Was ist professionelle Psychotherapie? - psychotherapie

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Was ist professionelle Psychotherapie?
Dr. Martin Wendisch
–
- www.berlin-psychotherapie.de eine Internetpublikation Stand: Oktober 2007 –
„Denn ein Leben nur, ein einziges hat jeder. Es aber ist für Dich fast abgelaufen, und Du hast ihn ihm keine
Rücksicht auf Dich selbst genommen, so als ginge es bei Deinem Glück nur um die anderen Seelen. ... Diejenigen
aber, die die Regungen der eigenen Seele nicht aufmerksam verfolgen, sind zwangsläufig unglücklich.“
Marc Aurel „Selbstbetrachtungen“
1. Brauchen wir Psychotherapie?
2. Was ist Psychotherapie?
3. Ist Psychotherapie wirksam?
4. Was macht professionelle Psychotherapie aus?
5. Was ist ein wissenschaftlich anerkanntes Verfahren?
6. Negative Konsequenzen von Psychotherapie?
7. Angst vor Psychotherapie?
8. Biologische Grundlagen
9. Psychotherapie und Medikamente
10. Ein allgemeines Modell der Psyche und der Störungen
11. Das Zentrum einer guten Psychotherapie: Die emotionale
Schlüsselerfahrung
12. Wie wirkt Psychotherapie?
13. Was ist das Ziel von psychotherapeutischer Veränderung?
14. Was genau kann eine „Veränderung“ sein?
15. Unterschiede der anerkannten Psychotherapierichtungen
16. Ethisch-spirituelle Grundlagen der Psychotherapie
17. Literaturempfehlungen
1. Brauchen wir Psychotherapie?
Fakt ist, dass 70% aller Patienten die eine Arztpraxis aufsuchen, chronische
Erkrankungen haben, die entweder psychische Belastungsursachen oder
Belastungsfolgen haben. Insgesamt ca. 30-50% aller chronisch erkrankten Patienten
sind unabhängig von ihrer körperlichen Beeinträchtigung von einem klinischen
Ausmaß psychisch beeinträchtigt. Aber nur 8-10% von ihnen erhalten eine adäquate
psychotherapeutische oder psychosomatische Behandlung. Die übrigen Patienten
werden zu hohen Kosten somatisch behandelt und erleben eine weitere
Chronifizierung, weil die Ursachen nicht erkannt werden. Psychotherapie ist also als
Ergänzung zur medizinischen Behandlung notwendig. Insofern muss sie auch Teil der
Krankenbehandlung zu Lasten der Krankenversicherung sein.
Darüber hinaus kann sich eine Gesellschaft fragen, ob sie aus kulturellen Gründen
Psychotherapie braucht als Mittel der Bewusstseinsbildung und Förderung der
Selbstverantwortung in der Tradition der Aufklärung. Denn vor den
Psychotherapeuten lag die „Behandlung“ von seelischer Not in den Händen von
Priestern und Schamanen.
Fazit: Gerade aufgrund der somatischen Vereinseitigung der Medizin und des
Mangels an Zeit in der Berücksichtigung der psychosozialen Aspekte von
Erkrankungen wird die Psychotherapie immer bedeutsamer.
„Was ist professionelle Psychotherapie?“
© Dr. Martin Wendisch 2007
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2. Was ist Psychotherapie?
Psychotherapie ist (im Unterschied zur rein medizinischen Behandlung) eine
Behandlung von Beeinträchtigungen/Krankheiten mit psychologischen Mitteln auf der
Grundlage der Psychologie. Psychologische Mittel sind Kommunikation und darauf
aufbauende Methoden.
Psychotherapie dient der Klärung und emotionalen Verarbeitung von
Belastungsfaktoren (Krankheit, Stress, traumatische Erfahrungen) und
Beeinträchtigungen (Störungen) durch professionelle Diagnostik und
Gesprächsführung und der Vermittlung von Bewältigungserfahrungen (durch
Methoden wie z.B. Entspannungstherapie, imaginativer Bewältigung, Rollenspiele).
Psychotherapeuten sind Experten für Kommunikation, Beziehungskonflikte,
psychologische Diagnostik und Methoden, und für Krankheits- und
Stressbewältigung.
Im Unterschied dazu dient eine Beratung der kurzfristigen aktuellen Unterstützung;
und eine Krisenintervention dient der Überbrückung eines aktuellen
Ausnahmezustandes. Eine psychosomatische Behandlung kann entweder als
Basisversorgung durch einen Arzt stattfinden (Medikamente plus Gespräche) oder als
Psychotherapie durch die Kooperation von Arzt (Haus- oder Facharzt) und
Psychotherapeut.
Eine andere Darstellung aufbauend auf der bekannten Definition von STROTZKA
findet man unter http://de.wikipedia.org/wiki/Psychotherapie.
Fazit: Psychotherapie ist Behandlung von Beeinträchtigungen mit psychologischen
Mitteln.
3. Ist Psychotherapie wirksam?
Psychotherapie ist inzwischen in ihrer Wirksamkeit mindestens so gut belegt und
erforscht wie die meisten medizinischen Therapien. An über 80 000 Patienten konnte
inzwischen nachgewiesen werden, dass jede finanzielle Ausgabe für Psychotherapie
hinsichtlich der Ausgaben für Medikamente, Krankenhausaufenthalte, Arztbesuche
und der Folgekosten bei Arbeitsunfähigkeit zwei- bis sechsmal wieder eingespart wird
(Grawe & Baltensperger 1999; Näheres unter http://www.bvvp.de/info/studien.htm).
Dabei hängt die Wirksamkeit sehr von der Chronizität und dem Ausmaß der
Beeinträchtigung ab, aber sie hilft meistens; auch wenn sie mit Nebenwirkungen
einhergehen kann (s. Angst vor Psychotherapie).
Fazit: Psychotherapie ist in der Gesamtwirkung hochgradig wirksam!
4. Was macht professionelle Psychotherapie aus?
Professionelle Psychotherapie bedient sich neben der menschlichen Alltagserfahrung
und fachlichen Berufserfahrung auch wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie zeichnet
sich aus durch
• Abschluss eines Studiums und einer staatlich anerkannten Ausbildung mit
Approbation
• Persönliche Erbringung und Verantwortung der Leistung (der Therapeut steht
ein für sein Tun mit seiner Person)
„Was ist professionelle Psychotherapie?“
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Förderung der Selbstbestimmung und Schutz der Individualität des Patienten
(Abwesenheit jeglicher Manipulation des Patienten)
Individualität der Diagnostik und des Therapieplans (nicht die Methode
sondern der Patient steht im Vordergrund)
Bereitschaft zur ständigen Selbstreflektion des Therapeuten (Arbeit an der
eigenen Persönlichkeit und ständige Reflektion der Therapien)
Beachtung der Berufsordnung und ethischen Leitlinien des Berufsstandes:
insbesondere der Schweigepflicht und des Abstinenzgebotes, auch der
Fortbildungsverpflichtung und dem Kooperationsgebot mit anderen
Behandlern
Verwendung wissenschaftlich überprüfter Verfahren
Fazit: Wissenschaftlichkeit ist ein notwendiges aber kein ausreichendes Merkmal
professioneller Psychotherapie. Letztlich entscheidend sind die Güte der Ausbildung,
die Persönlichkeit des Therapeuten und die Bereitschaft des Therapeuten zur
Weiterentwicklung.
5. Was ist ein wissenschaftlich anerkanntes Verfahren?
Die Psychoanalyse ist das erste wissenschaftlich anerkannte Verfahren, aus dem
auch die tiefenpsychologische Therapie hervorgegangen ist. In der
Psychoanalytischen Therapie wird intensiv und überwiegend im Liegen und an
unbewussten Prozessen gearbeitet (also mehrstündig pro Woche auf der Couch) und
in der tiefenpsychologischen Therapie überwiegend im Sitzen und einstündig pro
Woche. Diese Therapien sind überwiegend auf einer geisteswissenschaftlichen
Grundlage durch Integration von Beobachtungen und Formulierung von Theorien im
Verlauf von Therapien entwickelt worden. Auf einer naturwissenschaftlichen
Grundlage (Verhaltensforschung) wurde die Verhaltenstherapie entwickelt: diese
arbeitet neben dem Gespräch im Sitzen unter Verwendung umschriebener Methoden
(z.B. Rollenspiele, Imaginationsarbeit, Biofeedback, Angstbewältigung,
Hausaufgaben, Entspannungsübungen, sexualtherapeutische Übungen). Inzwischen
gibt es jedoch neben der strikten Unterscheidung in die drei Verfahren nach den
Psychotherapierichtlinien eine Tendenz zur schulenübergreifenden Forschung und
Weiterentwicklung der Psychotherapie: z.B. in der Entwicklung von evidenzbasierten
Leitlinien, oder in der Entwicklung eines Modells der Allgemeinen Psychotherapie
nach GRAWE oder im Schematherapieansatz von Jeffrey YOUNG. In den Leitlinien
werden empirisch bewährte Methoden zusammengestellt. Im Ansatz der Allgemeinen
Psychotherapie werden störungsspezifische Leitlinien mit einem
störungsübergreifenden Prozess- und Behandlungswissen verbunden. Und im
Schematherapieansatz werden unterschiedlichste technische Arbeitsweisen mit
intensiver Biographie- und Beziehungsarbeit verbunden.
Alle drei Psychotherapieverfahren werden in verschiedenen Settings eingesetzt. Am
meisten verbreitet ist die Einzeltherapie. Die Therapie kann ganz oder teilweise auch
mit Bezugspersonen und Familien stattfinden (systemisches Setting), oder in der
Gruppe (Kleingruppen bis 4 oder Gruppen bis 10 Personen) durchgeführt werden.
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Es gibt folgende Kriterien für die Wissenschaftlichkeit einer Therapierichtung,
die auch im „Kommentar zu den Psychotherapierichtlinien“ von Faber & Haarstrick
(PTR) dargestellt werden:
• Die Entstehung von Krankheiten kann theoretisch schlüssig erklärt werden.
• Es gibt ein eigenes Diagnosesystem.
• Das Diagnosesystem erlaubt eine individuelle Diagnose.
• Aus der Diagnose ist die Therapie schlüssig ableitbar.
• Es wurden eigene Behandlungsmethoden entwickelt.
• Die Behandlungsmethoden haben sich nach statistisch-wissenschaftlicher
Überprüfung bei unterschiedlichsten Problemen als wirksam erwiesen.
Für alle in die Krankenversicherung neu hinzukommenden Verfahren (z.B.
Gesprächstherapie, Gestalttherapie, Systemische Therapie) gilt die Anforderung: Sie
sollten nicht nur für sich schlüssig und wirksam sein (wissenschaftliche
Anerkennung), sondern sie sollten wirksamer sein als die bereits anerkannten
Verfahren und einen spezifisch neuen Beitrag zur Behandlung liefern (sozialrechtliche
Anerkennung durch die Krankenkassen). Dadurch soll die Vielfalt von über 250
Therapiemethoden auf ein notwendiges Maß begrenzt und eine sozialrechtliche
Legitimationspflicht vorgegeben werden.
