(B3) Projektthema Agrammatismus im Türkischen. Zur Rolle von

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(B3) Projektthema
Antragsteller:
Agrammatismus im Türkischen. Zur Rolle von funktionalen
Kategorien für die Verarbeitung von Satzstrukturen
Prof. Dr. Helen Leuninger, Universität Frankfurt a.M.
Stellung des Projekts im Gesamtkonzept
Da dieses Projekt sich der Verarbeitung syntaktischer Strukturen durch agrammatische
türkische Sprecher widmen soll, ist es mit den Schwerpunkten Theoretische Linguistik und
Typologie vernetzt.
Stand der Forschung
Die Erforschung des Agrammatismus bei türkischen Sprechern ist in zweierlei Hinsicht von
Bedeutung:
1. wissenschaftlicher Aspekt: Agrammatische Störungen sind gut erforscht für das
Englische, Deutsche, aber auch für semitische Sprachen wie das Hebräische. Neben
anderen Ansätzen werden vor allem die Bindungs- und Rektionstheorie
(Chomsky,1981,1995) von Grodzinsky (1995a,b: Hebräisch) und im Detail die
Theorie funktionaler Kategorien und ihrer Projektionen von Ouhalla (1993: Englisch)
oder Hiragawa (Japanisch) bzw. das Logogenmodell von de Bleser (vgl. bspw. de
Bleser & Bayer, 1991: Deutsch) oder die (minimalistische) Morphologie und
Morphosyntax (Penke, 1998; Höhle, 1992: Deutsch) zugrundegelegt. Die Befunde
sind recht unterschiedlicher Art. Während in Grodzinskys Theorie, grob gesprochen
das Zusammenspiel von Spuren und θ-Theorie als agrammatisch beeinträchtigt
gesehen wird geht Ouhalla von einem Ausfall funktionaler Kategorien und ihrer
Projektionen aus, so dass bspw. Serialisierungen im Agrammatismus beliebig sind.
Hagiwara (1995) zeigt demgegenüber für das Japanische, dass nur höhere funktionale
Projektionen (CP’s etwa) beeinträchtigt sind. Penke allerdings konnte zeigen, dass bei
deutschen Agrammatikern sowohl in der Spontansprache also auch in rezeptiven Tests
z.B. die Kasuszuweisung von in Spec,CP bewegten NP’s nicht gestört ist.
Morphologische Kenntnisse spielen bei der Verarbeitung von Satzstrukturen eine
erhebliche Rolle. In der vorerwähnten Studie von Penke zeigte sich etwa für den
deutschen Plural, dass nur der reguläre, nicht aber der irreguläre Plural beeinträchtigt
ist, ein Befund, den sie mithilfe der minimalistischen Morphologie erklärt. In diesem
Modell werden ja die regulären morphologischen Bildungen durch mehrere
Paradigmen erzeugt, während die irregulären Bildungen aus einem Paradigma
„abgelesen“ werden können. In den Arbeiten von de Bleser wird das Logogenmodell
für die Einzelwortverarbeitung durch eine erweiterte morphologische Komponente
angereichert, so dass selektive morphologische Defizite modular erklärt werden
können.
Welche grammatischen Komponenten bei türkischen Agrammatikern beeinträchtigt
sind, ist Gegenstand des vorliegenden Projekts.
2. sozialpolitischer Aspekt: Mittlerweile kommen vermehrt auch türkische
Schlaganfallpatienten in neurologische Rehabilitationskliniken. Diese angemessen zu
diagnostizieren und zu therapieren ist zweifellos eine wichtige Aufgabe, die eine enge
Kooperation zwischen Linguisten und klinischen Linguisten erfordert.
Eigene Vorarbeiten
Die Antragstellerin hat sich in den vergangenen Jahren wegen des bildungspolitischen
Auftrags der Installierung von Gebärdensprache in die Forschung und Ausbildung
(einschließlich Dolmetscherausbildung) in der Forschung auf die Linguistik und
Psycholinguistik der Deutschen Gebärdensprache konzentrieren müssen. In der Lehre
hingegen hat sie in Kooperation mit den unten aufgeführten Institutionen eine Vielzahl von
klinischen Linguisten ausgebildet und entsprechende Magister- und Promotionsarbeiten
betreut. Gegenwärtig betreut sie bspw. eine Magisterarbeit, in der Spontansprachdaten von
türkischen Aphasiepatienten analysiert werden. In den Daten der Agrammatiker zeigen sich
tendenziell Ausfälle in der Morphosyntax des Türkischen, die mit den Leistungen türkischer
Wernicke-Aphasiker deutlich kontrastieren. In Leuninger (i.D. d) werden darüber hinaus
methodische Fragen der Neurolinguistik thematisiert.
