opyrig Qu t es i Die Stichverletzung in der Praxis – ein fast alltägliches Problem by ht C All eR ALLGEMEINMEDIZIN ech te vo rbe ha lte n n Matthias Tröltzsch, Stefanie Kriegelstein, Markus Tröltzsch se nz Indizes Stichverletzung, HBV-Infektion, HCV-Infektion, HIV-Infektion, Übertragungsrisiko, Impfung, Postexpositionsprophylaxe Zusammenfassung Die Stich- und Schnittverletzung ist ein häufig unterschätztes Problem des ärztlichen und zahnärztlichen Alltags. Da die Risiken einer Erkrankung durch Kontakt mit infektiösem Material nicht kalkulierbar sind, sollte die Primärprävention den größten Stellenwert einnehmen. Im ungünstigen Fall einer Verletzung können die rechtzeitige Meldung, die ordnungsgemäße Dokumentation und die leitliniengerechte Behandlung eine Manifestation von durch Blut übertragenen Erkrankungen verhindern. Die bedingte Kenntnis des Verhaltens nach Stichverletzungen ist für das Praxisteam unerlässlich. Praxis Dr. Dr. V. Tröltzsch Maximilianstraße 5 91522 Ansbach E-Mail: [email protected] Stefanie Kriegelstein Dr. med. Assistenzärztin Zentrum für Fuß- und Sprunggelenkschirurgie Schön Klinik München Harlaching Harlachinger Straße 51 81547 München Einleitung Die Stichverletzung insbesondere an chirurgischem Instrumentarium und Injektionsnadeln ist ein nahezu alltägliches Problem in der ärztlichen und zahnärztlichen Praxis. Schätzungen gehen von etwa 1.400 Nadelstichverletzungen pro Tag im gesamten deutschen Gesundheitssystem aus15. Es muss erwähnt werden, dass es in knapp 40 % der Fälle nicht zu einer Meldung des Vorfalls kommt und eventuelle Folgen unbeachtet bleiben11. Obwohl die Gefahr einer Verletzung natürlich im stationär-klinischen Bereich (vor allem in chirurgischen Fächern) am höchsten ist15, sollte auch der Zahnarzt über das Vorgehen nach Nadelstichverletzungen informiert sein und eventuelle Risiken sowie Behandlungsmöglichkeiten kennen. Markus Tröltzsch Arzt, Dr. med. dent. Praxis Dr. Dr. V. Tröltzsch Maximilianstraße 5 91522 Ansbach Erkrankungsrisiko bei einer Stichverletzung Obwohl mindestens 20 verschiedene Krankheiten durch Verletzungen an kontaminiertem Material übertragen werden können3, spielen doch hauptsächlich das Hepatitis-B- und -C-Virus sowie das HI-Virus eine sigQuintessenz 2011;62(7):943–946 Matthias Tröltzsch Dr. med. dent., cand. med. 943 opyrig Die Stichverletzung in der Praxis – ein fast alltägliches Problem Qu i nt by ht ALLGEMEINMEDIZIN C All eR ech te vo rbe ha lte n e ss e n z Vorgehen nach einer Stich- oder Schnittverletzung Abb. 1 Gefahr durch Unordnung auf dem Tray nifikante Rolle1-15. Das Risiko einer Infektion bei infizierten Patienten ist abhängig von der Ausprägung der Krankheit (Viruslast, Serotyp, Subgruppe, Immunstatus, Behandlung) beim Hepatitis-B-Virus (HBV) am höchsten (5 bis 40 %)1,3,7,9, beträgt beim Hepatitis-CVirus (HCV) 0,4 bis 3 %3,4,10,11 und fällt beim humanen Immundefizienz-Virus (HIV) mit etwa 0,3 % am niedrigsten aus1-3,8,9,11,14. Allerdings variiert die Prävalenz der Infektionen regional in Abhängigkeit von der Erkrankung, der sozialen Herkunft und der Grunderkrankung des Patienten stark. Für HIV werden in ländlichen Bereichen Prävalenzen von unter 0,2 % angegeben3. In den Städten und in Risikogruppen, z. B. bei intravenös Drogenabhängigen, kann die Zahl der Erkrankten jedoch deutlich darüber liegen3. Eine HCV-Infektion wird bei unter 0,5 % der Bevölkerung vermutet3, während das HBV am weitesten verbreitet ist1,3,6,11. Auch hier gilt eine entsprechend höhere Prävalenz unter Risikogruppen. Es sollte beachtet werden, dass nicht nur das ärztliche Personal, sondern auch der Patient gefährdet ist2,3,11. Keine der Erkrankungen kann klinisch auf den ersten Blick ausgeschlossen werden7-9, weshalb jeder Patient als potenziell infektiös einzustufen ist und Maßnahmen zum Schutz des Personals, des Patienten und der eigenen Person durchzuführen sind. Der Primärprävention kommt größte Bedeutung zu1,15, so dass auf Ordnung im Umgang mit scharfem und kontaminiertem Instrumentarium zu achten ist (Abb. 1). 944 Das Verhalten im Fall einer Verletzung an kontaminiertem Instrumentarium sollte in der zahnärztlichen und ärztlichen Praxis jedem Teammitglied bewusst sein. Der Zahnarzt bzw. Arzt muss seine Mitarbeiter instruieren und entsprechende Verhaltensmaßregeln für jeden zugänglich aufbewahren. Die Meldung und die Dokumentation eines derartigen Vorfalls sind Pflicht15. Bei nicht dokumentierten Verläufen besteht zu einem späteren Zeitpunkt keinerlei Anspruch auf Anerkennung als Berufskrankheit3,15. Das Verhalten nach dem Auftreten von Verletzungen der geschilderten Art umfasst folgende Schritte7,8,13,15: 1. Nach Entfernung des kontaminierten Materials sollte die Blutung gefördert werden, etwa durch Ausdrücken der Wunde (Abb. 2 bis 4). 