Psychotherapeutische Versorgung in Deutschland Prof. Dr. Rainer Richter 37. Jahrestagung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. Berlin, 1. - 3. Juni 2015 1 Übersicht 1. 2. 3. 4. 5. Begriffsbestimmung Ambulante Versorgung Stationäre Versorgung Psychische Erkrankungen: Häufigkeit und Behandlungsrate Aktuelle gesundheitspolitische Entwicklung 2 Was ist Psychotherapie? § Psychotherapie im Sinne des Psychotherapeutengesetzes ist die „Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist“ […] „mittels wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren“. § durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie wissenschaftlich anerkannte Verfahren: n Verhaltenstherapie n Psychodynamische Psychotherapie (umfasst analytische Psychotherapie und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) n Gesprächspsychotherapie n Systemische Psychotherapie 3 Was zahlt die GKV? § Durch den Gemeinsamen Bundesausschuss sozialrechtlich anerkannte psychotherapeutische Verfahren (RichtlinienVerfahren): n Verhaltenstherapie n Analytische Psychotherapie n Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 4 Tätigkeitsfelder von Psychotherapeuten Psychotherapeutische Praxis 22,1 Sonstige amb. Einrichtungen 4,6 5,6 Krankenhäuser Vorsorge-/ Rehaeinrichtungen 1,8 1,4 Sonstiges 0 5 10 15 20 25 30 in Tausend (Stand: 31.12.2012; Quelle: Bundespsychotherapeutenstatistik) 5 1. Die ambulante psychotherapeutische Versorgung 6 Psychotherapeuten in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung Psychotherapeuten und Nervenärzte in der vertragsärztlichen Versorgung 2014 955 1051 Kinder-­‐ und Jugendpsychiater Nervenärzte (Bedarfsplanungsgruppe) Fachärzte für PsychosomaIsche Medizin und Psychotherapie Ärztliche Psychotherapeuten mit Zusatzbezeichnung Kinder-­‐ und Jugendlichenpsychotherapeuten 4717 5747 2288 2573 2747 3240 3468 4648 14454 16664 Psychologische Psychotherapeuten 0 5000 Zählung nach Bedarfsplanungsgewicht 10000 15000 Personen Quellen: Kassenärztliche Bundesvereinigung, Statistische Informationen aus dem Bundesarztregister (31.12.2014) 7 Anteil der Psychotherapieverfahren an den behandelten Patienten in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung 2,4 Verhaltenstherapie 2,7 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie AnalyIsche Psychotherapie Mehrere Verfahren 44,7 50,2 PaIenten mit Beginn einer Psychotherapie in 2009 und abgeschlossener Psychotherapie bis 4. Quartal 2012; N=385.885 Quelle: Multmeier, 2014 8 Behandlungsfälle pro Quartal in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung Anzahl Fälle pro Quartal 1400000 1271078 1200000 1000000 969632 837545 800000 600000 400000 200000 0 31.12.2004 31.12.2009 31.12.2014 Quellen: Kassenärztliche Bundesvereinigung, Statistische Informationen aus dem Bundesarztregister (31.12.2014) Honorarberichte der KBV 9 Diagnosespektrum in der ambulanten Versorgung 10 2. Die stationäre psychotherapeutische Versorgung 11 Psychotherapeuten in der stationären Versorgung Stand: 31.12.2012; Quelle: Bundespsychotherapeutenstatistik, Bundesärztestatistik 12 Psychotherapeuten arbeiten in Krankenhäusern für .... 