Um die Wissenschaftlichkeit wird auch in den anerkannten Therapierichtungen heftig
gerungen: In der Psychoanalyse war die theoretische Schlüssigkeit und Bewährung
am Einzelfall lange Zeit wichtiger als der Nachweis ihrer generellen Wirksamkeit; in
der Verhaltenstherapie ging der Nachweis der generellen Wirksamkeit lange Zeit
über die Schlüssigkeit und Gültigkeit ihrer Theorien. Daher wird von einigen
Forschern und Therapeuten die berechtigte Forderung erhoben, an einem
schulenübergreifenden Modell zu arbeiten, in dem alle Erkenntnisse aus über 100
Jahren Forschung in einer neutralen Sprache zusammengeführt werden. Das
Gelingen dieses Prozesses wird auch davon abhängen, ob eine wertschätzende
Zusammenarbeit gelingt und sich die Diskussion aus der gegenwärtigen Einengung
auf die möglichst schnelle Wirkung von möglichst kurzer Psychotherapie und aus
dem Kampf um knappe Mittel lösen kann. Patienten haben weniger ein Recht auf die
am schnellsten wirksame Therapie (dieses „Recht“ meint letztlich vor allem die
kürzeste Therapie), sondern vor allem ein Recht auf die zu ihren Beeinträchtigungen
individuell passende und die am nachhaltigsten wirksame Therapie. Denn eine zu
kurz greifende Therapie verlängert Leid ebenso wie eine jahrelange Therapie, die
sich nicht mehr an Zielen orientiert.
Fazit: Unter der Wissenschaftlichkeit eines Therapieverfahrens kann man sowohl die
Schlüssigkeit der verwendeten Begriffe im Rahmen einer Fachterminologie verstehen
(also die geisteswissenschaftliche Fundierung der Konzepte) als auch den Nachweis
der Wirksamkeit mit statistischen und biologischen Methoden (also die
naturwissenschaftliche Überprüfung der Übereinstimmung mit messbaren Fakten).
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6. Negative gesellschaftliche Konsequenzen von Psychotherapie?
Zu den negativen gesellschaftlichen Konsequenzen ist zu sagen: Sie sind selten aber
es gibt sie (z.B. Einstufung als Risikofall in der Kranken- oder Lebensversicherung;
Nachteile bei Scheidungs- oder Sorgerechtsprozessen; schlechtere berufliche
Perspektiven).
Primär gibt es aber einen breiten gesellschaftlichen Konsens für die Anerkennung von
Psychotherapie. Sie ist in Deutschland seit 1967 aufgrund wissenschaftlicher Prüfung
eine Leistung der Krankenkassen und seit 1999 sind Psychotherapeuten neben
Ärzten und Heilpraktikern auch als Heilberuf staatlich anerkannt.
In unserer von Technik und Ökonomie dominierten gesellschaftlichen Epoche
herrschen jedoch zwei Ängste bei den Kostenträgern bezüglich Psychotherapie:
1. Sie ist unkontrollierbar. 2. Sie ufert aus auf Kosten der Gesellschaft.
Tatsache ist erstens: Veränderungsprozesse sind nicht vorhersehbar und prinzipiell
unerschöpflich, sowohl in ihrer Qualität (Was sich ändert) als auch in ihrer Dauer
(Wie lange es braucht). Daher sollte Psychotherapie grundsätzlich begrenzt sein und
nicht zu einem ständigen Lebensinhalt werden. Und sie sollte sich einer
Begründungspflicht gegenüber der Öffentlichkeit unterwerfen, so lange die Mittel
dafür aus einer wirtschaftlichen Solidargemeinschaft stammen. Dabei sollte sie aber
der Individualität des Heilungsprozesses maximalen Spielraum gewähren, um die
Nachhaltigkeit der Heilung zu erreichen und diesen Prozess selbst nicht behindern.
Genau das geschieht aber z.B. in der stationären Psychotherapie. Teilweise werden
dort Behandlungsdauern auf drei Wochen verkürzt und es werden wöchentlich
Erfolgskontrollen und Berichte eingefordert; diese Maßnahmen werden als
„Qualitätssicherung“ bezeichnet, obwohl für die eigentliche Qualität gegenüber dem
Patienten immer weniger Zeit zur Verfügung steht.
In der ambulanten Psychotherapie werden für 80 Stunden Psychotherapie (VT) bis zu
viermal ausführliche Berichte des Therapeuten an einen Gutachter angefordert.
Trotzdem wächst auch hier der Druck, zusätzlich (!) umfangreiche Fragebogenbatterien vom Patienten ausfüllen zu lassen und permanente Zielkontrollen
durchzuführen. Kontrolle dominiert zunehmend die Selbstkontrolle und behindert das
notwendige Maß an Freiheit.
Hier haben sich Psychotherapeuten von Kostenträgern entmündigen lassen zu Lasten
wirklicher Qualität; eine Entwicklung wie sie auch in der Medizin geschieht. Der
bekannte Psychosomatiker Thure v. UEXKÜLL resümiert bereits, dass „aus der
Humanmedizin eine Veterinärmedizin“ geworden ist. Es ist nicht verwunderlich, wenn
Patienten diesen Druck ebenfalls zunehmend spüren. Hier gilt es die Balance zu
wahren, um einen Kollaps des therapeutischen Raumes durch Außendruck zu
verhindern.
Tatsache ist zweitens: Die Kosten für Psychotherapie machen in Deutschland 2% der
Gesamtkosten im Gesundheitswesen aus. Angesichts der psychotherapeutischen
Behandlungsbedürftigkeit von 30-50% aller Patienten, die eine Hausarztpraxis
aufsuchen ist für die Zukunft mit einem starken Zuwachs psychotherapeutischer
Behandlung zu rechnen, da die „sprechende Medizin“ (wie sie auch von Medizinern
genannt wird) in allen medizinischen Bereichen zu kurz kommt. Aber selbst wenn die
Kosten für Psychotherapie verfünffacht würden, würden sich Einsparungen ergeben:
Den Kosten von dann 10% würden vermutlich Einsparungen zwischen 20-30%
gegenüber stehen. Dieser wissenschaftlichen Erkenntnis steht die Haltung der
Krankenkassen entgegen: Denn jeder Leistungserbringer kostet Geld und Alle
müssen möglichst kostengünstig werden und ihre Anzahl begrenzt werden, damit
„Was ist professionelle Psychotherapie?“
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das System bezahlbar bleibt (das sogenannte „Rasenmäherprinzip“). Dass diese
Herangehensweise trotzdem die Kosten nicht verringern kann und Einsparungen am
falschen Ende zu Kostenexplosionen führen, ist bekannt.
Die teilweise negative Bewertung von Psychotherapie durch Behörden (z.B. bei
Einstellung/Beförderung von Beamten) ist absurd und undifferenziert. Die möglichst
frühe Inanspruchnahme von Psychotherapie kann Chronifizierung von Leid
verhindern. Der Einspareffekt ist zweifelsfrei nachgewiesen. Als Risikofaktor kann
man lediglich die Chronifizierung von Leiden ansehen und man sollte die frühe
Inanspruchnahme psychologischer Hilfen als sekundäre Vorbeugung begrüßen.
Ebenfalls sollte man prüfen, ob die Diskriminierung von Patienten, die sich ihrer
psychischen Belastung stellen, durch Versicherungen nicht sittenwidrig ist.
7. Angst vor Psychotherapie?
Obwohl Psychotherapie zunehmend als legitimes Mittel für die Bewältigung
gesundheitlicher Belastungen akzeptiert wird, haben einige Menschen Angst vor
einem solchen Schritt. Gründe dafür liegen vor allem in der Angst vor manipulativer
Beeinflussung, vor Abhängigkeit, vor raschen Veränderungen, vor negativer
Bewertung als „labil“ oder „gestört“ oder den möglichen gesellschaftlichen
Konsequenzen daraus.
Persönliche Ängste:
Es gibt auch eine verbreitete irrationale Angst vor „allem Psychischen“; dahinter
steckt meist die Angst vor allem Nicht-äußerlich-Wahrnehmbaren oder
Nichtkontrollierbaren. Auch in der Generationenfolge können sich Ängste
widerspiegeln: Die Nachkriegsgeneration „musste“ viel verdrängen und ist zumeist
auf den materiellen Wiederaufbau orientiert gewesen. Wünsche oder Traumata fielen
dem Schweigen zum Opfer. Nicht nur für diese Generation gilt: Eigene Wünsche und
belastende Erfahrungen können aus Angst vor stärkerer Beeinträchtigung durch
heftige Gefühle verdrängt werden.
Angst vor unprofessioneller Psychotherapie: Jeder hat schon einmal über
Erfahrungen von Personen gehört, denen zum Beispiel eine Trennung aus ihrer
Partnerschaft „nahegelegt“ wurde, die zur Durchführung bestimmter Methoden in der
Therapie „gedrängt“ wurden, denen es im Verlauf ihrer Psychotherapie „schlechter“
ging, die sich dauerhaft ihr Leben „ohne“ ihren Therapeuten nicht mehr vorstellen
konnten oder denen die Beendigung einer Psychotherapie durch Warnungen vor
weiteren Verschlechterungen erschwert wurde. Es lässt sich nicht leugnen: In der
Psychotherapie gibt es ebenso unprofessionelles Verhalten wie in allen anderen
Berufen. Dennoch sollte man Unprofessionalität nicht mit dem Standard der
Berufsausübung verwechseln. Es gibt Beschwerdestellen, an die man sich im Falle
unprofessionellen Verhaltens wenden kann. In den Psychotherapeutenkammern aller
Bundesländer oder in den Berufsverbänden sitzen unabhängige Kollegen und
Juristen, die Beschwerden sorgfältig prüfen und ggf. ahnden.
Angst vor den konkreten Konsequenzen: Da es aber kein Schwarz-Weiß gibt,
sondern viele Zwischentöne, sollte man ein paar Tatsachen klarstellen.
• Psychotherapie ist eine dosierte Beeinflussung im Sinne der Ziele des
Patienten! Diese Beeinflussung zielt aber nicht darauf ab, dem Patienten
Entscheidungen abzunehmen, sondern auf den Zuwachs der Möglichkeiten zur
Beurteilung der eigenen Lage. Man sollte diesen therapeutischen Einfluss
bejahen können.
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Psychotherapie kann (!) in bestimmten Fällen auch vorübergehend mit einem
Abhängigkeitsgefühl verbunden sein. Dies ist immer dann der Fall, wenn die
Therapie für den Patienten eine existenzielle Bedeutung hat. Der Therapeut ist
für den Umgang mit solchen Prozessen geschult, er forciert die Abhängigkeit
aber nicht und die Selbstbestimmung bleibt das oberste Ziel der Therapie.
Man sollte also bewusst mit dieser Abhängigkeit umgehen und sie nicht
vermeiden wollen.
