Verhaltsauffälligkeiten im Kleinkindalter – Diagnostik und Intervention

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Verhaltsauffälligkeiten
im Kleinkindalter
– Diagnostik und Intervention –
PD Dr. I. Kamp-Becker
Fortbildungsveranstaltung der DRK-Kinderklinik Siegen, 31.10.2012
Entwicklungspsychologische Besonderheiten des Kleinkindalters
• 80% der nachgeburtlichen Hirndifferenzierung erfolgt in den ersten 4
Lebensjahren
• schnellste Wachstum in den ersten Lebensjahren
Vulnerabilität hoch
• Hirnfunktionen können sich in dieser Zeit aber auch erholen, wegen
der höheren Adaptationsfähigkeit und der noch nicht erfolgten
Spezialisierung
Plastizität hoch
Gogtay et al., 2004
Braus, 2010
Entwicklungspsychologische Besonderheiten
des Kleinkindalters
2 - 3 Jahre
• Geringe Konzentrationsspanne, geringe Fähigkeiten zur eigenständigen
Affektregulation
• Autonomiebedürfnis
• Sprachfähigkeit
• So-tun-als-ob-Spiel
• Selbst-Repräsentation (sich im Spiegel erkennen)
• Empathiefähigkeit
3 Jahre
• Wortschatzexplosion
• Selbstständigkeit, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein nimmt zu
4 Jahre
• Belohungsaufschub
• Theory of Mind
• autobiografisches Gedächtnis
• exekutive Funktionen
Ab ca. 5 – 6 Jahren
• Theory of Mind – Perspektivenübernahme
• Freundschaften
• Moralische Vorstellungen
Bischof-Köhler, 2011
Entwicklungsaufgaben im Kleinkindalter
Sichere Bindung
eigenständige
Persönlichkeit/Individuation
• Selbständigkeit, Autonomie
• Selbstkonzept
• Selbstkontrolle (Impulskontrolle, Selbststeuerung), Affektregulation
• Entstehung von ersten Regel-, Norm- und Wertvorstellungen
• Entwicklung sozialer Rollenkonzepte (Geschlecht, Mitglied der
Familie, Freundschaften …)
„normal“ versus „gestört“
•
•
•
•
Anzahl und Stärke der Symptome
Dauer
Psychosoziale Beeinträchtigung
Entwicklungsbeeinträchtigungen, die nicht kompensiert
werden können
• Problem: Variabilität der normalen Entwicklung
•
•
•
Interindividuelle Variabilität: Verschiedene Kinder entwickeln sich
unterschiedlich
Intraindividuelle Variabilität: Ausgeprägte individuelle
Schwankungen möglich
Inkonsistenzen sind möglich: diskontinuierliche
Leistungszunahme
Risikofaktoren
Kind
• Schwieriges Temperament
• Genetische/erworbene
Hirnfunktionsstörungen (z.B.
ADHS Legasthenie, Autismus, ….)
• Chronische körperliche
Erkrankung mit sekundären
psychischen Beeinträchtigungen
• niedrige Intelligenz
Soziale Umgebungsfaktoren
• Materielle Not
• Arbeitslosigkeit
• geringer Wohnraum
• Migration
Eltern/Familie
• Chronische Familienkonflikte
• Psychische/körperliche Erkrankung
eines oder beider Eltern oder eines
Geschwisterkindes
• Fehlhaltungen/Erwartungen
(Überforderung, Delegation eigener
Wünsche, Überprotektivität,
Verwöhnung)
• Unsicheres Bindungsverhalten
• Ungünstiges Erziehungsverhalten
Gewalt und Misshandlung
• Sehr junge Elternschaft
Risikofaktor: Psychisch kranke Eltern
• Risiko erhöht sich um das 3-7-fache gegenüber der
Normalbevölkerung Wiegand-Grefe et al. 2009, 2011
• 3 – 4 Millionen betroffene Kinder in Deutschland Mattejat, 2009
• Kinder von Eltern mit Persönlichkeitsstörungen weisen das höchste
eigene Erkrankungspotential auf.
