherungsstrategien
müssen das berücksichtigen. Während Männer meistens eine landwirtschaftliche Produktion anstreben, die
auf den Markt und die Erhöhung des Einkommens ausgerichtet ist, ist das bei Frauen nicht unbedingt der Fall.
Ihr Ziel ist häufig die Versorgung der Familie mit selbst
produzierten Produkten. Sie ziehen deshalb eine landwirtschaftliche Produktion vor, die auf lokalen Ressourcen basiert, das Produktionsrisiko gering hält, wenig
Kapital erfordert und eine für Frauen passendere Organisation der Arbeit ermöglicht. Es ist wichtig, dass diese
Bedürfnisse anerkannt, respektiert und durch entsprechende Unterstützung gefördert werden.
Gender-sensible Ernährungssicherungsstrategien müssen längerfristig und in Phasen angelegt werden, wenn
die gewünschten Veränderungen tatsächlich realisiert
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
werden sollen. Es geht um die Reduzierung von Einschränkungen der Arbeitslast von Frauen, um die Anerkennung ihrer Arbeit in Haushalt und Pflege und um
die Umverteilung dieser Verantwortlichkeiten. Rollenveränderung und Infragestellen von Gender-Stereotypen
brauchen einen transformativen Ansatz, der die Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Frauen
nutzt, um bestehende soziale und kulturelle Normen zu
hinterfragen. Es braucht Zeit, um eine tatsächlich veränderte Rollenverteilung und soziale Transformation zu
erreichen. Deshalb muss diese späte Phase von Anfang
an in der Strategieentwicklung mitgedacht werden.
Ein rechtebasierter Ansatz, besonders die Frauenrechtskonvention und das Recht auf Nahrung sollten die
Erarbeitung gender-sensibler Ernährungsstrategien bestimmen. Rechtschaffenspflicht, Partizipation, NichtDiskriminierung, Transparenz bei der Nutzung von
Ressourcen, Ermächtigung und Rechtsstaatlichkeit –
Prinzipien, die für alle Menschenrechte gelten – sollten
die Formulierung und Implementierung von Strategien,
Programmen und Projekten leiten.
tion zugewiesen, als dies bei anderen Ethnien oder in
der Mehrheitsgesellschaft der Fall ist. Solche kulturellen Unterschiede dürfen nicht ignoriert werden. Er forderlich ist eine kontext-sensible Herangehensweise, die
die Partizipation von Frauen an erste Stelle setzt und eigene Werte und Vorstellungen zurückstellt. Gleichzeitig muss darauf geachtet werden, dass Frauen nicht
einfach Ansichten und Vorlieben unreflektiert wiederholen, weil sie die vererbten kulturellen Werte widerspiegeln. Solche Situationen sorgen dafür, dass Frauen
untergeordnete Rollen zugewiesen werden und verhindern jegliche Neudefinierung bestehender Geschlechterrollen. Deswegen ist es empfehlenswert, Frauen Alternativen aufzuzeigen und diese möglichst an konkreten
Erfahrungsbeispielen, die Frauen in ähnlichen Situationen ermächtigt haben, zu verdeutlichen. Ermächtigung
heißt auch, Alternativen zu kennen und sich von ihnen
inspirieren zu lassen.
Im Rahmen der Erarbeitung des Berichts wurden zwei
wichtige Lektionen gelernt. Die erste ist, dass umfassende Konsultationen notwendig sind, um die Teilhabe von
Frauen bei der Identifizierung von Prioritäten und der
Formulierung von Politiken und Programmen zu gewährleisten. Fokusgruppen und Haushaltsbefragungen
müssen eingesetzt werden, um sicherzugehen, dass
Frauen ihre Präferenzen nennen können. Sie müssen
Gelegenheit bekommen, ohne gesellschaftlichen Druck
und Beeinflussung ihre Ansichten zu äußern. Außerdem
müssen Frauen, die in partizipative Prozesse eingebunden sind, sich ihrer Rechte bewusst sein und alle
Alternativen in Betracht ziehen können, um informierte Entscheidungen zu treffen, unabhängig von existierenden Mustern von Diskriminierung und Exklusion.
Die zweite Lektion zeigt, dass Sichtweisen, Erwartungen und Präferenzen von Frauen nicht nur von Region
zu Region eines Landes unterschiedlich sind, sondern
auch von Gruppe zu Gruppe. In manchen ethnischen
Gruppen beispielsweise wird Frauen durch Formen der
Solidarität und durch soziale Normen eine andere Posi-
77
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
8. Die Welt nachhaltig
ernähren – Agrarökologie fördern
Ecumenical Advovacy Alliance
Kasten 1
Agrarökologische Prinzipien
für die Ent wicklung biodiverser, energieeffizienter,
ressourcenschonender und widerstandsfähiger Agrarsysteme
Auszug aus: Nourishing the World Sustainably: Scaling
up Agroecology, Ecumenical Advovacy Alli-ance 2012,
Dr Miguel Altieri, Andrew Kang Bartlett, Carolin
Callenius, Christine Campeau et al, Übersetzung
Astrid Quick
Die Steigerung der Wiederverwertung von Biomasse, mit dem Ziel der Optimierung des Abbaus
organischer Substanzen und des Nährstoffkreislaufs
über einen Zeitraum.
In den zahlreichen globalen Krisen mit Auswirkungen
auf die Ernährungssicherung hat in den vergangenen
zwei Jahrzehnten weltweit das Interesse an Theorie
und Praxis der Agrarökologie stark zugenommen. Der
neuere wissenschaftliche Weltagrarbericht des Weltagrarrates, das „International Assessment of Agricultural
Knowledge, Science and Technology for Development
(IAASTD)“ 88, stellt fest, dass wir zur Ernährung einer
Weltbevölkerung von 9 Milliarden Menschen im Jahre
2050 mit äußerster Dringlichkeit die effektivsten und
nachhaltigsten Landwirtschaftssysteme einführen müssen, und empfiehlt eine Hinwendung zur Agrarökologie
als einem Instrument zur nachhaltigen Steigerung der
Lebensmittelproduktion und zur Verbesserung der Situation der ärmsten Menschen und Gemeinden.
Achtzig Prozent der in der Welt produzierten Nahrungsmittel werden von 470 Millionen landwirtschaftlichen
Betrieben hergestellt, von denen 85% weniger als zwei
Hektar Land bearbeiten.89 Diese Kleinbauernbetriebe –
die im Allgemeinen mit nachhaltigeren landwirtschaftlichen Produktionsmethoden arbeiten – stehen vor enormen Herausforderungen. Sie finden sich oft gefangen am
Ende einer Kette von Zwischenhändlern, Händlern und
transnationalen Konzernen, die alle einen wesentlichen
Anteil des Produktwertes einbehalten. Sie haben außerdem weniger Kapazitäten, auf Preisvolatilität zu reagieren, und verlieren schnell an Wettbewerbsfähigkeit,
wenn Importe die Märkte überschwemmen. Ohne
Landrechte können einige Landwirte unter dem Druck
von größeren Investoren leicht ihr Land verlieren.
88
IAASTD, 2009.
89
Nagayets 2005.
78
Die Stärkung des “Immunsystems” von Agrarsystemen durch die Verbesserung der funktionalen
Biodiversität – natürliche Feinde, Antagonisten, etc.
Die Schaffung der günstigsten Boden bedingungen für Pflanzenwachstum, insbesondere durch den
Einsatz organischer Substanzen und durch die Steigerung biologischer Aktivität im Boden.
Die Minimierung des Verlustes von Energie,
Wasser, Nährstoffen und genetischen Ressourcen
durch die Verbesserung der Erhaltung und Regeneration von Boden- und Wasserressourcen und der
Agrobiodiversität.
Die Diversifizierung von Arten und genetischen
Ressourcen im Agrarökosystem über Zeit und Raum
auf Feld- und Landschaftsebene.
Die Verbesserung positiver biologischer Interaktionen und Synergien zwischen den Komponenten
der Agrobiodiversität, um so essentielle ökologische
Prozesse und Funktionen zu fördern.
Agrarökologische Managementsysteme sind “landwirtintensiv”, erfordern die Partizipation der Menschen und
müssen standortspezifisch für sehr unterschiedliche
und vielfältige landwirtschaftliche Betriebsbedingungen
zugeschnitten und angepasst werden.90
90
Uphoff, 2002.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Kasten 2
Entwürfe von zeitlichen und räumlichen
Strukturen diversifizierter Bewirtschaftungssysteme und ihre
agrarökologischen Haupteffekte
Fruchtwechsel: Zeitliche Vielfalt in der Gestalt von
Getreide-Leguminosen-Sequenzen; Nährstoffe werden erhalten und durch die eine Saison für die nächste
bereitgestellt und die Lebenszyklen von Schadinsekten,
Krankheiten und Unkräutern unterbrochen.
Polykulturen: Anbausysteme, in denen zwei oder
mehr Kulturpflanzensorten in einer bestimmten räumlichen Nähe gepflanzt werden, so dass biologische
Komplementaritäten entstehen, welche die Effizienz
der Nährstoffverwertung und die Schädlingsbekämpfung verbessern und damit die Stabilität des Feldfruchtertrags erhöhen.
Systeme der Agroforstwirtschaft: Bäume werden
mit jährlichen Kulturen zusammen gezogen zur
Modifizierung des Mikroklimas, zur Erhaltung und
Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit, da einige zur
Stickstofffixierung und Nährstoffaufbringung aus tiefen Bodenhorizonten beitragen und ihre Laubstreu
Was ist Agrarökologie?
Als angewandte Wissenschaft verwendet die Agrarökologie ökologische Konzepte und Richtlinien für die
Gestaltung und Pflege nachhaltiger Agrarsysteme, bei
denen natürliche, vor Ort verfügbare Ressourcen zur
Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit und zur biologischen Schädlingsbekämpfung gegenüber kostenintensiven externen Betriebsmitteln wie chemischen Düngemitteln und Pestiziden bevorzugt werden. Agrarökologie
nutzt die Potenziale innerbetrieblicher Wechselwirkungen stärker aus, um den Gebrauch außerbetrieblicher
Produktionsmittel zu reduzieren und die Effizienz der
Agrarsysteme zu erhöhen. Agrarökologische Prinzipien
(Kasten 1) steigern die funktionale Biodiversität, die von
zentraler Wichtigkeit ist für den Erhalt der wichtigen
immunologischen, metabolischen und regulatorischen
der Aufstockung der Bodennährstoffe, der Erhaltung
organischer Substanzen und der Unterstützung komplexer Boden-Nahrungsnetze dient.
Zwischenfrüchte und Mulchen: Die Reinsaat oder
Mischsaat von Gras- und Leguminosenarten z. B. unter
Obstbäumen kann Erosion reduzieren, den Boden mit
Nährstoffen versorgen und biologische Schädlingsbekämpfung verbessern. Die Einebnung von Zwischenfruchtmischungen auf der Bodenoberfläche ist bei der
konservierenden Landwirtschaft eine Strategie zur
Reduktion von Bodenerosion und Verminderung der
Schwankungen in Bodenfeuchtigkeit und -temperatur, Verbesserung der Bodenqualität und der Unkrautunterdrückung, und damit zur Ernteertragserhöhung.
Pflanzenbau-Viehhaltungs-Gemischtbetriebe:
Durch die Integration von Pflanzenbau und Vieh haltung können hohe Biomasse-Erträge und optimale
Nährstoff wiederverwertung erreicht werden. Eine
Tierproduktion, die in hoher Dichte gepflanzte Futterbüsche und Zwischenfruchtbau mit verbesserten,
hochproduktiven Weiden und Nutzholzbäumen in einem System kombiniert und integriert, das von Vieh
direkt gegrast werden kann, erhöht die Gesamt produktivität, ohne externe Betriebsmittel zu erfordern.
Prozesse, welche ein funktionierendes Agrarökosystem
erst ermöglichen. Technologische Innovationen werden
gern angenommen, wenn ihr Gebrauch die Produktivität der landwirtschaft lichen Betriebe erhöht und die
Umwelt nicht schädigt.
Agrarökologische Prinzipien entfalten sich in unterschiedlichen technologischen Formen, je nach den ökologischen, sozialen und ökonomischen Gegebenheiten
eines jeden landwirtschaftlichen Betriebs oder Region.
Diversifizierung von Anbaupflanzen kann dadurch umgesetzt werden, dass eine Mischung von Kultur pflanzensorten mit verschiedenen Pflanzenhöhen oder verschiedenen Krankheitstoleranzen eingesetzt wird. Diversifi zierung der Bepflanzung von Feldern kann durch
Zwischenfruchtbau auf verschiedenen Feldstücken
oder zwischen Pflanzreihen durch die Pflan zung von
79
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Kasten 3
Eigenschaften von nach agrarökologischen Prinzipien gestalteten und
geführten Bewirtschaftungssystemen
Diversität: In dem Maße wie die Artenvielfalt zunimmt, wächst das Potential für Koexistenz und positive Wechselwirkungen zwischen Arten, was die
Nach haltigkeit eines Agrarökosystems steigern kann.
Größere Artenvielfalt verbessert die Effizienz des
Ressourcengebrauchs in Agrarökosystemen. Mischkulturen weisen eine damit verbundene Widerstandsfähigkeit gegenüber Pflanzenfressern auf, da
eine größere Menge und Vielfalt von natürlichen
Feinden der Schadinsekten vorhanden ist (Andow
1991).
Effizienz: Diversifizierte Systeme sind generell effizient beim Erfassen von Sonnenlicht, Gebrauch von
Regenwasser und der Mobilisierung und dem dichten
Kreislauf von Nährstoffen, und zeigen dabei effiziente
Energieverwendung.
Selbstsuffizienz: Eine Konsequenz von Effizienz
und Diversität ist die Selbstgenügsamkeit von agrar-
Begleitpflanzen geschehen, die jeweils die natürlichen
Feinde der anderen Sorte abwehren. Diversifizierung
von Landschaft kann durch die Integration mehrerer
Produktionssysteme realisiert werden, wie Systeme der
Agroforstwirtschaft und Viehwirtschaft, Einbeziehung
von Brachlandflächen und Waldrest beständen, um eine
hoch heterogene Landmatrix zu erzielen.
Häufig eingesetzte Diversifizierungsprogramme (siehe
Kasten 2) haben generell vorteilhafte Veränderungen
in mehreren Komponenten der Agrarsysteme gleichzeitig zur Folge.91 Anders ausgedrückt wirken sie wie eine
„ökologische Drehscheibe“, da sie zentrale Prozesse aktivieren – wie etwa die Nährstoffwiederverwertung
und Abfallaufbereitung, die biologische Schädlingsbekämpfung zur Reduktion der Zahl schädlicher Insekten
91
Gliessmann, 1998.