In jeder Therapie gibt es Spielregeln (z.B. zum Umgang mit Zeit und Geld,
Erreichbarkeit, Arbeitsweise, Kooperation beim Antrag an die Krankenkasse),
die am Anfang erläutert werden müssen. Hier gibt es eine Selbstverpflichtung
des Patienten und des Therapeuten (Behandlungsvertrag). Es darf aber kein
Zwang ausgeübt werden, dass eine bestimmte Methode zum Einsatz kommt.
Zu jedem Zeitpunkt sollte das Einverständnis des Patienten bestehen und der
Patient sollte sich ausreichend informiert fühlen.
Therapie kann auch vorübergehend mit Verschlechterungen des Befindens
verbunden sein, obwohl meistens relativ schnell das Gegenteil der Fall ist.
Dies ist dann der Fall, wenn unangenehme Erinnerungen auftauchen, die
gewohnte Sichtweisen in Frage stellen. Veränderungen können mit einem
Verlust des Sicherheitsgefühls verbunden sein, erst danach setzt eine neue
Orientierung und eine neue Sicherheit ein.
Was brauchen Patienten, um diese Angst zu überwinden? Es ist das, was sie von
einem guten Psychotherapeuten erwarten: Präsenz, Verständnis und aktive
Anteilnahme, Erfassen der Bedürfnislage, Vertrauen in die Selbstheilungskräfte,
Interesse, Zeit und Raum für Auseinandersetzungen, Ehrlichkeit, Selbstbestimmung
lassen, Gelassenheit, Wertschätzung und ernst genommen werden, Transparenz
hinsichtlich Vorgehen und Menschenbild, emotional bedeutsame Einsichten,
Hilfestellungen ggf. über das Gespräch hinaus durch den Einsatz von
psychologischen Methoden.
Fazit: Psychotherapie ist ein Sich-Einlassen auf eine neue Erfahrung! Hier gibt es
ebenso Angst vor unprofessionellem Verhalten als auch vor persönlichen
Veränderungen. Die Erfahrung in einer Psychotherapie kann je nach den
Bedürfnissen des Patienten existentiell sein, wenn der Heilungsprozess an die
Fundamente der Lebenserfahrung geht. Sie kann dann auch vorübergehend
verunsichernd sein. Immer zielt sie jedoch auf einen Zuwachs an Selbsterkenntnis,
Selbstakzeptanz und Selbstbestimmung: also auf ein Wachstum der gesunden
Möglichkeiten!
8. Biologische Grundlagen
Der Mensch kann bei grober Unterscheidung in drei Perspektiven gesehen werden:
aus der biologischen (Körper), aus der psychologisch-mentalen (Seele) und aus der
sozial-kulturell-geistigen (Gesellschaft – Geistiges Leben). Hierauf ruht die moderne
bio-psycho-soziale Sichtweise vom Menschen. Der Mensch sollte nicht auf eine der
drei Ebenen reduziert werden. Psychotherapie muss alle drei Ebenen je nach den
Erfordernissen des einzelnen Patienten berücksichtigen; vor allem wenn Krankheiten
auf der biologischen Ebene vorliegen. Darüber hinaus kann man aber mit
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zunehmenden Erkenntnissen aus der Hirnforschung feststellen, dass Psychotherapie
immer auch mit Veränderungen im Gehirn verbunden ist.
Hier einige interessante Erkenntnisse:
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Der grundlegende Vorgang der emotionalen Einfühlung eines Menschen in einen anderen wird
z.B. durch spezielle Nervenstrukturen begünstigt: die hochspezialisierten Spiegelneurone. Auf
beiden Seiten kommt es durch diese Strukturen zu einer raschen Erregungssynchronizität.
Wichtige emotionale Erlebnisse setzt das Gehirn aus zwei unterschiedlichen Teilen zusammen:
Die Sachinformation holt es aus dem Hippocampus, die dazugehörigen Gefühle von der
Amygdala. Genau in diesen Regionen des limbischen Systems sitzen auch die meisten
Rezeptoren für Stresshormone. Überfluten die Hormone das Gehirn und docken in
Hippocampus und Amygdala an, verhindert dies das Zusammenfügen der Erinnerung.
Emotionales Lernen vor allem in den ersten beiden Lebensjahren geschieht subkortikal und
damit unbewusst in tieferen Hirnstrukturen, in denen auch Furcht entsteht. Erlebnisse können
deshalb heftige emotionale Reaktionen in uns wecken, ohne dass wir wüssten, warum wir
fühlen, wie wir fühlen.
Frühkindliche Erinnerungen werden ausschließlich vom impliziten (unbewussten) Gedächtnis
gespeichert. Sie werden deshalb nicht bewusst erinnert und können dennoch unser späteres
Leben maßgeblich überschatten, obwohl wir uns ihrer nicht erinnern.
Sobald reifere Hirnstrukturen (Frontallappen des Cortex) ausgeschaltet sind, gewinnt ein
primitives Wunschdenken die Dominanz über die Gedanken. Tiefere Hirnstrukturen sind eng
an primitive Bedürfnisse gekoppelt. Auf jener tiefen geistigen Organisationsebene, die Freud
das "Es" nannte, ist die funktionelle Anatomie und Chemie unseres Gehirns nicht wesentlich
von derjenigen von Tieren verschieden.
Die moderne Hirnforschung hat eine ganze Reihe von Instinktsystemen im Säugerhirn
identifiziert. Das Hormon Dopamin, das als "Belohnungssystem" des Gehirns bekannt ist, birgt
bemerkenswerte Ähnlichkeiten zu Freuds "Libido". Die emotionale Wertigkeit, die es Objekten
beimisst, richtet sich allein nach dem erreichbaren Maß der Befriedigung. Kokain wie die
meisten Suchtmittel wirken massiv auf das Belohnungssystem und sind in hohem Maße an
Sucht und Abhängigkeit beteiligt. Auch bei Schizophrenie, manischer Depression oder
Hyperaktivität spielt es eine Rolle. Entsprechend greifen viele Neuropharmaka in dieses
System ein. Die meisten antipsychotischen Mittel beispielsweise blockieren die DopaminÜbertragung, Antidepressiva regen sie an.
Mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomografie lässt sich erkennen, dass die Wirkung
psychotherapeutischer Intervention in der Intensität derjenigen von Medikamenten durchaus
ähnelt. Tomografie-Studien bei Depressionskranken (mit geschrumpftem Hippocampus und
gehemmtem cingulären Cortex: dem Konfliktmotor des Gehirns) haben gezeigt, dass sich mit
Überwindung der Depression im Verlauf einer Psychotherapie das Gehirn wieder erholt.
Träume und REM-Schlaf (Schlaf mit raschen Augenbewegungen) sind kontrolliert von
verschiedenen neuronalen Mechanismen. Träume werden erzeugt von neuronalen
Netzwerken des Frontalhirns, die eng verwoben sind mit Instinkt-Kontrollsystemen. Das
Belohnungssystem des Gehirns fungiert als Traumgenerator. Somit sind Träume mit den
Grundbedürfnissen gekoppelt. Diese Netzwerke spielen auch eine zentrale Rolle bei
Wahnideen, die viele formale Eigenschaften mit den Träumen teilen.
Aus der Neurobiologie wissen wir, dass man Erfahrungen nie löschen kann Es nützt nicht viel,
wenn man 'nur' die Lebensgeschichte rekonstruiert. Nimmt man neurowissenschaftliche
Ergebnisse ernst, dann muss ein Patient seine Konflikte wieder erleben und eine neue
emotionale Erfahrung machen. Dadurch kann sich ein neues, korrektives neuronales Netz
bilden.
Bei traumatischen Erlebnissen verschwinden oft nur die Erinnerungen an deren Details. Es
bleibt das Gefühl: "Da ist irgendetwas Schreckliches." Ein Detail kann die Erinnerung an dieses
Trauma aktivieren und damit Stresshormone, die durch Andocken an limbische Nervenzellen
die komplette Erinnerung blockieren. Für die Hirnforschung ist dies der Nachweis einer
neurochemischen Zündschnur, die vom Kleinkindgehirn direkt in die Gegenwart des
Erwachsenen führt. Dazu der Hirnforscher Mark Solms*: "Wir brauchen unsere Erinnerung,
auch wenn sie kaum zu ertragen ist. Wenn wir nicht wissen, woher unsere Gefühle kommen,
können wir keine Lösung finden."
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Fazit: Aus den biologischen Grundlagen ergibt sich eine Hierarchie psychischer
Strukturen mit einer Dominanz grundlegender Instinkte und Bedürfnisse. Sie zeigen
zudem die Bedeutung emotionaler Erfahrungen und Erinnerungen auf.
Neurochemisch erweist sich, das grundlegende Erfahrungen ständig unbewusst
präsent sind und die im Alltagsverstand sinnvolle Unterscheidung zwischen
Gegenwart und Vergangenheit dadurch an Bedeutung verliert. Und es erweist sich
die Tatsache, dass Psychotherapie mit Veränderungen der Hirnstrukturen und des
Körpers verbunden ist. Jedenfalls dann, wenn neue emotionale Erfahrungen gemacht
werden.
Die subtilste Analyse neuronaler Vorgänge sagt jedoch absolut nichts aus über die
subjektive Seite der menschlichen Erfahrung, außer das diese Seite ernst genommen
werden muss und mit objektiven Veränderungen verbunden ist. Die subjektive Seite
erschließt sich nur im Gespräch.
9. Psychotherapie und Medikamente
Aus dem Vorangegangenen wird deutlich, dass Medikamente eine sinnvolle
Ergänzung zu einer Psychotherapie darstellen können. Vor allem in der Anfangsphase
und bei stärkerer Beeinträchtigung durch emotionale Befindlichkeiten kann der
Einsatz von Medikamenten einen Einstieg erleichtern und die Aufnahmebereitschaft
des Patienten für Psychotherapie erhöhen. Kombinationen von Psychotherapie mit
Medikamenten steigert im statistischen Mittel die Wirksamkeit, je schwerer die
aktuelle Beeinträchtigung ist. Allerdings sollte bei nicht erheblich chronifizierten
Erkrankungen die Medikation im Verlauf abgesetzt werden, damit der Patient die
neuen Erfahrungen auch vollständig der eigenen Lernfähigkeit und der Kraft der
neuen Erfahrungen zuschreibt (der Selbstwirksamkeit) und nicht dem Medikament.
Psychopharmaka am Ende einer Psychotherapie können sogar das Rückfallrisiko
erhöhen.
10. Ein allgemeines Modell der Psyche und der Störungen
Mit dem Zeitpunkt seiner Zeugung tritt der Mensch ein in einen interaktionellen
Seinszustand und ist auf Bindungen angewiesen. Er bringt genetische Anlagen und
individuelle Strukturen/Reaktionsbereitschaften (Temperament) mit, die darüber
entscheiden wie er auf seine Umwelt reagiert. Speziell als Säugling bzw. Kleinkind
(bis 4. Lebensjahr) ist er unmittelbar abhängig von Menschen, die ihm für seine
Bedürfnisse, die sich in seinem Verhalten ausdrücken, ein passendes Gegenüber
bieten. Er sucht Kontakt/Bindung, d.h. nur in der Interaktion mit einem passenden
Gegenüber kann das damit verbundene Bedürfnis adäquat befriedigt werden. Unsere
Gedanken- und Gefühlswelt bildet sich an den Erfahrungen heraus, die wir mit der
Befriedigung unserer Bedürfnisse machen. Wissenschaftlich gesehen heißt das:
Motivationstheorie, Bindungstheorie und Persönlichkeitstheorie sind eng miteinander
verbunden, was auch eine schlüssige Theoriebildung durch die in der Psychologie
üblicherweise getrennte Betrachtung bisher sehr erschwert hat.