• Bedeutung für die (Klein-)Kinder
– Genetisches Risiko
– Konfundierung mit Familienkonflikten, Zerrüttung, Alleinerziehung,
materielle Probleme
– Frühe Interaktions- und Bindungsstörung
– Vernachlässigung
– Verantwortungsverschiebung und Parentifizierung
Prävalenz
•
Vorschulkinder sind genauso häufig von einer psychischen Störung
betroffen, wie ältere Kinder und Jugendliche
– die Gesamtprävalenz problematischen Verhaltens im
Vorschulalter liegt ca. bei 7 % (vergleichbar älterer Kinder)
– distinkte emotionale (internalisierende) und verhaltensbezogene
(externalisierende) Syndrome sind konsistent zu finden
– höhere Rate von externalisierenden Auffälligkeiten!
KiGGs-Studie, Hölling et al., 2008; Laucht et al., 2000
– Kontinuität zwischen Vorschulalter, späterer Kindheit und sogar
Erwachsenenalter bezüglich emotionaler und behavioraler
Probleme und Psychopathologie
Egger & Angold, 2006
Störungen im Kleinkindalter – ICD-10
1. Achse: Klinisch psychiatrisches Syndrom
• Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (F90)
• Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigen Verhalten/ODD
(F91)
• Emotionale Störung des Kindesalters (F93)
• Kombinierte Störung des & der Emotionen (F92)
• Bindungsstörungen, elektiver Mutismus (F94)
• Anpassungsstörungen, PTSD (F43)
• Ausscheidungsstörungen, Fütterstörungen (98)
• Depressive Episoden (F32)
• Tic-Störungen (F 95)
• Phobien (F40)
• Tiefgreifende Entwicklungsstörungen/ Autismus (F84)
2. Achse: Umschriebene Entwicklungsstörungen
• Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (F80),
der motorischen Funktionen (F82) und kombinierte ES (F83)
3. Achse: Intelligenzniveau
• Intelligenzminderung (F7)
Störung des Sozialverhaltens mit
oppositionellem, aufsässigen Verhalten
ODD
Prävalenz
• Häufigste Störung im
Kleinkindalter, ♂ - ♀= 2:1
Prognose
• Früher Beginn ungünstig, daher
frühe Diagnose und Behandlung
zentral
Komorbiditäten
• ADHS 25-50 %
• emotionale Störung
• Entwicklungsstörungen
Ca. 30%
Ca. 10%
Rockhill et al.2006
Petermann, Döpfner & Schmidt, 2007
Emotionale Störung des Kindesalters
• Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters
– Furcht vor Trennung stellt den Kern der Angst dar
• Phobische Störung des Kindesalters
• Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters
– Misstrauen gegenüber Fremden und soziale Besorgnis oder Angst, in
neuen, fremden oder sozialen Situationen.
• Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität
– Ausmaß Dauer der Störung sind übermäßig ausgeprägt und gehen mit
Störungen der sozialen Interaktionen einher
• Generalisierte Angststörung des Kindesalters
– Ruhelosigkeit, Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit,
Muskelverspannung, Schlafstörungen
• Sonstige emotionale Störungen des Kindesalters
Bindungsstörungen
Zentrale Merkmale:
• Kein persönlich bezogenes Bindungsverhalten
• Störung zeigt sich über verschiedene
Kontexte/Situationen hinweg
• Entwickelt sich vor dem Alter von 5 Jahren
• Unterscheidung zwischen
– Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
– Bindungsstörung mit Enthemmung
• Übergänge/Mischformen möglich und wahrscheinlich!
Bindungsstörungen
Prävalenz: Auftreten in Risikogruppen deutlich erhöht
• Wechselnde Bezugssysteme
• Multiple Verluste
• Massive Vernachlässigung
• Emotionale, körperliche, sexuelle Gewalt
• Miterlebte Gewalt (Kind als Augenzeuge)
• Schwere psychische Erkrankung der Bindungspersonen
• Jugendliche und alleinerziehende Mütter
Prognose:
• eher ungünstige Prognose, insbesondere Bindungsstörung mit Enthemmung
persistierende Tendenz - häufig Diagnose Persönlichkeitsstörung
Rushton et al., 1995; O‘Connor, 2003
Therapie:
• Verlässliche, stabile und vorhersagbare Umwelt!
