Klinische Psychologie I WS 04/05 Allgemeine Aspekte klinisch-psychologischer Diagnostik Operationale Diagnostik Funktionale Bedingungsanalyse 25.10.2004 Prof. Dr. Renate de Jong-Meyer Klinisch-psychologische Diagnostik ist wichtig bei: • der Bestimmung und Beschreibung der Ausgangslage (Deskription, Klassifikation, Problemdefinition) und des Zielzustandes (Veränderungen, Zieldimensionen). • der Entscheidung bzgl. angemessener Änderungsmethoden (Indikationsstellung, Kontraindikationen). • der Überprüfung der Effektivität eingesetzter und angewandter Methoden (Behandlungskontrolle, Wirkbereiche, Änderungsprozesse). Der diagnostische Kontext • Beziehungsaufbau und Gewinnung eines allgemeinen Eindrucks von Patient und Beschwerden • Erstellen einer klassifikatorischen / kategorialen Diagnose – Störungsdiagnostik – Entscheidungsbäume • Abklärung organischer Ursachen und Komplikationen • Analyse des Problemverhaltens – z.B. durch strukturierte Interviews – Durchführung einer klassischen verhaltenstherapeutischen Problemanalyse Der diagnostische Kontext • Weitere diagnostische Maßnahmen: – Bewältigungsversuche und –strategien – hilfesuchendes Verhalten – Erklärungsmodelle des Patienten für seine Störung – evtl. zusammenhängende Probleme oder Konflikte – mögliche Zusammenhänge mit Lebensplänen – mögliche Zusammenhänge mit Grundannahmen über Selbst oder Welt – Lebensereignisse oder Belastungen – wie reagiert bzw. was weiß die Umwelt? – Therapieziele Datenebenen • biologische (somatische, physikalische) Ebene • psychische Ebene • soziale Ebene • ökologische Ebene Datenquellen & Verfahrensgruppen Datenquellen • Selbstbeurteilung • Fremdbeurteilung Verfahrensgruppen • Selbstbeurteilungsverfahren • Fremdbeurteilungsverfahren • Interview • Leistungsdiagnostik • Felddiagnostik • Projektive Verfahren Auswahl standardisierter Interviewverfahren Checkliste • MDCL: Münchner Diagnose-Checkliste (Hiller et al., 1990) Standardisierte Interviews • DIS: • CIDI: National Institutes of Mental Health Diagnostic Interview Schedule (Wittchen & Rupp, 1981) Composite International Diagnostic Interview (Wittchen & Semmler, 1991) Auswahl standardisierter Interviewverfahren Strukturierte Interviews • SKID: • • • • Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV (Wittchen et al., 1997) SKID-II: Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV Achse II (Persönlichkeitsstörungen) (Wittchen et al., 1997) DIPS: Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen (Margraf et al., 2. Aufl. 1994) Mini-DIPS: Diagnostisches Kurz-Interview bei psychischen Störungen (Margraf, 1994) Kinder-DIPS: Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Unnewehr et al., 1995) Trainingshinweise zur Durchführung strukturierter Interviews Vor der Anwendung: • Durchlesen der Durchführungsanweisungen und des Interviewleitfadens • Üben der Durchführung mit „Versuchspatienten“ (Kollegen, Mitstudierende etc.) • Üben der Durchführung bei echten Patienten • Überprüfung der Reliabilität der Ergebnisse (falls möglich) durch einen zweiten Interviewer Trainingshinweise zur Durchführung strukturierter Interviews Bei der Anwendung: • Verwendung der Originalformulierungen • Zulassen von zusätzlichen Fragen, Erklärungen, Umformulierungen • Wesentlich ist die Einschätzung des Symptoms durch den Interviewer / die Interviewerin • Klärung, ob Interviewer und Patient sich auf den gleichen Zeitraum