Kurz:
Temperament Bedürfnisse BindungserfahrungenPersönlichkeit
Die Erfahrungen mit der Befriedigung von Bedürfnissen werden im Gedächtnis als
„Was ist professionelle Psychotherapie?“
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Muster (innere Repräsentanzen oder Schemata) abgelegt. Komponenten dieser
Schemata sind Gedanken, Bilder, primäre und sekundäre Gefühle,
Körperempfindungen, Verhaltensmuster. Diese können mikroanalytisch erfasst
werden:
Kognitionen (mit Imaginationen) / Emotionen / Physiologie / Verhalten
Dabei kann immer nur das erfasst werden, was explizit (mit oder ohne Hilfe des
Therapeuten) verbalisierbar ist. Der „Rest“ (nach Meinung vieler Forscher zwischen
70-95%) ist implizit und damit unbewusst und kann nur in emotionalen
Krisensituationen aktiviert und bewusst gemacht werden. Zudem werden
Erfahrungen in unterschiedlichen zugänglichen Gedächtnisstrukturen abgelegt
(Prozedurales G., episodisches G., Körpergedächtnis, Traumagedächtnis, etc.).
Die Persönlichkeit eines Menschen strebt grundsätzlich nach dem Überlebensprinzip
nach Übereinstimmung mit sich selbst (Konkordanz/Identität/Selbstwahrnehmung)
und
nach
Übereinstimmung
mit
der
äußeren
Wirklichkeit
(Kongruenz/Anpassung/Realisierung von Bedürfnissen). Nach dem Konzept von
GRAWE (1998) strebt er nach größtmöglicher Spannungsreduktion und einer Balance
von beidem (Konsistenz). Anders formuliert: Er steht in einem Spannungsfeld
zwischen Stabilität und Lebendigkeit. RIEMANN (1990) spricht hier in seinem
Klassiker „die Grundformen der Angst“ von zentrifugalen Kräften (zum SELBST) und
zentripetalen Kräften (zum ANDEREN, zur WELT), die beide das Leben ausmachen.
Jeder Mensch trägt in sich ein tiefes Wissen um das, was er für seine optimale
Entwicklung und Entfaltung braucht. Hierzu gehören ganz wesentlich unsere
Grundbedürfnisse nach Platz, Nahrung, Schutz, Unterstützung und Begrenzung. Der
infantilen Sexualität kommt die Bedeutung der Bindungssicherung und der Bildung
des Urvertrauens zu (körperliche Nähe, Sicherheit). Der erwachsenen Sexualität
kommt die Bedeutung der Arterhaltung zu (Fortpflanzung, Intimität). Später kommen
weitere Bedürfnisse hinzu; z.B. nach Kontrolle, Anerkennung,
Autonomie/Selbstbehauptung.
Die Befriedigung von Grundbedürfnissen ist für die Erhaltung psychischer Gesundheit
elementar. Ein Beispiel für die Reihenfolge wichtiger Bedürfnisse im Leben eines
Menschen gibt MASLOW mit seiner „Bedürfnispyramide “. Im Folgenden sollen in
Anlehnung daran wichtige Bedürfnisse benannt werden, die in Psychotherapien eine
Rolle spielen. Dabei kann man die ersten drei Bereiche als lebensnotwendige
Grundbedürfnisse bezeichnen. Alles Spätere gehört zum gesunden Wachstum einer
Person.
Grundbedürfnisse
Bedürfnispyramide (modifiziert nach MASLOW)
Körperliche
Bedürfnisse:
Sicherheit:
Atmung, Wärme, Trinken, Essen, Schlaf, Sexualität,
Bewegung, Ruhe.
Selbstvertrauen/Selbstwert, Verlässliche Bezugspersonen, Wohnung, festes Einkommen,
Gesundheit, Ordnung, Begrenzung/Kontrolle.
Soziale Beziehungen: Zugehörigkeit, Vertrauen, Intimität, Kommunikation
und Fürsorge.
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Wachstumsbedürfnisse
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Soziale Anerkennung: Wertschätzung, Status, Wohlstand, Geld, Macht,
Karriere, Sportliche Siege, Auszeichnungen,
Statussymbole und Rangerfolge.
Selbstverwirklichung: Autonomie, Selbstbehauptung, Individualität,
Talententfaltung,
Güte,
Geistige
Orientierung/Werte, soziale Verantwortung.
Transzendenz/Sinn:
sich als Teil eines größeren Ganzen
erleben/erkennen
Werden vor allem die Grundbedürfnisse in unserer frühen Entwicklung in
ausreichender Weise befriedigt (sie finden ein passendes Gegenüber), so erfahren
wir sie und ihren Ausdruck als legitimen und selbstverständlichen Teil unserer
Person. Wir lernen dadurch auch in unserem späteren Leben gut für uns zu sorgen
und unsere Beziehungen in befriedigender Weise zu gestalten. Dazu gehört auch ein
adäquater Umgang mit Kränkungen und Konflikten und die Fähigkeit zum Verzeihen
und zum Kompromiss.
Überwiegen in unserer frühen Lerngeschichte jedoch negative Erfahrungen (es gab
keine passende Reaktion auf unsere Bedürfnisse in für uns ausreichender Weise,
sondern eher inadäquate, oder sogar grenzüberschreitende, uns schädigende
Interaktionen), dann entstehen daraus tiefe Gefühle von Frustration, Resignation,
Angst und/oder Aggression. Beispiele für verletzte Bedürfnisse sind: Alleinsein/
Trennung, Geringschätzung, Erniedrigung/Blamage, Vorwürfe/Kritik, Abhängigkeit/
Autonomieverlust, Verletzungen/Missachtung, Schwäche/Kontrollverlust, Hilflosigkeit,
Versagen.
Nicht jede (pathogene) Verletzung von Grundbedürfnissen führt zu einer Störung.
Entscheidend ist, wie weit daneben noch (salutogene) schützende und
vertrauensvolle Einflüsse vorhanden sind und wie die eigenen inneren
Bewältigungsmöglichkeiten ausgeprägt sind, um einen verletzenden Einfluss
auszugleichen.
Überwiegen die Beeinträchtigungen und Belastungen, dann kann es in einer
konkreten Situation zur Ausprägung von Störungen kommen. Die Analyse dieses
Prozesses im Einzelfall ist Teil einer Biographischen Anamnese und Makroanalyse.
Kurz:
Beeinträchtigung der Persönlichkeit (Strukturaspekte)
Belastung/Beziehungskonflikte Störung/SymptomatikChronifizierung
Kommt es in der Biographie zu einer gestörten Entwicklung (Beeinträchtigung), dann
kann man verschiedene Stufen voneinander unterscheiden:
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Grad der Beeinträchtigung der Persönlichkeit
Persönlichkeitsbereich
Störungslevel
(prä-)
Psychotischer Level
Verletzung der Bedürfnisbefriedigung
Massiver Mangel an Bindungen und Möglichkeiten
sich und die Wirklichkeit wahrzunehmen (chronische
Reizarmut oder chronische Reizüberflutung); evtl.
genetische Vorbelastung der Reizverarbeitung
Borderline-Level
Massive dauerhafte Verletzung des Körpers/der
Sicherheit (instabile Umgebung oder instabile
Beziehungen und mangelndes Selbstvertrauen)
Narzistischer Level
Dauerhafte spezifische Verletzung des
Selbstvertrauens (chronische Missachtung,
emotionale Vernachlässigung oder Instrumentalisierung der Person)
Leichte
Dauerhafte Konflikte in frühen (d.h. prägenden)
Persönlichkeitsstörung sozialen Beziehungen (in der Regel in der Familie:
(neurotischer Level)
z.B. wenig beachtet werden, chronisch überfordert
sein)
Zwischen diesen dauerhaft vorhandenen Leveln liegen atmosphärische „Welten“, die
das therapeutische Geschehen dominieren und die die konkreten therapeutischen
Prozesse sehr stark voneinander unterscheiden. Die Kernthemen dieser Level und die
Konsequenzen in der Behandlung kann man folgendermaßen benennen:
Störungslevel
(prä-)
Psychotischer Level
Borderline-Level
Narzisstischer Level
Leichte
Persönlichkeitsstörung
(neurotischer Level)
Kernthema und Behandlungstechnik
Orientierungverlust
Medikamente und äußere einbindende Struktur notwendig
Zersplitterung des Selbst und Auflösung in emotionale
Zustände, Identitätsdiffusion (oszillierende Schemata)
Lange Psychotherapie und supportive Stützung erforderlich
Verletztes Selbstwertgefühl und ausgeprägtes Schutzselbst
(kindliche und erwachsene Selbstanteile sind unverbunden)
Ausgeprägte Wertschätzung und Konfrontation mit dem
Schutz des „wahren“-verletzlichen Selbst durch das
Schutzselbst (unbewusste Schutzstrategien) erforderlich
Chronische Konflikte mit Inbalancen in der Lebensführung
„normale“ empathische Psychotherapie mit Wahrnehmen,
Benennen, Anerkennen und Bewältigen der Konflikte
Am häufigsten kommen die unteren beiden Störungslevel vor: Wir Menschen
verinnerlichen aufgrund schwieriger Bindungserfahrungen die Grundüberzeugung,
dass bestimmte Bedürfnisse – Teilaspekte der Persönlichkeit- nicht in Ordnung sind bis hin zur Abspaltung der damit verbundenen Gefühle aus dem Bewusstsein - und
verhindern oft deren Befriedigung durch unsere eigene negative innere
Erwartungshaltung oder indem wir uns als Person mit der Nichtbefriedigung
abfinden. Unsere Wahrnehmung ist sensibilisiert für emotionale Schlüsselsignale z.B.
einer möglichen Ablehnung, auf die wir meist weitaus stärker reagieren als auf
positive Signale, die die Möglichkeit der Befriedigung in sich bergen. Zugleich spüren
„Was ist professionelle Psychotherapie?“
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wir in uns aber den Schmerz einer tiefen ungestillten Sehnsucht oder im Falle der
Nicht-Wahrnehmung eine tiefe Leere oder Desinteresse oder wir spalten diese
Sehnsucht ab und entwickeln ein Schutzselbst, an das wir glauben und das wir
Anderen präsentieren, um scheinbar mehr Chancen auf Befriedigung zu haben.