• emotional zuverlässige und konstante Bezugsperson (oft Fremdplazierung)
• begleitende therapeutische Arbeit mit Bezugsperson
Ziegenhain 2009
Depressive Episoden im Kleinkindalter
• Kleinkindalter (2 - 3 Jahre):
– Vermehrtes Weinen, erhöhte Irritabilität, Spielunlust, gestörtes
Essverhalten, Ausdrucksarmut
• Vorschulalter (4 - 6 Jahre):
– psychomotorische Hemmung, keine Freude bei Aktivitäten oder
Spiel, Ängstlichkeit, Appetitlosigkeit, introvertiertes, aber auch
aggressives Verhalten
• ♀ - ♂= 1:1
• Erhöhte Komorbidität mit Hyperaktivität und SSV – dann aber
Prognose eher besser, als monosymptomatisch
• Geringe Sensitivität der ICD-Kriterien für Klein-Kinder!
Kleinkindsprechstunde
• Anamnese (aktuelle Problematik, körperl., kognitive, sprachliche &
emotionale Entwicklung, Spielverhalten, familiäre Beziehungen & zu
Gleichaltrigen…)
• Kooperation mit SPZ, Neuropädiatrie, Pädaudiologie, Genetik,
Logopädie, Ergotherapie, Kinderarzt …..
• Kooperation mit Frühförderung, Jugendamt, Betreuungshelfer…
• Kooperation mit weiteren Einrichtungen (z.B. Mutter-KindEinrichtung, Kinderschutzbund, Therapeuten)
• Exploration des Kindes
• körperlich-neurologische Untersuchung (evtl. EEG)
• Standardisierte Diagnostik (Entwicklungs-, Leistungstests, Sprachtest,
spezifische Fragebögen)
• Verhaltensbeobachtung (Spielsituation mit Eltern)
Beratung
• Psychoedukation / Beratung
• Frühförderung
• Kindergarten (Integrationsplatz)
• Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie, Heilpädagogik
• Erziehungsberatungsstelle
• Maßnahmen durch Jugendamt (z.B. SPFH)
• Mutter-Kind-Einrichtung
• Psychiatrische bzw. psychotherapeutische Behandlung
eines Elternteils
• Evtl. Tagesklinische oder stationäre Behandlung
Prävention
– Verhaltenstraining im Kindergarten Koglin & Petermann, 2006
• Universelles Präventionsprogramm für 3 bis 6 jährige
• Förderung sozial-emotionaler Kompetenz
• Aufbau sozialer Problemlösung
– Präventionsprogramm für Kinder mit expansivem
Problemverhalten (PEP) Plüg et al., 2006
• Zielgruppen: Eltern und Erzieher von Kindern im Alter von 3 bis 6
Jahren
• Indikation: frühe Zeichen ausgeprägten expansiven Verhaltens
Therapie: Versorgungssituation Ergotherapie
• Häufigste Leistung: Einzelbehandlung bei sensomotorisch
/perzeptiven Störungen
• Sensorische Integration (SI)
• Beruht auf theoretischen Annahmen, die längt widerlegt
wurden! Annahme von „neurophysiologisch begründeter“
Verhaltensstörungen nicht haltbar
• Deutsche Gesellschaft für Neuropädiatrie lehnt SI ab!