80
ökologischen Systemen, da sie hauptsächlich den Eintrag von Sonnenlicht, Niederschlag und vor Ort erzeugte Nährstoffe und Energie benötigen.
Selbstregulierung: Aufgrund der großen Vielfalt an
Organismen sind Ausbruch von Krankheiten und der
Einfall von Insekten oder Unkräutern, die Pflanzen
schweren Schaden zufügen, selten. Außerdem haben
verschiedene Pflanzen zahlreiche Abwehrmechanismen, die sie vor Angriffen schützen.
Widerstandsfähigkeit: Biodiversität stärkt die
Widerstandsfähigkeit von Agrarökosystemen vor allem dadurch, dass die Biodiversität eine „Versicherung“
oder einen Puffer gegen Umweltfluktuationen bietet,
da verschiedene Pflanzen- und Tierarten unterschiedlich auf Fluktuationen reagieren, was wiederum zu
besser vorhersehbarem Produktionsniveau führt.
Produktivität: Positive Effekte der Biodiversität auf
die Biomassenproduktion der Pflanzen, verbunden
mit zunehmenden Effekten der Komplementarität
zwischen Pflanzenarten, führen zu einem besseren
Gebrauch von Bodenressourcen und besserer Regulierung der Schädlingsbestände.
durch kleine Tiere oder andere Insekten, natürliche
symbiotische Reaktionen zwischen verschiedenen
Pflanzen, wie das Ausscheiden toxischer Substanzen
zur Unterstützung des Wachstums, Überlebens oder
der Reproduktion einer benachbarten Pflanze etc. –, die
für die Zu kunftsfähigkeit und Produktivität von Agrarökosystemen unentbehrlich sind. Agrarökologische
Systeme sind nicht auf den Einsatz von Kapital oder
chemischen Mitteln angewiesen, sondern steigern die
Effizienz biologischer Prozesse wie Photosynthese,
Stick stofffixierung, Solubilisierung von phosphorhaltigem Boden und biologische Aktivität über und unter
der Erde. Die „Betriebsmittel“ dieses Systems sind die
natürlichen Prozesse selbst.
Wenn sie nach agrarökologischen Prinzipien gestaltet
und verwaltet werden, dann werden Agrarsysteme vielfältiger, produktiver, widerstandsfähiger und effizienter
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
(Kasten 3). Agrarökologische Initiativen zielen auf die
Transformation der industriellen Landwirtschaft z.T.
durch die Umwandlung bereits vorhandener Lebensmittelsysteme weg von einer auf fossilen Brennstoffen
basierenden Produktion und hin zu einem alternativen
landwirtschaftlichen Paradigma, das lokale/nationale
Lebensmittelproduktion durch Klein- und Familien betriebe unterstützt – auf der Grundlage von lokalem
Wissen, lokaler Innovation, lokalen Ressourcen und solarer Energie. Dies bedeutet, dass Kleinbauern Zugang
zu Land, Saatgut, Wasser, Kredit und lokalen Märkten
gegeben werden muss, zum Teil durch die Schaffung
unterstützender wirtschaftlicher Maßnahmen, finanzieller Anreize, Marktmöglichkeiten und agrarökologischer Technologien.92
Agrarökologische Systeme sind tief in den ökologischen
Erkenntnissen traditioneller Kleinlandwirtschaft verwurzelt. Diese lang etablierten Beispiele erfolgreicher
Agrarsysteme sind von einer enormen Vielfalt domestizierter Pflanzen- und Tierarten gekennzeichnet, die
durch nachhaltige Bewirtschaftungsmaßnahmen für
Boden, Wasser und Biodiversität versorgt und verbessert werden und aus komplexen traditionellen Wissenssystemen gespeist werden.93
Agrarökologie funktioniert in einem zirkulären Produktionssystem, das die umfassende Wiederaufbereitung
und Wiederverwendung natürlicher Ressourcen möglich macht. Sie reduziert Lebensmittelverschwendung
dadurch, dass Überreste durch Kompostieren in Nahrung für den Boden umgewandelt werden. Sie imitiert
die periodischen Zyklen der Natur und bringt ihre eigenen nachhaltigen Wasser- und Abfallmanagement systeme mit. Im Unterschied dazu ist die moderne industrielle Landwirtschaft ein lineares Produktionssystem,
das auf dem extensiven Gebrauch externer Produktionsmittel basiert, um durch den Einsatz von mehr
chemischen und anderen, außerhalb des natürlichen
Systems vor Ort maschinell hergestellten Zusätzen mehr
Nahrungsmittel zu produzieren.
92
Via Campesina 2010.
93
Koohafkan and Altieri, 2010.
Agrarökologie und Widerstandsfähigkeit
gegenüber klimatischen Veränderungen
Agrarökologie kann Landwirten bei der Anpassung an
den Klimawandel und bei dem Umgang mit den Nachwirkungen von Naturkatastrophen helfen. Dies geschieht durch den Aufbau der natürlichen Abwehrkräfte
eines landwirtschaftlichen Betriebes durch verbessertes
Wassermanagement, verstärktes Nährstoffmanagement,
besseres Bodenmanagement und ein diversifiziertes Produktionssystem.
Zum Beispiel helfen nachhaltige und biologische Bodenund Anbaumanagementpraktiken wie bodenschonende
Bearbeitung, Zwischenfruchtbau, der Einsatz von
Dünger, Fruchtwechsel und der Agroforstwirtschaft
zum Aufbau von Stickstoff, organischen Substanzen
und nützlichen Mikroorganismen im Boden. Besseres
Bodengefüge bedeutet weniger Probleme wie Bodenverdichtung, Erosion und Nährstoffauswaschung. Es
hält auch mehr Wasser im Boden. Dies ist entscheidend
wichtig für Regionen, wo Klimawandel bereits zu höheren Temperaturen und niedrigeren Niederschlagsmengen
geführt hat.
Beweise für das Ernährungssicherungspotential
von agrarökologischen Systemen
Da nun gute Grundsätze auf dem Papier stehen, fragen
sowohl Befürworter als auch Kritiker der Agrarökologie,
wie effektiv agrarökologische Methoden in der Praxis
sind. Die erste weltweite Untersuchung agrarökologisch
orientierter Projekte und/oder Initiativen in Entwicklungsländern94 dokumentierte eine deutliche Steigerung der Nahrungsmittelproduktion auf mehr als 29
Millionen Hektar, von der fast 9 Millionen Haushalte
durch größere Nahrungsmittelvielfalt und Versorgungssicherheit profitieren. Allerdings beziehen sich viele der
untersuchten Beispiele auf große Landwirtschaftsbetriebe, die sich nicht ausschließlich an agrarökologische
Prinzipien halten, deshalb können die Daten nur mit
Vorsicht verwendet werden.
94
Pretty el al, 2003.
81
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Gleichwohl führten die in der Studie festgehaltenen
Praktiken nachhaltiger Landwirtschaft zu Steigerungen
von 50-100% per Hektar bei der Getreideproduktion
(etwa 1.71 Megagramm pro Jahr pro Haushalt – eine
Steigerung von 73%) in regenwasserabhängigen Gebieten, die für Kleinbauern in marginalen Gebieten (eine
Gesamtfläche von etwa 3,58 Millionen Hektar, bearbeitet von etwa 4,42 Millionen Bauern) typisch sind. Bei
den 14 Projekten mit Wurzelgemüsen als Haupterzeugnissen (Kartoffeln, Süßkartoffeln und Kassava) steigerte
sich bei den 146.000 Landwirtschaftsbetrieben auf
542.000 Hektar die Eigenproduktion von Nah rungsmitteln um 17 Tonnen pro Jahr (eine Steigerung von
150%). Derartige Ertragsverbesserungen sind wahrhaft
bahnbrechende Erfolge für die Ernährungssicherung
bei Landwirten, die von etablierten landwirtschaftlichen Institutionen abgeschnitten sind.
Eine Studie von 2007 stellte die Forschungsergebnisse
von 293 verschiedenen Vergleichsstudien zusammen,
um die Gesamteffizienz von biologischen gegenüber
konventionellen Landwirtschaftssystemen zu bewerten. Die Wissenschaftler stellten fest, dass in entwickelten Ländern ökologische landwirtschaftliche Systeme
durchschnittlich 92% des Ernteertrags der konventionellen Landwirtschaft hervorbringen. Allerdings produzieren ökologische Systeme in Entwicklungsländern
80% mehr als die konventionellen Landwirtschaftsbetriebe. Einer der für diesen Unterschied angeführten
Gründe ist die für die Landwirte in Entwicklungsländern
größere Zugänglichkeit der für ökologischen Landbau
gebrauchten Materialien. Diese Landwirte kaufen unter
Umständen das gleiche Saatgut wie konventionelle
Landwirtschaftsbetriebe in reichen Ländern, aber sie
können sich die für intensive Landwirtschaft benötigten Düngemittel und Pestizide nicht leisten. Organische
Düngemittel können dagegen in ihren eigenen landwirtschaftlichen Betrieben produziert werden.95 (…)
Agrarökologische Innovationen fördern:
Schwierigkeiten und Möglichkeiten
Bei so vielen in Betrieben erwiesenen sozialen, produk95
Badgley et al, 2007.
82
tiven und ökologischen Vorteilen stellen sich mit Blick
auf die relativ begrenzte Übernahme und Verbreitung
agrarökologischer Innovationen zwei Fragen: (1) Wenn
agrarökologische Systeme so profitabel und effizient
sind, warum sind sie dann nicht weiter verbreitet und
übernommen worden? Und (2): Wie können mehr agrarökologische Verfahren vervielfacht und ausgeweitet
werden?
Forschung und Praxis haben in der Tat demonstriert,
dass es keine grundsätzlichen Bedenken oder Probleme
bei einer großflächigen Umsetzung agrarökologischer
Methoden gibt, sondern dass die Übernahme vor allem
von einem effektiven Wissensaustausch unter Landwirten abhängt. Die Förderung der Agrarökologie basiert
auf einem „Bottom-up“ Ansatz, der mit bereits verfügbaren Ressourcen arbeitet und auf diese aufbaut: dies
sind die Menschen vor Ort, ihr Wissen und ihre heimischen, natürlichen Ressourcen. Eine erfolgreiche Ausweitung der Agrarökologie hängt zutiefst von der Stärkung und Förderung des menschlichen Kapitals und der
Befähigung von Gemeinschaften durch Ausbildung und
partizipatorische Methoden ab, welche die Bedürfnisse,
Bestrebungen und Lebensbedingungen von Kleinbauern
ernst nehmen.
Die meisten Initiativen zur Förderung der Agrarökologie
waren verbunden mit Kapazitätsaufbau-Programmen,
die sich schwerpunktmäßig der Ausbildung, landwirtschaftlichen Praxisschulen, Betriebsdemonstrationen,
dem Austausch von Landwirt zu Landwirt, Austauschbesuchen und anderen Aktionen widmeten. Diese
Aktionen waren die Hauptpfeiler des NGO-Beratungsansatzes und haben erfolgreich Landwirten eine formale Ausbildung in ökologisch-landwirtschaftlichen Praktiken geboten.
Allerdings gibt es komplexe Probleme bei der Förderung
der Agrarökologie. Brennstoffe für das Kochen sind nur
begrenzt verfügbar, so dass für Mist und Pflanzenreste
ein konkurrierender und dringlicherer Bedarf besteht.
Landwirten den Gebrauch von Gründüngerpflanzen,
Kompost, Reisstroh und Wasserhyazinthen als alternative Methoden zur Entwicklung von Bodenfruchtbarkeit
vorzuschlagen, oder die Aufforstung von Ackerland zur
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Futter- und Brennstoffgewinnung, ändert nichts an den
strukturellen Problemen, was den mangelnden Zugang
von Landwirten zu Land, Holz, Wasser und anderen lebenswichtigen Ressourcen noch hervorhebt. Politische
Initiativen zur Verbesserung des Zugangs zu diesen
Ressourcen sind daher notwendig, um die eigentlichen
Ursachen der Armut anzugehen.
Forscher haben zahlreiche Hindernisse identifiziert, die
eine Übernahme und Verbreitung von agrarökologischen Praktiken96 erschweren; das Spektrum reicht
von technischen Problemen wie Informationsmangel
bei Landwirten und landwirtschaftlichen Beratern bis
hin zu Politikverzerrungen, Marktversagen, fehlendem
Landbesitz und infrastrukturellen Problemen. Für die
weitere Verbreitung der Agrarökologie unter Landwirten
ist es entscheidend wichtig, diese Hindernisse teilweise
oder ganz zu überwinden. Große Reformen müssen in
Politik, Institutionen sowie Forschungs- und Entwicklungsprogrammen geschehen, um sicherzustellen, dass
agrarökologische Alternativen in großem Umfang umgesetzt werden, dass sie gerecht und weitgehend zugänglich sind und dass sie vervielfacht werden, so dass
ihr voller Nutzen für nachhaltige Ernährungssicherung
erschlossen werden kann. Landwirte müssen besseren
Zugang zu lokalen und regionalen Märkten, zu Regierungshilfen wie z.B. Kredit, zu Saatgut und agrarökologischen Technologien bekommen. Ein großes Hindernis
für die Verbreitung der Agrarökologie war auch die
Unterstützung einflussreicher wirtschaftlicher und institutioneller Interessengruppen für die Forschung und
Entwicklung des konventionellen agrarindustriellen
Ansatzes, während die Forschung und Entwicklung der
Agrarökologie und nachhaltiger Ansätze in vielen
Ländern weitgehend ignoriert wurde.97
Schlussfolgerungen und Zukunftsperspektiven
Agrarökologie ist aufstockbar. Die Agrarökologie
ist in vielen landwirtschaftlichen Gemeinschaften in der
ganzen Welt verbreitet und umgesetzt worden, und zwar
vor allem durch einen Prozess der Wissensweitergabe
96
Alonge and Martin, 1995.
97
Altieri 2002.
von Landwirt zu Landwirt. Ihre wichtigsten Leistungen
und Investitionen sind die Weitergabe von Informationen
und den besten Verfahren, von Wissen um örtliche
Gegebenheiten und die natürlichen Ressourcen von lokalen Ökosystemen. Sie ist langfristig unabhängig von chemischen Düngemitteln, Pestiziden oder transgenen
Kulturpflanzen, die für Kleinbauern kostspielig sind und
oft Ressourcen aufzehren. Sie kann und ist bereits so weit
verbreitet worden, dass sie Millionen von Landwirten
und Millionen Hektar Land in Afrika, Asien und den
Amerikas erreicht hat. Es gilt nun, einen noch viel größeren Anteil der Kleinbauern in der Welt, die den Großteil
der Nahrungsmittel in der Welt produzieren, mit agrarökologischem Wissen und Kompetenzen auszurüsten.