beziehen • Beachten der diagnostischen Relevanz vorhandener Symptome • Durchführung aller Störungsabschnitte eines Interviews Vorbereitung des Patienten auf ein Interview Ziel: Vermeidung möglicher Störquellen • Darstellung des Zwecks des Interviews (Gewinnung eines Überblicks über die Probleme des Patienten) • Hinweis auf das eventuelle Ansprechen unrelevanter Bereiche (zur Gewährleistung einer sorgfältigen Diagnose) • Grobe Angabe der Interviewdauer • Hinweis auf die Benutzung des Leitfadens und die schriftliche Festhaltung der Antworten • Hinweis darauf, dass der Interviewer versucht Abschweifungen zu vermeiden und notfalls den Patienten unterbricht. Checkliste störungsübergreifender Aspekte • Ist die Beteiligung organischer Faktoren ausgeschlossen bzw. abgeklärt? • Sind die Beschwerden der Situation unangemessen, übertrieben oder irrational? • Verursachen die Beschwerden eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensführung? • Ist ein möglicher Zusammenhang mit anderen psychischen Störungen ausgeschlossen bzw. abgeklärt? Die Diagnose erst nach Durchführung des gesamten strukturierten Interviews stellen! Kriterien der Behandlungsbedürftigkeit • ICD-10 und DSM-IV: Behandlungsbedürftigkeit wird dann als gegeben angenommen, wenn die vorhandenen Symptome die berufliche Leistungsfähigkeit, die üblichen sozialen Aktivitäten oder die sozialen Beziehungen beeinträchtigen oder ausgeprägtes Leiden verursachen. • Die Diagnose wird nur gestellt, wenn zusätzlich zur Symptomatik eine solche Beeinträchtigung festzustellen ist. Verzerrende Einflüsse auf Diagnosen • Kontext der Diagnose • Erwartungen des Therapeuten / der Therapeutin • Glaubwürdigkeit der Informationsquelle Diagnostische Aufgaben im Rahmen einer Psychotherapie Anmeldung/Zuweisung des Patienten zur Psychotherapie (vorläufige Indikationsentscheidung des Überweisenden) Voranalyse, allgemeine Orientierung, Planung der Informationserhebung Abklärung körperlicher Faktoren Analyse von Lebensbedingungen Beschreibung der Symptome, Diagnose Funktionale Problemanalyse Status-, Eigenschaftsdiagnostik Physiologie, Endokrinologie, Laboranalysen, Kooperation mit Haus- & Fachärzten Objektive Bedingungen, aktueller & chronischer Stress, Zurechtkommen, Unterstützung Ebenen des Denkens, Fühlens, Verhaltens, Erlebens, etc. Schwere & Dauer, Entwicklung & Verlauf Komorbidität Bedingungsanalyse relevanter Verhaltens- & Problembereiche, Konsequenzen, Zielanalyse, Selbstkontrolle Neuropsychologische Diagnostik. Leistungs- & Fähigkeitsdiagnostik, Persönlichkeit Indikationsentscheidung, Prognose, Erfolgsbeurteilung, Therapieplanung, ausreichendes Veränderungswissen, Therapie- & Veränderungsmotivation Psychotherapie, Behandlungsdurchführung Kontrollmessungen, Prozess- & Verlaufsdiagnostik Erfolgsbeurteilung, Zielerreichung, Wirksamkeit, Effektivität. Misserfolg Funktionale Bedingungsanalyse Der Problemlöseansatz Definition „Problem“ Von einem Problem wird dann gesprochen, wenn eine Person sich in einem unerwünschten Zustand befindet und mit den momentan verfügbaren Kenntnissen, Fähigkeiten oder Hilfsmitteln nicht in der Lage ist, einen gewünschten oder geforderten Zustand zu erreichen. Hauptkomponenten eines Problems • Unerwünschter Ausgangszustand (Ist-Zustand) • Angestrebter Zielzustand (Soll-Zustand) • Barrieren, die bekannte Operationen zum Erreichen des Soll-Zustandes scheitern lassen Der