12% 88% Psychiatrie/PsychosomaIk/Kinder-­‐ und Jugendpsychiatrie/Gerontopsychiatrie/ Suchtmedizin/Forensik/Neurologie andere Fachrichtungen Quelle: Daten aus der Angestelltenbefragung der BPtK; N=1523 13 14 Diagnosespektrum in der stationären Versorgung 100% 90% 5% 2% 5% 1% 4% 4% 7% 11% andere 7% 3% 1% 6% Persönlichkeitsstörungen 80% 70% 8% 21% 6% 14% 7% Somatoforme Störungen 60% 50% Essstörungen 12% Anpassungsstörungen 18% 30% 40% 20% Unipolare Depressionen 10% 49% 30% 15 Schizophrene Erkrankungen andere substanzbezogene Störungen 10% 0% 1% 10% 25% 19% 8% Angststörungen einschl. F43.0 und F43.1 1% 3% 3% Alkoholstörungen Dementielle Erkrankungen Psychiatrie (KH) Psychosomatik (KH) Rehabilitation Psychiatrie: 412 Abteilungen / Krankhäuser; 53061 Betten; 746.000 Behandlungsepisoden Psychosomatik: 158 Abteilungen; 6228 Betten; 48.050 Behandlungsepisoden Rehabilitation: auf der Basis der Daten des DRV Bund Quelle: Statistisches Bundesamt 2008 3. Häufigkeit und Behandlungsdefizite psychischer Erkrankungen 16 12-Monats-Prävalenz psychischer Erkrankungen Quelle: Jacobi et al. in IJMPR 2014, eigene Darstellung. 17 Psychische Erkrankungen – Herausforderungen für eine leitliniengerechte Versorgung Depressive Störungen – eine Volkskrankheit: n Jeder 12. Bundesbürger leidet pro Jahr an einer unipolaren depressiven Störung (DEGS 2012: Bevölkerungsprävalenz von 8,2%) n Versorgungsprävalenz: 11,2% der GKV-Versicherten erhielten 2010 eine ambulante Diagnose unipolaren depressiven Störung, 7,9% erfüllen das M2Q-Kriterium für die Krankheit Unipolare Depression (BVA, 2012) n n n AU-Zeiten: ca. 12% aller AU-Tage in 2010 wegen psychischer Erkrankungen Krankengeld: 2 Milliarden € pro Jahr wegen psychischer Erkrankungen (Anteil von 25%) EU-Berentungen: 39 % der Neuberentungen wegen psychischer Erkrankungen à jährliche Kosten von 4 Milliarden € à Depressive Erkrankungen zentrale Ursache dieser Entwicklungen 18 Neuberentungen wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit nach Krankheitsgruppen von 1993 bis 2010 45,0% 40,0% 35,0% 30,0% 25,0% 20,0% Psychische Erkrankungen Muskeloskelettale Erkrankungen Herz-Kreislauferkrankungen Neubildungen 15,0% sonstige Erkrankungen 10,0% 5,0% 0,0% Quelle: DRV, 2011 19 13 Prozent der AU-Tage sind psychisch bedingt Anteile der wichtigsten Krankheiten an den AU-Tagen. Quelle: Berechnung der BPtK auf Basis der Angaben der AOK, BARMER-GEK, BKK, DAK und TK. 2015. 20 Psychische Erkrankungen führen zu den längsten Krankschreibungen Mittlere Dauer der Krankschreibung bei den wichtigsten Krankheiten. Quelle: Berechnung der BPtK auf Basis der Angaben der AOK, BARMER-GEK, BKK, DAK und TK. 2015. 21 Psychische Erkrankungen werden zu selten (angemessen) behandelt 12-Monats-Behandlungsraten bei 12-Monatsdiagnosen einer psychischen Erkrankung in % 30 25,5 27,5 25 21,9 20 15,8 10 14,1 13,3 15 9,2 Gesamt über alle Altersgruppen: Männer: 11,6% Frauen: 23,5% 4,5 5 0 Männer Quelle: Mack et al. (2014.) Frauen 18-34 35-49 50-64 12-Monatsbehandlungsraten: besonders niedrig für junge Männer und Ältere (65-79 Jahre) 65-79 22 Verteilung der leitlinienorientierten Behandlungsarten bei den untersuchten Subgruppen der Depressionsdiagnosen, 2011 Behandlungsart Subgruppen