Agrarökologie kann die Welt ernähren. Trotz
Expansion der umweltzerstörenden, hochintensiven, industriellen ‚Grüne Revolution’-Landwirtschaft wird ein
Großteil der weltweit konsumierten Nahrungsmittel immer noch von Kleinbauern produziert. Durch die Steigerung des Nährstoffertrags und Reduktion der Umweltauswirkungen von kleinen landwirtschaftlichen Betrieben durch die Anwendung agrarökologischer Methoden,
sowie durch das gleichzeitige Angehen der Probleme der
Lebensmittelverschwendung und des Marktzugangs für
Kleinbauern kann die Herausforderung, im Jahre 2050
neun Milliarden Menschen ernähren zu müssen, bewältigt werden – auf umweltverträgliche Art.
Agrarökologie ist unverzichtbar, wenn wir einen gangbaren Weg durch die beiden, miteinander verwobenen
Herausforderungen der zukünftigen Ernährungssicherung und der Abschwächung des Klimawandels zusammen mit der Anpassung an den Klimawandel finden sollen. Im Kontext des Klimawandels ist die Beibehaltung
der gewohnten Handlungsweisen im Bereich der Nahrungsmittelproduktion nicht mehr möglich. Agrarökologie bietet eine Zukunftsperspektive für eine nachhaltige
Nahrungsmittelproduktion, welche die Bedürfnisse einer
weiterhin wachsenden Weltbevölkerung erfüllen, gleichzeitig die Treibhausgasemissionen des landwirtschaftlichen Sektors reduzieren und dabei Widerstandsfähigkeit
gegen den bereits unabwendbaren Klimawandel aufbauen, Biodiversität schützen und Gemeinschaften und
ländliche Lebensgrundlagen erhalten kann.
83
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Die wichtigsten weiteren Schritte, wenn wir diesen
Weg fortsetzen wollen, sind:
1.
Viel größere Investitionen in die Forschung
zu agrarökologischen Methoden der Nahrungsmittelproduktion, aufbauend auf überliefertem und bereits vorhandenem Wissen um die
besten Verfahren und mit dem Ziel der Verbesserung
einer auf Kleinlandwirtschaften basierenden, emissionsarmen, hochproduktiven Landwirtschaft im
Kontext des Klimawandels.
2. Umfangreichere Unterstützung für die Einrichtung und Ausweitung von Netzwerken
für Landwirte auf lokaler Ebene in Ent wicklungsländern weltweit, für die Weitergabe von
Informationen und Wissen um die besten Verfahren
in der agrarökologischen Nahrungsmittelproduktion, als Hauptinstrument für die Steigerung agrarökologischer Nahrungsmittelproduktion in ernährungsunsicheren Gebieten.
3. Politische Rahmenbedingungen auf nationaler und internationaler Ebene erwirken, welche die zentrale Rolle von Kleinbauern bei der globalen Ernährungssicherung anerkennen, sowie die
auf Kleinlandwirtschaften basierende agrarökologische Nahrungsmittelproduktion und agrarökologische Erweiterungsprogramme auf nationaler und
örtlicher Ebene unterstützen.
4. Vermehrte Unterstützung für die Einrichtung
und Ausweitung von Produktionsgemeinschaften unter Kleinbauern, um Marktmöglichkeiten und die kollektiven Kapazitäten von Kleinbauern und ihren Gemeinschaften zu verbessern.
5. Effektivere Regulierung und Bearbeitung der
negativen Auswirkungen des Einflusses von
Korporationen auf landwirtschaftliche Richtlinien und Praktiken, einschließlich der uneingeschränkten Förderung der Abhängigkeit von
Technologien, die durch geistige Eigentumsrechte
geschützt werden wie transgene Kulturpflanzen
und chemische Düngemittel.
84
6. Konzentriertere und effektivere Bearbeitung
des Problems der Lebensmittelverschwendung
in der gesamten Lebensmittelversorgungskette, von der Produktion (insbesondere durch die
Verbesserung von lokalem Zugang zu Lagerung,
Weiterverarbeitung und Transportinfrastruktur für
Kleinbauern in Entwicklungsländern) bis zum Verzehr (insbesondere durch das Hinterfragen von
Verbraucherverhalten und von Verschwendung aufgrund von Qualitätsnormen in der entwickelten
Welt).
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Brot für die Welt-Projekt Guatemala:
Mit dem Mut der Verzweiflung
an einem steilen Hang. Jeder Quadratzentimeter ist bepflanzt.
Profitgier ohne Gewissen
Kleinbäuerin Doña Rosa beim Abendessen in Los Achiotes, Guatemala.
Foto: Thomas Lohnes
Aufgrund ihrer Wasserreserven sind die Nebelwälder
der Granadillas-Berge für die Menschen im trockenen
Osten des Landes lebenswichtig. Doch massive Abholzungen bedrohen ihre Existenz. Zusammen mit den
Klein bauernfamilien setzt sich die Lutherische Kirche
für ihren Erhalt ein.
Doña Rosa weiß: Gibt es den Wald nicht mehr, versiegt auch das Wasser für ihre Felder. Die Kleinbäuerin
lebt in Los Achiotes, einer abgelegenen Streusiedlung
im Bergmassiv „Las Granadillas“. Ihr Grundstück liegt
Ohne das Wasser aus den über 1.400 Meter hoch gelegenen Nebelwäldern könnte Doña Rosa keine Landwirtschaft betreiben. Für die Menschen im ansonsten
extrem trockenen Grenzgebiet zu Honduras sind die
Wälder lebenswichtig. Doch die sind in großer Gefahr.
Denn die Abholzung hat in den letzten Jahren industrielle Ausmaße angenommen. Bereits 80 Prozent des
Waldes sind vernichtet. Verantwortlich dafür sind in
erster Linie die reichen Landbesitzer. „Sie drängen immer weiter vor und wollen uns unser Land wegnehmen“, klagt Doña Rosa und weint.
Grund zur Hoffnung
Wie viele Menschen hier beteiligt sich die kleine Frau
am gewaltfreien Kampf um den Erhalt „ihrer“ Berge.
Unterstützt wird sie dabei von der Lutherischen Kirche
Guatemalas, einer Partnerin von Brot für die Welt. Inzwischen gibt es Grund zur Hoffnung: Vor Kurzem urteilte die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, dass der guatemaltekische Staat ein Gesetz zum
Schutz seiner natürlichen Ressourcen erlassen muss.
85
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Frauen bieten Feldfrüchte an, Angola. Foto: Jörg Böthling
9. Gesundheit und
Fehlernährung
Olivier De Schutter
Auszug aus: United Nations General Assembly, Human
Rights Council, 26. Dez 2011, A7HCR19.59., Report
Submitted by the Special Rapporteur on the right to
food, Olivier De Schutter, Übersetzung Astrid Quick
Die dreifache Herausforderung
A. Die Rolle von Agrar- und Lebensmittelsystemen: Von der Produktionssteigerung zur
Sicherstellung nachhaltiger Ernährung
4. Seit den 1960er Jahren wurde die Ernährungssicherung vor allem in Zusammenhang mit der Produktion
betrachtet, während Zusammenhänge mit der Ernährungsweise oft unbeachtet blieben. Hunger und Fehlernährung wurden mit mangelnder Kalorienauf nahme
gleichgesetzt. Angesichts des weltweit verbreiteten
Hungers war dieser Schwerpunkt vielleicht nachvollziehbar. Jedoch führte dies zur Überbewertung der Steigerung landwirtschaftlicher Erzeugung und Reduktion
von Nahrungsmittelpreisen, während die Sicherung der
Verfügbarkeit von und des Zugangs zu einem breiten
Spektrum verschiedener Nahrungsmittel mit Mikronährstoffen, die für die volle körperliche und geistige
Ent wicklung von Kindern und für die gesunde und produktive Lebensführung von Erwachsenen unverzichtbar sind, kaum Beachtung fanden. Mit anderen Worten
86
wurde, da die Protein-Energie-Mangelernährung als die
größte Herausforderung galt, die Frage der Angemessenheit der Ernährung vernachlässigt. Außerdem wurden
die anderen Funktionen der Landwirtschaft jenseits
der Bereitstellung von Nahrungsmitteln zu niedrigen
Preisen, wie der Sicherung hinreichender Einkommen
für Lebensmittelerzeuger und der Erhaltung der Ökosysteme, nicht bedacht.
5. Dies verändert sich. Experten stimmen nun darin
überein, dass Lebensmittelsysteme den Zugang aller zu
nachhaltigen Ernährungsweisen gewährleisten müssen, was definiert wird als eine Ernährungsweise mit
geringen Umweltauswirkungen, die einen Beitrag zur
Lebensmittel- und Ernährungssicherheit leisten und zu
einer gesunden Lebensführung für gegenwärtige und
zukünftige Generationen führen. Nachhaltige Ernährungsweisen schützen und achten Biodiversität und
Ökosysteme, sie sind kulturell akzeptabel, leicht zugänglich, wirtschaftlich fair und bezahlbar; sie sind ernährungsphysiologisch angemessen, ungefährlich und
gesund, und optimieren natürliche und menschliche
Ressourcen.98 Diese Definition trägt der Notwendigkeit
Rech nung, Agrar- und Lebensmittelsysteme von der
Ausrichtung ausschließlich auf Produktionssteigerung
weg zu bewegen, hin auf eine Integration der Bedingungen für die Angemessenheit von Ernährungsweisen,
98
Diese Definition wurde von den Teilnehmern am Internat ional
Scientific Symposium on Biodiversity and Sustainable Diets
durch Konsens verabschiedet, die vom 3 bis 5 Novem ber 2010
in Rom tagte. Siehe den Schlussbericht des Symposiums, S.ix,
einsehbar bei www.fao.org/ag/humannutrition/29186021e012ff2db1b0eb6f6228e1d98c806a.pdf
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
für soziale Gerechtigkeit und Umweltverträg lichkeit.
All diese Komponenten sind wichtig für den dauerhaften Erfolg bei der Bekämpfung von Hunger und Fehlernährung, wie der Sonderberichterstatter bereits in früheren Berichten hervorgehoben hat.
B. Unterernährung und
Mikronährstoffmangel
6. Die Welt zahlt nun einen hohen Preis für die Kon
-zentration fast ausschließlich auf die Produktionssteigerung in der letzten Jahrhunderthälfte. Es gibt weiterhin erhebliche Unterernährung, insbesondere weil
Agrar- und Lebensmittelsysteme nicht zur Minderung
ländlicher Armut beigetragen haben. Auf globaler Ebene
leidet einer von sieben Menschen noch immer Hunger.
Etwa 34 Prozent der Kinder in Entwicklungsländern,
insgesamt 186 Millionen Kinder, sind klein für ihr Alter,
das häufigste Symptom chronischer Unterernährung.99
Obwohl der Nahrungsmittelpreisindex der Nahrungsmittel- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten
Nationen (Food and Agriculture Organization of the
United Nations, FAO) angibt, dass Nahrungsmittelkosten
inflationsbereinigt seit den frühen 1960er Jahren bis
2002 sanken (abgesehen von einem Höchststand 19731974), sind die Armen immer noch zu arm, um ihren
Lebensunterhalt mit Würde bestreiten zu können, weil
die Landwirtschaft noch nicht zur Unterstützung der
Lebensgrundlagen der am meisten gefährdeten und
marginalisierten Bevölkerungsgruppen angelegt ist.
7. Außerdem leidet eine große Zahl von Menschen unter Mikronährstoffmangel, wobei Kinder und Frauen
unverhältnismäßig stark betroffen sind. Vitamin A-Mangel betrifft mindestens 100 Millionen Kinder, was zur
Einschränkung ihres Wachstums, Schwächung ihrer
Immunität und in Fällen akuten Mangels zu Blindheit
und erhöhter Sterblichkeit führen kann. Zwischen vier
und fünf Milliarden Menschen leiden unter Eisen mangel, einschließlich der Hälfte aller schwangeren Frauen
und Kindern unter 5 Jahren in Entwick lungsländern,
99
Kleinwuchs betrifft 42 Prozent der Kinder im subsaharischen
Afrika, und 48 Prozent in Südasien. Siehe www.unicef.org/
nutrition/index_statistics.html
und laut Schätzungen sind 2 Milliarden anämisch.
Eisenmangel beeinträchtigt das Wachstum, die kognitive
Entwicklung und Immunfunktion, sie führt bei Kindern
zur verminderten Leistungsfähigkeit in der Schule und
bei Erwachsenen zu geringerer Produktivität. Jod- und
Zinkmangel haben ebenfalls negative Auswirkungen
auf die Gesundheit und verringern die Überlebenschancen von Kindern. Etwa 30 Prozent der Haushalte in Entwicklungsländern nehmen kein jodiertes Salz zu sich,
und Kinder von Müttern mit hohem Jodmangel leiden
häufig unter Lernbehinderungen oder Schwachsinn.
Und schließlich kann der Mangel an bestimmten Vitaminen und Mineralien auch die körperliche und geistige
Entwicklung und das Immunsystem beeinträchtigen.100
8. Wie die Unterernährung, sind Nährstoffmangel
oder versteckter Hunger eine Verletzung des Kinderrechts auf einen Lebensstandard, der für die körperliche
und geistige Entwicklung eines Kindes angemessen ist,
und des Rechts auf den Genuss des höchsten erreichbaren Gesundheitsstandards, wie es in Artikel 6, Paragraph 2, und Artikel 24, Paragraph 2 (c) der Konvention
über die Rechte des Kindes zum Ausdruck gebracht
wird. Durch die Umwelt, nicht die Erbanlagen, werden
regionale Unterschiede in der Entwicklung von Kindern
erklärt. WHO-Richtwerte für Kindeswachstum zeigen,
dass Klein kinder und Kinder aus geographisch unterschiedlichen Regionen der Welt sehr ähnliche Wachstumsmuster erleben, wenn ihre Bedürfnisse für Gesundheit und Ernährung erfüllt werden, so dass im Prinzip
alle Kinder das gleiche Entwicklungspotential haben.101
Daher haben Staaten die Pflicht, ausschließliches Stillen
über sechs Monate und danach fortgesetztes Stillen mit
der Zufütterung geeigneter Ergänzungsnahrungsmittel
bis zum Beginn des zweiten Lebensjahres eines Kindes
zu unterstützen; und Lebensmittelsysteme zu schaffen,
die den Zugang jedes Menschen nicht nur zu ausreichender Kalorienauf nahme, sondern auch zu einer hinreichend abwechslungsreichen Ernährungsweise mit
dem vollen Spektrum der erforderlichen Mikronährstoffe sicherstellen.