Problemlöseansatz Handlungspsychologie Verhalten und Handeln dienen als Mittel, mit denen das Individuum bestimmte Wahrnehmungen beendet, andere anstrebt und erzeugt. ð Verhaltensweisen unterschiedlicher Art und Komplexität sind somit zu verstehen als Transformationsprozesse unbefriedigender Ist-Zustände in tendenziell befriedigendere Soll-Zustände. Prozessmodell des Problemlösens Problemstellung nein abgeschlossen? ja Problemanalyse Zielanalyse Mittelanalyse - Lösungsalternativen - Erprobung & Bewertung Ende bzw. Arbeit an neuem Problem oder allg. Problemlösfähigkeiten •Klient ist unzufrieden damit, dass... •Klient möchte erreichen, dass... •Auswahl eines Problems Bedingungen für Problem- u. Alternativverhalten: •förderliche / hinderliche •innere / äußere •Verschiedene Ebenen •Klient strebt konkret an, dass... (Global-/ Teil-/ Nahziele) •Klient hält Ziel(e) für erreicht, wenn... Die Phase der Problemstellung Inhaltliche Schwerpunktsetzung • Orientierung über aktuelle Beschwerden, Anliegen und den persönlichen Hintergrund. • Benennung, Abgrenzung und Ordnung der Probleme; Bestimmung ihres wechselseitigen Verhältnisses. • Gewichtung der Probleme nach Dringlichkeit, Belastungsgrad und Veränderungsmotivation bzw. Erfolgsaussicht. • Klärung der Einstellung des Klienten zu seinen Problemen. Die Phase der Problemstellung Ziel dieser Phase • Erhalt einer vorläufigen klinischen Diagnose. • Indikationsstellung bzgl. der benötigten therapeutischen Unterstützung. • bei Therapieaufnahme Auswahl eines ersten, zunächst zu bearbeitenden Problems. Die Phase der Problemstellung Problemrelevante Verhaltens- und Erlebensweisen können unter verschiedenen Perspektiven betrachtet werden: • Verhaltenssteuerung in konkreten Situationen • Rolle übergreifender Regeln und Pläne • Wechselwirkung mit Regeln persönlich bedeutsamer sozialer Systeme • Einfluss der Problemgenese • Hinweise aus der Therapeut-Klient-Beziehung Bedingungsanalyse von Verhalten in Situationen I Inhaltliche Schwerpunktsetzung Analyse von problemtypischen Verhaltensweisen in konkreten Situationen mit dem Ziel, funktionale Beziehungen zwischen Verhalten und aktuellen Bedingungen aufzudecken. Erfassung des problemtypischen Verhaltens in verschiedenen Kontexten in allen Modalitäten mit den jeweiligen situativen, inneren, äußeren, vorhergehenden und nachfolgenden Bedingungen. Leitfrage: Wie kommt es dazu, dass die betreffende Person sich so und nicht anders verhält? Bedingungsanalyse von Verhalten in Situationen II Modell von Bartling et al.: Situation (S) ò Wahrnehmungsprozess (WP) ò Innere Verarbeitung (IV) ò Handeln / Erleben (V) ò Konsequenzen (K) Bedingungsanalyse von Verhalten in Situationen III Situation (S) Überdauernde bzw. akute interne bzw. externe Vorbedingungen und Ereignisse. – – – – – – problemrelevante kritische Situationen bzw. Anforderungen Setting (räumliche, zeitliche und materielle Bedingungen) Verhalten anderer Personen eigenes Verhalten Stimmung und Bedürfnislage des Handelnden überdauernde u./o. aktuelle Bedingungen des körperlichen Befindens – Vorstellungen – Gedanken und Vorhaben Bedingungsanalyse von Verhalten in Situationen IV Wahrnehmungsprozess (WP) Orientieren, Aufnehmen und Kodieren von Informationen. Bedingungsanalyse von Verhalten in Situationen V Innere Verarbeitung Interpretation der Situation. Kausalattribuierung, Bedeutungszuschreibungen, Erwartungen, Schlussfolgerungen. Bewertung