Wir entwickeln daraufhin indirekte Beziehungsstrategien zur Befriedigung oder
Vermeidung unserer Bedürfnisse (Problematische Interaktionen; emotionale
Vermeidungsstrategien) und spezifische Phantasien/Vorstellungen über uns selbst,
die Welt und Andere (strukturelle kognitive Annahmen). Das Gesamtmuster aus
diesen primären Strategien und Annahmen macht unsere Persönlichkeit aus und ist
uns nur zum geringen Teil bewusst. Auf dem narzisstischen Level sind die
entsprechenden Anteile der Persönlichkeit unverbunden, sodass der Betroffene
entweder keinen Kontakt zu seinem verletzten Selbst hat oder in der Krise hilflos
zwischen verletztem Selbst und erwachsenem Schutzselbst schwankt, ohne eine
Bewältigung zu finden oder den inneren Zustand (z.B. Schwanken zwischen Wut und
Schmerz/Sehnsucht) auch nur beschreiben zu können. Es besteht entweder
Verzweiflung oder Verleugnung.
Auf dem neurotischen Level kann er den Konflikt beschreiben, ihn aber nicht lösen
(z.B. ich weiß dass ich Nähe nicht leben kann ohne mich zu verlieren; ich kann es
aber nicht ändern“). Zur Kompensation dieses Konfliktes werden dann z.B. zur
Nähevermeidung zwanghafte oder histrionische Beziehungsstrategien entwickelt.
Reichen diese Strategien zur Befriedigung der Bedürfnisse nicht mehr aus, dann kann
es unter akuten Belastungen zusätzlich zu Störungen/Symptomen kommen, die als
Symptomstrategien zur Befriedigung oder Vermeidung weiterer Verletzungen
angesehen werden können.
Grade der Beeinträchtigung durch Störungen
Smptombereich
Störungslevel
Trauma
Chronische
Symptome
vorübergehende
Symptome
Verletzung der Bedürfnisbefriedigung
Massive punktuelle Verletzung des Körpers/der
Sicherheit
Chronisch erlebte Belastungen mit längeren
Beeinträchtigungen, wie z.B. psychosomatische
Beschwerden, Depression, Phobie, Zwänge, Sucht
(länger als 6 Monate - viele Jahre)
Massiv erlebte äußere Belastungen wie z.B.
Trennung, Kündigung, Krankheit, (Symptome kürzer
als 6 Monate)
Symptome oder Beziehungsprobleme werden zwar oft als STÖRUNG erlebt, haben
aber immer eine wichtige FUNKTION: eine Schutzfunktion (vor erneuten negativen
Erfahrungen) und eine bedürfnisbefriedigende Funktion (Befriedigung verletzter
Grundbedürfnisse). Eine einfache Grippe kann mich vorübergehend davor schützen,
mich zu überfordern und kann ein verletztes Grundbedürfnis nach Ruhe und
Fürsorge befriedigen. Eine Depression kann mich davor schützen, mich erneut
enttäuschen/kränken zu lassen und ein Bedürfnis nach Autonomie/Rückzug
befriedigen.
„Was ist professionelle Psychotherapie?“
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Das Trauma nimmt eine Sonderstellung ein. Es ist nicht nur Auslöser von Störungen
(der Traumatisierung), sondern auch Auslöser für längere Beeinträchtigungen der
Persönlichkeit, wenn es früh und schwerwiegend war (d.h. innerfamiliär, mit Gewalt
verbunden, ggf. die Entwicklungsmöglichkeiten einschränkend). Es kann die
Grundlage jeder Störung sein. Traumatisierungen sind unverarbeitete Erfahrungen,
die das Grundgefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen massiv
beeinträchtigen. Dabei sind die Grenzen zwischen Traumatisierung und emotional
beeinträchtigender Erfahrung fließend. In der Bewältigung von Traumata oder
Kränkungen geht es weniger um die „neue“ Erfahrung als um ein Aufheben der
inneren Isolation durch das Erlebte und eine Akzeptanz: Die nachträgliche
Verarbeitung dieser Traumata führt zu einer Nachverarbeitung des Erlebten und zu
einer Wiederherstellung eines neuen Gefühls der Verbundenheit und des Vertrauens.
Sowohl das Selbstvertrauen als auch das Vertrauen Beziehungen wird
wiederhergestellt. Allerdings geht es nicht um die Wiederherstellung eines
ursprünglichen Zustands der Unversehrtheit, sondern um ein bewusstes Umgehen
mit dem Gefühl der eigenen Verletzlichkeit und der Erfahrung von Ohnmacht.
Wir gehen als Psychotherapeuten davon aus, dass wir die beeinträchtigenden
Vorerfahrungen nicht ungeschehen machen können. Es ist aber möglich, sie mit
Unterstützung von schützenden, haltenden und unterstützenden Personen in
befriedigender Weise emotional neu zu verarbeiten und durch heilende
Gegenerfahrungen zu relativieren: z.B. Gefühle besser äußern, sich abgrenzen
können, verzeihen können, sich mit dem Erlebten nicht mehr so isoliert zu fühlen.
11. Das Zentrum einer guten Psychotherapie: Die emotionale
Schlüsselerfahrung
Traumata und emotional beeinträchtigende Erfahrungen stehen psychotherapeutisch
im Mittelpunkt. Die aktuelle Aufmerksamkeit einer Person ist oft an unverarbeitete
emotionale Erfahrungen (vor allem an unverarbeitete Ohnmachtserfahrungen)
gebunden und steht gegenwärtig daher nur begrenzt zur Verfügung. Weitaus
häufiger als Traumatisierungen durch einzelne Erlebnisse sind sich wiederholende
Erfahrungen mit frustrierendem oder verletzendem Charakter: Schlüsselerfahrungen.
Solche Erfahrungen prägen nicht nur die Persönlichkeit, sondern scheinen sich auch
später zu wiederholen, da eine Person bereits über ausgeprägte innere
Bereitschaften verfügt, eine Situation in beeinträchtigender Weise zu interpretieren
(neurotischer Level), oder sich Schutzmechanismen bis hin zur Entwicklung eines
schützenden Schein-Selbst (narzistischer Level) oder zur Aufgabe des Selbst
(Borderline Level) zugelegt hat, um bestehen zu können und Stabilität zu wahren.
Unbewusst stellt man die Situation her, vor der man am meisten Angst hat, weil man
sie am meisten erwartet. Oder man vermeidet die Situation um den Preis einer
Einschränkung der Persönlichkeit und der eigenen Lebendigkeit: man geht sozusagen
in die phobische oder depressive Position. Wenn man Glück hat, erlebt man keine
Störung. Zerbricht aber der Schutz durch äußere Veränderungen, dann wird die
Veränderung zum Auslöser für eine Störung. Im Verlauf der Therapie kann das
Schlüsselerlebnis, um das sich alles dreht klar werden: z.B. „Ich werde allein
gelassen.“ „Ich bin nichts wert, wenn ich schwach bin.“ „Ich kann mich nicht
wehren.“ „Ich bekomme nie den Rückhalt den ich brauche.“ Im Zentrum einer
beeinträchtigten Persönlichkeitsentwicklung und einer Störung stehen meist eine
oder mehrere Schlüsselerfahrungen, die ständig die aktuelle Wirklichkeit zu
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„infizieren“ drohen und sich wie ein alter Film über den aktuellen Film legen. Uralte
mächtige Gefühle und Ohnmacht brechen durch, die in Verbindung mit den heftigen
Körperreaktionen („sensory signature“) als viel wahrhaftiger erlebt werden als die
aktuelle Realität; manchmal besteht ein Gefühl für die „Übertriebenheit“ und
Unangemessenheit der inneren Reaktionen, manchmal kann aber auch die
Unterscheidungsfähigkeit von innen und außen zusammenbrechen: „Jetzt ist es wie
immer“.
Folgende Merkmale sind für emotional belastende Erfahrungen typisch:
• Aufweichen der Grenzen zwischen innen und außen
• Verlangsamung des Zeiterlebens bis zum Stillstand
• Durch „Zeitlosigkeit“ auch Verlust der Unterscheidung Vergangenheit/
Gegenwart
• Primäre heftige Gefühle von Angst, Schmerz oder Wut (verletzter Anteil)
• Sekundäre Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit
• Heftige Körperreaktionen
• Drang zu handeln (Kämpfen, Flüchten) oder Erstarrung (Schutzanteil)
Auf dem neurotischen Level kann der Patient/die Patientin den Therapeuten/die
Therapeutin noch als Unterstützung wahrnehmen und unterscheiden, auf den
anderen Leveln wird der Therapeut jedoch selbst als Mit-Ursache des eigenen
Leidens erlebt (als Angreifer, Täter oder Quäler). Dementsprechend behutsam und
geduldig muss hier immer wieder Neutralität gewahrt bleiben (d.h. der Therapeut
sollte möglichst wenig selbst emotional reagieren), und die traumatisch erlebte
Schlüsselsituation und die eigenen Reaktionen (primäre und sekundäre Gefühle,
Gedanken, Empfindungen, Bilder/Phantasien, Abwehrreaktionen) müssen benannt,
wahrgenommen und anerkannt werden, bevor sie sich allmählich verändern können.
Eine solche Schlüsselepisode wird -im Fachjargon- „narrativ bearbeitet“ und neu im
Gedächtnis vernetzt: z.B. „der Therapeut ist ja doch nicht so feindselig wie ich
angenommen habe, dadurch kann ich mich mehr von meiner Wut distanzieren, kann
mich beruhigen und fühle mich weniger beeinträchtigt, ich erkenne unterschiedliche
Seiten/Anteile in mir die mir bislang verborgen waren. Dadurch fühle ich mich
weniger beeinträchtigt, kann mich besser ausdrücken/behaupten, und kann die alten
Akteure in neuem Licht sehen und ihnen möglicherweise verzeihen.“ Dies braucht
aber seine Zeit und vor allem keinen Druck.
Eine solche Bearbeitung von Schlüsselerlebnissen ist nicht grundsätzlich verschieden
von der nachträglichen Verarbeitung von Traumata.
Darin folgt die Psyche dem Prinzip, dass die Quelle für Verletzungen auch der
Ausgangspunkt für ihre Heilung sein kann. In dieser narrativen Bearbeitung
geschieht simultan Beziehungsarbeit, Klärung von Mustern des Erlebens und
Verhaltens, emotionale Exposition (Traumaarbeit), Ressourcenaktivierung (Vertrauen
auf das gesunde/erwachsene Selbst) und Neubewältigung der Emotionen, des
Beziehungskonfliktes und der dahinter stehenden biographischen Erinnerung. Die
alte Schlüsselerfahrung wird zum Schlüssel für die aktuelle Veränderung. Meist
reichen in einer Therapie ein bis drei solcher Erfahrungen aus (quasi die
„Sternstunden“ einer Therapie), um eine Übertragung auf das übrige Leben und eine
nachhaltige Veränderung zu erreichen. In vielen Therapien gelingt aber eine solche
Fokussierung nicht, weil die Benennung der Vermeidungsvorgänge in der Interaktion
nicht gelingt, sodass es zwar zur Linderung des Leidens durch Ansetzen an den
Folgeprozessen (z.B. den Symptomen) kommt, aber nicht zur nachhaltigen
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Neuerfahrung. Im Rahmen der Auflösung emotionaler Spannungen löst sich die
Aufmerksamkeit von den unbewältigten Erfahrungen ab und steht in der Gegenwart
wieder zur Verfügung.