100 Siehe www.unicef.org/nutrition/index_bigpicture.html
101 Siehe www.who.int/entity/childgrowth/2_why.pdf
87
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
C. Übergewicht und Fettleibigkeit
9. Eine weitere Herausforderung in Bezug auf die Ernährung betrifft Menschen, deren Kalorienaufnahme
ihren Bedarf übersteigt. Heute sind mehr als eine Mil liarde Menschen weltweit übergewichtig (mit einem Körpermasseindex (KMI) >25) und mindestens 300 Millionen Menschen sind fettleibig (KMI >30). Überewicht
und Fettleibigkeit verursachen 2,8 Mil lionen Todesfälle
weltweit, so dass heute 65 Prozent der Welt bevölkerung
in einem Land (alle einkommensstarken Länder und die
meisten Länder mit mittleren Einkommen) leben, wo
Übergewicht und Fettleibigkeit mehr Menschen töten
als Untergewicht.102 In einem Land wie den Vereinigten
Staaten von Amerika bedeutet dies, dass Kinder heute
eine kürzere Lebenserwartung haben als ihre Eltern.103
Jedoch sind Fettleibigkeit und nichtübertrag bare Krankheiten (non-communicable diseases, NCDs), die insbesondere mit ungesunder Ernährung in Verbindung gebracht werden, nicht länger auf reiche Länder begrenzt.
Es wird geschätzt, dass bis zum Jahr 2030 in armen
Ländern 5,1 Millionen Menschen jährlich noch vor Erreichen ihres 60. Lebensjahres an solchen Krank heiten
sterben werden, verglichen mit 3,8 Millionen heute.104
Fettleibigkeit und Übergewicht betreffen 50 Prozent der
Bevölkerung oder mehr in 19 der 34 Mitgliedsländer der
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation
and Development, OECD),105 allerdings sind sie schon
jetzt in allen Regionen zu Problemen für die öffentliche
Gesundheit geworden. Von nichtübertragbaren Krankheiten verursachte Todesfälle und Erkrankungen haben
inzwischen die von übertragbaren Krankheiten verursachten Todesfälle und Erkrankungen in allen Regionen
102 WHO, Global Status Report on Noncommunicable Diseases
2010 (Geneva, 2011), S.2; WHO, Global Health Risks: Mortality and Burden of Disease Attributable to Selected Major
Risks (Geneva, 2009), S.16 und 17.
103 S.J. Olshansky und andere, - A potential decline in life expectancy in the United States in the 21st century, New England
Journal of Medicine, Bd. 352, Nr. 11 (2005), S.1143.
104 R.Beaglehole und andere, -Priority actions for the non-communicable disease crisis, Lancet, Bd. 377, Nr. 9775 (2011),
S.1438-47.
105 OECD, Health at a Glance 2011 (Paris, 2011), S.54.
88
außer Afrika überholt, und es wird erwartet, dass
Todesfälle durch nichtübertragbare Krankheiten weltweit zwischen 2010 und 2020 um 15 Prozent steigen
werden – und um über 20 Prozent in Afrika, Südostasien
und den ostmediterranen Regionen.106 Überdies führen
nichtübertragbare Krankheiten in armen Ländern
schneller zum Tod. Sowohl in Südostasien als auch in
Afrika finden 41 Prozent der durch hohen KMI verursachten Todesfälle vor dem 60. Lebensjahr statt, im Vergleich zu 18 Prozent in einkommensstarken Ländern.107
Die gesellschaftlichen Kosten sind enorm, die direkten
bei der medizinischen Versorgung und die indirekten
durch den Verlust an Produktivität.108 Es besteht ein
wichtiger zeitlicher Abstand zwischen dem Beginn von
Fettleibigkeit und der Kostenzunahme im Gesundheitswesen, jedoch gibt es Schätzungen, dass z.B. die mit
Übergewicht und Fettleibigkeit verbundenen Kosten im
Vereinigten König reich von Großbritannien und Nordirland im Jahre 2015 sogar bis zu 70 Prozent höher als im
Jahr 2007 sein könnten, und dass sie 2025 2,4 mal so
hoch sein werden.109 Für Länder wie Indien oder China
gibt es Prognosen, dass die Auswirkungen von Fettleibigkeit und Diabetes in den nächsten Jahren stark ansteigen werden.110 Im Durchschnitt verursacht eine 10
106 WHO, Global Status Report, S. 9.
107 WHO, Global Health Risks, S. 17.
108 In den Vereinigten Staaten wurden direkte medizinische und
indirekte Staatsausgaben, die auf Diabetes zurückzuführen
waren, 2002 auf US$ 132 Milliarden geschätzt, und haben
damit die Kosten für die medizinische Versorgung insgesamt
in dem Jahr verdoppelt (American Diabetes Association,
-Economic costs of diabetes in the US in 2002, Diabetes Care,
Bd. 26, Nr. 3 (2003), S.917; 2007 betrugen die Kosten US$ 174
Milliarden (American Diabetes Association, -Economic costs of
diabetes in the US in 2007, Diabetes Care, Bd. 31, Nr. 3 (2008),
S. 596. In der lateinamerikanischen und karibischen Region
werden jährlich US$ 65 Milliarden für die Gesundheitsfürsorge für Diabetiker ausgegeben, oder 2 bis 4 Prozent des BIP
(Bericht des Generalsekretärs (A/66/83), Abschnitt 28.)
109 United Kingdom, Government Office for Science, Tackling
Obesities: Future Choices (2007), S.40.
110 B.M. Popkin, -Will China’s nutrition transition overwhelm
its health care system and slow economic growth? Health
Affairs, Bd. 27, Nr. 4 (2008), S.1072 (Einschätzungen, dass die
indirekten wirtschaftlichen Auswirkungen von Übergewicht
und Fett- leibigkeit 8,73 Prozent des BIP im Jahre 2025
kosten könnten).
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
prozentige Zunahme der nichtübertragbaren Krank heiten einen Bruttoinlandsproduktverlust (BIP) von 0,5
Prozent.111
10. Die Agrar- und Lebensmittelsysteme müssen umgestaltet werden, um die Herausforderungen von Fehlernährung, Unterernährung, Mikronährstoffmangel
und Überernährung zu bewältigen – nicht jedes für
sich, sondern gleichzeitig. Die Fehlernährung in all ihren Formen kann nicht nur durch einen ausschließlich
ernährungswissenschaftlichen Ansatz bewältigt werden, wie durch die Versorgung mit therapeutischer Fertig nahrung oder mit Mikronährstoffen angereicherter
Gesundheitskost zur Bekämpfung des Mikronährstoffmangels oder der negativen gesundheitlichen Auswirkungen von Lebensmitteln mit einem hohen Gehalt an
gesättigten Fettsäuren, Transfettsäuren, Natrium und
Zucker (HFSS Lebensmittel). Die Sicherstellung der ausreichenden Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Obst
und Gemüse und von einer Ernährung, die unter Einschluss verschiedener Lebensmittelgruppen hin reichend abwechslungsreich und ausgewogen ist, erfordert
den Umbau von Agrar- und Lebensmittelsystemen. Dies
bedeutet eine Priorisierung des Zugangs zu angemessenen Ernährungsweisen, die sozial- und umweltverträglich sind, anstelle einer reinen Versorgung mit billigen
Kalorien. Jede Intervention, welche die oben beschriebenen verschiedenen Formen von Fehlernährung anzugehen versucht, muss danach bewertet werden, ob sie
eine solche Neufestlegung von Prioritäten fördert oder
hindert.
IV. Die Bewältigung von Übergewicht
und Fettleibigkeit
A. Die Rolle der Agrar- und Lebensmittelsysteme
1. Landwirtschaftliche Richtlinien und
Maßnahmen
30. Desweiteren besteht ein Einfluss auf Ernährungsweisen durch den Preiskanal, durch die Veränderung
111 WHO, Global Status Report, S.3.
der relativen Preise der Lebensmittel im Warenkorb. In
einkommensstarken Ländern sind gesunde Ernährungsweisen mit einem breiten Spektrum von Obst und
Gemüse kostspieliger als Ernährungsweisen mit vielen
Ölen, Zuckern und Fetten.112 Während dies womöglich
nicht der einzige Grund für die Zunahme von Übergewicht und Fettleibigkeit im Laufe der Jahre ist, so ist
es bestimmt einer der relevanten Faktoren, die diese
Situation ausgelöst haben. Und es führt zu bedeutenden
sozio-ökonomischen Ungleichheiten hinsichtlich der
Ernährungsqualität. Wissenschaftler haben eine starke
Korrelation zwischen niedrigem Bildungs- und Einkommensniveau und höherem Vorkommen von Fettleibigkeit, Typ-2-Diabetes und koronaren Herzkrank heiten nachgewiesen.113
31. Dies sollte so nicht stehen gelassen werden. Jede
Gesellschaft, in der eine gesunde Ernährungsweise
kost spieliger ist als eine ungesunde Ernährungsweise,
ist eine Gesellschaft, die ihr Preissystem verbessern
muss. Dies ist umso dringlicher, wo die Ärmsten zu
arm sind, um sich anders als auf gesundheitsschädliche
Weise zu ernähren.
2. Die Globalisierung von Nahrungsketten
32. Die Globalisierung von Lebensmittellieferketten
wirkt sich auf die Ernährung auf doppelte Weise aus.
Erstens gibt es eine Tendenz, dass Entwicklungsländer
im Allgemeinen hochwertige Lebensmittel, insbesondere
Südfrüchte und Gemüse, an reiche Länder exportieren
und raffiniertes Getreide importieren. Dies bedeutet,
dass der erhöhte Handel den Preis von Makronähr-
112 P. Mosivais und andere, - Following federal guidelines to increase nutrient consumption may lead to higher food costs for
consumers, Health Affairs, Bd. 30, Nr. 8 (2011), S.1471-1477;
C.Riehm und andere -The quality and monetary value of diets
consumed by adults in the United States, American Journal of
Clinical Nutrition, Bd. 94, Nr. 5 (2011), S.1333-13339.
113 J. Banks und andere, - Disease and disadvantage in the
United States and in England, Journal of the American
Medical Association, Bd. 295, Nr. 17 (2006), S.2037-2045;
P. Monsivais und andere, -Are socio-economic disparities in
diet quality explained by diet cost?, Journal of Epidemiology
and Community Health (nur online erhältlich), 2010.
89
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
stoffen in einkommensschwachen Ländern gesenkt hat
(allerdings mit einer größeren Anfälligkeit für Preisschocks), während das Gegenteil bei mikronährstoffreichen Produkten geschehen ist, was zur Umstellung der
Ernährungsweisen armer Familien in Entwick lungsländern auf monotone, mikronährstoffarme und vor allem
stärkehaltige Grundnahrungsmittel geführt hat, da abwechslungsreichere Ernährungsweisen unerschwinglich oder weniger erschwinglich als eine Ernährungsweise mit Grundnahrungsmitteln wurden.114 Insofern
wird die Ernährung auch durch diesen Preiseffekt beeinflusst, der wiederum das Ergebnis einer relativen
Preisverschiebung bei Lebensmitteln ist.
33. Zweitens führt die Globalisierung von Nahrungsketten zu einer Umstellung von Ernährungsweisen mit
zahlreichen komplexen Kohlenhydraten und Ballaststoffen hin zu Ernährungsweisen mit einem größeren
Anteil an Fetten und Zuckern. Als Konsequenz dieses
Ernährungswandels verlagern sich Krankheitsbilder
weg von Infektionskrankheiten und Nährstoffmangelkrankheiten hin zu vermehrtem Auftreten von koronaren Herzkrankheiten, nicht insulinabhängiger Diabetes, einigen Krebsarten und Fettleibigkeit.115 Diese
Tendenz ist besonders auffällig in Schwellenländern,116
und der Sonderberichterstatter nahm die hier wirkenden Mecha nismen genau in den Blick während seiner
Auftragsreisen nach Brasilien,117 China,118 Südafrika,119
und Mexiko.120 Die Geschwindigkeit des Ernährungs114 M.T. Ruel, - Operationalizing dietary diversity: a review
of measurement issues and research priorities, Journal of
Nutrition, Bd. 133, Nr. 11 (2003), S.3911S-3926S.
115 C. Gopalan, Nutrition in Developmental Transition in SouthEast Asia, SEARO Regional Health Paper Nr. 21 (New Delhi,
World Health Organization, 1992).
116 B.M. Popkin und P. Gordon-Larsen, -The nutrition transition: worldwide obesity dynamics and their determinants,
International Journal of Obesity, Bd. 28 (2004), S.S2-S9;
A.M. Thow, -Trade liberalisation and the nutrition transition: mapping the pathways for public health nutritionalists,
Public Health Nutrition, Bd. 12 (2009), S.2150.
117 A/HRC/13/33/Add.6, Abschnitte 5-7.
118 A/HRC/19/59/Add.1, Abschnitte 20-21.
119 A/HRC/19/59/Add.3, Abschnitte 55-56.
120 A/HRC/19/59/Add.2, Abschnitte 48-50.
90
wandels wird durch die Ausweitung des Handels mit
Nahrungsmittelgütern und durch die Beschleunigung
der vertikalen Integration der Nahrungsketten erhöht,
die beide die Verfügbarkeit industriell verarbeiteter
Lebensmittel steigern.
34. Während die Globalisierung von Nahrungsketten
die ganzjährige Verfügbarkeit einer Vielfalt von Lebensmitteln für einige Verbraucher herbeigeführt hat, hat sie
andererseits negative Auswirkungen auf örtliche Nahrungsmittelsysteme gehabt und den ökologischen Fußabdruck von Nahrungsmittelsystemen erhöht. Sie hat
auch bei vielen Verbrauchern zu höherem Konsum von
Hauptgetreidesorten, Fleisch und Milchprodukten,
Pflanzenöl, Salz und Zucker geführt, und eine geringere Auf nahme von Ballaststoffen zur Folge gehabt.