2. Es ist eine sorgfältige Desinfektion der Wunde durchzuführen. 3. Die Wunde sollte für mehr als 10 Minuten nicht trocken werden. 4. Bei der Indexperson muss das Einverständnis zur Blutabnahme eingeholt werden. 5. Die Blutabnahme bei der betroffenen Person sollte ein Durchgangsarzt vornehmen. 6. Es ist eine Diagnostik auf HBV, HCV und HIV einzuleiten. Da die Indexperson nicht zur Blutabgabe gezwungen werden kann, ist deren Einverständnis grundsätzlich einzuholen11. Vorgehen bei Verdacht auf eine HBV-Infektion der Indexperson Prinzipiell sollte jeder, der berufsbedingt Kontakt mit kontaminiertem Material hat, eine HBV-Impfung durchführen und deren Erfolg mittel Titerbestimmung nachweisen lassen3,7,14,15. Dabei gelten Titer von über 100 IE/l als schützend. Diese Impfung sollte alle 10 Jahre aufgefrischt werden. Liegt nachweislich keine Immunität bei der betroffenen Person vor, so kann eine PostexpositionsQuintessenz 2011;62(7):943–946 opyrig by ht Qu C All eR ALLGEMEINMEDIZIN ech te Die Stichverletzung in der Praxis – ein fast alltägliches Problem vo rbe ha lte n n i t es se nz prophylaxe (PEP) durch kombiniert aktive und passive Immunisierung möglichst binnen 48 Stunden nach dem Vorfall mit gutem Erfolg durchgeführt werden1,2,7,15. Vorgehen bei Verdacht auf eine HCV-Infektion der Indexperson Zurzeit existiert keine PEP nach Kontakt mit HCV-kontaminiertem Material. Es empfiehlt sich, bei der betroffenen Person am Tag der Verletzung, dann aber in den Wochen 6, 12 und 24 HCV-Testungen durchzuführen, um eine Infektion frühzeitig festzustellen3,13,15. Da 50 bis 85 % aller akuten HCV-Infektionen chronisch werden können5, sollte bei Bestätigung einer HCV-Infektion möglichst frühzeitig mit einer Interferontherapie begonnen werden13. Die initiale Therapie erstreckt sich über einen Zeitraum von 24 Wochen. Je nach HCV-Serotyp ist mit Ansprechraten zwischen 71 und 98 % zu rechnen13. Abb. 2 Darstellung der Verletzung Vorgehen bei Verdacht auf eine HIV-Infektion der Indexperson Der Kontakt mit HIV-kontaminierten Gegenständen löst bei betroffenen Personen größte emotionale Probleme aus11. Daher ergibt sich die Notwendigkeit der raschen Diagnostik und Bewertung der Situation. Entscheidend sind die Art der Verletzung, die Art der Exposition (z. B. Verletzung mit Hohlnadeln) und die Viruslast der Indexperson8,12. Danach richtet sich der Einsatz der PEP1,3,8,14. Bei Indikationsstellung sollte diese so früh wie möglich begonnen werden – möglichst binnen 24 Stunden nach dem Verletzungsereignis1,3,8. Zum Einsatz kommen meist Dreifachkombinationen aus zwei Reverse-Transkriptase-Hemmern und einem Proteasehemmer über einen Zeitraum von 4 Wochen1,3,8. Das Nebenwirkungspotenzial dieser Medikation ist kalkulierbar (es kommt vor allem zu Kopfschmerzen und gastrointestinalen Problemen), die Auswirkungen sind reversibel8. Obwohl kontrollierte klinische Studien fehlen, kann von einer guten Effektivität der PEP bei HIV ausgegangen werden1,3,8. Grundsätzlich sollten bei der betroffenen Person nach 6 Wochen sowie 3 und 6 Monaten erneute HIV-Tests durchgeführt werden. Quintessenz 2011;62(7):943–946 Abb. 3 Desinfektion und Auspressen der Wunde Abb. 4 Auspressen der Wunde 945 opyrig Die Stichverletzung in der Praxis – ein fast alltägliches Problem Qu i nt Fazit Da die berufsbedingte Exposition gegenüber Infektionskrankheiten im Gesundheitssektor nicht vermieden werden kann, ist auf größtmöglichen Schutz des dort beschäftigten Personals zu achten. Dies reicht von der Ordnung scharfer Instrumente auf dem Tray über den by ht ALLGEMEINMEDIZIN C All eR ech te vo rbe ha lte n e ss e n z konsequenten Einsatz der Schutzbrille und des MundNasen-Schutzes zur Abdeckung der Schleimhäute bis hin zur sorgfältigen Dokumentation und Behandlung aufgetretener Vorfälle1,15. Der Zahnarzt sollte über die Möglichkeiten und Grenzen einer postexpositionellen Prophylaxe informiert sein, um bei Auftreten einer Nadelstichverletzung die richtigen Schritte einleiten zu können. Literatur 1. Alvarado-Ramy F, Beltrami E. 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