der Depressionsdiagnosen in Prozent mittelgradig, schwer & dysthym schwer chronisch 6 14 3 11 12 9 Ausschließlich Psychotherapie (ausreichend lange) 7 3 6 Ausschließlich Antidepressiva (ausreichend lange) 26 31 28 Ausschließlich Antidepressiva (nicht ausreichend lange) 18 16 17 Psychotherapie/Kombination (nicht ausreichend lange) 9 6 6 23 18 31 Stationäre Behandlung Kombinationsbehandlung (ausreichend lange) Keine Behandlung Quelle: BKK-Routinedaten (UKE & EHA, 2014)/Bertelsmann Faktencheck Depression 23 Lange Wartezeiten auf ein psychotherapeutisches Erstgespräch (Wochen) Schleswig-Holstein 14,6 Mecklenburg-Vorpommern 18,0 Bremen 8,8 Hamburg 8,4 Berlin 8,4 Niedersachsen 12,7 Sachsen-Anhalt 16,6 Nordrhein-Westfalen 13,8 Hessen 13,9 Thüringen 17,5 Rheinland-Pfalz 14,2 Saarland 15,2 Brandenburg 19,4 Sachsen 13,9 Bundesland Dauer bis Erstgespräch Schleswig-Holstein Hamburg Niedersachsen Bremen 14,6 8,4 12,7 8,8 Nordrhein / Westfalen-Lippe 13,8 Hessen Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg Bayern Saarland Berlin Brandenburg Mecklenburg-Vorpommern Sachsen Sachsen-Anhalt Thüringen Bund 13,9 14,2 11,4 9,3 15,2 8,5 19,4 18,0 13,9 16,6 17,5 12,5 Bayern 9,3 Baden-Württemberg 11,4 24 Wartezeit auf ein psychotherapeutisches Erstgespräch ist abhängig von Versorgungsdichte Quelle: Wartezeitenumfrage, BPtK, 2011 / Daten der KBV, 2014; eigene Berechnungen der BPtK. 25 Patienten in ambulanter Psychotherapie sind krank 26 Defizite im Versorgungsprozess von Menschen mit psychischen Störungen § Durchgeführte Behandlungen variieren kaum mit Schweregrad und Dauer der psychischen Störung à Unzureichende Orientierung an Leitlinien § Für die Behandlung von leichten Erkrankungen stehen psychotherapeutische oder psychoedukative Behandlungsverfahren geringerer Intensität und höherer Wirtschaftlichkeit (u.a. Gruppenpsychotherapie) kaum zur Verfügung Insgesamt zu geringe Behandlungsraten, gerade bei schweren psychischen Störungen Lange Wartezeiten auf eine fachpsychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung, auch bei schweren Verläufen § § § Schnittstellenprobleme zwischen stationärer und ambulanter Weiterbehandlung 27 4. Aktuelle politische Entwicklungen 28 Das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz u.a. § Befugniserweiterung für Psychotherapeuten (Verordnung von med. Reha, Krankentransporten, Krankenhausbehandlung, Soziotherapie) § Einrichtung einer psychotherapeutischen Sprechstunde § Überarbeitung der Bedarfsplanungs-Richtlinie § Anpassen der Verhältniszahlen und kleinräumigere Planung des Bedarfs, insbesondere für die Arztgruppe der Psychotherapeuten (Ziel: bedarfsgerechte und wohnortnahe Versorgung) 29 Psychotherapeutische Sprechstunde Leistungen der Psychotherapeutischen Sprechstunde à Erstuntersuchung und Anamnese à Orientierende Erstdiagnostik à Vorläufige Indikationsstellung à Verweis bzw. Überweisung zu einem bedarfsgerechten Versorgungsangebot (koordinative Leistungen) auf der Basis einer psychotherapeutischen Haltung (individualisiert, bedürfnisorientiert, Förderung der Selbstbestimmung des Patienten, verlässliches therapeutisches Beziehungsangebot) 30 Vielen Dank für die Aufmerksamkeit! 31