Zum Beispiel kann die rapide Erhöhung des Pflanzenölverbrauchs (und dabei von Fetten in der Ernährung)
im Wesent lichen mit der plötzlichen Verfügbarkeit von
Pflanzenöl (insbesondere Sojaöl) zu niedrigen Preisen
auf dem Weltmarkt erklärt werden.121 Größere ausländische Direktinvestitionen in die weiterverarbeitende
Industrie und die Expansion von Supermärkten haben
industriell verarbeitete Lebensmittel, einschließlich insbesondere Softdrinks, einer größeren Bandbreite von
Verbrauchern zugänglich gemacht (allerdings nicht für
die ärmsten unter ihnen). Zum Beispiel haben nordamerikanische Firmen nach Inkrafttreten des nordamerikanischen Frei handelsabkommens ihre Investitionen in
die mexikanische Nahrungsmittelverarbeitende Industrie massiv erhöht (von $210 Millionen 1987 auf $5,3
Milliarden 1999), und der Verkauf von industriell verarbeiteten Lebensmitteln in Mexiko stieg jährlich um 5 bis
10 Prozent zwischen 1995 und 2003.122 Der sich erge121 C. Hawkes, -Uneven dietary development linking the
policies and processes of globalization with the nutrition
transition, obesity and diet-related chronic diseases,
Globalization and Health, Bd. 2, Nr. 4 (2006).
122 Ebd. (beachtenswert ist die Steigerung des Verbrauchs
von Coca-Cola Getränken, von 275 Portionen zu 8 Unzen
pro Person pro Jahr in 1992 auf 487 in 2002, das ist sogar
höher als in den Vereinigten Staaten), siebte Seite. Siehe
auch A. Jiménez-Cruz und andere, -Consumption of fruit,
vegetables, soft drinks, and high-fat containing snacks
among Mexican children, Archives of Medical Research,
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
bende stark erhöhte Verzehr von Erfrischungsgetränken
und Snacks bei mexikanischen Kindern ist die Ursache
des sehr hohen Auftretens von Fettleibigkeit bei Kindern
in diesem Land.
35. Die Auswirkungen von zunehmend globalisierten
Nahrungsketten und der Vereinheitlichung der Ernährung überall in der Welt haben verschiedene Aus wirkungen in allen Bevölkerungsgruppen. Wenn ein Land
ein höheres Einkommensniveau erreicht, verschiebt sich
die Last von Übergewicht und Fettleibigkeit. Das ärmste Bevölkerungssegment in armen Ländern ist kaum
von Fettleibigkeit bedroht,123 wogegen es in Schwellenländern mit gehobenen mittleren Einkommen (mit einem Bruttoinlandsprodukt von mehr als etwa US$
2.500 pro Kopf) und in einkommensstarken Ländern
die Ärmsten sind, die am stärksten betroffen sind.124 In
einkommensstarken Ländern tragen die Armen einen
unverhältnismäßig großen Anteil an den Lasten von
Übergewicht und Fettleibigkeit, und dabei sind Frauen
besonders gefährdet, da ihr Einkommen durchschnittlich niedriger ist als das der Männer, und weil Männer
in der einkommensschwachen Gruppe oft körperlich
anstrengende Arbeiten mit hohem Energieverbrauch
verrichten. Übergewichtige oder fettleibige Frauen bekommen oft Kinder, die häufig selbst übergewichtig
oder fettleibig sind, was geringere Leistungsfähigkeit
und Diskriminierung zur Folge hat. So geschieht es,
dass sich sozio-ökonomische Benachteiligung durch die
Generationen hindurch fortsetzt aufgrund von Übergewichtigkeit und Fettleibigkeit.
Bd. 33, Nr. 1 (2002), S.74-80; T.L. Leatherman und
A.Goodman, -Coca-Colonization of diets in the Yucatan,
Social Science and Medicine, Bd. 61, Nr. 4 (2005),
S.833-846.
123 Zum Einblick in die Situation in Brasilien, siehe R.B.LevyCosta und andere, - Household food availability in Brazil:
distribution and trends (1974-2003). Revista de Saúde Pública, Bd. 39, Nr. 4 (2005), S.530-540 (beachtenswert ist, dass
bei der Einkommensklasse mit einem höheren Einkommen
als fünf Mindestlöhne pro Kopf eine starke Steigerung des
Verbrauchs von Fetten und eine Verringerung des Verbrauchs
von Kohlenhydraten zu verzeichnen ist).
124 Popkin und Gordon-Larsen, -The nutrition transition,
S.S6.
V. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
48. Der Sonderberichterstatter zieht die Schlussfolgerung, dass die gegenwärtigen Nahrungsmittelsysteme
zutiefst dysfunktional sind. Die Welt zahlt einen extrem
hohen Preis für das Versäumnis, bei der Gestaltung von
Nahrungsmittelsystemen deren Auswirkungen auf die
Gesundheit zu berücksichtigen, und ein Kurswechsel
ist dringend nötig. Insbesondere in OECD Ländern, wo
weiterhin landwirtschaftliche Subventionen in großer
Höhe vergeben werden, zahlen bei dem gegenwärtigen
System die Steuerzahler dreifach für ein System, das zu
einer ungesunden Lebensführung führt. Steuerzahler
zah len für fehlinvestierte Subventionen, welche die
Agrar- und Lebensmittelindustrie zum Angebot stark
verarbeiteter Lebensmittelprodukte anreizen anstatt
zur Bereitstellung von Obst und Gemüse zu niedrigen
Preisen; sie zahlen für die Vermarktungsbemühungen
dieser Industrie für den Verkauf dieser ungesunden
Lebensmittel, die vom zu versteuernden Gewinn abgeschrieben werden können; und sie zahlen für die Gesundheitssysteme, für die nichtübertragbare Krank heiten heute zunehmend zu unbewältigbaren Belastungen
werden. In Entwicklungsländern bleiben die Hauptprobleme Unterernährung und Mikronährstoff mangel,
jedoch sind auch diese Länder Opfer dieser verfehlten
Politik. Sie erleben eine rapide Umstellung auf industriell verarbeitete Nahrungsmittel, die meist importiert werden, und eine Abkehr der lokalen Bevölkerung von traditionellen Ernährungsweisen. Dieser
Wandel hat die Mög lichkeiten lokaler Landwirte, ihren
Lebensunterhalt durch die Landwirtschaft zu verdienen, deutlich reduziert.
49. Die Bekämpfung der verschiedenen Aspekte der
Fehlernährung erfordert die Umsetzung des Konzepts
der Gesamtlebensperspektive, welches das Recht aller
auf eine angemessene Ernährungsweise garantiert und
die Agrar- und Lebensmittelpolitik einschließlich der
Besteuerung reformiert, um Nah rungsmittelsysteme
so zu gestalten, dass sie nachhaltige Ernährungsweisen
fördern. Ein starker politischer Wille, kontinuierliches Bemühen über mehrere Jahre hinweg, und die
Zusammenarbeit verschiedener Sektoren, einschließlich Landwirtschaft, Finanzen, Gesundheit, Bildung
91
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
und Handel, sind für eine solche Veränderung notwendig. Gemäß diesen Schlussfolgerungen macht der
Sonderberichterstatter die folgenden Empfehlungen.
50. Entsprechend ihrer Verpflichtung, das Recht aller
auf angemessene Nahrung zu achten, zu schützen und
zu erfüllen, sollten Staaten:
(a) eine nationale Strategie für die Umsetzung des
Rechts auf angemessene Ernährung einführen,
welche die Garantie des Rechts auf angemessene
Ernährungsweise für alle als Zielvorgabe aufnimmt
und spezifische Handlungsziele und Zeitrahmen
setzt;
(b) den Internationalen Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten (International Code of Marketing of Breast-Milk Substitutes)
und die WHO Empfehlungen für die Ver marktung
von Muttermilchersatzprodukten und von Lebensmitteln und nicht-alkoholischen Getränken an
Kinder in Inlandsrecht umsetzen und ihre effektive Durchsetzung sicherstellen;
(c) gesetzliche Regelungen für die Vermarktung
von Lebensmittelprodukten verabschieden gemäß
den WHO Empfehlungen, da dies das effektivste
Instrument ist zur Reduzierung der Vermarktung
von Lebensmitteln, die reich an gesättigten Fettsäuren, Transfetten, Natrium und Zucker sind
(HFSS Lebensmittel), an Kinder, und die Vermarktung dieser Lebensmittel an andere Gruppen reduzieren;
(d) Steuern auf Softdrinks (Sodas) und HFSS
Lebensmittel erheben, um das Angebot von und
den Zugang zu Obst, Gemüse und Bildungskampagnen für gesunde Ernäh rungsweisen zu subventionieren;
(e) die bestehenden Systeme landwirtschaftlicher
Subventionen überprüfen unter Einbeziehung der
Auswirkungen der gegenwärtigen Zah lungsregelungen auf die öffentliche Gesundheit, und die
Verfahren der öffent lichen Auftragsvergabe für
92
Schulküchen und andere öffentliche Institutionen
dazu nutzen, dass eine Versorgung mit vor Ort produzierten, nahrhaften Lebensmitteln gestärkt wird,
unter besonderer Beachtung armer Verbraucher;
(f) einen Plan für die vollständige Ersetzung von
Transfetten durch mehrfach ungesättigte Fett säuren entwickeln;
(g) die Unterstützung für Wochenmärkte und urbane und peri-urbane Landwirtschaft erhöhen bei
Raumplanungsmaßnahmen, durch finanzielle Anreize und die Gewährleistung geeigneter Infrastruktur zur Verbindung der Hersteller vor Ort mit
den städtischen Verbrauchern;
(h) die Reform des Ständigen Komitees für Ernährung zum Abschluss bringen, um sicherzustellen, dass dem Thema der Ernährung im ganzen
System der Vereinten Nationen angemessene Beachtung geschenkt wird unter der multilateralen
Leitung der Regierungen und mit angemessener
Partizipation von zivilgesellschaft lichen Organisationen, einschließlich der Orga nisationen von
Landwirten.
51. Gemäß seiner Verantwortung, das Recht auf angemessene Nahrung zu achten, sollte der private Sektor:
(a) sich ganz an den Internationalen Kodex für die
Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten
halten, auf die Bewerbung von Muttermilchersatzprodukten verzichten und die WHO Empfehlungen
für die Vermarktung von Lebensmitteln und nichtalkoholischen Getränken an Kinder einhalten, auch
dort, wo die örtlichen Kontrollen schwach oder
nicht vorhanden sind;
(b) auf die Durchsetzung ernährungsbezogener
Inter ventionen verzichten, wo lokale Ökosysteme
nachhaltige Ernährungsweisen tragen können, und
systematisch sicherstellen, dass solche Inter ventionen lokalen Lösungen den Vorrang geben und
der Zielvorgabe der Umstellung hin zur nach haltigen Ernährung entsprechen;
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
(c) bei den Beschaffungsketten angereicherter
Lebensmittel und bei ernährungsbezogenen Interventionen sicherstellen, dass den Beschäf tigten den
Lebensunterhalt deckende Löhne gezahlt und dass
Landwirten gerechte Preise für ihre Produkte gezahlt werden, damit das Recht auf angemessene
Nahrung für alle von den Inter ventionen betroffenen Menschen gesichert wird;
Gesamtlebensperspektive zur Verbesserung ihrer
Effektivität und ihrer Fähig keit, zu nachhaltigen,
langfristigen Lösungen beizutragen, eingeführt
werden sollte;
(b) geeignete Schritte einleiten, um sicherzustellen,
dass solche Interventionen lokale Nahrungsmittelsysteme stärken und der Umstellung auf nachhaltige Ernäh rungsweisen den Vorrang geben.
(d) ihr Angebot von HFSS Lebensmitteln auf gesündere Lebensmittel umstellen und den Gebrauch
von Transfetten bei der Lebensmittelverarbeitung
abbauen.
52. In Erfüllung des ihr von der Generalversammlung
unter Ziffer 79 gegebenen Auftrags sollte die WHO:
(a) die Wichtigkeit angemessener Ernährungsweisen bei der Umsetzung des Rechts auf angemessene Nah rung und des Rechts auf den höchsten erreichbaren Gesundheitsstandard berück sichtigen,
und Menschenrechtsprinzipien wie die Rechenschaftspflicht, Partizipation und Nichtdiskriminierung bei der Entwicklung eines umfassenden
Systems für das globale Monitoring der Bekämpfung
nichtübertragbarer Krankheiten sowie in das sich
in der Entwicklung befindlichen Indikatorensystem
zur Ernährung integrieren;
(b) die Ergebnisse des vorliegenden Berichts bei der
Ausarbeitung von Empfehlungen für einen Katalog
freiwilliger globaler Ziele für die Prävention und
Kontrolle nichtübertragbarer Krank heiten berücksichtigen.
53. Die Initiative zur Verbesserung der Ernährungssituation (Scaling Up Nutrition Transition Team, SUN)
und die bei SUN engagierten Interessengruppen sollten:
(a) die Ziele von SUN dadurch verbessern, dass sie
alle Interventionen auf die Menschen rechtsprinzipien von Rechenschaftspflicht, Partizipation und
Nichtdiskriminierung gründen und auf breitere nationale Strategien zur Umsetzung des Rechts auf
Nahrung beziehen, wobei auch das Konzept der
93
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Kleinbauern in Kenia. Foto: Frank Schultze
10. Soziale Sicherheit und
das Recht auf Nahrung
Olivier De Schutter /
Magdalena Sepulveda
Auszug aus: Briefing Note 07, October 2012: Underwriting the poor. A Global Fund for Social Protection.
UN, Geneva 2012, Übersetzung Astrid Quick
1. Die Förderung der Sozialen Sicherheit
1.1 Soziale Sicherheit
Sozialversicherungen und Instrumente der sozialen
Sicherung stellen Unterstützungsleistungen bereit, welche die nötigen Finanzmittel für einen minimalen
Lebensstandard in Situationen sozialer Risiken und
Not lagen sicherstellen. All diese Begriffe, die in diesem
Aufsatz synonym verwendet werden, beziehen sich auf
Systeme, die der Versorgung mit Unterstützungsleistungen in Form von Geldzahlungen oder Sachleistungen
dienen, um Einzelne gegen Risiken wie den Verlust beruflichen Einkommens (oder unzureichendes Ein kommen) abzusichern, verursacht durch Krankheit, Behinderung, Mutterschaft, Arbeitsunfall, Arbeitslosig keit,
Alter oder den Tod eines Familienmitglieds, mangelnden oder unerschwinglichen Zugang zu medizinischer
Versorgung; unzureichende Unterstützung für die
Familie, insbesondere für Kinder und finanziell abhängige Erwachsene; oder, allgemein ausgedrückt, Armut
und soziale Ausgrenzung Laut ILO können Maßnahmen der sozialen Sicherung finanzielle Über wei-
94
sungen, öffentliche Arbeitsprogramme, Schulstipendien, Unterstützung für Arbeitslose oder Behinderte,
Sozialrente, Lebensmittelgutscheine und Lebensmittelsach leistungen, und Gebührenbefreiungen des Gesundheitssystems oder Ausbildungsbeihilfen einschließen.