Ziele und Aufgaben des Projekts
Dem gemäß soll in dem vorliegenden Projekt der Zusammenhang von morphologischer und
syntaktischer Struktur thematisiert werden. Als Satztypen sollen Fragesätze (Konstituentenund Entscheidungsfragen mit der Fragepartikel mI und ihrer je nach Position
unterschiedlichen vokalharmonischen Realisierung), aber auch Sätze mit nicht-overt gefüllten
C-Positionen (Kornfilt, 2001) (wie Relativsätze, Konditionalsätze) untersucht werden. Bspw.
ist nach Kornfilt bei Subjektrelativsätzen die erste Position durch eine leere Kategorie
(Operator) besetzt, die mit dem entsprechenden Suffix am Verb koindiziert ist, und keine
Kongruenz vorliegt, während bei Akkusativ-Sätzen Kongruenz herrscht bzw. ein pro durch
die Morphologie lizensiert wird. Der Zusammenhang zwischenθ-Struktur und Morphosyntax
soll anhand der Verarbeitung von Passivsätzen überprüft werden.
Methode
In dem beantragten Projekt sollen sowohl Produktions- als auch Perzeptionsdaten erhoben
werden, und zwar sowohl spontansprachliche als auch experimentell induzierte Daten. Denn
eine Beschränkung auf eine Modalität kann die Symptomatik verfälschen.
Kontakte
Es bestehen enge Kontakte zu den umliegenden Rehabilitationskliniken, an denen nahezu
ausschließlich klinische Linguisten arbeiten, die an der linguistischen Abteilung der Johann
Wolfgang Goethe-Universität Linguistik, Neuro- und klinische Linguistik studiert haben.
Bad Camberg
Bad Schwalbach
Otto-Fricke-Krankenhaus, Lindenalleeklinik
Falkenstein
Bad Orb
Darüber hinaus besteht enger Kontakt mit der
Neurologie der Universitätsklinik (Prof. Dr. Steinmetz)
und
mit neurologischen Institutionen in der Türkei, insbesondere mit der Universitätsklinik der
Universität Hacettepe, Fachbereich Audiologie (Prof. Dr. Bilgin, Ankara)
Zur Diagnostik liegt eine Übersetzung des Aachener Aphasietests in das Türkische vor.
Darüber hinaus sind bereits Daten in der Türkei erhoben worden, die gegenwärtig ausgewertet
werden. Tendenziell zeigt sich, dass bestimmte Flexionsmorpheme (Person und Numerus)
störanfälliger sind als andere, so dass gerade eine Untersuchung von Kongruenz, wie o.a.,
besonders aufschlussreich sein sollte.
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Externe Kontakte:
Prof. Dr. M. Rothweiler, Dysgrammatismus-Projekt (türkische Kinder) im Rahmen des SFB
Mehrsprachigkeit an der Universität Hamburg
Prof. Dr. R. de Bleser: Neurolinguistik, Universität Potsdam
Prof. Dr. F.-J. Stachowiak, Universität Gießen
Literatur
Chomsky, N. (1981): Lectures on government and binding. Dordrecht: Foris
Chomsky, N. (1995): The minimalist program. Cambridge, MA.: MIT Press
de Bleser,R. & Bayer, J. (1991): On the role of inflectional morphology in agrammatism. In: Hammond, M. (Hrsg.):
Theoretical morphology: Approaches in modern linguistics. San Diego: Academic Press
Grodzinsky, Y. (1995a): A restrictive theory of agrammatic comprehension. Brain and Language 50, 27-51
Grodzinsky, Y. (1995b): Trace deletion, θ-Roles, and cognitive strategies . Brain and Language 50, 469-497
Hagiwara, H. (1995): The breakdown of functional categories and the economy of derivation. Brain and Language 50, 92116
Höhle, B. (1992): Morphosyntaktische Beeinträchtigungen in der Aphasie: Eine Untersuchung zur Produktion flektierter
Wortformen bei Broca- und Wernicke-Aphasikern. Tübingen: Niemeyer
Kornfilt, J. (2001): Functional projections and their subjects in Turkish clauses. In: Taylan, E. (Hrsg.): The verb in Turkish,
Linguistik aktuell. Bd. 44: Amsterdam
Müller, H.-G. (2000): Funktionale Kategorien und ihre Realisierung im Türkischen. Magisterarbeit. Universität Tübingen
Ouhalla, J. (1993): Functional categories, agrammatism and language acquisition. Linguistische Berichte 143, 3-36
Penke, M (1998): Die Grammatik des Agrammatismus. Eine linguistische Untersuchung zu Wortstellung und Flexion bei
Broca-Aphasie. Tübingen: Niemeyer
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