12. Wie wirkt Psychotherapie?
Die Wirksamkeit (DAS sie wirkt/ Effektivität) sagt noch nichts aus über die
Wirkungsweise von Psychotherapie (WIE sie wirkt / Prozessualität).
Prototypisch kann man in den meisten Therapien folgende Phasen beobachten, die
sich bei komplexen Prozessen (höheren Störungsleveln) auch mehrfach ereignen
können:
1. Anfangsphase: sich öffnen, Vertrauen fassen, das Problem benennen
2. Wahrnehmungsphase: sich selbst, seine Muster wahrnehmen
3. kognitives Verstehen: Zusammenhänge der Muster mit der Lerngeschichte
und den tieferen Bedürfnissen nach Schutz/Anlehnung und
Autonomie/Entfaltung werden verstanden
4. Erleben: man spürt, dass das zentrale Problem auch ein Schutz vor einer
Veränderung ist (z.B. Phobie als Schutz vor Trennungsangst/Alleinsein) und
dass es JETZT darum geht sich dieser Angst zu stellen. Man möchte alles tun,
um einer weiteren Auseinandersetzung auszuweichen bis die Hoffnung auf
eine neue Erfahrung Kraft gewinnt.
5 . Veränderung: innerlich und äußerlich werden konkrete Schritte einer
Auseinandersetzung mit vermiedenen Gefühlen oder vermiedenen Aspekten
der Persönlichkeit unternommen. Erste neue Bewältigungserlebnisse werden
gemacht.
6. emotionales Verstehen: nun versteht man auch mit dem „Bauch“, warum
die Veränderung bisher so schwer war und es entsteht ein vertieftes
Verständnis der eigenen Person, der Konflikte, der Störungen.
7 . Integration und Verarbeitung: das Erlebte und die neuen Erfahrungen
werden in das Verständnis des bisherigen Lebens eingepasst und es fühlt sich
nicht mehr so fremd an; die Therapie verliert an Bedeutung, das Neue ist
vertrauter, man fühlt sich wieder unabhängiger.
8. Beendigung: die Therapie wird bilanziert und beendet.
Jede Veränderung eines Patienten kommt durch die gezielte Aufmerksamkeit eines
passenden Gegenübers und durch die Selbstaufmerksamkeit (Achtsamkeit) des
Patienten zustande: Er kann sich im Spiegel dieser persönlichen Beziehung anders
und vollständiger wahrnehmen, hinterfragen und die gewohnten Grenzen in der
Selbstwahrnehmung überwinden. Dadurch werden Verhaltens- und Denkmuster
leichter zugänglich und veränderbar. Das Überschreiten der Grenzen der gewohnten
Wahrnehmung führt zum Erleben persönlichen Wachstums, wenn sie mit einem
Entschärfen leidvoller Schlüsselerfahrungen und einer positiven neuen Erfahrung
verbunden ist (die sog. Korrektive emotionale Erfahrung oder heilende
Gegenerfahrung).
Dieser Prozess bedeutet auch ein Aushalten vorübergehender Unsicherheit. Dies ist
nur in der Sicherheit einer persönlichen und stimmigen Beziehung möglich, in der
man wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Dies gilt umso mehr, je grundlegender
die Unsicherheiten sind, die bearbeitet werden.
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Eine Beziehung wird dann als besonders tragfähig erlebt, wenn Störungen im
Kontakt auch in angemessener Weise angesprochen und aufgelöst werden können.
Zudem können in einer guten Beziehung auch bei Bedarf spezielle Techniken
eingesetzt werden (z.B. Konfliktübungen, Angstübungen, Therapieaufgaben), die
dem Patienten erweiterte Erfahrungen im Umgang mit sich und Anderen
ermöglichen. Je stärker die Aufmerksamkeit des Patienten von Symptomen
gebunden wird, desto wichtiger ist für ihn der direkte Umgang mit seinen
Symptomen. Das Umgehen mit den Hintergründen oder Ursachen der Symptome
(die leidvollen Kernerfahrungen) steht dann zunächst im Hintergrund oder wird
parallel einbezogen.
Was sagt die Wissenschaft zur Wirkungsweise von Psychotherapie?
Eine groß angelegte Metastudie (eine Auswertung aller empirischen Studien über
Psychotherapie zwischen 1959-1984) hat bereits 1986 gezeigt, dass für die
Wirkungsweise eine Vielfalt von Details Ausschlag gebend sind (Orlinsky & Howard
1986). In der Reihenfolge ihrer Bedeutung spielt die „Offenheit“ des Patienten die
größte Rolle, dicht gefolgt von der „Qualität der therapeutischen Beziehung“, dann
die durchgeführten „Interventionen“. Man kann davon ausgehen, dass Offenheit und
Beziehung zwei sich wechselseitig beeinflussende Momente sind. Daher wird
zunehmend auch wissenschaftlich die Auffassung vertreten, dass die INTERAKTION
zwischen Therapeut und Patient der primäre Schlüssel für eine wirksame Therapie,
d.h. eine korrigierende emotionale Erfahrung, ist.
Der Psychotherapieforscher Klaus Grawe (1994) hat weitere Wirkfaktoren
beschrieben und damit eine schulenübergreifende Sichtweise vorgeschlagen. Er
analysierte alle Wirksamkeitsstudien bis ins Jahr 1991 und kam zu folgendem
Schluss:
Eine wirksame Therapie setzt an
1. den Stärken des Patienten an (Ressoucenaktivierung),
2. führt zur Aktivierung belastender Probleminhalte (Problemaktualisierung),
3. die zu einem vertieften Selbstverständnis führt (Klärung)
4 . und mit aktuellen positiven Bewältigungserfahrungen verknüpft ist
(Bewältigung).
Diese 4 Elemente könnte man auch als sekundäre Wirkfaktoren bezeichnen, da sie
alle erst in der Interaktion zwischen Therapeut und Patient zur Wirkung kommen.
Fazit: Psychotherapie wirkt über eine von Wertschätzung getragene Beziehung,
zweitens über ein Zulassen und die Offenbarung belastender emotionaler
Erfahrungen, drittens über ein Akzeptieren und gemeinsames Verständnis dieser
Erfahrungen und viertens über die aktuelle Neubewältigung zentraler emotionaler
Erfahrungen. Reines Analysieren und bloßes Verhaltenstraining hilft nur bei
geringfügigen emotionalen Beeinträchtigungen. In der Bearbeitung zentraler
Schlüsselepisoden geschieht dies alles simultan.
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11. Was ist das Ziel von psychotherapeutischer Veränderung?
Aus dem Modell der Störungen und der Psyche kann man methodische Ziele aus der
Sicht des Psychotherapeuten ableiten. Methodische Ziele sind Wegmarkierungen zu
den Zielen des Patienten:
1. Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeitsmuster, der verletzten Bedürfnisse
und der prägenden Bindungserfahrungen
2 .Wahrnehmung
und
Bewältigung
von
Beziehungskonflikten
(Schlüsselerlebnisse)
3. Wahrnehmung und Bewältigung von Störungen und äußeren Belastungen.
GROßE-HOLTFORTH (2001) analysierte die Therapieziele von über 3oo ambulanten
und 128 stationären Patienten und kam auf 5 übergeordnete Kategorien von Zielen:
1. Problem-/Symptombezogene Ziele (z.B. Depression, Ängste, Sucht, Sexualität)
2 . Beziehungsprobleme bewältigen (z.B. Familie, Einsamkeit, Trauer,
Nähewünsche)
3. Psychophysisches Wohlbefinden (z.B. Aktivierung, Entspannungsfähigkeit)
4. Klärung/Orientierung (z.B. Sinnfrage klären, Ziele finden, Besinnung/Bilanz)
5 . Selbstentwicklung (z.B. Selbstvertrauen stärken, Grenzen akzeptieren, mit
Gefühlen umgehen, leistungsfähiger werden).
Psychotherapie soll eine neue Erfahrung ermöglichen: in der Beziehung mit dem
Therapeuten, mit den Symptomen, mit sich selbst, mit den wichtigsten
Bezugspersonen. Sie hat letztlich das Ziel einer Befreiung von Beeinträchtigungen
und Ängsten und eines Wachsens von Selbstbestimmung und Beziehungsfähigkeit.
FREUD hat einmal als Oberziel der Psychotherapie allgemein von „Liebes- und
Arbeitsfähigkeit“ gesprochen.
Ein weniger pathogenes als eher salutogenes Verständnis der Ziele geht von einer
Norm von Gesundheit aus:
Der Sozialwissenschaftler Frederic Hudson hat einmal folgende Kriterien für psychische
Gesundheit bzw. „Erwachsen-Sein“ aufgestellt, die auch als Ziele von Psychotherapie angesehen
werden können:
• Ein hohes Maß von Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein
• Anderen interessiert und objektiv zuhören
• Gefühlen angemessen Ausdruck verleihen
• Kritik ertragen und äußern können
• Kooperativ und teamfähig sein
• Keine Angst haben, Fehler zu machen, und sie auch bei Anderen tolerieren
• Dankbarkeit und Anerkennung ausdrücken können
• Zukunftsorientiert sein
• Kompromissbereit aber nicht konformistisch sein
• Sich auf Freundschaften und Liebesbeziehungen einlassen können
• Dafür sorgen, dass man im Leben genügend Spass hat
• ‚Nein’ sagen können
• immer wieder über den Sinn des Lebens nachdenken
• den Staus quo immer wieder in Frage stellen können
• um die eigene Autorität wissen. (Quelle: Psychologie Heute kompakt)
Das ideale Ergebnis von Psychotherapie: das Befinden verbessert sich, Symptome
verschwinden, das Selbstvertrauen steigt, Beziehungen werden befriedigender.
Das bescheidenere Ergebnis von Psychotherapie: Verschlechterungen können
verhindert werden, Lebensqualität kann stabilisiert oder verbessert werden und die
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Abhängigkeit von medizinischer oder stationärer Behandlung verringert sich. Das
Selbst ist nicht vollständig souverän, aber souveräner als vor der Therapie.
12. Was genau kann „Veränderung“ sein?
Ein Fallbeispiel:
Herr J. litt seit Beginn des Studiums unter Kontrollzwängen. Er konnte wegen stundenlanger
Kontrollhandlung manchmal die Wohnung nicht mehr verlassen und reagierte sensibel auf jede
Art der Festlegung eines Termins. Er litt erheblich unter diesem „Versagen“. Er konnte zwar
hervorragende Examina ablegen, konnte aber im Anschluss keine Berufstätigkeit annehmen.
Die Zwänge hatten für den angehenden Juristen allerdings auch die Funktion, sich von den
Erwartungen des fordernd erlebten Vaters abzugrenzen (er kam nicht mehr zu Besuch), sich vor
den Aggressionen des Vaters zu schützen (er wich Konflikten aus), seinen Selbstwert vor dem
Versagen in einer Prüfung zu schützen (er holte sich wegen der Zwänge ein Attest), sein Recht
auf Selbstbehauptung über die Zwänge durchzusetzen (er forderte Unterstützung ein, wenn er
sie brauchte).