Die Programme sind entweder beitragspflichtig (Versicherung) und erfordern im allgemeinen Pflichtbeiträge
von Leistungsberechtigten, Arbeitgebern und manchmal dem Staat, in Verbindung mit der Zahlung von
Sozialleistungen und Verwaltungskosten aus einer gemeinsamen Kasse,125 oder beitragsfreie Leistungen, die
wiederum entweder universal (Bereitstellung einer
„Leistung für alle, die ein bestimmtes Risiko oder eine
bestimmte Schadensmöglichkeit erfahren“126) oder zielgerichtet (Bereit stel lung von Leistungen für die, die sich
in einer bestimmten Notsituation befinden) sein können. Soziale Sicherungssysteme können eine wichtige
Rolle bei der Absicherung von Menschen gegen extreme Armut, Deprivation und Zukunftsunsicherheit spielen. Ent scheidend wichtig ist, dass Maßnahmen der
sozia len Sicherung die Armen gegen die durch verschiedene Extremsituationen verursachten Risiken absichern,
für die sie besonders anfällig sind. Soziale Sicherungssysteme haben das Potential, zur Verwirk lichung
von grundlegenen Menschenrechten wie dem Recht auf
Nahrung, Ausbildung und ausreichende gesundheitliche Versorgung, und zur Bekämpfung systemischer
125 Committee on Economic, Social and Cultural Rights, General Comment 19: The Right to Social Security, Abschnitt
4(a), U.N. Doc, E/C.12/GC/19 (4. Feb. 2008) (im Folgenden
General Comment Nr. 19).
126 Ebd. in Abschnitt 4(b); übersetzt aus dem englischen Original.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Ungleichheit beizutragen. Darauf aufbauend gibt die soziale Sicherung Staaten ein Instrument an die Hand zur
Unterstützung marginalisierter Gruppen, zur Lösung
unmittelbarer Probleme wie Hunger und Fehlernährung
bei Kindern,127 und zur Förderung von Frauen rechten.128
Zum Beispiel haben die Bolsa Familia in Brasilien129 und
die Unterstützung von Kindern (Child Support Grant)
in Südafrika,130 die beide Geldzahlungen an arme
Familien vornehmen, erfolgreich Kinderarmut und
Hunger reduziert. Des Weiteren wird geschätzt, dass in
Mitgliedsländern der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (Orga nisation for
Economic Cooperation and Development, OECD)
Armut und Ungleichheit etwa „halb so groß sind wie
bei einem Fehlen solcher Sozialschutzmaßnahmen erwartet werden könnte“.131 Sozialer Schutz kann also
„Menschen helfen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und
anzupassen, um die Hindernisse auf dem Weg zu ihrer
vollen Partizipation in einer sich verändernden ökonomischen und sozialen Umgebung zu überwinden, und
kann damit zu einer kurz- und langfristig verbesserten
Humankapitalent wick lung beitragen, und dadurch wiederum größere produktive Aktivität erzeugen“.132 Und
127 Save the Children, A Chance to Grow: How Social Protection Can Tackle Child Malnutrition and Promote Economic
Opportunities (2012).
128 Human Rights Research and Education Center, International
Initiative to Promote Women’s Rights to Social Security,
http://www.cdphrc.uottawa.ca/?p=4575
129 Decreto Nr. 5.209, de 17 setembro de 2004, Regulamenta a
L-010.836-2004, Programma Bolsa Familia (Brazil), zu finden
bei http://www.dji.com.br/decretos/2004-005209/2004005209.htm. Für weitere Informationen darüber, warum das
Bolsa Familia Programm bei der Hungerbekämpfung
erfolgreich war, siehe Report of the Special Rapporteur on
the Right to Food, Olivier De Schutter, Mission to Brazil,
A/HRC/13/33/Add.6 (19. Feb 2009), zu finden bei
http://www.srfood.org/index.php/en/country-missions
130 South Africa, Child Support Grant, Social Assistance Act
(204), For weitere Informationen über das Programm, siehe
http://www.services.gov.za/services/content/Home/
ServicesForPeople/Socialbenefits/childsupportgrant/en/_
Z. Siehe auch Stephen Devereux, Building Social Protection
Systems in Southern Africa (2010).
131 Advisory Report, s.o., Fußnote 2, S.xxiv, übersetzt aus dem
englischen Original.
132 Advisory Report, s.o., Fußnote 2, S.xxii. Siehe auch ebd. Save
schließlich können Sozialschutzsysteme Wachstum
und Entwicklung generieren, indem sie Geldinfusionen
in lokale Ökonomien unterstützen133 und das Humankapital in der Bevölkerung verbessern.
1.2. Das Recht auf soziale Sicherheit
Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht, das in mehreren Quellen des Völkerrechts verankert ist. Artikel 22
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Universal Declaration of Human Rights, UDHR) schreibt
das Recht auf soziale Sicherheit fest und definiert zusammen mit Artikel 25 das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, der die Gesundheit und das Wohlbefinden eines jeden und seiner Familie „einschließlich
Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung
und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge
gewährleistet; er hat das Recht auf Sicherheit im Falle
von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwit wung,
Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände“.134 Artikel
the Children, Fußnote 23, S.vi, übersetzt aus dem englischen
Original. (Sozialschutz hat das Potential, in Armut lebeande
Menschen mit der Kraft zur Veränderung ihrer Lebensgrundlage zu versehen, so dass sie voll in ihren Wirtschaften und
Gesellschaften partizipieren können).
133 United Nations Int’l Labour Org. (ILO), Social Sec. Dep’t, Can
Low-Income Countries Afford Basic Social Security? 1-2
(Social Security Policy Briefings, Nr. 3, 2008). (Durch die
Erhöhung des Einkommens der Armen wird die inländische
Nachfrage gesteigert und Wachstum durch die Expansion des
Inlandsmarkts erzeugt. Auf der makroökonomischen Ebene
zeigt eine wachsende Zahl von Belegen, dass die Umverteilung
einen positiven Effekt auf das Wachstum gerade in Ländern
hat, in denen es große Ungleichheit gibt (AFD, 2004). Die
Nettokosten frühzeitiger Investitionen in einige elementare
Leistungen der sozialen Sicherheit können sogar gegen Null
gehen oder negativ sein, da die fiskalischen Kosten durch
positive Wirtschaftserträge und die größere Produktivität
einer besser ausgebildeten, gesünderen und besser ernährten
Erwerbsbevölkerung aufgehoben werden können.).
134 Universal Declaration of Human Rights, s.o., Fußnote 3, bei Artikel 22, 25. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt
generell als nicht bindend, obwohl einige Gelehrte anführen,
dass es internationales Gewohnheitsrecht oder teilweise sogar
ius cogens geworden ist. Siehe Peter van Dijk, The Universal
Declaration is Legally Non-Binding: So What?, in: Reflections
on the Universal Declaration of Human Rights: A Fiftieth Anni-
95
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
9 des internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Inter national Covenant on
Economic, Social and Cultural Rights, ICESCR) bekräftigt das Recht auf soziale Sicherheit, einschließlich der
Sozialversicherung.135 Desweiteren schützen Artikel
26 der Kinderrechtskonvention (Convention on the
Rights of the Child)136 und Artikel 11 der Konvention
zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung von
Frauen (Convention on the Elimi nation of All Forms
of Discrimination Against Women)137 ausdrücklich das
Recht von Kindern und Frauen auf soziale Sicherung.
Das Recht auf soziale Sicherheit wurde maßgeblich von
dem UN Komitee für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Committee on Economic, Social and
Cultural Rights, CESCR) im Allgemeinen Kommentar
Nr. 19, Das Recht auf Soziale Sicherheit, definiert. Es
umfasst „das Recht, ohne Diskriminierung Leistungen
in Form von Geldzahlungen oder Sachleistungen in
Anspruch zu nehmen und zu erhalten, beispielsweise als Schutz unter anderem vor (a) einem Mangel an
Arbeitseinkommen verursacht durch Krankheit, Behinderung, Mutterschaft, Arbeitsunfall, Arbeitslosigkeit,
Alter oder dem Tod eines Familienangehörigen; (b) unerschwinglichem Zugang zur Gesundheitsfürsorge und
(c) unzureichender Unterstützung der Familie, vor allem für Kinder und finanziell abhängige Erwachsene“.138
Desweiteren schließt das „Recht auf soziale Sicherheit
das Recht ein, nicht willkürlichen und unbegründeten
Beschränkungen der bereits bestehenden öffentlichen
oder privaten sozialen Absicherung, sowie das Recht
auf gleichberechtigten und angemessenen Schutz vor
sozialen Risiken und Schadensmöglichkeiten.“139
versary Anthology 108 (Netherlands Ministry of Foreign Affairs
ed., 1998); Joan Church u.a., Human Rights From a Comparative and International Law Perspective 166-67 (2007).
135 International Covenant on Economic, Social and Cultural
Rights, Art.9, G.A. Res. 2200A, U.N. Doc. A/RES/21/2200A
(16. Dez. 1966), (im Folgenden ICESCR).
136 Convention on the Rights of the Child, 20. Nov 1989, 1577
U.N.T.S.3.
137 S. www.un-kampagne.de/index.php?id=90
138 General Comment No. 19, s.o., Fußnote 19, Abschnitt 2,
übersetzt aus dem englischen Original.
139 Ebd. Abschnitt 9, übersetzt aus dem englischen Original.
96
Der Hauptinhalt des Rechts auf soziale Sicherheit wird
also maßgeblich in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 19
definiert. Wie auch bei anderen wirtschaftlichen und
sozialen Rechten, umfasst der zentrale Inhalt des Rechts
auf soziale Sicherheit Elemente der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Angemessenheit. Verfügbarkeit meint,
dass eine nachhaltige, im Inlandsrecht verankerte soziale
Absicherung vorhanden ist, „um sicherzustellen, dass
Unterstützungsleistungen für wichtige soziale Risi ken
und Schadensmöglichkeiten gegenwärtiger und zukünftiger Generationen bereitgestellt werden“.140 Angemessenheit bedeutet, dass Unterstützungsleistungen „in
Höhe und Dauer angemessen sein müssen, so dass jeder das Recht auf Schutz und Hilfe für die Familie, auf
einen angemessenen Lebensstandard und angemessenen Zugang zur Gesundheitsfürsorge verwirklichen
kann.“ Dabei sollten Staaten die Prinzipien der Menschenwürde und Nichtdiskriminierung voll achten. Und
schließlich umfasst die Zugänglichkeit mehrere Elemente, darunter die Abdeckung aller Personen,141 sinnvolle, verhält nismäßige und transparente Anspruchskriterien, erschwingliche Beiträge im Fall von beitragspflichtigen Systemen, die Partizipation der Leistungsberechtigten bei der Verwaltung der Sozialsicherungssysteme (um Rechenschaftspflicht und Bedürfnisorientierung des Systems sicherzustellen) und die Recht zeitigkeit
des tatsächlichen Zugangs der Unterstützungsleistungen.
Allgemein ausgedrückt erfordert die Zugänglichkeit,
dass Staaten besonders auf die Entwicklung solcher Programme achten, die auf den Prinzipien von Nichtdiskriminierung und Gleichberechtigung aufbauen, darunter insbesondere der Geschlechtergleichstellung, mit der
Bedürfniserkennung von oft unzureichend geschützten
Beschäftigten (d.h. Teilzeitbeschäftigte, Gelegen heits-
140 Ebd. Abschnitt 11. Das Komitee führt neun Hauptbereiche
der sozialen Sicherung an, die durch den Staat abgedeckt
werden sollten: Gesundheitsfürsorge, Krankheit, Alter,
Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfälle, Unterstützung für Familien
und Kinder, Mutterschaft, Behinderung und Hinterbliebene
und Waisen. Ebd. Abschnitt 13-21, übersetzt aus dem englischen Original.
141 Ebd. Abschnitt 23. „Alle Personen sollten abgedeckt sein, ...
insbesondere solche, die zu den am meisten benachteiligten
und marginalisierten Gruppen gehören, ohne Diskriminierung“. Übersetzt aus dem englischen Original.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
arbeiter/innen, Selbstständige und Heimarbeiter/innen) und von den im informellen Sektor Beschäftigten,
sowie von gefährdeten oder marginalisierten Gruppen,
einschließlich indigener Volksgruppen, Minderheitengruppen, ausländischer Gruppen, Binnenflüchtlingen
und Binnenmigranten.142
Wie bei anderen ökonomischen und sozialen Rechten,
müssen Staaten das Recht auf sozialen Schutz achten,
schützen und erfüllen. Die Verpflichtung zur Achtung
erfordert, dass Staaten „den Einzelnen nicht direkt
oder indirekt an der Ausübung seiner Menschenrechte
hindern“.143
Die Verpflichtung zum Schutz erfordert, dass Staaten
Einzelne gegen Eingriffe in sein Recht auf soziale
Sicherheit durch Dritte schützen.144 Und schließlich erfordert die Verpflichtung zur Erfüllung, dass Staaten
„die notwendigen Maßnahmen treffen, einschließlich
der Einrichtung eines sozialen Sicherungssystems, zur
vollen Verwirklichung des Rechts auf soziale Sicherheit“.145 Die Erfüllungsverpflichtung ist in drei Unterver pflichtungen aufgeteilt: die Erleichterungsver pflichtung (zum Ergreifen positiver Maßnahmen, um Einzelne und Gemeinden bei der Ausübung des Rechts
auf soziale Sicherheit zu unterstützen), die Förderungsverpflichtung (zum Gebrauch von Bildung und öffentlicher Bewusstseinsbildung zur Information über den
Zugang zur sozialen Sicherung) und die Versorgungsverpflichtung (zur Verschaffung des Rechts auf soziale
Sicherheit, wenn Einzelne oder Gruppen unverschuldet
nicht fähig sind, selbst das Recht innerhalb dem bestehenden Sozialsicherungssystem zu verwirklichen).146
Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit impliziert
auch mehrere verfahrenstechnische Anforderungen,
die den Entscheidungsfindungs- und Umsetzungsprozess
leiten. Diese schließen die Menschenrechtsprinzipien
von Parti zipation, Rechenschaftspflicht, Nichtdiskriminierung, Transparenz, Menschenwürde, Ermächtigung
und Rechtsstaatlichkeit ein (Participation, Accountability, Non-discrimination, Transparency, Human dignity, Empower ment and Rule of law, PANTHER-Prinzipien) gemäß dem von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO entwickelten „PANTHER“
Rah menwerk, das auf dem Gemeinsamen Konzept
zum Menschen rechtsansatz der UN Organisationen
(UN Common Understanding on a Human Rights
Based Approach) aufgebaut ist.147 Partizipation bedeutet, dass jede Person und alle Völker zur aktiven, freien
und sinnvollen Teilnahme und Mitwirkung an den sie
betreffenden Entscheidungsfindungsprozessen berechtigt sind. Die Rechenschaftspflicht erfordert, dass gewählte Repräsentanten, Regierungsbeamten und andere Amtsträger durch juristische Verfahren oder andere
Mecha nismen für ihre Handlungen zur Verantwortung
gezogen werden, und damit effektive Rechtsmittel im
Fall von Rechtsverletzungen eingesetzt werden können. Die Nichtdiskriminierung verbietet willkürliche
Differen zierungen in der Behandlung und fordert die
Ausrichtung auf die am meisten marginalisierten Bevölkerungssegmente. Die Transparenz erfordert, dass
Menschen von Prozessen, Ent scheidungen und Ergebnissen Kennt nis haben können. Die Menschenwürde
erfordert, dass Menschen menschenwürdig behandelt
werden und dass sie nicht zur Befriedigung ihrer
Grundbedürfnisse auf ihre Menschenrechte verzichten
müssen, während die Ermächtigung erfordert, dass sie
in der Lage sind, auf ihr Leben betreffende Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Zuletzt erfordert die
Rechtsstaatlichkeit, dass jedes Mitglied der Gesellschaft, einschließlich der Ent scheidungsträger, sich
nach dem Gesetz richten muss.