der Situation in Bezug auf eigene Bedürfnisse, Ziele, Ansprüche; persönlicher Bedeutungsgehalt der aktuellen Situation(Vergleichsprozess zwischen Ist und Soll). Handlungsvorbereitung – Wünsche, eigene und fremde Standards, Ziele bzw. Konflikte zwischen den genannten Komponenten – Strategien, Handlungspläne, Handlungstendenzen – Selbstwirksamkeitseinschätzungen (Einschätzung eigener Kompetenz und Effizienz) – Entscheidung und Selbstmotivierung (z.B. durch Selbstinstruktionen) Bedingungsanalyse von Verhalten in Situationen VI Handeln / Erleben (V) Vm Ve Vk Vph Motorische Modalität; beobachtbare Verhaltensäußerung Emotionale Modalität; subjektives Erleben und Fühlen Kognitive Modalität; Gedanken und bildhafte Vorstellungen Physiologische Modalität; körperliche Reaktionen und Körperempfindungen Konsequenzen (K) – Zeitpunkt: kurzfristig / langfristig (Kk / Kl) – Entstehungsort: extern / intern (Ke / Ki) – Qualität: Entstehen bzw. Wegfall positiver oder negativer Konsequenzen (+K+, -K+, +K-, -K-) Analyse auf der Ebene der Regeln, Pläne und Systemregeln Inhaltliche Schwerpunktsetzung Die Problemanalyse auf der Ebene von Regeln und Plänen richtet sich auf kontextübergreifende, habitualisierte Komponenten der Handlungssteuerung. Definition „Pläne“ Hypothetische, hierarchisch organisierte Handlungsprogramme im Sinn von mehr oder weniger bewussten Ziel-Mittel-Komplexen. In diesem Schritt tiefergehende Analyse der hierarchischen Struktur von Zielen und Teilzielen, die sich in der Organisation komplexer Einzelhandlungen niederschlägt. Analyse der Problemgenese Inhaltliche Schwerpunktsetzung Analyse der Umstände des ersten Auftretens, der Dynamik der darauffolgenden Veränderungen im Sinne von Verbesserungen/Verschlechterungen sowie deren Bedingungen und damit verbundene Lernprozesse. Dabei Konzentration auf die problembezogene Lerngeschichte an Stelle breit angelegter Erkundungen der Lebensgeschichte. Erhebung der wichtigsten biographischen Daten und Ereignisse nur knapp im Zusammenhang mit der allg. Orientierung über die verschiedenen Probleme. Die Herausarbeitung der genaueren Problemgenese ist erst nach der Entscheidung für eine bestimmte Problemstellung möglich! Die Phase der Zielanalyse Inhaltliche Schwerpunktsetzung Drei wesentliche Aspekte: • Klärung der Veränderungsvoraussetzungen – Bewertung des derzeitigen Zustandes – Motivationen und Erwartungen für Veränderungsprozess • Zielbestimmung – abhängig von Zielvorstellungen, Einschätzung möglicher Schwierigkeiten und erwarteter positiver und negativer sowie kurz- und langfristiger Konsequenzen • Reflexion der Therapeut-Klient-Beziehung – Analyse des Einflusses unterschiedlicher Einstellungen, Kompetenzen, Erfahrungen, Werthaltungen etc. auf interaktiven Problemlöseprozess Nachfolgende Phasen • Phase der Mittelanalyse und Veränderungsplanung • Phase der Erprobung und Bewertung neuer Lösungsschritte Diese Phasen gehören nicht zur Diagnostik! Literaturhinweise: Margraf, J. & Schneider, S. (2000). Diagnostik psychischer Störungen mit strukturierten Interviews. In Margraf, J. (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie (2. Auflage, Band 1, S. 267-290). Berlin: Springer Engberding, M. (1996). Problemlösen – Ein Orientierungsmodell für Analyse und Therapie psychischer Störungen. In Caspar, F. (Hrsg.), Psychotherapeutische Problemanalyse (S. 87-129). Tübingen: dgvt-Verlag