Der Veränderungsprozess musste erst einmal in der Interaktion selbst ansetzen. Der Patient
erlebte auch den Beginn der Therapie einerseits als Unterstützung, andererseits aber auch als
erneute Unterwerfung (hinsichtlich der begrenzten Zeit) unter einen ihn dominierenden
Therapeuten. Demzufolge entzog er sich auch konkreten Übungen. Sein Erleben wurde
einerseits anlässlich Unpünktlichkeit („wegen der Zwänge“) bewusst gemacht (Klärung);
andererseits brauchte es die reale wertschätzende (Ressourcenaktivierung) und nicht-strafende
Beziehung (Interaktion), durch die der Patient Sicherheit und Vertrauen in eine korrigierende
Erfahrung erwerben konnte. Erst danach war er zu einer Offenbarung seiner Konflikte mit dem
Vater bereit, und konnte seine Ängste vor Unloyalität dem Vater gegenüber in der Sicherheit der
therapeutischen Beziehung aushalten (Problemaktualisierung). Erst später kam es zu konkreten
Übungen (Bewältigung) und Fortschritten, die jedoch immer auch von Rückschlägen, vertieften
Erinnerungen (dem Vater letztlich doch zu unterliegen) und vertieften Konflikten mit dem Vater
und der Mutter begleitet war. Der Vater wurde auch zu zwei Gesprächen mit hinzugezogen, um
die Bedeutung des Konfliktes zu verdeutlichen und schlimmste Phantasien des Vaters (im Leben
des Patienten völlig überflüssig zu sein) auszusprechen und zu entschärfen. Im Kern zeigte sich
eine erhebliche Angst vor Gewalt und vor Verlust der kindlichen Sicherheit, die er sich ersehnte
aber nur um den Preis der Unterwerfung erlebt hatte, da schon sehr früh ein erheblicher
Leistungszwang ausgeübt wurde. Das Anerkennen dieses Mangels (und später auch der
dahinter stehenden Geschichte des Vaters) war ein sehr schmerzhafter erster Schritt und mit
dem Gefühl verbunden, die Hoffnung auf eine bessere Kindheit endgültig aufgeben zu müssen.
Erst nach der Trauer konnte er das vormals übermächtige Bedürfnis nach Geborgenheit auf
andere Beziehungen übertragen, fühlte sich selbstsicherer und kümmerte sich erstmals mehr
um die Beziehung zu einer Frau. In dieser Zeit fanden auch Übungen zu Hause im Umgang mit
den Zwängen statt. Die Zwänge reduzierten sich im Ausmaß bis auf 20% der vor der Therapie
aufgewendeten Zeit. Medikamente wurden während der Übungsphase abgesetzt.
In der konkreten Arbeit ließ sich die Bewältigung unangenehmer Gefühle und Symptome,
Klärung ihrer Bedeutung und korrigierende Erfahrung in der Interaktion kaum noch voneinander
abgrenzen. In der Bearbeitung der emotionalen Kernerfahrung (Unterwerfung um
Sicherheit/Geborgenheit zu bekommen) kam alles zusammen und wurde bis zur Auflösung
spiralenartig immer weiter vertieft. Das Ende der Therapie war einerseits nach 60 Sitzungen
willkürlich. Es war aber von dem entscheidenden Gefühl des Patienten geprägt, mit seinen
geringfügigen Zwängen und seiner gewachsenen Selbstsicherheit nun auch ohne Therapie gut
zurechtzukommen.
An diesem Beispiel lässt sich gut nachvollziehen, dass Veränderungen unterschiedlich
tief ablaufen können und ihre Eigendynamik haben. Man kann nach der Tiefe drei
Niveaus von Veränderungen unterscheiden.
Veränderungen 1. Ordnung betreffen konkrete Symptome (im Beispiel die Zwänge)
und auch einzelne Verhaltensweisen, z.B. das Abgrenzungsverhalten dem Vater
„Was ist professionelle Psychotherapie?“
© Dr. Martin Wendisch 2007
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gegenüber. Diese Veränderungen sind in der Regel leichter wahrnehmbar; das ICH
kann sich leichter mit diesen umschriebenen Verhaltensweisen auseinandersetzen
und eine Verhaltensänderung vollziehen. Auf dieser Ebene ist Psychotherapie ein
überschaubarer linearer zielorientierter Lernprozess.
Veränderungen 2. Ordnung betreffen grundlegende Beziehungsmuster, die ihren
Ursprung in früheren Beziehungen haben. Diese bestehen meist über einen langen
Zeitraum, sind daher der Wahrnehmung nur über Rückmeldungen Anderer und über
erlebte Konflikte zugänglich. Bspw. könnte der og. Patient lernen, ähnliche
Beziehungen zum Vater und Chef zu durchschauen und die tiefen Gefühle (z.B.
Angst, Wut, Schuldgefühle) zu verarbeiten, um handlungsfähig zu werden. Hier ist
ein größeres Ausmaß an Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und starken
Gefühlen sinnvoll.
Veränderungen 3. Ordnung betreffen strukturelle Vorstellungen der Welt und der
eigenen Person: das SELBSTBILD und das SELBSTBEWUßTSEIN. Das Selbstbild
(z.B. „Ich bin nicht liebenswert.“) wird geprägt durch emotionale Kernerfahrungen
über die gesamte Lebenspanne. Hier geht es nicht mehr um Teilbereiche der
Persönlichkeit, sondern um die Gesamtheit der Person, wie sie sich nur in längeren
und sehr vertrauten Beziehungen entfaltet.
Veränderungen 3. Ordnung könnte man auch als Entwicklungen der Persönlichkeit
bezeichnen. Sie sind nur möglich, wenn kein äußerer Änderungsdruck besteht und
brauchen vor allem eins: Akzeptanz! Akzeptanz der Person, ihrer prägenden
Erfahrungen und letztlich die vertiefte Selbstachtung des Patienten. Auf dieser Ebene
der 3. Ordnung geht es nicht nur darum, sich selbst zum Objekt seiner
Betrachtungen zu machen; das geschieht schon in Teilen auf der Ebene der 2.
Ordnung, auf der ich mich von Anderen unterscheiden und abgrenzen lerne. Hier
geht es darum, die Vorgänge des eigenen Bewusstseins zu erkennen und nicht mehr
als Aspekte DER Realität nach außen zu projizieren. Die Bereitschaft, ALLES Erlebte
nicht mehr zu veräußerlichen sondern als Konsequenz des eigenen Tuns zu sehen,
führt zur maximalen Selbstverantwortung und zur Verbundenheit mit sich selbst.
Ein solcher Prozess ist mit wesentlich stärkerer Auseinandersetzung und auch
vorübergehender Verunsicherung verbunden, und braucht in der Regel auch mehr
Zeit. Auf dieser Ebene ist Psychotherapie ein fundamentaler Entwicklungsprozess,
der stark krisenhafte Züge tragen kann.
Die Ziele in der konkreten Therapie werden vom Patienten formuliert. Es ist jedoch
auch die Aufgabe des Therapeuten, ein Gespür dafür zu entwickeln, in welchem
Ausmaß sich der Patient von Beeinträchtigungen befreien will. Auch wenn
Veränderungen 1., 2. und 3. Ordnung meist miteinander verbunden sind; letztlich
entscheidet der Patient, wie weit er gehen will und was für ihn stimmig ist: es gilt
das Prinzip der Selbstbestimmung.
13. Unterschiede der Therapierichtungen
Ein weites Feld; hier nur in aller Kürze: Sowohl Psychoanalyse (PA) als auch
Verhaltenstherapie (VT) beschäftigen sich letztlich mit allen Ebenen von
Veränderung, aber sie tun es mit sehr unterschiedlichen Akzenten. Die
Psychoanalyse hat dabei vor allem die 3. Ebene als fundamental für die Beziehungen
und die Symptombelastungen im Blick. Sie ist bewußtseinsorientiert und auf die
„Was ist professionelle Psychotherapie?“
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Akzeptanz der Person ausgerichtet. Sie betont die Individualität der Prozesse und die
Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse, die in einer therapeutischen Beziehung erkannt
und erlebt werden können. Z.B. besteht in dieser Richtung eine große Akzeptanz
auch für die Nähe- und Geborgenheitsbedürfnisse der Patienten. In der Vorstellung
„partieller Nachreifung“ eines Patienten ist diese Akzeptanz deutlich zu erkennen.
Dies stimuliert aber auch stärker Angst vor Abhängigkeit. Therapeuten dieser
Ausrichtung sind in stärkerem Ausmaß bereit, sich unmittelbar mit tiefen Gefühlen
und Bedürfnissen ihrer Patienten auseinanderzusetzen.
Die Verhaltenstherapie (VT) geht einen eher pragmatischen Weg mit Konzentration
auf die 1. und 2. Ebene. In der VT wird sehr viel stärker an das autonome Selbst
appelliert, das Kontrolle über unangenehme Gefühle und Bedürfnisse erlangen will
und etwas ÄNDERN will. Die VT nimmt Entwicklungen 3. Ordnung eher nicht oder
nur so weit in den Blick, wie es vom Ausmaß der Beeinträchtigung her notwendig
erscheint (z.B. bei mehreren Beeinträchtigungen auch auf der Personebene) und
versteht den Prozess auf allen Ebenen eher als einen linearen Lernprozess in
Richtung auf einen gewünschten Zielzustand. Eine grundsätzlich an der Person (der
dritten Ebene) ansetzende Verhaltenstherapie wird erst in neueren Ansätzen
formuliert (z.B. YOUNG). Auch das Dilemma, dass der Anspruch auf Änderung mit
mangelnder Akzeptanz verbunden sein kann, wird erst in jüngeren Ansätzen erkannt
(z.B. im acceptance-commitment Ansatz HAYES).
In der Öffentlichkeit gilt die VT weitgehend als schnelle Symptomtherapie und die
Psychoanalyse als lange – für manche auch „langwierige“ - Persontherapie. Trotzdem
scheinen sich in der konkreten Therapeutenpersönlichkeit die unterschiedlichen
Haltungen der Schulen zu relativieren.
Prof. Fritz Henn (scheidender Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit
Mannheim) stellt in einem ZEIT-Interview klar:
„Auch die Biomedizin stellt allmählich fest, wie groß die Auswirkung geistiger
Prozesse auf unser Leben ist. ... An der Universität Stanford ... wurden eine ganze
Reihe Therapieschulen getestet. Und am Ende kam heraus: Die Therapierichtung war
völlig bedeutungslos, entscheidend war der Therapeut. Die Guten hatten mit jeder
Methode Erfolg. Sie konnten eine Verbindung zum Patienten schaffen. ... Man
kann sehr viel Technisches in der Psychotherapie lernen, aber DAS lernt man nicht,
man hat es, oder eben nicht. ... Deshalb ist die Medizin auch keine Wissenschaft im
strengen Sinn, sondern letztlich immer noch eine Kunst.“
So wichtig es ist, methodisch die beiden Zugangswege zum Patienten zu
unterscheiden, so sehr ist es für den Patienten wichtig, möglichst vollständig und
nicht nur durch die Brille einer Schule wahrgenommen zu werden.