Und schließlich stellt ein rechtlich begründeter Ansatz
zur sozialen Sicherheit sicher, dass Einzelne Handlungsoptionen haben, wenn Verletzungen der Verpflichtung
142 Ebd. Abschnitt 29-39.
143 Ebd. Abschnitt 44, übersetzt aus dem englischen Original.
144 Ebd. Abschnitt 45. Dritte sind Einzelne, Gruppen,
Körperschaften oder jede andere juristische Person.
145 Ebd. Abschnitt 47, übersetzt aus dem englischen Original.
146 Ebd. Abschnitt 47-51, übersetzt aus dem englischen Original.
147 United Nations Food & Agric. Org. (FAO), The Right to Food
Unit, Guide to Conducting a Right to Food Assessment Feld
2.1 (2009), zu finden bei http://www.fao.org/righttofood/
publi_en.htm. Siehe auch United Nations Development
Group (UNDG), Human Rights-Based Approach to Development Programming, http://www.undg.org/P=221
97
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
zur Achtung, zum Schutz und zur Erfüllung des Rechtes
auf soziale Sicherheit geschehen. Dies bedeutet, dass
Einzelnen die Vorteile und Leistungen der sozialen
Sicherung nicht unrechtmäßig entzogen werden können
und dass der Staat rechenschaftspflichtig ist sowohl für
die Leistungen des Sozialschutzes selbst, als auch für die
Instrumente, durch die sie bereitgestellt werden. Wenn
Einzelnen unrechtmäßig Leistungen entzogen werden,
auf die sie Anspruch haben, dann fordert ein Menschenrechtsansatz eine Rückerstattung und stellt ihre Ansprüche zukünftig sicher. Außerdem fordert ein rechtlich
begründeter Ansatz die Beobachtung, Bewertung und
Aktualisierung von Programmen, um ihre Effektiv ität,
Transparenz und Rechenschaftspflicht sicherzustellen.148
1.3. Das Recht auf soziale Sicherheit und das
Recht auf Nahrung
Das Recht auf soziale Sicherheit ist zutiefst mit dem
Recht auf angemessene Ernährung verbunden. Soziale
Sicherung kann eine wichtige Rolle spielen bei der
Verbesserung der Möglichkeiten Einzelner, Zugang zu
Nahrung zu haben. Wirtschaftlicher Zugang setzt voraus, dass Einzelne die Kaufkraft und die Möglichkeiten
zur Nahrungsmittelbeschaffung von Märkten haben.149
Wenn Einzelnen die Sicherung ausreichenden Einkommens aus Gründen von Behinderung, Arbeitslosigkeit, Gesundheit oder Armut nicht möglich ist, dann
muss der Staat unterstützend eingreifen und damit seiner Verpflichtung zur Erfüllung des Rechts auf Nahrung
nachkommen.150 Durch die Erfüllung des Rechts auf
Nah rung durch soziale Sicherung können Staaten sicherstellen, dass Hunger nicht stigmatisiert und dass
Einzelne ein Leben in Würde führen können, bei dem
sie Wahlmöglichkeiten für ihr Leben und ihren Nahrungsmittelverbrauch haben und ohne Angst vor Hunger
leben können. Soziale Sicherheit kann unmittelbar
Hunger stillen, aber auch der Angst vor Hunger in der
Zukunft abhelfen. Ein neuerer Bericht des hochrangigen UN-Expertengremiums über Nahrungssicherung
und Ernährung (High Level Panel of Experts on Food
Security and Nutrition), das durch das Komitee für
Welternährung (Committee on World Food Security,
CFS) eingesetzt wurde, beschreibt prägnant die Verbindung zwischen langfristiger Nahrungssicherheit und
sozialer Sicherheit : „Menschen, die bereits unter Armut
leiden, sind von Hunger bedroht, da ihnen täglich die
Ressourcen zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse
fehlen. Sie stehen außerdem ständig in großer Gefahr,
dass sie durch auch nur kleine Erschütterungen Elend,
Hunger und sogar vorzeitigen Tod ausgesetzt werden.
Eine geeignete Reaktion sozialer Sicherungssysteme
auf chronische, armutsbedingte Nahrungsunsicherheit
ist das Angebot sozialer Unterstützung in Verbindung
mit Fördermaßnahmen für die Lebensgrundlagen zur
Einkommenssteigerung. Menschen, die heute noch
nicht arm sind, aber mit dem Risiko zukünftiger Armut
leben müssen, sind für Hunger anfällig, wenn diese
Risiken auftreten und die Menschen nicht angemessen
gegen sie geschützt sind (sie werden zeitweilig Nahrungsunsicherheit erleben).“151
148 Ebd. Abschnitt 74-81.
149 Committee on Economic, Social and Cultural Rights,
General Comment 12: The Right to Adequate Food,
Abschnitt 13, U.N. Doc.E/C. 12/1999/5 (12. Mai 1999).
Im Folgenden General Comment Nr. 12: „Wirtschaftliche
Zugänglichkeit impliziert, dass die finanziellen Kosten von
einzelnen Personen und Haushalten, die mit der Nahrungsmittelbeschaffung für eine angemessene Ernährung verbunden sind, auf einem solchen Niveau liegen sollten, dass
die Befriedigung anderer Grundbedürfnisse nicht bedroht
oder gefährdet sind. Wirtschaftliche Zugänglichkeit gilt
für alle Beschaffungsmuster oder Inanspruchnahme, durch
die Menschen ihre Nahrungsmittel erwerben und ist ein
Maßstab für die ausreichende Verwirklichung des Rechts
auf angemessene Nahrung.“ Übersetzt aus dem englischen
Original.
98
150 Ebd. Abschnitt 15 „Die Erfüllungsverpflichtung (Erleichterungsverpflichtung) bedeutet, dass der Staat Strategien entwickeln und Programme durchführen muss, um den Zugang der
Menschen zu und ihre Nutzung von Ressourcen und Mitteln
zur Sicherung ihres Lebensunterhalts, einschließlich der Nahrungssicherung, zu verbessern. Außerdem haben Staaten eine
Erfüllungsverpflichtung (Versorgungsverpflichtung) in Bezug
auf das Recht auf angemessene Nahrung, wenn Einzelne oder
eine Gruppe unverschuldet nicht fähig ist, das Recht auf angemessene Nahrung durch die ihnen zur Verfügung stehenden
Mittel zu verwirklichen.“ Übersetzt aus dem englischen
Original.
151 CFS High Level Panel Report, s.o., Fußnote 6, S.11. Übersetzt
aus dem englischen Original.
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Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Brot für die Welt Projekt Burkina Faso:
Überleben im Klimawandel
Martine Quedrago vor der Gesundheitsstation des Dorfes Soaw, Burkina Faso.
Foto: Christoph Püschner
Das westafrikanische Land kämpft gegen zunehmende
Trockenheit. Viele Kinder haben nicht genug zu essen
und sind daher anfällig für Krankheiten. In Burkina
Faso stirbt jedes fünfte Kind vor seinem fünften Geburtstag. Das kirchliche Entwicklungsbüro ODE leistet
Gesundheitsfürsorge und hilft den Bauern, sich an die
Klimaveränderungen anzupassen.
Martine Ouedraogo sitzt vor der Gesundheitsstation
des Dorfes Soaw und hat die einjährige Augustine auf
ihrem Schoß. Mit ihr warten viele Dutzend Mütter mit
ihren Säuglingen auf Betreuung. „Ihr dürft nur das
Wasser aus den Brunnen trinken!“, erklärt ihnen eine
junge Krankenschwester. „Aber das Wasser aus dem
See schmeckt besser!“, erwidert eine Mutter. „Vom Seewasser bekommt ihr Durchfall“, sagt die Krankenschwester. „Und damit eure Kinder gesund bleiben,
müsst ihr vor dem Stillen eure Brüste mit Brunnenwasser
waschen.“
Gesund aufwachsen
Martine Ouedraogo hört aufmerksam zu. 28 Jahre ist
sie alt und Mutter von drei Kindern. Sie sollen es einmal
besser haben als ihre Mutter; die nie lesen und schreiben gelernt hat. Vor allem sollen sie gesund aufwachsen. Bevor Augustine gewogen und geimpft wird, lernt
sie alles, was eine Mutter über Hygiene wissen muss.
Die Krankenschwester, die sie unterrichtet, arbeitet
beim Office de Développement des Eglises Evangéliques
(ODE). Das kirchliche Entwicklungsbüro kümmert
sich nicht nur um die Gesundheitsvorsorge. Die allgemeine Klimaveränderung zwingt dazu, sich auf die
Ernäh rungssicherung zu konzentrieren: Am Südrand
der Sahelzone deutet alles darauf hin, dass sich die
Trocken heit dauerhaft ausdehnen wird. 90 Prozent der
Menschen leben allein von dem, was sie ernten.
„Manch mal haben wir nicht genug zu essen“, sagt
Martine.
Bauernfamilien steigern ihre Erträge
Vieles hat sich bereits zum Guten gewendet. Ihr Mann
Justin, den ODE ausgebildet hat, berät andere Bauern in
nachhaltiger Landwirtschaft. Gemeinsam kämpfen sie
gegen die Erosion ihrer Äcker und für die Steigerung ihrer Ernten. Sie bauen Steinwälle gegen den Wind, der
den Mutterboden abträgt, legen Komposthaufen und
Dunggruben an. Offenbar mit Erfolg: „Das Gemüse auf
unseren Felder gedeiht besser“, sagt Martine. Sie schmiedet bescheidene Zukunftspläne: „Ich hoffe, durch bessere Erträge in Zukunft genug Geld für meine Familie zu
haben, um Schulgebühren, Kleidung und Medizin bezahlen zu können.“
99
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
11. Internationaler Agrarhandel
und Entwicklungsländer
Harald von Witzke
Erschienen in: Kirche im ländlichen Raum 2/2013,
S. 25. 28-29
Eine der ersten Dinge, die Agrarstudenten in der Lehrveranstaltung „Einführung in die Volkswirtschaftslehre“
lernen, ist, dass ein liberales internationales Handelssystem für alle Beteiligten das Beste aus den knappen
Ressourcen der Weltlandwirtschaft macht und dass
Handelsbeschränkungen die soziale Wohlfahrt der Welt
insgesamt verringern.
Das traditionelle Paradigma des internationalen Agrarhandels besagt, dass die Entwicklungsländer einen komparativen Kostenvorteil in der Produktion von Agrargütern haben und sie diese daher exportieren sollten.
Dagegen sollten die reichen Länder Industriegüter exportieren und Agrargüter importieren. Dieses Paradigma basiert auf der Annahme, dass für die Produktion
von Nahrungsgütern viele Arbeitskräfte mit geringem
Ausbildungsstand und daher mit relativ geringen Löhnen notwendig sind. Diese sind in den armen Ländern
relativ reichlich vorhanden. Also sollte man erwarten,
dass sie solche Güter exportieren.
Die Realität sieht genau umgekehrt aus. Die Ent wicklungsländer waren einst Nettoexporteure von Nahrungsgütern im Handel mit den reichen Ländern. Inzwischen sind sie aber Nettoimporteure geworden. Und
die Nahrungslücke der armen Länder nimmt weiter zu.
Die reichen Länder der Welt haben damit begonnen,
ihre Importbeschränkungen zu lockern. Die EU ist inzwischen zu einem der weltgrößten Nettoimporteure,
bezogen auf die agrarischen Rohstoffe, geworden. Wenn
das traditionelle Paradigma des internationalen Agrarhandels stimmen würde, hätten die Entwicklungsländer
ihre Nettoimporte zumindest verringern müssen. Das
Gegenteil ist indes passiert.
Die armen Länder der Welt zeichnen sich durch ein rasches Bevölkerungswachstum aus. Arbeit wird dadurch
100
immer reichlicher verfügbar und relativ billiger. Wenn
also tatsächlich preiswerte, ungelernte Arbeit der
Schlüssel zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der
Agrarproduktion wäre, hätten sich die Nettoimporte
der Entwicklungsländer auch aus diesem Grund verringern müssen – was aber nicht geschehen ist.
Das traditionelle Paradigma des internationalen Agrarhandels kann damit als falsifiziert gelten. Zum einen
sind für die kostengünstige Produktion von Nahrungsgütern von Qualitäten, für die in den reichen Ländern
eine Nachfrage besteht, relativ viel Kapital und Humankapital (gut ausgebildete Arbeitskräfte) notwendig.
Beide sind aber in den Entwicklungsländern relativ
knapp und damit relativ teuer, während sie in den
Industrieländern relativ reichlich und damit relativ
preiswerter vorhanden sind.