• Metaanalyse (Vargas & Camilii 1999):
• keine spezifischen Effekte bei lern- und
verhaltensgestörten Kindern
• lediglich unspezifische Effekte (z.B. motorische
Geschicklichkeit)
Humphries et al., 1992
Karch et al., 2002 ; Karch et al., 2003
Therapie: Versorgungssituation weitere Therapien
„Kopfgelenk-induzierte Symmetriestörung“ oder „KISSSyndrom“
• These: „Kopfgelenk-Relationssstörung“ sei der wichtigste Faktor in der
Pathogenese von Körperhaltungs- oder Bewegungsasymmetrien und
unklaren Verhaltensauffälligkeiten im Säuglings- und Kleinkindalter
• bei dem leisesten Verdacht sei eine Behandlung erforderlich
• eine RCT bei „Schreibabys“ – gleiche Wirkung wie Nicht-Behandlung!
• Keine weiteren Studien zur Wirksamkeit bei Verhaltensauffälligkeiten
• Deutsche Gesellschaft für Neuropädiatrie lehnt manualmedizinische
Behandlung des „Kiss-Syndroms“ ab!
Therapeutische Interventionen im
Kleinkindalter
• Methode der Wahl: verhaltenstherapeutisch
basiertes Elterntraining mit Interventionen in der
Familie und im Kindergarten (Evidenzgrad I bei
ODD/ADHS) und ggf. flankierende Maßnahmen
• Medikamentöse Therapie sollte erst erwogen
werden, wenn diese Maßnahmen nicht
ausreichen!
Therapeutische Interventionen im
Kleinkindalter: Triple P
Positive Parenting Program - Trainingsprogramm für Positive
Erziehung – Prävention & Intervention
• Ziele:
–
–
–
–
–
–
positives Erziehungsverhalten und Eltern-Kind-Beziehung
Steigerung der elterlichen Kompetenz
Förderung der kindlichen Entwicklung
Reduktion kindlicher Verhaltensprobleme
Verbesserung der Kommunikation über Erziehung
Reduktion von mit Erziehung verbundenem elterlichem Stress
• Stepping Stones: speziell für Eltern von Kindern mit
Entwicklungsverzögerungen, Wahrnehmungsstörungen, körperlichen,
geistigen oder seelischen Behinderungen
Therapeutische Interventionen im
Kleinkindalter: Triple P
Theoretisch fundiert!
– Verhaltenstherapeutisch orientiertes Programm
Empirische Evidenz:
– Meta-Analysen zu Elterntrainings bei Kindern im Alter von 0-7:
gute Wirksamkeit bezüglich Eltern-Kind Interaktion, emotionale
Kommunikation u.v.a. (de Graaf et al., 2008; Nowak & Heinrichs,
2008; Thomas & Zimmer-Gemback, 2007)
– Effektstärken: .88–1.00; Follow up nach 6 Monaten: 1.00
– zahlreiche Studien zur Wirksamkeit von Triple P z.B. bei ADHS,
Depressionen…
• Abnahme kindlicher Verhaltensauffälligkeiten,
• Steigerung der Erziehungskompetenz,
• Abnahme dysfunktionalen Elternverhaltens
Therapeutische Interventionen im
Kleinkindalter: PCIT
Parent-Child-Interaction-Therapy
• Fokus: Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind (2-7
Jahre alt)
• Behandlung von Bezugsperson & Kind gemeinsam
• theoretisch begründet: Bindungstheorie, Lerntheorie
• Integration von spieltherapeutischen und
verhaltentherapeutischen Methoden
• evidenzbasiert
• Befund geleitet
Therapeutische Interventionen im
Kleinkindalter: PCIT
Indikationen:
• Expansive Verhaltensstörungen (ODD, SSV, AHDS)
gut untersucht und validiert! Metaanalyse: Thomas & ZimmerGembeck, 2007
Effektstärken: .61–1.45
• internalisierendes Verhalten (Angststörungen, emotionale
Störungen) Luby et al, 2012; Lenze etal., 2011
• Frühgeborene Graziano et al., 2012
• Kinder mit Sprachstörungen Allen & Marshall, 2011
• Interaktionsprobleme im Kontext von Scheidung und Adoption
• Zustand nach Vernachlässigung und Missbrauch Timmer et al., 2006
• Kinder mit kognitiven Entwicklungsdefiziten
• Autismus Solomon et al. 2008
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