14. Ethisch-spirituelle Grundlagen der Psychotherapie
Insofern man den Menschen nicht nur als körperliches und seelisches sondern auch
als geistiges Wesen im Bemühen um Sinn und Werte anerkennt, wird die Frage nach
der geistigen Grundhaltung eines Therapeuten oder einer Therapieschule, aber auch
des Patienten bedeutsam. Es geht um die Frage: Welche Werte bestimmen
psychotherapeutisches Handeln? Und: Kann die geistige Orientierung auch eine
wichtige Grundlage für Psychotherapie sein?
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Kann es eine Spiritualität einer Therapierichtung geben?
Es wird heftig diskutiert in den Psychotherapierichtungen, ob es überhaupt eine
spirituelle Grundlage „der“ Psychotherapie geben kann. Denn jede Art von
Festlegung von Werten und ihrer ontologischen Begründung kann als Beeinflussung
des Patienten und in der Folge als Unfreiheit (miss-)verstanden werden. Dies gilt
auch für die Verständigung innerhalb der Psychotherapeutischen Berufsgruppe, in
der eine Festlegung als Unfreiheit in der Wahl der Überzeugungen verstanden
werden kann: sozusagen Wertorientierung als Mission, die den Patienten dominieren
will. Daher legt man sich in Berufsordnungen nicht auf Werte fest, sondern
beschreibt ganz in der freiheitlich-pragmatischen Tradition „gute“ oder „praktisch
bewährte Haltungen“ (good practice). Auf eine ontologische Begründung (also aus
einer anthropologischen Definition vom Wesen des Menschen) wird somit verzichtet.
Der einzelne Therapeut kann jedoch eine ihn selbst implizit leitende Ethik explizit
durch Festlegungen ausformulieren, so lange kein Patient oder andere Therapeuten
dadurch festgelegt werden und frei um ihre Wahrheit und um ihre Ziele ringen
können. Im Folgenden werden fünf Festlegungen dargestellt und alsdann eine
zusammenhängende Fundierung psychotherapeutischen Handelns vorgenommen.
Die 5 persönlichen Festlegungen (Axiome):
Erste Festlegung: Fundamentale Verbundenheit
Der Mensch ist auf ein Gegenüber hin angelegt und sucht – in welcher Form auch
immer- nach einem Zuwachs an Verbundenheit. Er ist mit Menschen seiner Familie
und mit dem ganzen Ökosystem nicht nur emotional sondern auch existentiell
verbunden.
Zweite Festlegung: Das Recht auf Freiheit und Selbstverantwortung!
Aktive Gestaltung der Verbundenheit ist erst durch Entscheidungen möglich.
Entscheidungen bestehen darin, bewusst oder unbewusst JA zu etwas sagen zu
können. Das autonome handelnde Selbst (wie es z.B. für die abendländische
Tradition ibs. die Aufklärung typisch ist) braucht die Freiheit, auch NEIN sagen zu
können. Diesem Recht entspricht auch die Pflicht zur Selbstverantwortung. Kurz:
Freiheit ist die Voraussetzung für erlebte Verbundenheit und Selbstverantwortung!
Dritte Festlegung: Ja zum Leiden!
Aus den ersten beiden Festlegungen folgt zwingend, dass wir nie vollständig mit uns
und der Umgebung verbunden sind, sondern uns vom Moment der Zeugung an in
ständigem Ringen mit den Grundlagen des Lebens befinden. Leiden und Konflikte
gehören zum Leben. Sie sind nicht selbst schon krank oder krankmachend, sondern
gesund.
Vierte Festlegung: Die Unantastbarkeit des reinen SELBST!
Das „SELBST“ ist die personale Instanz, die wahrnimmt was im Innen und Außen
passiert. Es ist in der Regel durch aktuelle Aufmerksamkeit charakterisiert. Es hat
durch die Annahme einer prinzipiellen Unantastbarkeit und Distanz eine unmittelbar
heilsame Wirkung und kann seine Energie (Aufmerksamkeit) auf alles richten, dass
einer heilsamen Verarbeitung bedarf. Die Anerkennung dieses Selbst begründet
Würde.
„Was ist professionelle Psychotherapie?“
© Dr. Martin Wendisch 2007
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Fünfte Festlegung: Selbstbewusstsein und Liebesfähigkeit befruchten einander.
Wenn wir ahnen was uns fehlt, erheben wir oft einen Anspruch auf Erfüllung unserer
Wünsche gegenüber unseren Nächsten. Die Äußerung von Bedürfnissen selbst ist zu
respektieren. Aber der Anspruch an Andere auf Befriedigung macht abhängig und
den Anderen unfrei. Insofern kann Liebe dann anfangen, wenn die Ansprüche
aufhören. Dies gilt auch für die Liebe zu sich selbst: So lange jemand den Anspruch
verfolgt, eine andere Geschichte/Familie/Vergangenheit haben zu wollen, kann er
sich nicht akzeptieren. Daher gehört vor jede grundlegende Änderung Akzeptanz und
Selbsterkenntnis. Kurz: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.
Aus diesen fünf Festlegungen folgt die Begründung psychotherapeutischen Handelns.
Die existentielle Verbundenheit zwischen Menschen ermöglicht Mitgefühl und
Verstehen oder zumindest Anteilnahme. Der Mensch befindet sich existentiell und
somit lebenslang in einer Bewegung zwischen größtmöglichem Verbunden-Sein mit
der Welt und Anderen und größtmöglicher Autonomie und Selbstverantwortung. Aus
der häufigen Differenz zwischen beidem (man kann oft nicht beides zugleich erleben)
erwächst existentielles Leid: Freiheit/Autonomie wird u.U. als Isolation und Alleinsein
erlebt oder Verbundenheit wird unter bestimmten Umständen als Selbstverlust
erlebt. Leid ist ein menschlicher Grundzustand und bedarf nicht der Pathologisierung,
sondern des Respekts. Krankheit erwächst als Warn- und Hilfssignal aus einer
ständigen Verletzung des einen oder des anderen Pols. Psychotherapie hat in erster
Linie die Aufgabe, eine neue heilsame Erfahrung in der Balance dieser beiden Pole zu
vermitteln, indem sie eine gelungene Balance bietet zwischen
Verbundenheit/Bezogenheit und Freiheit/Selbstbestimmung andererseits. An beiden
Polen geht es um Wachstum. Die Instanz, die hierzu angesprochen wird, ist das
Selbst des Patienten, dass gezielt zum Wachstum der Person genutzt werden kann,
indem es seine Aufmerksamkeit auf Momente richtet, die einer Balance (letztlich
erlebter Liebe) entgegenstehen. Dies erfordert vom Therapeuten eine größtmögliche
Achtsamkeit und ungeteilte Aufmerksamkeit für den Patienten. Und da es um die
sensibelsten Bereiche einer Person geht, erfordert es einen geschützten
therapeutischen Raum.
Der Philosoph JONAS sagt im „Prinzip Verantwortung“: „Nur das geschützte Leben
offenbart und entwickelt sich.“ Darauf gründet sich auch die notwendige
Verschwiegenheit dieses Heilberufs. Der therapeutische Raum muss nach außen und
nach innen geschützt sein (sowohl vor den Interessen Dritter als auch innerhalb der
Therapie durch Bedürfnisse des Therapeuten). Nur in einem solchermaßen
geschützten Raum ist der Patient zu schmerzhaften Prozessen und echter
Selbsterkenntnis bereit; denn es geht um ein allmähliches Verzichten auf den Schutz
des Symptoms zugunsten einer weniger beeinträchtigenden Befriedigung wichtiger
Grundbedürfnisse. Nur Psychotherapeuten können um die Schutzbedürftigkeit dieses
Raumes wissen! Dies umso mehr, wenn sie selbst einen nachhaltigen
Selbsterfahrungsprozess kennen gelernt haben oder selbst einmal in Not auf
psychotherapeutische Hilfe angewiesen waren. Die öffentliche Autorität erhalten
Therapeuten aufgrund ihrer Fähigkeit solche Heilungsprozesse zu ermöglichen und
zu schützen und auch aufgrund ihrer Bereitschaft, ihr Handeln zu dokumentieren, zu
überprüfen und zu begründen.
Allerdings sollte der psychotherapeutische Raum auch vor den ökonomischen
Überregulierungszwängen der Gesellschaft geschützt werden. YALOM (2002) schreibt
„Was ist professionelle Psychotherapie?“
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in seinem Vorwort an die Gemeinschaft der Therapeuten von morgen: „Ich sorge
mich um die Psychotherapie – um ihre Deformierung durch ökonomische Zwänge
und um ihre Verarmung durch radikal gekürzte Ausbildungsprogramme.“
Diese Sorge teile ich nach meinen Erfahrungen.
15. Literaturempfehlungen:
zunächst die im Text angesprochenen Quellen:
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Baltensperger, Claudia und Grawe, Klaus (2001): Psychotherapie unter
gesundheits-ökonomischem Aspekt. Zeitschr. für Klein. Psychologie u
Psychotherapie, 2001, 30. Jg., Heft 1, 10-21.
Faber, F.R., Dahm, A. & Kallinke, D. (2006). Faber/Haarstrick: Kommentar
Psychotherapie-Richtlinien. 7. Auflage. München-Jena: Urban & Fischer.
Klaus Grawe, Ruth Donati & Friederike Bernauer (1994): Psychotherapie im
Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe-Verlag.
Klaus Grawe (1998): Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe-Verlag.
Grosse-Holtforth, Martin (2001): Was möchten Patienten in Ihrer Therapie
erreichen? Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis, 34.JG.(2),241-258.
Hans Jonas: ''Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die
technologische Zivilisation.'' Frankfurt/M., 1979.
Riemann, Fritz (1990). Grundformen der Angst. München: Ernst-ReinhardtVerlag.
Karen Kaplan-Solms, Mark Solms (2003): Neuro-Psychoanalyse. Eine Einführung
mit Fallstudien. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart
Maslow, Abraham H.: Motivation und Persönlichkeit, Rowohlt Tb. 2002.
Orlinsky, D. E., & Howard, K. I. (1986). Process and outcome in psychotherapy.
In S. L. Garfield & A. E. Bergin (Eds.), Handbook of psychotherapy.
nun die Empfehlungen:
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Senf,W. und Broda, M. (2005): Praxis der Psychotherapie. Ein integratives
Lehrbuch. Thieme Verlag, 3.Aufl.
Symington, Neville. Emotionales Handeln. Das Gemeinsame von Religion und
Psychoanalyse. Verlag: Steidl Verlag.
Yalom, Irvin (2002): Der Panama-Hut oder Was einen guten Therapeuten
ausmacht. Btb Verlag.
Young, J.E., Klosko, J.S., & Weishaar, M. (2003). Schema Therapy: A
Practitioner's Guide. Guilford Publications: New York. Dtsch. (2005).
Schematherapie. Junfermann Verlag: Paderborn.
„Was ist professionelle Psychotherapie?“
© Dr. Martin Wendisch 2007
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