Zum anderen ist die grobe Einteilung in Agrar- und
Industriegüter nicht hinreichend, um die internationalen Handelsströme im Agrar- und Ernährungsbereich
zu verstehen. Auch wenn die Entwicklungsländer per
Saldo Nahrungsgüter importieren, so gibt es doch auch
Märkte, auf denen zumindest einige Entwicklungsländer
als Exporteure auftreten. Hierzu zählen u. a. Kaffee, Tee,
manche Gewürze oder tropisches Obst und Gemüse.
Dies hat zum einen natürlich damit zu tun, dass die
meisten Entwicklungsländer sich in Regionen mit tropischem oder subtropischem Klima befinden und sie diese Güter mit einem geringeren Einsatz von Ressourcen
produzieren können als Länder mit anderen agroklimatischen Bedingungen. Man stelle sich vor, man würde versuchen, Ananas im Allgäu zu produzieren. Die
Böden würden dieses zulassen. Auch gibt es dort für die
Produktion von Ananas genügend Niederschläge. Aber
die Temperaturen sind für die Produktion von Ananas
viel zu gering. Also müsste man ein Gewächshaus bauen und dieses die meiste Zeit des Jahres auch noch heizen. Damit wäre die Produktion von Ananas viel zu
teuer und auch der CO2 Fußabdruck wäre enorm.
Also ist es oft nicht sinnvoll, regional zu kaufen, sondern aus anderen Ländern importierte Nahrungsgüter
zu kaufen, wenn die Preise hierfür niedriger sind als die
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
für Nahrungsgüter aus heimischer Produktion. Dabei
ist auch zu bedenken, dass man auf diese Weise Beschäftigung und Einkommen der Bauern und Landarbeiter in den armen Ländern ermöglicht.
Eine Möglichkeit, die komparativen Nachteile der
Agrarproduktion in den armen Ländern auszugleichen,
besteht darin, ausländische Direktinvestitionen anzuziehen. Denn auf diese Weise werden nicht nur Kapital
und gut ausgebildete Fachkräfte ins Land gebracht, sondern auch das Wissen um den Zugang zu den Märkten
in den reichen Ländern. Ein Beispiel hierfür ist die Produktion und der Export von Ananas aus Ghana. In
Afrika gibt es viele Länder, die über ähnliche agro-klimatische Bedingungen verfügen wie Ghana. Was
Ghana von den anderen Ländern unterscheidet, ist, dass
dieses Land erfolgreich um ausländische Direkt investitionen in der Ananasproduktion geworben hat, sodass
in diesem Land produzierte Ananas heute in den
Märkten der reichen Länder zu finden sind.
Ähnlich verhält es sich mit den so intensiv diskutierten
ausländischen Investitionen in das Ackerland von Entwicklungsländern. Diese haben das Potential, ebenfalls
Kapital und Wissen in die Entwicklungsländer zu bringen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Landwirtschaft in diesen Ländern zu leisten. Allerdings haben in der Vergangenheit solche
Investitionen oft nicht den vollen möglichen Gewinn
für die Entwicklungsländer gebracht. Dies war nämlich
immer dann der Fall, wenn die Regierungen der beteiligten Entwicklungsländer den Bauern keine durchsetzbaren Eigentumsrechte an den von ihnen genutzten
Flächen gewährt haben. In solchen Fällen konnten die
ausländischen Investoren die bisherigen Landnutzer von
den bisher von ihnen genutzten Flächen vertreiben, was
natürlich den potentiellen wirtschaftlichen Nutzen für
die beteiligten Entwicklungsländer geschmälert hat und
natürlich auch politisch nicht besonders akzeptabel war.
Gesicherte Eigentumsrechte sind aber auch für die
Investoren wichtig. Andernfalls können auch sie vom
Land vertrieben werden. Dies ist auch ein Grund dafür,
dass ein beträchtlicher Teil der angekündigten Investitionen nie durchgeführt wurden.
Vor fast genau 200 Jahren veröffentlichte der britische
Ökonom David Ricardo ein Buch, in dem er die Triebkräfte der internationalen Handelsströme identifizieren
konnte, nämlich relative Unterschiede in den Kosten
der Produktion, die verursacht wurden durch relative
Unterschiede in der Produktivität. Damit war gleichzeitig auch klar geworden, dass internationale Wett bewerbsfähigkeit endogen ist. Das war eine wichtige neue
Erkenntnis.
Wenn es also gelingt, die Produktivität zu steigern, kann
ein Land auf einem Markt international wettbewerbsfähig werden und das betreffende Gut exportieren.
In den Regionen der Welt ist der Hunger am ausgeprägtesten, in denen die Bauern keinen Zugang zu elementaren produktiven Technologien haben, die in den reichen
Ländern schon seit Langem erfolgreich eingesetzt werden. Hierzu zählen insbesondere die bodensparenden
Technologien, wie etwa Mineraldünger, moderner Pflanzenschutz oder züchterisch bearbeitetes Saatgut. Auch
Verbesserungen in die öffentliche und private Infrastruktur für Lagerung, Transport, Verarbeitung und Verteilung können helfen. Wenn nun noch gute Regierungsführung sowie fundierte Ausbildung und Beratung
der Bauern und eine liberale Agrarmarkt- und -handelspolitik hinzukommen, steht dem Erfolg entwicklungspolitischer Bemühungen sowohl der Regierungen der
Entwicklungsländer als auch der internationalen Entwick lungshilfe nicht mehr viel im Wege. Dies gilt besonders dann, wenn das Engagement des Privat sektors
auch der reichen Länder für Entwick lungsmaßnahmen
ermutigt werden kann.
Gemeinsame Mahlzeit auf dem Feld, Peru. Foto: Thomas Lohnes
101
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
12. UN-Report: Eine neue globale
Partnerschaft – Armut beseitigen
und Volkswirtschaften transformieren – durch nachhaltige
Entwicklung
Kurzzusammenfassung des UN-Reports des Highlevel Panel of Eminent Persons on the Post-2015
Development Agenda „A new global partnership: eradicate poverty and transform economies through sustainable development”, UN Publications New York 2013
Am 30. Mai 2013 hat das „High-Ievel Panel of Eminent
Persons on the Post-2015 Development Agenda” fristgerecht seinen Bericht mit dem Titel „A new global partnership: eradicate poverty and transform economies
through sustainable development” an den Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon in New York
übergeben. Anschließend wurde der Bericht durch den
Co- Vorsitzenden des Panels, den indonesischen Staatspräsidenten Susilo Babang Yudhoyono, der Generalversammlung vorgestellt. Prof. Dr. Köhler, Bundespräsident a.D., war auf Vorschlag der Bundesregierung in das
hochrangige Gremium berufen worden.
Der Auftrag des 27-köpfigen, mit Mitgliedern aus
Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft
aus allen Teilen der Welt besetzten Gremiums war innerhalb von 9 Monaten, ehrgeizige, aber zugleich auch
praktikable Vorschläge für eine globale Agenda als
Folgekonzept für die Millenniumsentwicklungsziele
(MDGs) zu erarbeiten. Das Panel hat vielfältige Konsultationen mit Zivilgesellschaft, Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaft lern und Unternehmen geführt
und diese Stimmen im Bericht berücksichtigt. Aus Sicht
des Panels trägt er „the voice of the poor“ ausdrücklich
Rechnung, ist aber gleichzeitig wissenschaftlich basiert, wie die Anhänge darlegen.
Leitmotiv der Post 2015-Agenda und Grundlage für die
zukünftige Zusammenarbeit soll nach den Vorstellungen
des Panels eine globale Partnerschaft sein. Das Panel
hält es für möglich, die extreme Armut in der Welt bis
2030 zu beseitigen. Es wirbt dafür, Entwicklungs- und
102
Nachhaltigkeitsziele in einem gemeinsamen Zielsystem
zu vereinen. Es legt mit dem Bericht, dem sechs Anhänge beigefügt sind, seine Vision und Prioritäten
vor und plädiert für einen Paradigmenwechsel, weg
von einer reinen Entwicklungs- und hin zu einer globalen Agenda mit Verantwortung für Industrie-,
Schwellen- und Entwicklungsländer in einer globalen
Partnerschaft mit ökonomischen, sozialen und ökologischen Dimensionen. Das Panel ist der Auffassung, dass
die Post-2015 Agenda einer der wichtigsten politischen
Prozesse der Dekade werden wird. Staatenvertreter z.B.
aus Südkorea haben dem Generalsekretär bereits angekündigt, eine neue starke Arbeitseinheit zu schaffen,
die an der Post-2015 Agenda arbeiten wird.
Das Panel empfiehlt bis 2030 eine globale strukturelle
Transformation zu vollziehen, welche fünf Elemente
umfassen sollte:
„Leave no one behind – Die neue Agenda soll
weltweit Hunger und Armut beseitigen und allen
Menschen einen würdevollen Lebensstandard ermöglichen. Die neue Agenda beendet, was die MDGs begonnen haben, geht dabei aber in Ambition und Qualität
über die MDGs hinaus, indem sie etwa Ungleichheit
mit einbezieht.
„Put sustainable development at the core“ –
Um Wohlstand für alle zu ermöglichen und dabei die
planetaren Grenzen nicht zu überschreiten, muss eine
strukturelle Transformation hin zu ökologischem Wirtschaften erfolgen. Dabei geht es vor allem auch um die
Veränderung von nicht nachhaltigen Konsum- und Produktionsmustern weltweit. Industrieländer müssen hierbei als Vorbilder voran gehen. Entwicklungs- wie auch
Schwellenländer sollen unterstützt werden, bei künftigem Wachstum auf umweltverträgliche Technologien
zu setzen.
„Transform economies for Jobs and inclusive
growth” – Das Panel ruft dazu auf, nicht mehr auf
„Wachstum um jeden Preis“ zu setzen. Wachstum soll
künftig vielmehr darauf ausgerichtet werden, dass mehr
und gute Arbeitsplätze, insbesondere für Jugendliche
entstehen. Bis 2030 werden voraussichtlich 470 Mio.
LESEBUCH
Welternährung und nachhaltige Landwirtschaft I Schwerpunktthema
Menschen zusätzlich auf den Arbeitsmarkt kommen,
vor allem in Afrika und Südasien, wo informelle
Beschäftigung zu niedrigsten Löhnen weit verbreitet
ist. Neue Technologien, Diversifizierung, eine bessere
Infrastruktur und ein förderliches Umfeld für unternehmerische Aktivitäten auf nationaler wie auf internationaler Ebene sollen diese Veränderung herbeiführen.
„Build peace and effective, open and accountable institutions“ – Freiheit von Gewalt und Konflikt
ist grundlegendes Menschenrecht und unabdingbares
Fundament für jede Art von Wohlstand. Eine ebenso
fundamentale Rolle haben auch gute Regierungsführung, Zugang zu Justiz, Freiheit vor Diskriminierung
und Verfolgung sowie politische Partizipation.
„Forge a new global partnership“ – Leitmotiv
der Post-2015 Agenda und Grundlage für die künftige
Zusammenarbeit soll nach den Vorstellungen des
Panels eine neue globale Partnerschaft sein, welche die
starke Vernetzung der Welt widerspiegelt und von dem
Bewusstsein geprägt ist, dass eine langfristige Sicherung von Wohlstand nur möglich ist, wenn auch die
Zu kunftsperspektiven anderer Länder- das globale Gemeinwohl – berücksichtigt werden. Eine solche Partnerschaft zeichnet sich durch eine gemeinsame Wertegrundlage und eine Kooperation auf Augenhöhe aus.
Als Teil des Partnerschaftsgedankens soll die Verantwortung für „Global Public Goods“, wie z.B. für ein faires und offenes Handelssystem, für eine krisensichere
globale Finanzstruktur sowie für Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels gemeinsam getragen werden. Der „Norden“ ist hier besonders gefordert. …
… Um die Rechenschaftspflicht aller Akteure sicher
zu stellen, sprach sich das Panel nachdrücklich dafür
aus, ein transparentes Monitoring-System einzurichten. Dieses solle bei den Vereinten Nationen angesiedelt sein und durch Peer-Reviews sowie ein unabhängiges Expertengremium verstärkt werden.
Universalität der globalen Post-2015 Agenda, d. h.
alle Länder tragen Verantwortungen und müssen einen
Beitrag leisten.
Globale Partnerschaft als gleichberechtigte Partner, mit gemeinsamer Wertebasis und struktureller
Transformation als neuem Paradigma, um den wachsenden globalen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen
zwischen Akteuren und Sektoren Rechnung zu tragen
(Nexus).
Erstmals Aufnahme von globalen förderlichen
Rahmenbedinqunqen wie Finanzsystemstabilisierung
und Klimawandel sowie Frieden und Sicherheit.
Der Bundespräsident a.D. hat sich insbesondere bei folgenden Themen engagiert bzw. diese in die Diskussion
eingebracht: „Globale Partnerschaft”, „Jobs and Perspectives for the Youth”, „Financing for Development
and Global Financial Markets” sowie „On Capital
Flight in Africa”.
Weitere Informationen:
http://www.post2015hlp.org/wp-content/
uploads/2013/05/UN-Report.pdf
nachfolgend der Link zum Briefing der VN über
HLP-Report und anderen Ceremonies
http://webtv.un.org/watch/report-of-the-hiqhlevel-panel-on-the-post-2015-development-aqenda-pressconference/2421343765001
http://international.cqdev.org/bloq/maiorproqress-and-striking-absence-first-thoughtspost2015hlpreport
www.globaldashboard.org
Der Unterschied zwischen den bestehenden MDGs
und der vom Panel in seinem Bericht vorgeschlagenen Post-2015 Agenda sind die neuen grundlegenden
Qualitäten:
103
ANALYSE
Am ersten Adventswochenende 2013
eröffnen wir in Bremen
die 55. Aktion
Brot für die Welt.
Feiern Sie mit uns
und unseren Gästen
aus Angola den Beginn
der Adventszeit.
Zum Festgottesdienst
um 10 Uhr
(Einlass bis 9:45 Uhr)
laden wir Sie herzlich
in die Kulturkirche
St. Stephani in Bremen ein.
Der Gottesdienst wird
live in der ARD übertragen.
Wir freuen uns auf Sie!
Spendenkonto 500 500 500
KD-Bank BLZ 1006 1006
www.brot-fuer-die-welt.de
Konzeption INGRID JUNGHANS · Gestaltung FRIEDRICH DON
Land zum Leben – 04
Grund zur Hoffnung
Agroenergie I Diskussionsbeitrag
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